COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. DeutschlandRadio Kultur Forschung und Gesellschaft am 18. Dezember 2008 Redaktion: Peter Kirsten Die Neuro-Ästheten Hirnforscher erkunden das Gute, Schöne und Wahre Von Adolf Stock Sprecher: Was ist schön? Sprecherin: Wenn ich es erklären soll, finde ich es nicht mehr schön, entgegnete die Hauptschülerin Anja ihrer Lehrerin, als sie begründen sollte, weshalb sie das Gedicht An Anna Blume von Kurt Schwitters so ergreifend schön fand. Zitator: "Anna Blume, Anna, A----N----N----A! Ich träufle Deinen Namen. Dein Name tropft wie weiches Rindertalg. Weißt Du es Anna, weißt Du es schon, Man kann Dich auch von hinten lesen. Und Du, Du Herrlichste von allen, Du bist von hinten, wie von vorne: A------N------N------A." Sprecherin: Das ist doch ganz klar, hatte Anja gesagt, Anna ist rundum vollkommen. Danach war Schluss. Mehr wollte Anja nicht sagen, schließlich sollte ihr Gedicht auch schön bleiben und nicht auf dem Seziertisch der Deutschstunde landen. Sprecher: Für Hirnforscher ist der Sinn für Schönheit mehr als nur ein beliebiges Geschmacksurteil. Das Erleben von Schönheit fällt mit der Aktivität einer gut abgegrenzten Hirnregion - dem Orbitallappen -zusammen, erklärt der britische Neurologe Semir Zeki der Frankfurter Allgemeinen. Zitator: "Wenn Probanden erklären, sie fänden ein Gemälde schön, ist die Aktivität dort stärker als in Fällen, in denen sie es als neutral oder hässlich empfinden." Sprecherin: Ist Schönheit messbar? Gibt es angeborene Universalien, die für die ästhetische Wahrnehmung zuständig sind? Für Neurologen ist Schönheit kein objektives Merkmal, das zu einem Kunstwerk gehört. Vielmehr gibt es vielfache Beziehungen zwischen Merkmalen von Kunstwerken und Merkmalen von Personen, die sich empirisch erforschen lassen. Falls diese Merkmale tatsächlich einem Prinzip entsprächen, wäre eine verbindliche ästhetische Theorie möglich. Musikakzent: Sprecher: Im Juni 2008 wurde an der Berliner Charité die europäische Assoziation für Neuro-Ästhetik gegründet. Ihr Herzstück ist eine Bibliothek in einem der ältesten Klinikbauten auf dem Gelände der Universität. Jetzt reihen sich hier Kunstbände in den Regalen. Die Gründungsmitglieder wollen Kunst und Hirnforschung zusammenbringen und dabei versuchen, eine gemeinsame Sprache zu finden. Natur- und Geisteswissenschaften wollen aufeinander zugehen, sagt Ernst Pöppel, Hirnforscher aus München. Take 1: (Ernst Pöppel) "Aus meiner Sicht heraus ist es geradezu notwendig, dass man bei der Betrachtung der Künstler, also der Produktion und der Rezeption der Künste, sich neben der typischerweise geisteswissenschaftlichen Tradition auch mit den Naturwissenschaften beschäftigt. Und insbesondere geht es darum, die formalen Prinzipien in der Musik, Dicht- kunst und Malerei und nicht nur die Inhalte zu erörtern. Und deswegen habe ich mich sehr stark engagiert auch an der Gründung dieser Assoziation mit Sitz in der Charité in Berlin, Partner sind University College London, Centre Pompidou in Paris und vor allem das Humanwissenschaftliche Zentrum, das ich leite." Sprecherin: Die Hirnforscher wollen die neurologischen Grundlagen von Kreativität, Ästhetik und Kunstwahrnehmung erforschen, gab Gründungsmitglied Alexander Abbushi in der Frankfurter Allgemeinen zu Protokoll. Die Neurologen interessieren sich auch für subjektive Bewusstseins- zustände wie Liebe, Hass und Schönheit. Zitator: "Uns geht es darum, gemeinsam neue Perspektiven für Kunst und Wissenschaft zu eröffnen. Es gibt Rahmenbedingungen des Lebens und des Fühlens, die versuchen wir zu verstehen. Wir wollen etwas über die Funktionsweise unseres Gehirns lernen. Und Kunst ermöglicht es, diese Rahmenbedingungen anders zu verstehen." Musikakzent: Sprecherin: Neue Technologien haben die Hirnforschung revolutioniert. Wir fangen zaghaft an, die Natur in uns zu verstehen. Ernst Pöppel. Take 2: (Ernst Pöppel) "Die Hirnforschung ist zu einer Leitwissenschaft geworden, hauptsächlich deshalb, weil wir jetzt auch technische Möglichkeiten haben, gleichsam in die Gehirne hineinzuschauen, dass wir also mit hoher Zeitauflösung, auch räumlicher Auflösung, einzelne Prozesse beobachten können. Also da spricht man dann von der Magnetresonanzfotografie oder Positronen-Emissionstomografie, um chemische Prozesse zu beobachten, oder der funktionellen Kernspin- tomografie, also das ist ein großer Fortschritt." Sprecherin: Die Forscher nutzen bildgebende Verfahren, um zu neuen Einsichten zu gelangen. Zum Beispiel lassen sie Versuchspersonen Worte assoziieren, und beobachten dabei, welche Hirnareale aktiviert werden. Mit solchen Verfahren kann auch das Schönheitsempfinden in bestimmten Hirnregionen nachgewiesen werden. Der Ulmer Neurologe Manfred Spitzer. Take 3: (Manfred Spitzer) "Sie können den Leuten Sätze geben und dann sagen, stimmen die, sind sie wahr oder falsch, oder wisst ihr es nicht? Und das können Sie machen mit, na ja: Das Westende des Panamakanals liegt im Pazifik, sie können alle möglichen Statements nehmen, aus dem Bereich der Ethik, der Mathematik und der Naturwissenschaft und so weiter, und es ist immer wahr, falsch, unentscheidbar. Und dann können Sie gucken, wo im Hirn ist wahr, falsch und unentscheidbar? Und das Interessante ist: Wo ist wahr? In der Mitte vorne, das Gute ist da, das Schöne ist da und das Wahre auch. Das ist das Interessante, was in den letzten zwei, drei Jahren rausgekommen ist." Sprecherin: Seit Platon gehören das Gute, Wahre und Schöne zusammen. Die Trinität ist der ideale Ausdruck menschlicher Humanität. Neurologen zeigen nun, dass das Schönheitsempfinden eine Funktion im Zentralhirn ist. Take 4: (Manfred Spitzer) "Wenn ich Sie einfach frage, guck Dir doch mal irgendwie was an, ist es eine schöne Landschaft, nicht so schöne Landschaft, ist das ein schönes abstraktes Bild oder nicht so schönes abstraktes Bild, dann finden Sie die Schönheit auch genau da. Und das Interessante ist, bei Gesichtern ist der Effekt am stärksten, am zweitstärksten bei Landschaften und bei abstrakten Bildern ist er gerade noch so nachweisbar." Sprecher: Trotzdem, Kollege Ernst Pöppel bleibt vorsichtig. Er warnt sogar. Take 5: (Ernst Pöppel) " In der modernen Hirnforschung haben wir eine ganz große Herausforderung, dass wir den Rahmen unseres Denkens verlassen, der für viele immer noch tonangebend ist, dass wir glauben, dass bestimmte Funktionen an einem bestimmten Ort repräsentiert sind. Die eigentliche Herausforderung ist, dass wir die raum-zeitlichen Muster erkennen müssen, die ja bei einem bestimmten geistigen Akt, beim Lesen, Zuhören, Sprechen vorhanden sind, und das ist überhaupt keine triviale Aufgabe, hier muss sehr viel Mathematik gemacht werden, hier müssen Leute aus verschiedenen Zünften zusammenarbeiten und es ist eine große Gefahr übrigens auch für uns Hirnforscher, dass wir hier letzten Endes auch gar nicht mehr ernst genommen werden können, wenn wir die Sache zu einfach machen." Musikakzent: Sprecherin: Schon immer suchten Künstler nach neuen Ausdrucksformen. Doch erst im zwanzigsten Jahrhundert wurden die Künste zu einem gigantischen Experimentierfeld. Die Ateliers der Avantgarde mutierten zum Versuchslabor. Ernst Pöppel. Take 6: (Ernst Pöppel) "Man versucht tatsächlich, das Gehirn in seinen Möglichkeiten stärker auszubeuten, neue Perspektiven zu finden, man macht tatsächlich Bewegungen in das Bild hinein, wie beim Mobile, man konstruiert zum Beispiel, man spielt mit der Farbe herum. Das heißt, Distanzen werden neu inszeniert. Das sind alles Dinge, die letzten Endes darauf zurückzuführen sind, dass wir den Reichtum unserer Erfahrungsmöglichkeiten versuchen auszunutzen." Sprecher: Künstler verhalten sich wie Forscher. Sie experimentieren, sie erfinden Dinge, die es zuvor noch nicht gab, und erobern so ganz neue geistige Kontinente. Take 7: (Ernst Pöppel) "Ein Experiment ist eigentlich wie ein Kunstwerk. Wir machen im Grunde sehr ähnliche Sachen. Das Produkt ist natürlich verschieden, und die Rezeption ist verschieden, aber der kreative Prozess ist meines Erachtens identisch, deswegen verstehen wir uns auch sehr gut, im Gegensatz zu unseren Stiefschwestern, Stiefbrüdern der anderen Fakultäten, der Geisteswissenschaften, die mit einem recht kritischen Blick auf uns schauen und meinen, hier kommen jetzt Naturwissen- schaftler, die etwas wegerklären wollen. Darum geht es überhaupt nicht. Es geht um die Erweiterung des Blickfeldes, um die Produktion und Rezeption der Künste besser oder anders zu verstehen." Musikakzent: Sprecher: Leonardo da Vinci hat für Hirnforscher eine besondere Faszination. Das hat verschiedene Gründe. Leonardo war nicht nur ein großer Künstler, er war auch ein bedeutender Wissenschaftler. Und er war Linkshänder, was Neurologen besonders interessiert, weil es die Funktion der beiden Hirnhälften betrifft. Das menschliche Hirn ist zweigeteilt, wir besitzen eine rechte und eine linke Hirnhälfte, erklärt der Bonner Neurologe Detlef B. Linke, ein Pionier der neuroästhetischen Forschung, der 2005 verstorben ist. Take 8: (Detlef B. Linke) "Es ist natürlich eindrucksvoll, dass es überhaupt gedoppelt ist in den Großhirnhälften, und dass wir in gewisser Weise auch gedoppelt sind. Man könnte sich ja noch an die alten Bilder erinnern, die auch Goethe beeindruckt haben, dass wir praktisch wie ein Ginko sind, wie ein Ginkoblatt, was so gedoppelt ist, und wo er dann sagt, sind wir Eins, das sich in zwei geteilt oder zwei, die sich in Eins gefunden? Warum ist das nicht eine Maschine oder ein System? Warum entfaltet sich das in zwei oder finden sich da zwei zusammen? Einige sagen ja sogar, dass wir zwei Gehirne hätten und warum haben wir zwei Gehirne?" Sprecherin: Grob gesagt, die linke Hirnhälfte dient dem Verstand, sie ist zuständig für die Sprache und das abstrakte Denken, während die rechte Hirnhälfte eher emotionale Prozesse steuert, und damit die weitaus kommunikativere Hirnhälfte ist. Sprecher: Interessanterweise wird in vielen Gemälden die linke Bildhälfte betont. Take 9: (Detlef B. Linke) "Wenn Sie sich Bilder von dem rechtshändigen Rembrandt anschauen, dann sind typischerweise schwere Baumgruppen im linken Bildfeld untergebracht, und die weite Landschaft ist im rechten Bildteil." Sprecherin: Bei linkshändigen Künstler ist das gewöhnlich anders. Sie malen eher symmetrisch. Kronzeugen wie Leonardo da Vinci oder die zeitgenössische Künstlerin Rosemarie Trockel bestätigen den Befund. Sprecher: Ernst Pöppel geht noch einen Schritt weiter. Er möchte wissen, wie sich Emotionen in der Bildkonstruktion ausdrücken. Take 10: (Ernst Pöppel) "Wir haben mal überprüft, ob es bei emotional starken Bildern eine Asymmetrie gibt in der Bildkonstruktion, die in gewisser Weise der Informationsverarbeitung im Gehirn entspricht, und dann stellt man fest, das weniger emotionale Bilder tatsächlich eher symmetrisch aufgebaut sind, und bei denen, die eine hohe Emotion tragen: Trauer, Freude, Ärger, dass die im statistischen Mittel sehr viel häufiger den Bildschwerpunkt auf der linken Seite haben, und das entspricht der Informationsverarbeitung in der rechten Gehirnhälfte, das ist also anatomisch so bedingt. Und das heißt, der Künstler hat offenbar ein implizites Wissen darüber, wie er Emotionen am einfachsten und am Schnellsten ansprechen kann." Sprecherin: Das Rechts-Links-Verhältnis hat auch Künstlerkollegen beschäftigt und auch sie haben versucht, das Phänomen zu deuten. Detlef B. Linke. Take 11: (Detlef B. Linke) "Man kann das praktisch in der Ästhetik von Kandinsky wunderbar nachlesen, wo das Schwergewicht verschiedener Bereiche eines Bildes beschrieben ist. Interessanterweise hat Sigmar Polke dagegen gelöckt und ein Bild gemalt, in dem im rechten oberen Winkel das Schwarz ist, während alles andere weiß ist, was völlig entgegengesetzt zur Kandinskyschen Ästhetik ist. Und er schreibt dazu auch: Höhere Geister befahlen schwarzes Dreieck in die obere rechte Ecke." Sprecher: Sigmar Polkes Intervention verweist auf die vielfältigen Möglichkeiten der Künstler, scheinbar feste Regeln zu durchbrechen. Das gilt auch für Leonardos Bild Mona Lisa. Was könnte ihr rätselhaftes Lächeln bedeuten? Take 12: (Detlef B. Linke) "Ich glaube der entscheidende Punkt ist dabei, dass wir mit dem Halsmuskel eigentlich lächeln, das heißt: Den Kopf etwas schräg halten bedeutet doch Emotionalität zum Ausdruck bringen, und die Mona Lisa sitzt sehr stramm und steif da und hat so ein leichtes Lächeln um die Mundzüge vielleicht. Aber der Kopf ist eben eher erstarrt in der Haltung, und das ist ein Widerspruch, und das macht das Lächeln eben so paradox. Wenn man auf dem Computerscreen mal den Kopf etwas umdreht, sieht man gleich dass sie viel freundlicher schaut." Sprecherin: Und auch Ernst Pöppel hat überlegt. Take 13: (Ernst Pöppel) "Die Mona Lisa zeigt ja in der Tat im Halbprofil mit ihrer linken Gesichtshälfte, der linke Mundwinkel wird bei der Mona Lisa etwas hoch gezogen, und dieses Bild hätte eine ganz andere Wirkung, wenn es seitenverkehrt wäre. Also auch Leonardo, der hat ein deutliches Wissen der Hirnforschung gehabt. Und dieses Detail ist sozusagen unserer Beitrag zur Interpretation der Mona Lisa." Musikakzent: Sprecher: Als vor 100 Jahren die Kubisten die Bühne betraten, wurden Künstler wie Georges Braques oder Pablo Picasso zu Wahrnehmungsforschern. Sie begannen das Verhältnis von Körper und Raum zu analysieren und machten ihre Erkenntnisse zum Bestandteil der künstlerischen Arbeit. Die Objekte auf ihren Bildern wurden zu scharfkantigen Flächen, und plötzlich gab es keinen Fixpunkt des Betrachters mehr. Sprecherin: Damit, sagt Ernst Pöppel, haben die Kubisten auch neurologische Fragen gestellt. Take 14: (Ernst Pöppel) "Ganz interessant ist, dass hier teilweise Konstruktionsprinzipien verwendet wurden, in denen bestimmte Teilaspekte des Bildes nicht mehr in einer Perspektive zu sehen sind, sondern dass nach einem Mechanismus, den wir aus der Hirnforschung heraus erklären können, wo alle paar Sekunden eine neue Bildperspektive gesucht wird, in ein Bild hinein eine Dynamik konstruiert wird. Wir haben zwar physikalisch ein Bild vor uns, aber aufgrund der Doppeldeutigkeit von verschiedenen Bildern entsteht eine innere Dynamik, so dass wir tatsächlich viele Bilder in einem Bild sehen können, das ist so ohne das Studium der Wahrnehmungspsychologie in dem Fall und dem Verständnis der Hirnprozesse gar nicht zu erklären." Sprecherin: Künstler wie Marcel Duchamp, Jean Tinguely oder Alexander Calder haben Schritt für Schritt mobile Elemente in ihre Kunstwerke gebracht und so ein besonderes Merkmal der visuellen Wahrnehmung betont. Take 15: (Ernst Pöppel) "Nehmen wir zum Beispiel auch Andy Warhol, Andy Warhol, der mit den Campbells Soups etwas zeigt. Obwohl das alles gleich ist, man beginnt zu suchen, weil es die innere Dynamik des Gehirns ausnutzt, oder man verwendet eben tatsächlich wie bei Mobiles oder modernen Künstlern - Carsten Höller ist zu nennen -, wo dann Bewegung inszeniert wird und damit eine ganz andere Anmutung geschieht." Musikakzent: Sprecher: Kunsthaus Bregenz, Frühjahr 2008. Der Biologe und Objektkünstler Carsten Höller bespielt das ganze Haus. Am Bodensee ist die Ausstellung Carrousel zu sehen, Höllers Installationen bevölkern vier Etagen. Der strenge Glaskubus des Museums ist ein perfektes Ambiente für seinen weitausgreifenden Versuch, ästhetische Erfahrung sinnlich zu vermitteln. Höller wollte auch biologische Sachverhalte miteinbeziehen. Er installierte laborartige Experimentierfelder, wo die Besucher Teil der inszenierten Bewegung wurden. Sprecherin: Im Erdgeschoss stand ein Karussell, das auf den ersten Blick nostalgischen Kirmesspaß versprach. Aber die zwölf Gondeln drehten sich nur sehr langsam und schraubten sich nur sehr gemächlich in sechs Meter Höhe. Während das lahme Karussell die Zeitwahrnehmung durcheinanderbrachte, wurden die Besucher ein Stockwerk höher mit 10.000 Leuchtdioden konfrontiert. Es gab auch ein Spiegelkabinett und ein sich drehendes Hotel-Karussell-Zimmer, das Besucher über Nacht mieten konnten. Im Katalog schrieb Eckhard Schneider, der damalige Leiter des Kunsthauses Bregenz. Zitator: "Ist Carrousel eine Ausstellung oder ein Erlebnispark, eine Versuchs- station, ein Experimentierlabor, gar eine Spielhölle oder ein Irrenhaus? Ist alles zusammen die Wahrheit, die eigentliche, oder sind dies alles doch nichts als kurz aufflackernde, leicht zu beeinflussende elektrische Impulse in unserem Gehirn?" Sprecher: In einem Essay nörgelt sich der Kunsthistoriker Carl Roitmeister durch die vier Etagen. Alles schon einmal dagewesen! Ein Karussell als Kunstwerk. Wie banal. Was für ein Haufen Zeugs da im Erdgeschoss zusammengeschraubt worden ist. Eine Lichtwand mit Folterambiente. Und dann auch noch ein Spiegelsaal. Es gibt ja nichts Ausgelutschteres, als Spiegel für eine Installation zu verwenden. Carsten Höller, bitte lass es einfach! Alles dreht sich, eine Platitude so knüppeldick aufzutragen, das muss ja nicht sein. Sprecherin: Der Verstand schreit: Nein. Doch dann folgt die Überraschung. Carl Roitmeister hat eine Nacht im drehenden Hotelzimmer verbracht. Zitator: "Ich kreise in meinem Bett im Raum herum. Ich bin von mir selbst beindruckt, denn ich habe unter dem Einfluss der höllerschen Beeinflussungsversuche reagiert. Ich wurde von dem reagierenden Teil in mir unterhalten und habe dabei die Funktionsweise meines Vergnügungs- triebes betrachten können, die sich gewöhnlich gut zu verstecken weiß. Ich denke nicht mehr gegen diese aufgeblasene Ausstellung an. All der höllersche Zierrat ist mir gleichgültig, ich lebe, und ich spüre es, denke ich. Ich blicke von der einen Seite zur anderen Seite meines Seins, und ich dehne es hinter neue Ecken in neue Räume. Es hat so lange gedauert, bis ich fähig war, die Gegenwart ein wenig zu genießen. Der Drang nach Vergnügen ist mein innerer Diktator, und ich weiß nicht, ob ich mehr bin als er." Musikakzent: Take 16: (Detlef B. Linke) "Das Tolle am Gehirn ist, dass es Gruppen von Aktivitäten ausselektieren kann, die viel differenzierter sind und auch auf beide Hirnhälften verteilt sind. Wenn das nur so binär arbeiten würde, oder nur so schwarz-weiß malend, wie wir das manchmal aus Bequemlichkeit gerne möchten, dann wäre das eigentlich ein gefährliches System. Denn das Entscheidende ist ja am Menschen, dass er die Schwarz-Weiß-Malerei auch überwinden und differenzieren kann. Will man Musik hören, um sich zu entspannen, dann wird man mit beiden Hirnhälften darauf reagieren, das ist ja die Funktion der Musik, dass sie auch eine verstärkt integrative Funktion hat. Will man analytisch damit umgehen, dann wird die linke Hirnhälfte stärker aktiviert sein, das heißt der Unterschied zwischen dem Dilettanten oder dem Musikliebhaber und dem Musikkritiker ist, dass der Musikkritiker nur mit seiner linken Hirnhälfte wesentlich wahrnimmt, jedenfalls in dem Moment, wo er seine Kritik schreiben will und darauf ausgerichtet ist, die dann auch zu formulieren." Sprecher: Wir nehmen immer rational und emotional wahr, erklärt Detlef B. Linke. Doch neben der begrifflichen und dem intuitiven Wahrnehmung ist Ernst Pöppel noch eine dritte Wahrnehmungsform wichtig: unser bildliches Wahrnehmungsvermögen. Take 17: (Ernst Pöppel) "Ein wesentlicher Aspekt ist, wie Bildlichkeit in unserem Hirn repräsentiert ist, also die Repräsentation von Bildern aus der Vergangenheit in unserem Gehirn, und da stellt man fest, dass in der Tat fast alle Bilder, die wir aus den früheren Phasen unserer Biografie im Gedächtnis haben, Standbilder sind, stationäre Bilder; im Traum werden sie dann manchmal zur Dynamikbildern zusammengepackt. Das heißt, die Tatsache, dass in der Kunst tatsächlich stationäre Bilder repräsentiert oder genutzt werden, entspricht durchaus den Mechanismen unseres Gehirns." Sprecherin: Wenn wir uns erinnern, sind wir alle ein wandelndes Bilderbuch. Take 18: (Ernst Pöppel) "Und wenn man jetzt fragt, was verbindet eigentlich die verschiedenen Formen des Wissens, dann ist es in der Tat das ästhetische Prinzip. Und diese Ästhetik, das ist unser evolutionäres Erbe, das sich darin äußert, dass wir es zum Beispiel gerne harmonisch, symmetrisch, mit kleinen Brücken darin, einfach haben. Und unsere Aufgabe als Hirnforscher ist, einfach diese Dinge, wie wir gemeint sind, transparent zu machen, wie wir sehen, wie wir denken, wie wir entscheiden, und diese Transparenz herzustellen, damit man tatsächlich in einer Kultur leben kann." Sprecherin: Die Neurologen wollen auch bei ästhetischen Fragen ihren Beitrag leisten. Das Bild vom genialen Künstler, der autonom sein Kunstwerk schafft, wird von ihnen nicht akzeptiert, auch jene, die sich von Kunstwerken begeistern lassen, die einem Konzert lauschen oder ein schönes Bild bewundern, müssen sich Fragen gefallen lassen. Take 19: (Ernst Pöppel) "Man muss mit Respekt zuhören und nicht den anderen gleich, ja sagen wir mal in eine andere Ecke schieben. Ich glaube, dass wir das auch erreichen werden, wenn man bereit ist, auch die Sprache des anderen zu verstehen. Häufig sind es auch Sprachschwierigkeiten, man weiß gar nicht, worüber der andere spricht." Sprecher: Die Grenzen zwischen Kunst und Naturwissenschaft werden überschritten. Die Neuro-Ästheten geben sich bescheiden, sie wollen den Künstlern und Kunstexperten respektvoll entgegentreten und jeden Eindruck vermeiden, dass nur die Neurowissenschaften zuständig für die letzten Wahrheiten seien. Aber andererseits: Die verifizierbaren Ergebnisse der Hirnforschung lassen sich nicht einfach ignorieren. Doch die Antworten der Neurologen führen zu immer neuen Fragen, und so sind ihre Erkenntnisse kein sicherer Hort für Zeitgenossen, die auf klare eindeutige Antworten hoffen. Musikakzent: Sprecher: Am Beginn der manieristischen Epoche steht Michelangelos Spätwerk. Zeitgenosse und Chronist Giorgio Vasari, schrieb damals über ihn. Zitator: "Er besaß eine so gewaltige Einbildungskraft, dass seine Hände die großen und schrecklichen Gedanken nicht darstellen konnten, die sein Geist in der Idee verfasste, und seine Arbeiten stehen ließ, oder richtiger viele verdarb." Sprecherin: Die Malerei des 16. Jahrhunderts von Michelangelo bis El Greco wird gemeinhin als Manierismus bezeichnet. Es wurde lange gestritten, ob der Manierismus eine eigenständige Stilepoche ist. Schließlich ist er die dunkle, bizarre Seite der klassischen Kunst, oft weit entfernt vom Guten, Wahren und Schönen. Sprecher: Mitte des letzten Jahrhunderts hat der Kunsthistoriker Gustav René Hocke das traditionelle Schema der Kunstepochen sabotiert. Er entwarf ein Panorama mehrerer Jahrtausende, eine existenzielle Menschenkunde des Europäers. Hocke interessierte sich nicht für Stilgeschichte, er wollte die manieristische Urgebärde, entschlüsseln. Das sollte zu einer universalen Seelenkunde führen, zu eine Tiefen-Ästhetik, die von den Bildern des kollektiven Unterbewussten spricht. Hocke ging es um die Seelen- und Schicksalsgeschichte des Europäers. Sprecherin: Vielleicht könnte das, was Gustav René Hocke mit seinem Manierismus- Studien wollte, heute unter ganz anderen Voraussetzungen wichtig werden. Denn auch den Neuro-Ästheten geht es um die Erforschung von Universalien, die ein Kunstwerk grundlegend mitbestimmen. Take 20: (Ernst Pöppel) "Gewisse Dinge in den Künsten, Dichtung, Musik, Malerei können gar nicht erklärt werden aus der Geschichte, der Kunstgeschichte heraus, sondern es sind einfach Sachverhalte, die für unsere Natur gelten, und hier gibt es Randbedingungen im künstlerischen Prozess, also in der Rezeption, in der Produktion, ein ganz wesentlich erweitertes Blickfeld, das wir brauchen, um hier eine gemeinsame Kultur und nicht nur Teilkulturen zu haben." Sprecherin: Gustav René Hocke war auf der Suche nach manieristischen Urge- bärden. Die Neuro-Ästheten suchen nach biologischen Mustern, nach formalen Bedingungen im Hirn, die unabänderlich sind. Eine dieser anthropologischen Konstanten hat Ernst Pöppel selbst entdeckt. Take 21: (Ernst Pöppel) "Vielleicht die bedeutendste Entdeckung, die ich gemacht habe, ist ein Zeitphänomen, dass wir so etwas wie eine subjektive Gegenwart haben, die zwei bis drei Sekunden beträgt und sich in vielen Bereichen menschlichen Verhaltens oder Lebens äußerst. In der Rhythmisierung der Sprache, im Bewegungsverhalten, bei Entscheidungsprozessen kann man gut selber beobachten, wenn man sich durchs Fernsehen hindurch zappt, beim Kurzzeitgedächtnis. Und da lag die Vermutung nahe zu überprüfen, ob dieses Dreisekundenphänomen sich auch in den Künsten zeigt." Sprecher: Gemeinsam mit dem texanischen Schriftsteller Fred Turner hat Ernst Pöppel Gedichte verschiedener Sprachen analysiert. Zitator: "Shall I compare thee to a summer's day? Thou art more lovely and more temperate. Rough winds do shake the darling buds of May, And summer's lease hath all too short a date." Take 22: (Ernst Pöppel) "Zum Beispiel: Shall I compare thee to a summer's day? Sonett 18 von Shakespeare, das gilt also für alle Sprachen, das gilt übrigens auch für das Chinesische, wo wir gerade tatsächlich Studien jetzt durchführen, wo wir vergleichen deutsche und chinesische Gedichte, die in der Dauer der Verszeile sehr ähnlich sind. Li Bai aus dem 8. Jahrhundert in China vergleichen wir mit Romantikern in Deutschland, also hier gibt es eine anthropologische Universalie, die der Dichter implizit nutzt, um etwas zum Ausdruck zu bringen. Man nutzt gleichsam das Gegenwartsfenster, um in einer Verszeile etwas zu repräsentieren." Sprecherin: Die optimale Aufmerksamkeitsspanne beträgt drei Sekunden. Dichter oder Musiker müssen dieses Zeitfenster erwischen, wenn sie optimale Aufmerksamkeit bei ihren Lesern oder Hörern finden wollen. Sprecher: Der Drei-Sekunden-Rhythmus ist ein kleiner Baustein, um den formalen Regeln der Kunstwahrnehmung auf die Schliche zu kommen. Take 23: (Ernst Pöppel) "Das große Rätsel aber, was bleibt: Wie können wir eine Verbindung herstellen von den molekularen und zellulären Prozessen im Gehirn, von den Abermilliarden, also weit über hundert Milliarden Nervenzellen und den Dingen, die wir auf der Verhaltensebene beobachten können, oder die wir mit den bildgebenden Verfahren beobachten können. Hier ist noch eine große Brücke zu bauen, und das ist so die große Heraus- forderung auch der Hirnforschung, also wir dürfen auch nicht in einen Neuro-Pop oder in einen Neuro-Hype hineinfallen. Das ist im Augen- blick unsere Gefahr; ,Fragen Sie einen Hirnforscher und er kann jede Frage beantworten' und manchmal sind wir dann etwas zu leichtfertig, Antworten zu geben, die wichtigen Fragen liegen erst vor uns." Musikakzent: Sprecherin: Wer sich für neurobiologische Grundlagen interessiert, kann von Künstlern unendlich viel lernen. In ihren Werken sind alle Erkenntnisse und Möglichkeiten des Menschseins versammelt. Detlef B. Linke schreibt. Zitator: "Künstler sind Experimentatoren des Gehirns. Ihre größte Leistung besteht darin, ein Hirnzentrum zu schaffen, das es vorher nicht gab." Sprecherin: Was die Hirnforscher interessiert, wussten die Kunst schon immer. Haben Künstler seit Menschengedenken die innere Grammatik des Gehirns ausgestaltet? Dann wäre die Kunstgeschichte ein gigantisches Lexikon aller erdenklichen Hirnfunktionen. Noch ist das imaginäre Lexikon ziemlich dünn, aber die Neuro-Ästheten sind fleißig, Jahr für Jahr werden neue Kapitel hinzugefügt. Links: www.association-of-neuroesthetics.org 1