"Jeder Mensch trägt die ganze Gestalt des Menschseins in sich" Eine Lange Nacht mit Michel de Montaigne Autor: Astrid Nettling Redaktion: Dr. Monika Künzel Regie: Stefan Hilsbecher SprecherIn: Birgitta Assheuer Volker Risch Folkert Dücker Sendetermin: 20. Oktober 2018 Deutschlandfunk Kultur 20./21. Oktober 2018 Deutschlandfunk ___________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde Musik (1): John Dowland, La Mia Barbara, Sololaute, Track 3, Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Die anderen bilden den Menschen, ich bilde ihn ab; und stelle hier einen einzelnen vor, der recht mangelhaft gebildet ist und den ich, wenn ich ihn neu zu formen hätte, gewiss weitgehend anders machen würde. Doch nun ist er halt so. Musik (1): John Dowland, La Mia Barbara, Sololaute, Track 1 nach Zitator "Lehre und Erprobung" ausblenden Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Obwohl die Züge meines Porträts wechseln und sich vielfach wandeln, bleiben sie doch stets wahrheitsgetreu. Die Welt ist nichts als ein ewiges Auf und Ab. Alles darin wankt und schwankt ohne Unterlaß. Selbst die Beständigkeit ist bloß ein verlangsamtes Schaukeln. So vermag ich den Gegenstand meiner Darstellung nicht festzuhalten, denn auch er wankt und schwankt in natürlicher Trunkenheit einher. Deshalb nehme ich ihn jeweils so, wie er in dem Augenblick ist, da ich mich mit ihm befasse. Ich schildere nicht das Sein, ich schildere das Unterwegssein - von Tag zu Tag, von Minute zu Minute. O-Ton (1) (Uwe Schultz): Das ist verbunden mit einem ziemlich sympathischen Monument seiner Person. Direkt gegenüber der Sorbonne steht es, und die Studenten haben da seine Füße so lange gestreichelt, wie man das im Petersdom mit dem Fuß des Petrus macht. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Könnte meine Seele jemals Fuß fassen, würde ich nicht Versuche mit mir machen, sondern mich entscheiden. Doch sie ist ständig in der Lehre und Erprobung. Sprecherin: Versuche - französisch: "essais". Im Wörterbuch finden sich die Übersetzungen: Probe, Untersuchung, Versuch, Test, Experiment. Unter "essayer": versuchen, erproben, ausprobieren, prüfen, untersuchen. O-Ton (2) (Uwe Schultz): "Essai" ist der Versuch, über einen Tatbestand, vor allem über sich selbst ins Klare zu kommen. Er hat Eindrücke aus seiner Umwelt, aber vor allem sich selbst, sein eigenes Verhalten, das hat er in einer Form festgehalten, die quasi sein eigenes Original ist. Mit den "Essais" schafft er eine Form, die weit vom akademischen Gelehrtentum entfernt ist. Man macht keine dicken Bände über einen Stoff, den man endlos durchwalkt, möglichst noch mit Anmerkungen. Kein Plädoyer, sondern eine Pointe muss die Sache treffen, sie muss aber auch gleichzeitig originell sein. Das Allerschlimmste ist ja in Frankreich sowieso, dass es langweilig ist. Sprecherin: Uwe Schultz ist Publizist und Verfasser einer Monographie über Michel de Montaigne. O-Ton (3) (Uwe Schultz): Der einzige Fixpunkt war für ihn das Ich, das eigene Ich in seinem Wandel. Sprecherin: Zwar besitzen wir kein lebensechtes, mit Pinsel und Farbe gemaltes Bild von Montaigne, dafür aber sein höchstpersönlich mit Feder und Tinte geschriebenes Porträt seiner selbst. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Dies hier ist also das Protokoll unterschiedlicher und wechselhafter Geschehnisse sowie unfertiger und mitunter gegensätzlicher Gedanken. Daher mag ich mir zwar zuweilen widersprechen, aber der Wahrheit widerspreche ich nie. Autoren pflegen sich in einer fachgebundenen, ihnen äußerlichen Eigenschaft an die Öffentlichkeit zu wenden, als Architekten etwa, als Ärzte oder Anwälte, ich hingegen als erster mit meinem vollen Sein, als Michel de Montaigne. O-Ton (4) (Thomas Maissen): Man sieht es auch sehr gut in der Kunst, wo die Tatsache, dass Kunstwerke persönlich gezeichnet werden, auch ein spätes Phänomen des 15. Jahrhunderts im Wesentlichen ist. Vorher ist es oft sehr schwer zu entscheiden, wer war der Künstler, der das gemacht hat. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Aber ist es denn recht, daß ich mich öffentlich bekannt zu machen suche? Ich kann zumindest folgendes für mich geltend machen: Erstens hat noch nie ein Mensch einen Gegenstand behandelt, den er besser gekannt und erfaßt hätte als ich den meinen. Zweitens vermochte noch nie einer tiefer in den seinen einzudringen, die Teile gründlicher bis in die feinsten Verästelungen zu untersuchen. Um das meine zu vollenden, brauche ich nur bei meiner Wahrheitstreue zu bleiben. Sprecherin: Wie nah und lebendig klingen die Worte, obwohl sie von weither kommen. Fast fünfhundert Jahre liegen zwischen ihrem Verfasser und uns Lesern heute. Die Geschichtsschreibung spricht davon, dass sich in dieser Zeit das Ich zu Wort meldet, davon, dass mit dem Ende des Spätmittelalters das Individuum entdeckt wird. O-Ton (5) (Thomas Maissen): Wenn wir von der Entwicklung oder Entdeckung des Individuums reden, dann denkt man an die Renaissance, die zuerst in Italien im 14., vor allem im 15. Jahrhundert begonnen hat. Petrarca zum Beispiel - und Montaigne gehört durchaus auch in diese Zeit. Sprecherin: Thomas Maissen ist Historiker mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit und Direktor am Deutschen Historischen Institut Paris: O-Ton (6) (Thomas Maissen): Man kann davon ausgehen, dass da eine gewisse Verzögerung nördlich der Alpen gewesen ist in Frankreich, in Deutschland bei dieser Bewegung. Die Entdeckung des Individuums ist aber eine nachträgliche Deutung, ist nicht, was die Zeitgenossen selbst so definiert hätten, die Humanisten im wesentlichen, die eher betont haben, dass sie eine Vergangenheit wiederentdeckt und zu neuem Leben erweckt haben - die griechische, die lateinische Antike. Individuum heißt ja nicht, dass es vorher keine Individuen gegeben hätte, aber die Selbstwahrnehmung, in dem, was wir heute Mittelalter nennen, diese Selbstwahrnehmung war sehr stark eingebunden in Gruppen. Man hatte vor allem im Adel natürlich sehr stark eine genealogische Einordnung oder dann in der Gruppe, in der man war, die Kirchengemeinde, die Zunft. Der Einzelne war nicht derjenige, der sich selbst verwirklichen wollte oder sich selbst verwirklichen konnte. Und diese Individualität ist eine Grunderfahrung der Zeit, die sich in ganz verschiedenen Formen ausgedrückt hat, nicht zuletzt auch in Biographien oder eben auch in Autobiographien. Da sind wir schon relativ nahe bei Montaigne, der eigentlich so eine psychologische Seelenforschung bei sich betreibt, sich dabei von der Antike inspirieren lässt, aber auch in ganz neue Dimensionen vorstößt. Sprecherin: Die Frucht dieser individuellen Seelenforschung ergibt ein Buch, das den schlichten Titel "Essais" - "Versuche" erhält. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Dieses Buch, Leser, gibt redlich Rechenschaft. Wäre es mein Anliegen gewesen, um die Gunst der Welt zu buhlen, hätte ich mich besser herausgeputzt und käme mit einstudierten Schritten daherstolziert. Ich will jedoch, daß man mich hier in meiner einfachen, natürlichen und alltäglichen Daseinsweise sehe, ohne Beschönigung und Künstelei, denn ich stelle mich als den dar, der ich bin. Meine Fehler habe ich frank und frei aufgezeichnet, wie auch meine ungezwungene Lebensführung, soweit die Rücksicht auf die öffentliche Moral mir dies erlaubte. Hätte ich unter jenen Völkern mein Dasein verbracht, von denen man sagt, daß sie noch in der süßen Freiheit der ersten Naturgesetze leben, würde ich mich, das versichere ich dir, am liebsten rundum unverhüllt abgebildet haben, rundum nackt. Ich selber, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs. Geschrieben zu Montaigne, am heutigen ersten März eintausendfünfhundertachtzig. Sprecherin: Mit dieser Vorrede übergibt Montaigne seiner Leserschaft die erste Ausgabe der "Essais". Weitere Ausgaben mit immer neuen Zusätzen werden folgen. Er ist siebenundvierzig Jahre alt. Rund acht Jahre hat er an seinem Selbstporträt geschrieben. Jahre, in denen nicht nur die Züge seines Porträts wechseln und sich vielfach wandeln und in denen nicht bloß sein Ich wankt und schwankt, es sind Jahre, in denen auch die Welt um ihn herum - Frankreich und Europa - wankt und schwankt. O-Ton (7) (Thomas Maissen): Es gibt verschiedene Spannungsfelder, eines ist die Konfession. Einerseits die Katholiken, auf der anderen Seite die verschiedenen Formen von Protestantismen: die Lutheraner im deutschen Kontext, Zwinglianer im reformierten Schweizer Kontext, die Calvinisten vor allem für Frankreich natürlich wichtig, die Reformierten auch im niederländischen Bereich, die Anglikaner in England. Der zweite prägende Konflikt ist der Gegensatz zwischen den katholischen Mächten und den protestantischen Mächten jetzt nicht auf der innerstaatlichen Ebene, sondern zwischen den Staaten. Vor allem zwischen den Engländern, Elisabeth I., und Spanien, also der katholischen Vormacht Philipps II., Frankreich ist da immer ein bisschen dazwischen. Man kann im 16. Jahrhundert in Europa Religion und Machtpolitik nicht auseinanderhalten, die Grenzen sind fließend und das liegt daran, dass die Trennung von Kirche und Staat, von Politik und Religion, wie wir sie kennen, nicht vorstellbar war. Es gibt einen Gott, es gibt eine Wahrheit, es muss also auch eine Kirche geben, und hierüber kann man letztlich auch nicht diskutieren und auch keine Kompromisse eingehen. Die Frage ist nur, welche ist die richtige Kirche, und diese Kämpfe, die in Frankreich und später im 30jährigen Krieg in Deutschland genauso heftig ausbrechen, diese Kämpfe haben auch einen eigentlich endzeitlichen Charakter, in dem es darum geht, über den Schlachtensieg zu beweisen, was der göttliche Wille ist. Sprecherin: Der Katholik Michel de Montaigne wird diese Kämpfe, die in Frankreich während der sog. Hugenottenkriege von 1562-1598 dauern, hautnah zu spüren bekommen. Seine "Essais" sind auch eine Antwort darauf. Sind der Versuch, in den Zeiten, wo alles um ihn herum wankt und schwankt, wenigstens an seinem Ich einen - wenn auch selbst wankenden und schwankenden - Halt zu finden. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Welch Monstrum von Krieg! Die anderen wüten gegen einen äußeren Feind, dieser gegen sich selbst: Sein eigenes Gift zerfrißt und zersetzt ihn. Er ist von so bösartiger und zerstörerischer Natur, daß er sich vor lauter Wut Glied für Glied ausreißt, bis er mit allem übrigen zerfetzt am Boden liegt - wir sehen, wieviel häufiger er in sich selbst zusammenbricht als durch feindliche Macht. Er will den Aufruhr aus der Welt schaffen und ist selber voll davon. Wohin ist es mit uns gekommen! Tausendmal habe ich mich zu Haus mit dem Gedanken schlafen gelegt, man könnte mich in dieser Nacht verraten und ermorden, und vom Schicksal erbat ich mir nur, dies möge ohne Entsetzlichkeiten und lange Qualen vor sich gehn. O-Ton (8) (Thomas Maissen): Man kann sagen, dass die Kämpfe in den französischen Religionskriegen durch diesen endzeitlichen Charakter eine besondere Grausamkeit hatten, auch eine besondere Symbolkraft. Man hat natürlich Kirchen zerstört, man hat Gegner niedergemetzelt und auch verunstaltet. Hier hat also die symbolische Deutung des Krieges eine sehr starke Rolle gespielt, ob letztlich deswegen mehr Gewalt angewendet wurde oder es grausamere Kriege waren als etwa im 30jährigen Krieg, ist natürlich schwer zu beurteilen. Aber wir sehen das ja auch heute, in dem Moment, wo die Wahrheitsfrage auf dem Spiel steht und damit auch die Frage des Seelenheils, dann kann man über einen militärischen Sieg eben auch eine göttliche Ordnung legitimieren. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Ich lebe zu einer Zeit, in der es durch die Zügellosigkeit unserer Bürgerkriege von unglaublichen Beispielen dieses Lasters der Grausamkeit nur so wimmelt, und man findet in der alten Geschichte keine ungeheuerlicheren, als wir sie Tag für Tag vor Augen sehen. Ich hätte, bevor ich es selbst erlebte, kaum geglaubt, daß es so blutrünstige Seelen geben könnte, die aus reiner Mordlust andere hinmetzeln, indem sie ihnen die Glieder ausreißen oder abhacken, und die sich den Kopf zerbrechen, um neue Foltern und Todesarten zu ersinnen. O-Ton (9) (Thomas Maissen): Dabei muss man sich vorstellen, dass in Deutschland die konfessionellen Kriege, die es durchaus gab - der Schmalkaldische Krieg 1546, 1547 zum Beispiel -, zwischenstaatliche Kriege waren zwischen Reichsständen, während es in Frankreich darum ging, eine Wahrheit für ein ganzes Reich zu finden. Und da ist es denkbar, dass hier eine besondere Grausamkeit sich ausgedrückt hat in dem Bewusstsein, dass es um das Ganze geht, im politischen Sinn wie auch im Glauben und auf das Heil bezogenen Sinn. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Die gerechte Sache beschäftigt mich nur in Maßen, ohne jeden Überschwang. Gegen Bindungen und Verpflichtungen, die sich unseres Innern bemächtigen wollen, bin ich gefeit. Ich würde der gerechten Sache bis an den Scheiterhaufen folgen, aber, wenn es sich vermeiden läßt, nicht hinein. Mag Montaigne, bricht alles zusammen, mit in den Abgrund stürzen, so es denn sein muß; doch so es nicht sein muß, werde ich dem Schicksal Dank wissen, wenn ihm das erspart bleibt. Sprecherin: Aber fangen wir mit dem Anfang an. Mit dem Jahr, in dem im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts Michel de Montaigne im Südwesten Frankreichs, im Périgord, das Licht der Welt erblickt. Auf Schloss Montaigne, das südöstlich von Bordeaux gelegen ist. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Ich wurde zwischen elf und zwölf mittags am letzten Tag des Februars eintausendfünfhundertdreiunddreißig nach unserer Zeitrechnung geboren. Montaigne ist meine Geburtsstätte und die der meisten meiner Vorfahren. Ihre ganze Liebe haben sie ihr gegeben und ihren Namen angenommen. Sprecherin: Doch halt - hier retuschiert Montaigne sein Selbstporträt ein wenig. Ein gewisser Stolz auf Adel und Titel scheint ihm an dieser Stelle die Feder geführt zu haben. Stolz ebenso auf das prachtvolle Wappen, welches das große Portal an der Tordurchfahrt zum Schloss ziert: Es zeigt - verteilt auf azurblauem Grund - goldene Kleeblätter und in der Mitte eine gelbe Löwenpranke mit ausgefahrenen roten Krallen. O-Ton (10) (Uwe Schultz): Michel de Montaigne ist mit einem ursprünglich bürgerlichen Namen zur Welt gekommen - Michel Eyquem. Er hat dann selbst diesen Namen nach dem Landsitz dort variiert, Montaigne kommt direkt aus Montagne, aber das wurde dann veredelt durch ein i. Er spricht davon, dass seine Vorfahren dort geboren wurden. Das stimmt nicht, nur sein Vater. Die Familie war sehr wohlhabend, der Großvater hatte ein Vermögen in Bordeaux gemacht, vor allem als Weinhändler. Und sein Vater war vor allem tätig, um möglichst viele Ländereien noch dazuzukaufen. Es sollen 250 Parzellen gewesen sein. O-Ton (11) (Thomas Maissen): Montaigne ist ja eigentlich ein Aufsteiger aus einer Familie, die eher aus dem Handel kommt. Seine Mutter war möglicherweise jüdischen Ursprungs von Flüchtlingen aus dem spanischen oder aus dem portugiesischen Reich. Das heißt, hier ist der Stolz noch mal ein ganz anderer, nämlich derjenige, der es zu etwas gebracht hat, auch einen Sitz hat, nach dem er sich nennt. Das ist etwas anderes als der Adel, der im 16. Jahrhundert durchaus auf die Kreuzritter oder auf die Paladine von Karl dem Großen sich zu berufen pflegte, also, sehr stark diese militärische Dimension pflegte, während wir es hier mit dem zu tun haben, was man dann in Frankreich Noblesse de Robe nennt, also, Leute, die über ihren wirtschaftlichen Erfolg, über ihren Reichtum zu Adelstiteln gelangt sind, auch wenn der Vater von Montaigne durchaus auch als Krieger in Italien unterwegs war. Montaigne selbst war dann wieder eher bürgerlich, wie wir vielleicht sagen würden. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Mein Vater war außerordentlich bedacht auf Untadeligkeit und Dezenz in Körperhaltung und Kleidung, sei es zu Fuß, sei es zu Pferde. Unglaublich zuverlässig im Worthalten und von skrupulöser Gewissenhaftigkeit. In allen ritterlichen Übungen geschickt und sich auszeichnend. O-Ton (12) (Thomas Maissen): Die Wertvorstellungen, die entscheidend sind, orientieren sich an der Tugend. Eine Mischung aus antiker Tugend, also, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung vielleicht auch als Wert und christliche Tugend, sehr stark geprägt durch das Ideal von Rittern, Kreuzrittern, auch in einer Zeit, in der zum Beispiel in Spanien die Reconquista ja erst gerade abgeschlossen ist und in der dann eben in den Religionskriegen auch viele Adelige im Einsatz stehen. O-Ton (13) (Uwe Schultz): Der Vater, der mit Heinrich II. in den Krieg nach Italien gezogen ist - dort hat er sogar ein Tagebuch geführt -, hat die Renaissance aus Italien mitgebracht. Seinem Sohn wollte er früh Latein beibringen, das ist in der Weise geschehen, dass man im Hause Montaigne nur Latein sprach, und dieses Latein hat ihn sehr früh geprägt. Er hat das immer dankbar hingenommen auch für seine spätere literarische Arbeit. Sprecherin: Als erstes aber wird der kleine Michel - von seinem Vater zärtlich "Micheau" genannt - direkt nach der Geburt einer Amme übergeben, wie es in adligen Kreisen damals üblich war. Unüblich war es hingegen, dass es sich dabei um die Familie eines armen Köhlers handelt, die in einem Dorf lebt, das zu den väterlichen Besitzungen gehört. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Der gute Vater beließ mich dort, solange ich gestillt wurde, um mich an die einfachste und niedrigste Lebensweise zu gewöhnen. Er wollte mich mit dem Volk in nahe Berührung bringen und mit dem menschlichen Stande, der unserer Hilfe bedarf. Das war auch der Grund, warum er mich von Personen niedrigsten Standes aus der Taufe heben ließ, um mich solchen zugetan und geneigt zu machen. Seine Absicht ist ihm auch nicht mißglückt: Ich gebe mich gern mit kleinen Leuten ab. Musik Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Dann vertraute er mich noch im Säuglingsalter einem Deutschen an; er war unserer Sprache völlig unkundig, aber höchst bewandert in Latein. Dieser Mann trug mich ständig auf den Armen und redete in keiner anderen Sprache mit mir. Auch für die übrigen Mitglieder unseres Haushalts galt die unverbrüchliche Regel, daß sowohl mein Vater selbst wie meine Mutter, sowohl Diener wie Kammerzofe ausschließlich die paar Brocken Latein verwenden durften, die sie alle hatten lernen müssen, um mit mir plappern zu können. Wir latinisierten uns dermaßen, daß einiges hiervon bis in die rundum liegenden Dörfer drang, wo es für manche handwerkliche Berufe und Arbeitsgeräte heute noch lateinische Bezeichnungen gibt. Ich meinerseits verstand noch nach meinem sechsten Lebensjahr Französisch oder das heimische Périgordisch nicht besser als Arabisch. Sprecherin: Michel ist der älteste Sohn von Pierre Eyquem. Nach ihm kommen noch sechs weitere Kinder zur Welt. Er ist jedoch der Einzige, dem dieses ungewöhnliche Erziehungsexperiment zuteil wird. Dazu gehört auch, dass der Vater im Glauben, "es verwirre das zarte Gehirn der Kinder, wenn man sie am Morgen jählings wachrüttle", seinen Micheau, "vom Wohlklang eines Spinetts oder irgendeines sonstigen Instruments wecken ließ". Was seine Mutter von all dem gehalten hat, teilt uns Montaigne nicht mit. Um so häufiger spricht er von seinem Vater, der dem kleinen Michel die besten Voraussetzungen für ein Leben schaffen will, wie es dem Renaissance-Ideal einer humanistischen, durch die klassische Antike geformten Bildung und nicht zuletzt einem Mann von Adel gebührt. O-Ton (14) (Thomas Maissen): Die Bedeutung des Adels in einer Zeit, in der der Staat nur sehr beschränkt existiert: Es gibt wenig Institutionen, es gibt keine Polizei im modernen Sinn, die Kirche erfüllt viele Funktionen. Da hat der Adel eine zentrale Rolle als Herr in seinen Territorien und in der er Recht spricht, in der er für Ordnung sorgt. Deswegen ist die Verbindung zwischen Adel und militärischer Befähigung absolut zentral, und daraus kommt auch, wenn ich das jetzt so ein bisschen modern sage, ein Amtsverständnis, das eines ist, das auf Würde, auf Ehre, auf die Macht, natürlich auch Machterhalt und die militärische Schlagfähigkeit abstellt. Das führt auch dazu, dass die verschiedenen Gruppen des Adels, also der alte Schwertadel und der neue und bürgerliche Adel, aufgestiegene Adel, dass die sich gegenseitig nicht unbedingt grün sind und durchaus hier ganz unterschiedliche Vorstellungen von Adel existieren. Sprecherin: Der Historiker Thomas Maissen: O-Ton (15) (Thomas Maissen): Aber was gemeinsam ist: Ein Adliger ist eigentlich jemand, der nicht arbeitet im bürgerlichen Sinn, weil er nicht arbeiten muss, sondern er lässt andere für sich arbeiten. Er ist ein Landbesitzer, das ist absolut zentral, und er ist eigentlich derjenige, der im antiken Sinn auch voll Mensch sein kann, kann existieren, ohne dass er seine Hände dreckig macht, kann Bücher lesen, er kann reisen, er hat die Möglichkeiten, die es braucht, um über die Bedingungen und die Bedingtheiten des Alltags hinauszuwachsen. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Unser Haus steht schon lange den Männern der Wissenschaft offen. Mein Vater scheute weder Mühe noch Aufwand, mit gelehrten Männern Umgang zu pflegen. Er empfing sie in seinem Haus wie von göttlicher Weisheit Erleuchtete und nahm ihre Darlegungen auf, als wären sie Orakelsprüche. Ich liebe sie auch, aber ohne sie zu vergöttern. Sprecherin: Doch zum Leidwesen seines Vaters erbringt das Bildungsprogramm für seinen Sprößling erst einmal nicht die erhofften Früchte. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Erstens war mein Acker steinig und unfruchtbar. Zwar hatte ich ein sanftes und umgängliches Naturell, dabei war ich aber so schwerfällig, schlaff und verschlafen, dass man mich meiner Saumseligkeit nicht einmal zum Spielen entreißen konnte. Und zweitens schickte er mich in meinem etwa sechsten Lebensjahr auf das Collège de Guyenne, das damals in höchster Blüte stand und das beste in Frankreich war - doch was half's: Es blieb halt eine Lehranstalt. Mein Latein verlotterte von Stund an. Sprecherin: Seine Abneigung gegenüber Lehranstalten gleich welcher Art bleibt ihm sein Leben lang erhalten. Züchten diese nach seiner Überzeugung in der Regel doch bloß "mit Büchern beladene Esel heran, die man unter Rutenschlägen dazu zwingt, ihre Schultaschen voll Wissen ständig mit sich herumzuschleppen". Aber nicht durch Zucht und Rute, sondern allein mit Liebe öffnet man sich den Büchern und ihrem Wissen, um danach "den Bund fürs Leben" mit ihnen zu schließen. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Geschmack an Büchern habe ich durch die Freude an Ovids Metamorphosen gewonnen, da sie ja in meiner Muttersprache Latein geschrieben waren. Um so nachlässiger freilich wurde ich nun im Erlernen der anderen vorgeschriebenen Lektionen. Wenn mein Lehrer so töricht gewesen wäre, meinen Überschwang zu bremsen, hätte ich vom Internat vermutlich nichts anderes heimgebracht als einen Haß auf Bücher, wie es fast unserm ganzen Adel ergeht. Die wichtigsten Eigenschaften nämlich, auf die mein Vater bei der Auswahl meiner Erzieher achtete, waren Freundlichkeit und verständnisvolles Wesen. Da mein einziger Charakterfehler im Hang zur Saumseligkeit und Faulenzerei bestand, war die Gefahr nicht, daß ich etwas Übles, sondern daß ich gar nichts täte. Nicht ein schlechter Mensch würde aus mir werden, wohl aber ein nichtsnutziger lautete Jedermanns Prognose. Ich merke, daß es genauso gekommen ist. Sprecherin: Lassen wir diese charmante Untertreibung so stehen. Tatsächlich liegt dem jungen Nichtsnutz nichts weniger, als stillzusitzen und harte Schulbänke zu drücken. Er braucht Bewegung. Am liebsten sitzt er im Sattel und galoppiert über die baumbestandene Schlossallee hinaus in die Landschaft der Dordogne mit ihren sanft geschwungenen Hügeln und den vielen Weinbergen, in die auch das väterliche Anwesen eingebettet ist. Reitet dem gewundenen Bachlauf der Lidoire entlang in Richtung Montpeyroux, durch die Wälder und Wiesenlandschaft nach Montravel oder nach Südwesten in Richtung Bordeaux. Reiten, stundenlang reiten, egal bei welchem Befinden, egal bei welchem Wetter - "außer in der Gluthitze einer sengenden Sonne; aber ich liebe Regen und Schlamm wie die Enten." Von frühester Jugend an bis hinein ins Alter bildet das Reiten die einzige Fortbewegungsart, die für ihn in Frage kommt. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Ich mochte mich nicht anders als zu Pferde zu bewegen. Und wäre mir von meinem Los hienieden ein Leben ganz nach meiner Art beschieden, so würde ich es mit dem Hintern im Sattel verbringen. Was ich nicht lange auszuhalten vermag (und in meiner Jugend vermochte ich es noch weniger), sind Kutschen, Sänften und Schiffe - ja, ich verabscheue alle Fortbewegungsmittel außer Pferde, ob in der Stadt oder auf dem Land. Wenn ich einmal im Sattel bin, steige ich nicht gern wieder ab, denn in dieser Haltung fühle ich mich am wohlsten, ob gesund oder krank. Hätte ich zu wählen, würde ich, davon bin ich überzeugt, lieber als im Bett zu Pferde sterben. Sprecherin: Vom Schloss Montaigne nach Bordeaux sind es rund 60 km. Es bedeutet einen Ritt von mehreren Stunden. An zwei Stellen - beim Überqueren der Dordogne und der Garonne - muss er absteigen, sein Pferd auf eine Fähre führen und sich ihrem "Geschüttel" aussetzen. "Die leichten Stöße, welche die Ruder dem von ihnen angetriebenen Boot mitteilen, erzeugen in mir ein irgendwie schwummriges Gefühl im Kopf und Magen." Besonders schlimm wird das "Geschüttel", wenn im Frühjahr und im Herbst die beiden Flüsse von den vom Meer kommenden Flutwellen aufgewühlt werden. Hat er schließlich Bordeaux erreicht, ist er auch dort froh über Pferd und Sattel. "Auf dem Pflaster bin ich von meiner Jugend an lieber geritten als zu Fuß gegangen; zu Fuß werde ich schmutzig bis zu den Gesäßbacken." Denn - so erfahren wir bei dieser Gelegenheit - Montaigne ist von kleiner Statur. Er ist zu klein geraten, wie er in späteren Jahren frank und frei gesteht. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Das ist nicht nur ein Schönheitsfehler, sondern bringt auch Unannehmlichkeiten mit sich, vor allem für den, der zu befehlen hat und Ämter bekleidet; denn die Autorität geht ihm ab. Es ist doch recht ärgerlich, wenn ich unter meinen Bedienten dastehe und man sich mit der Frage an mich wendet: "Wo ist der Herr?" Oder wenn ich sehen muß, wie bei meinem Erscheinen gerade die Hüte wieder aufgesetzt werden, die man vor meinem Sekretär oder Barbier gezogen hat. Musik Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Die Männer können nur durch ihre Statur schön sein - alle anderen Schönheiten sind den Frauen vorbehalten. Ist einer kleinwüchsig, vermögen weder die Breite und Wölbung der Stirn noch die Klarheit und Sanftheit der Augen, weder der mittlere Schnitt der Nase noch die Feinheit von Ohren und Mund, weder die Wohlgeordnetheit und Weiße der Zähne noch die gleichmäßige Fülle eines kastanienbraunen Bartes, weder das kräftige Haar noch die rechte Rundung des Kopfes, weder die Frische der Hauttönung noch die angenehmen Gesichtszüge, weder die Geruchlosigkeit des Körpers noch das stimmige Größenverhältnis der Gliedmaßen einen schönen Mann aus ihm zu machen. Sprecherin: Voilà - hier schenkt uns Montaigne ein Selbstporträt als junger Mann. An der fehlenden Körpergröße freilich lässt sich nichts ändern, außer sich möglichst oft aufs Pferd zu setzen. Seine kleine Statur aber hindert ihn keineswegs daran - hübsche Mädchen gibt es auf den väterlichen Besitzungen genug - erotisch höchst aktiv zusein. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Als junger Mann, von Amors Flügelschlägen bald dieser, bald jener zugeführt, frönte ich unbesonnen und hemmungslos wie sonstwer den Begierden, die mich gepackt hielten: Wer wie ich das Schwert geführt, ist ein Mann, dem Ruhm gebührt. Mehr indessen in der Dauer und anhaltend als durch Heftigkeit des ersten Angriffs: Auf sechsmal habe ich's in der Nacht, soweit ich mich entsinne, kaum gebracht. Es war, wie ich bekennen muß, wahrhaftig Malheur und Mirakel zugleich, in welch zarter Jugend ich zufällig jenem Gott in die Arme lief; und um Zufall handelte es sich in der Tat, denn es geschah lange vor dem wahl- und erkenntnisfähigen Alter - so lange davor, daß ich mich dessen gar nicht mehr genau entsinne. Musik Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Und wenn ich eine mit mir unzufrieden fand, habe ich keineswegs gleich ihren lockeren Lebenswandel dafür verwantwortlich gemacht, sondern mich vielmehr gefragt, ob es nicht angebrachter wäre, meiner Natur die Schuld zu geben, denn ist mein allerbeses Stück nicht lang genug und stramm und dick, dann hat sie mich fürwahr ungerecht und stiefmütterlich behandelt. Jedes meiner Glieder macht mich gleichermaßen zu dem, was ich bin, keins aber mehr als dieses zum Mann. Sprecherin: Nicht ohne Erstaunen lesen wir seine confessions intimes. Noch heute frappiert uns ihre Freizügigkeit. Aber schließlich hatte er sich am liebsten rundum unverhüllt, rundum nackt abbilden wollen - hier ist es seiner Feder bemerkenswert gut gelungen. "Ich schulde der Öffentlichkeit mein Porträt ohne jeden Abstrich." Denn was für ein unsinniges Getue machen die Menschen gewöhnlich um eine Sache, die für ihn zum Natürlichsten von der Welt gehört. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Kommen wir zum Thema. Was hat der Geschlechtsakt, dieser so natürliche, nützliche, ja notwendige Vorgang den Menschen eigentlich angetan, daß sie nicht ohne Scham davon zu reden wagen und ihn aus den ernsthaften und sittsamen Gesprächen verbannen? Wir haben keinerlei Hemmung, die Worte töten, rauben und verraten offen auszusprechen - und da sollen wir uns dieses bloß zwischen den Zähnen zu murmeln getraun? Meinen wir gar, wir hätten, je weniger Worte wir darüber machen, ein um so größeres Recht, mit unseren Gedanken ständig darin zu schwelgen? Es ist doch ein Witz, daß die Worte, die am wenigsten in den Munde genommen werden, zugleich die bekanntesten und am besten verstandnen sind. Sprecherin: Doch kehren wir zu den Sohnespflichten zurück, die auf den jungen Nichtsnutz warten. Nach dem Willen seines Vaters beginnt Montaigne, als er seine Schulzeit im Collège de Guyenne beendet hat, in Bordeaux mit dem Jurastudium. Er setzt es in Toulouse fort. Seine Leser verlieren ihn für diese Jahre aus dem Blick. In seinen "Essais" schweigt er sich über seine Studienzeit aus. Erst als blutjunger Ratsherr - er ist gerade mal einundzwanzig Jahre alt - tritt er wieder in Erscheinung. Sein Vater ist zu dieser Zeit Bürgermeister von Bordeaux. Seinem Sohn kauft er das Amt eines Ratsherrn am Steuergerichtshof in Périgueux. Drei Jahre später wird Montaigne Parlamentsrat in Bordeaux. Der Publizist Uwe Schultz: O-Ton (16) (Uwe Schultz): Der junge Michel de Montaigne war eigentlich eine ziemlich konventionelle Existenz, bis er sich entschließt, was Eigenes zu machen. Also, er hatte entsprechend dem Wunsch seines Vaters diesen Weg gewählt der Noblesse de Robe, das heißt also Amtsadel. Man studierte Jura, man wurde dann wie der Vater auch Parlamentsrat. Parlamente waren damals reine Gerichtshöfe, die die königlichen Erlasse genehmigen mussten. Das taten sie dann zum Teil sehr ungern und benutzten das, um dem König zu widersprechen. O-Ton (17) (Thomas Maissen): Der König muss immer sich absprechen, er muss Lösungen finden mit denjenigen, die vor Ort in den verschiedenen Provinzen des Reichs das Sagen haben, das ist der Hochadel. Der Hochadel hat kein Interesse daran, alle seine Macht abzugeben an den König, er muss aber seinerseits auch mit dem König klarkommen. Also, hier ist einerseits ein Beharren auf Autonomie im eigenen Territorium, aber andererseits eine beschränkte Bereitschaft zur Kooperation mit der Krone etwas absolut Entscheidendes. O-Ton (18) (Uwe Schultz): Bordeaux als Großstadt, muss man fast sagen für jene Epoche, war eine Stadt, die über besonderen Reichtum verfügte. Bordeaux war reich geworden durch den Weinhandel meistens mit England und war eine interessante Option, sich nicht den französischen Verhältnissen und Gesetzen total zu unterwerfen. Parlamentsräte waren alle sehr gebildet, waren studierte Leute und waren damit auch in der Lage dem jeweiligen Herrscher Opposition entgegenzubringen. O-Ton (19) (Thomas Maissen): In Frankreich ist die Situation in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts besonders aufgrund der Minderjährigkeit einer Reihe von Königen oder des jungen Alters, als sie an die Macht kommen. Hier fehlt diese Zentralmacht vorübergehend weitgehend, und in dieser Zeit bekriegen sich verschiedene Adelsfraktionen, die nicht so sehr den König bekämpfen wollen, darum geht es nicht - eine Monarchie ist gleichsam auch gottgegeben in Frankreich -, die wollen aber um Einfluss am Hof kämpfen. Und damit, und das ist ganz wichtig für die Folge der Auseinandersetzungen in Frankreich, haben wir eigentlich drei Parteien. Ein Lager, das sich hinter den König stellt und sagt "Wir müssen die zentrale Macht stärken". Wir haben ein Lager im Hochadel, das sich auf die reformierte Seite schlägt und gleichsam diese Oppositionskonfession benutzt, um ihren Widerstand gegen die Zentralisierung zu verstärken, und wir haben eine katholische Seite, die ultra katholisch ist und einen unbedingten Katholizismus vertritt gegenüber der Krone und sagt "Wir müssen sehen, dass Frankreich ein rein katholisches Reich bleibt oder wieder ein rein katholisches Reich wird". Sprecherin: Schließlich stammt "katholisch" vom griechischen Wort "katholikós" - "das Ganze betreffend" - ab. 1560 kommt es in Bordeaux zu einer Ketzerverbrennung. Daraufhin brechen Unruhen aus. Etwa 7000 Hugenotten leben in der Stadt. Weitere Aufstände und weitere Hinrichtungen folgen. Als Parlamentsrat gerät Montaigne - "bis über beide Ohren in Amt und Aufgaben hineingetaucht" - in allernächste Tuchfühlung mit den sich verschärfenden Spannungen. Er äußert sich nicht direkt dazu. Womöglich aber haben ihn diese Ketzerhinrichtungen später zu der Notiz veranlasst: Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Um Leute töten zu dürfen, bedarf es schon einer hellen und untadeligen Klarheit. Es heißt, seine eigenen Mutmaßungen sehr hoch einschätzen, wenn man ihretwegen einen Menschen bei lebendigem Leib verbrennen läßt. Sprecherin: Überhaupt nimmt Montaigne, der alle Arten von Grausamkeit verabscheut - "von Natur aus wie aus Vernunftgründen habe ich einen grausamen Hass auf die Grausamkeit" - kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Anwendung der Folter geht. 1539 hatte Franz I. mit seiner Justizreform die gerichtliche Folter als Methode zur Wahrheitsfindung eingeführt. Sie war im Strafprozess vor dem Urteilsspruch vorgesehen, um ein Schuldgeständnis zu erzwingen. Erst 1780 wird im Zuge der Aufklärung die gerichtliche Folter abgeschafft. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Eine gefährliche Erfindung ist die Folter, denn sie scheint mir eher die Standhaftigkeit als die Wahrheit auf die Probe zu stellen. Derjenige, der sie aushalten kann, verbirgt die Wahrheit, aber auch derjenige, der sie nicht aushalten kann. Warum soll der Schmerz mich dazu bringen, zu sagen, was an einer Sache ist, und nicht vielmehr eine Aussage aus mir herauspressen, die nicht wahr ist? Was würde man nicht alles sagen, was würde man nicht alles tun, um derart höllischen Qualen zu entrinnen! Was zur Folge hat, dass, wenn der Richter einen Menschen hat foltern lassen, damit er nicht unschuldig hingerichtet werde, er ihn nun unschuldig und gefoltert hinrichten lässt. Tausende und aber Tausende hat so ihr falsches Geständnis schon den Kopf gekostet. Musik Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Ich für meinen Teil finde es zutiefst unmenschlich und zutiefst sinnlos obendrein. Viele Völker, die von den Griechen und Römern barbarisch genannt werden, sind es hierin viel weniger als diese, scheint es ihnen doch abscheulich und grausam, einen Menschen zu foltern und ihm die Glieder zu brechen, über dessen Schuld man noch im Zweifel ist. Wie viele Urteile habe ich erlebt, die verbrecherischer waren als das Verbrechen! Sprecherin: Ein "Volk ohne Augenmaß, wir Franzosen!", mag Montaigne mit Blick ebenso auf die immer stärker werdende Gewaltbereitschaft aufgestöhnt haben, die er im Konflikt zwischen Hugenotten und Katholiken während seiner Zeit als Parlamentsrat in und um Bordeaux erlebt. Denn in seiner Region - im Südwesten Frankreichs - ist der Anteil von Hugenotten in der vorwiegend katholischen Bevölkerung relativ hoch. O-Ton (20) (Thomas Maissen): Wie die Zahlenverhältnisse zeigen: 90% der Katholiken hat die überwiegende Mehrheit auch des ländlichen Frankreichs, also, der Bauern, in einem Land, das zu 80 bis 90% von Bauern bevölkert war. Die Hugenotten sind strukturell benachteiligt, weil sie nur maximal 10% der Bevölkerung ausmachen, aber durch eine starke Stellung vor allem in den Städten des Südens und des Südwestens doch über finanzielle Ressourcen verfügen, zugleich auch über einen relativ hohen Bildungsgrad durch die reformierte calvinistische Konfession und über einen deutlichen Rückhalt im Hochadel. Sprecherin: Der Historiker Thomas Maissen: O-Ton (21) (Thomas Maissen): Der Calvinismus hatte sich in Frankreich seit den 1530er vor allen 40er Jahren ausgebreitet, als Calvin in Genf war und von Genf aus auch eine starke publizistische Tätigkeit entwickelt hat. Hier ist eigentlich schon der Kern des Zwiespalts da. Die Krone war anfänglich eher tolerant und zurückhaltend, hat sich dann aber doch auf einen anti-hugenottischen Kurs festgelegt. Diese Haltung wurde aber noch nicht sehr relevant außer in einzelnen Ketzerprozessen. 1562 wurde dieser Konflikt wirklich losgetreten. In dem Moment, als die Hugenotten immer stärker sichtbar wurden, beschloss der Führer des ultrakatholischen Lagers, Franz von Guise, eine Kirchenversammlung in Wassy zu zerschlagen, und dabei hat er ein Massaker angerichtet, dem je nach Schätzung zwischen einigen Dutzenden oder einigen Hunderten von Reformierten zum Opfer fielen. Sprecherin: Ein hugenottischer Augenzeuge berichtet über die Ereignisse in Wassy, einer kleinen Gemeinde im Départment Haute-Marne im Nordosten Frankreichs: Zitatsprecher (2) (Augenzeugenbericht): Die Versammlung war ihnen wehrlos preisgegeben. Der Herzog von Guise und andere drangen ein, schossen wild in die dichte Volksmenge und töteten und verwundeten eine große Anzahl. Dann jagten sie die armen Männer, Frauen, Kinder durch zwei Reihen von Soldaten und versetzten ihnen harte Schläge mit Schwert und Säbel, so daß ein großer Teil bald tot zusammenbrach. Immerhin kamen einige nur mit einer Verwundung oder auch ohne Verletzung davon. Diese jedoch wurde sofort wieder auf die Beine gestellt und mit der gleichen unbarmherzigen Grausamkeit getötet oder verwundet. Das schreckliche und grauenhafte Schauspiel dauerte anderthalb Stunden. Danach wurden zum Zeichen des Triumphes und Sieges Trompeten geblasen. O-Ton (22) (Thomas Maissen): Und das wurde dann als offizieller Anlass für einen Krieg genommen auch von protestantischer Seite, während die Krone zu vermitteln versuchte und eigentlich immer gewillt war, diesen beiden Parteien etwas zu bieten. In dieser Situation, als es um Leben und Tod ging, haben sich die Reformierten gesagt, wir können uns hier auf die Krone nicht mehr verlassen, wir müssen selbst unser Schicksal in die Hand nehmen. Sprecherin: Montaigne ist 29 Jahre alt, als die Hugenottenkriege ausbrechen. Dreißig Jahre - von 1562 bis zu seinem Tod 1592 - werden diese religiösen Bürgerkriege mit ihrer Gewalt und ihrer Unberechenbarkeit ihn bis an "Heim und Herd" verfolgen. "Wie weit ist es doch mit uns gekommen, wenn man bis in seine häusliche Ruhe hinein bedrängt wird, bis unters eigne Dach!" Und weitere neun Jahre wird es brauchen, bis sich der Parlamentsrat in seinem 38. Lebensjahr tatsächlich entschließt, etwas Eigenes zu machen. Um Abstand von den kriegerischen Wirren zu gewinnen, schafft er sich einen Zufluchtsort, wo er - geht ringsum auch alles drunter und drüber - seine geistige Bewegungsfreiheit bewahren und "in Ruhe und Sicherheit" ganz bei sich selbst sein kann. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): In den jetzigen Bürgerkriegen verwende ich mein ganzes bißchen Klugheit darauf: daß sie meiner Freiheit keinen Abbruch tun. Wir müssen uns ein Hinterstübchen zurückbehalten, ganz für uns, ganz ungestört, um aus dieser Abgeschiedenheit unseren wichtigsten Zufluchtsort zu machen, unsre wahre Freistatt. Damit will ich sagen: Laßt das übrige uns weiter gehören, aber keineswegs mit uns so fest verkeilt und verleimt sein, dass wir es nicht mehr entfernen können, ohne uns ins eigene Fleisch zu schneiden und ganze Stücke hiervon mit wegzureißen. Die größte Sache der Welt ist, dass man sich selbst zu gehören weiß. Musik 2. Stunde Musik Zitatsprecher (2) (Montaigne-Inschrift): Im Jahre des Heils 1571, im 38. Lebensjahr, am 28. Februar, seinem Geburtstag, hat sich Michael Montanus, seit langem der Bürden des Parlaments und der öffentlichen Pflichten müde, in voller Lebenskraft in den Schoß der gelehrten Musen zurückgezogen, wo er in Ruhe und Sicherheit, wenn es das Schicksal ihm vergönnt, die Tage verbringen wird, die ihm zu leben bleiben. Sprecherin: Diese ein wenig gestelzte Inschrift lässt Montaigne in lateinischer Sprache an die Wand seiner Bibliothek anbringen. In der Tat hat er ein Jahr zuvor sein Amt als Parlamentsrat verkauft. Seit dem Tod seines Vaters - er stirbt 1568 - ist er als der älteste Sohn Eigentümer und Herr zu Montaigne. O-Ton (23) (Uwe Schultz): Dieses Schloss von Montaigne ist heute ein völlig anderes Schloss. Der eigentliche Schlossbau ist im 19. Jahrhundert von einem Brand zerstört worden, und ist dann wieder aufgebaut worden, aber völlig anders im Stil Napoleon III., und zu dieser Zeit waren auch keine direkten Nachkommen von Montaigne mehr auf dem Landsitz. Es war aber für ihn die Möglichkeit, in diesen Turm zu gehen, um fast zehn Jahre dort zu arbeiten mit Unterbrechung, und dieser Turm hat sich bis heute erhalten. Sprecherin: Südlich des Hauptgebäudes, in der südwestlichen Ecke der quadratisch gebauten Schlossanlage, liegt sein Bibliotheksturm. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Von meiner Bibliothek aus überschaue ich mein ganzes Hauswesen mit einem Blick. Sie liegt über dem Eingangstor, und ich sehe unter mir meinen Garten, meine Stallungen, meinen Innenhof und die meisten Teile meines Anwesens. Die Bibliothek liegt im zweiten Stockwerk eines Turms. Das Erdgeschoss wird von einer Kapelle eingenommen, das erste Stockwerk besteht aus einem Schlafgemach mit Nebenraum, wo ich mich oft hinlege, um allein zu sein; und darüber nun befindet sich die Bibliothek, die früher als große Kleider- und Wäschekammer diente und der unnützeste Raum meines Hauses war. Hier verbringe ich die meisten Tage meines Lebens und die meisten Stunden der Tage. Daneben liegt ein recht wohnliches kleines Arbeitszimmer, das wohltuend licht ist, und in dem winters Feuer gemacht werden kann. O-Ton (24) (Uwe Schultz): Dieser Turm ist ganz symptomatisch für ihn. Also, wenn man das Parterre nimmt, da ist eine Kapelle, und von dieser kleinen Kapelle geht ein Loch hinauf in das erste Stockwerk. Und wenn unten eine Messe zelebriert wurde, durch diesen kleinen Kanal, der in das erste Stockwerk führte, konnte er die Messe dort hören - nahm also dran teil, aber nur akustisch. Und das zeigt die Distanz zu dem religiösen Ritus, ja, er sollte sein, aber bitte nicht zu nah. Sprecherin: Uwe Schultz, Publizist und Verfasser einer Montaigne-Monographie: O-Ton (25) (Uwe Schultz): Das nächste Stockwerk ist dann seine Bibliothek gewesen. Auf die war er sehr stolz, und da waren die Bücher nicht in Regalen, sondern die lagen übereinander. Man hatte nicht wie heute Regale, sondern man stapelte die Bücher. Und da ist er herumgegangen und hat seine Selbstreflexionen zelebriert, muss man fast sagen, und hat dann auch seine Form des literarischen Ausdrucks gesucht und gefunden. Es ist eben dieser "Essai". Sprecherin: Doch zunächst muss der freiwillige 'Ruheständler' in seinem Turm eine befremdliche Erfahrung machen: Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Als ich mich kürzlich nach Hause zurückzog, entschlossen, was mir noch an Leben bleibt, in Ruhe und für mich zu verbringen, schien mir, ich könnte meinem Geist keinen größeren Gefallen tun, als ihn in voller Muße bei sich Einkehr halten und gleichmütig mit sich selbst beschäftigt sein lassen. Nun aber sehe ich, daß umgekehrt der Geist, vom Müßiggang verwirrt; zum ruhelosen Irrlicht wird;. wie ein durchgegangenes Pferd macht er sich selber heute hundertmal mehr zu schaffen als zuvor, da er für andere tätig war; und er gebiert mir soviel Schimären ohne Sinn und Verstand, daß ich, um ihre Abwegigkeit und Rätselhaftigkeit betrachten zu können, über sie Buch zu führen begonnen habe. Sprecherin: Unser 'Ruheständler' eignet sich also mitnichten für den Rückzug in eine "vita contemplativa". Sein Naturell taugt einfach nicht dazu, sich reiner Büchergelehrsamkeit hinzugeben, taugt ebenso wenig dazu, einem bestimmten Gedankengang mit Methode zu folgen: Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Ich weiß nicht, was mir schwerer fällt: den Geist oder den Körper an einem Punkt festzuhalten. Genauso konnte man bei mir von klein auf behaupten, ich hätte Quecksilber oder den Veitstanz in den Beinen: Wohin ich sie auch setze - unablässig zappeln sie hin und her. Meine Gedanken schlafen ein, wenn ich sitze; mein Geist rührt sich nicht, wenn meine Beine ihn nicht bewegen. Sprecherin: Aber hatte er sich nicht schon als Jüngling lieber den beweglichen und stets wechselnden Eindrücken beim Reiten hingegeben, anstatt die harte Schulbank zu drücken? Auch später, wenn er als Parlamentsrat in Bordeaux gelegentlich auf 'Dienstreise' zu Pferd unterwegs war, hat er dann diese Beweglichkeit nicht ebenso genossen? Und das Denken? Braucht es nicht gleichermaßen schrankenlose Bewegungsfreiheit? So macht Montaigne aus der Not seiner Sprunghaftigkeit eine Tugend. Statt sich ihrer zu schämen, fängt er an, über seine Gedankensprünge "Buch zu führen". Beginnt mit seinen "Essais", seinen "Versuchen", in denen er mit Blick auf sich selbst zu einer ganz eigenen - genuin Montaigneschen - Betrachtungsweise der Dinge und der Menschen kommt. Denn schließlich - Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Wir bestehen alle nur aus buntscheckigen Fetzen, die so locker und lose aneinanderhängen, daß jeder von ihnen jeden Augenblick flattert, wie er will. Und daher gibt es ebenso viele Unterschiede zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und den andern. Angesichts der naturgegebenen Unbeständigkeit unseres Verhaltens und Meinens jedoch habe ich oft den Eindruck gewonnen, daß selbst die guten Schriftsteller irren, wenn sie unbedingt ein festes und haltbares Gefüge aus uns weben wollen. Sie greifen irgendeinen Grundzug einer Person heraus und ordnen und deuten danach all deren Handlungen. Musik Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Aber nicht nur der Wind der Zufälle treibt mich, wohin er will, sondern ich selbst trage durch meine schwankende Haltung zu diesem verwirrenden Hin und Her bei; und wer sich angespannt beobachtet, wird feststellen, daß er kaum zweimal in derselben Verfassung ist. Ich gebe meiner Seele bald dieses, bald jenes Gesicht, je nach welcher Seite ich sie wende. Wenn ich unterschiedlich von mir spreche, dann deswegen, weil ich mich als unterschiedlich betrachte. Musik Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Schamhaft und unverschämt, keusch und geil, schwatzhaft und schweigsam, zupackend und zimperlich, gescheit und dumm, verlogen und aufrichtig, gebildet und ungebildet, geizig und verschwenderisch - von allem sehe ich etwas in mir, je nachdem wie ich mich drehe; und wer immer sich aufmerksam prüft, entdeckt in seinem Inneren dieselbe Wandelbarkeit und Widersprüchlichkeit. Es gibt nichts rundum Zutreffendes, Eindeutiges und Stichhaltiges, das ich über mich sagen, gar ohne Wenn und Aber in einem einzigen Wort ausdrücken könnte. Sprecherin: Hier schenkt uns Montaigne in aller Freimut das hüllenlose Porträt seiner so wandelbaren wie widersprüchlichen Seele. Warum auch nicht? Steht er doch damit nicht allein in der Welt: Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Jeder Mensch trägt die ganze Gestalt des Menschseins in sich. Sprecherin: 1572 beginnt Montaigne mit der Niederschrift des ersten Buchs der "Essais". Für Frankreich wird 1572 erneut ein furchtbares Jahr. Schon zehn Jahre dauern die kriegerischen Unruhen zwischen Katholiken und Hugenotten. Es ist das Jahr, in dem es zu einer nochmaligen Steigerung von Gewalt und Brutalität in der Auseinandersetzung zwischen den religiösen Konfliktparteien kommt, das Jahr, in dem der vierte der insgesamt acht Hugenottenkriege ausgelöst wird. O-Ton (26) (Uwe Schultz): Man muss sich diese Jahre, die politisch und militärisch sehr turbulent waren, genauer ansehen. Wenn Montaigne sagt, ich zieh' mich jetzt in mein Schloss zurück und vor allem in diesen Turm, wo er also mit sich und seinen Büchern allein war, dann war das auch eine Art Protesthaltung, dass man sich zurückziehen kann, dass man nicht mitspielen muss in dem politischen, militärischen Geschehen. Der Zeithintergrund ist das Jahr der Bartholomäusnacht, die beiden Religionen prallen aufeinander. Sprecherin: Die berüchtigte Bartholomäusnacht ist auch als "Pariser Bluthochzeit" in die Geschichte eingegangen. Denn was als politischer Schachzug von Seiten des Königshauses geplant war, um die sich zuspitzenden Spannungen zwischen den verfeindeten konfessionellen Lagern zu glätten, endet in einem Massaker. Thomas Maissen, Historiker mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit: O-Ton (27) (Thomas Maissen): Die Krone versuchte, einen Frieden zu stiften zwischen den verschiedenen Lagern und nicht zuletzt auch sich selbst den Hugenotten anzunähern, und hat dafür eine Hochzeit organisiert. Der aktuelle König war Karl IX., der zugleich der Bruder der heiratenden Marguerite war - Reine Margot, wie die Franzosen sie genannt haben. Man sieht also, dass das hugenottische Lager und das königliche Lager zusammenkommen sollten. Und das taten die auch physisch in Paris für diese Hochzeit. Sprecherin: Am 17. August 1572 findet in Paris die Vermählung statt zwischen der 17-jährigen Katholikin Marguerite von Valois, der Schwester des Königs, und dem 19-jährigen Anführer der Hugenotten Heinrich von Navarra, dem frischgekrönten Herrscher des Königreichs Navarra im Südwesten Frankreichs. Ein Teilnehmer der Zeremonie erzählt: Zitatsprecher (2) (Augenzeugenbericht): Vor dem Gotteshaus Notre-Dame hatte man eine große Bühne errichtet, von der aus eine zweite durch das Kirchenschiff bis zum Chor führte und von da aus eine dritte, über die man das bischöfliche Palais erreichte. Der König und seine Mutter in Begleitung der Prinzen von Geblüt, der Herren von Guise, holten im Bischofspalais die Braut ab. Von der anderen Seite kam der König von Navarra mit seinen beiden Vettern, dem Admiral Coligny und anderen. Beide Gruppen erreichten gleichzeitig die Bühne. Der Kardinal von Bourbon vollzog die Zeremonie. Während die Braut die Messe hörte, ergingen sich die Reformierten im Kreuzgang. Den Nachmittag verbrachte man im großen Saal des Palastes mit festlichen Spielen und Musik. Sprecherin: So weit - so friedlich. Doch ein paar Tage später kommt es zu einem folgenschweren Vorfall: O-Ton (28) (Thomas Maissen): Der militärische Anführer des hugenottischen Lagers war der Admiral Coligny, also, auch ein Hochadliger, und auf den wurde vermutlich aus dem Lager der Ultraradikalen ein Attentat verübt. Und in dieser Situation, wo sich der König bedroht fühlte, er wusste, jetzt sind die Hugenotten aufgeregt nach diesem Attentat, da könnte etwas passieren, auch die katholische Liga, die Ultrakatholiken der Guise, die könnten jetzt zuschlagen. Es droht also eine Auseinandersetzung nicht nur in Frankreich, wie sie vorher da war, sondern es droht sogar praktisch in der Hochzeitsgesellschaft ein Blutbad. In dieser Situation hat sich der König Karl IX. mit seiner Mutter, der berühmt-berüchtigten Katharina von Medici, auf die Seite der katholischen Liga gestellt und damit gegen die Hugenotten. Und die Hugenotten sind Opfer eines mehr oder weniger koordinierten Massakers geworden. Zitatsprecher (2) (Augenzeugenbericht): In der Nacht zum 24. August läuteten im Morgengrauen zwischen drei und vier Uhr die Glocken Sturm, und augenblicklich ging das Gerücht um, der König hätte erlaubt, allen Hugenotten die Hälse abzuschneiden und ihre Häuser zu plündern. Da setzte überall in Paris ein Gemetzel ein, daß es bald keine Gasse mehr gab, wo nicht einer den Tod fand, und das Blut floß über die Straßen, als hätte es geregnet. In der Stadt häuften sich die Leichen, jeden Geschlechts und jeden Alters. Die Karren mit den Leichen fuhr man zum Fluß und leerte sie dort aus. Schon war der Fluß mit Leichen bedeckt und ganz rot von Blut. So auch der Hof des Louvre-Palastes. O-Ton (29) (Thomas Maissen): Einer der wenigen, der das in Paris überlebt hat, war Heinrich von Navarra, also der Bräutigam und Verwandte der Königsfamilie. Den hat man nur gefangengesetzt und nicht umgebracht, weil er natürlich als Ehemann der Schwester des Königs auch unter Schutz stand. Aber für die Hugenotten in ganz Frankreich war das der Dammbruch. Bisher hatten sie als reformierte Partei gegen eine katholische Partei gekämpft, die Krone war irgendwo dazwischen gewesen, zwar katholisch, aber doch um Vermittlung bemüht. Jetzt hat sich die Krone ganz klar auf die Seite der Guise geschlagen und wollte für die Wahrnehmung der Hugenotten die Hugenotten völlig vernichten oder vertreiben. Das Massaker der Bartholomäusnacht hat natürlich weit über Frankreich hinaus enormes Aufsehen erregt, weil es eigentlich als Staatsverbrechen wahrgenommen wurde. Katharina de Medici, die aus Italien, aus Florenz, stammte, wurde dann als Verbrecherin von den Protestanten gesehen, die sich an den Ideen von Machiavelli orientiert habe, um hier die staatliche Ordnung durchzusetzen. Sprecherin: Während im fernen Rom Papst Gregor XIII. beim Bekanntwerden des Massakers, bei dem rund 4000 Hugenotten getötet wurden, ein "Te Deum laudamus" zum Dank singen lässt, breitet sich die Welle von Gewalt bis nach Bordeaux aus. Dort werden bei einem Gemetzel fast dreihundert Hugenotten ermordet. In seinem Turm muss Montaigne die Nachricht mit Grauen aufgenommen haben. Unter den Opfern sind ehemalige Kollegen, unter den Verantwortlichen sind Männer, die in enger Beziehung zu seiner Familie stehen. Im ersten Buch seiner "Essais" gibt es keinerlei Hinweise auf die blutigen Ereignisse. Jahre später, im dritten Buch, aber schreibt er: Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Ich frage mich oft, ob unter den vielen, die in diesen Kriegswirren mitmischen, sich auch nur einer von so schwachem Verstand finde, daß er sich tatsächlich hat einreden lassen, er könne eine Neugestaltung durch schrecklichste Verunstaltung herbeiführen, er vermöchte der Gerechtigkeit des göttlichen Wortes hilfreich beizuspringen, indem er Gemeinwesen, Obrigkeit und Gesetz umstürze. Einen ärgeren Zustand als den, in dem die Niedertracht rechtmäßig wird und sich mit Billigung der Obrigkeit den Mantel der Tugend umhängen darf, kann man sich nicht vorstellen. Kein Gesicht ist lügnerischer als das einer verderbten Religion, die den Willen Gottes zum Vorwand für Verbrechen nimmt. O-Ton (30) (Thomas Maissen): Das Lager, das sich im Laufe der Religionskriege ausgebildet hatte und in der Stärkung der Krone, der Stärkung der Königsmacht ihre Hauptaufgabe sah, wollte den konfessionellen Konflikt bezähmen, indem diese verschiedenen kirchlichen und konfessionellen Gegensätze nicht mehr entscheidend waren für die Loyalität, sondern die Loyalität zum König. Wir nennen dieses Lager die "politiques", man würde das auf deutsch mit den "Politischen" übersetzen. Und das ist in dem Sinne auch richtig, weil sie sagten, für uns ist die politische Frage die wichtige, nicht die religiöse Wahrheitsfrage, sondern die politische Frage, wer hat hier das Sagen. Montaigne gehört in dieses Umfeld. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Die Gesetze haben mich der Qual der Wahl enthoben und mir eine Partei und einen Herrn zugewiesen. Jede andere Bindung und Botmäßigkeit hat ihnen gegenüber zurückzustehn. Selbst wenn ich innerlich der Gegenpartei zuneigte, würde dies folglich nicht besagen, daß ich ihr auf der Stelle zur Hand ginge. Wollen und Wünschen geben sich ihre Gesetze selber, das Handeln aber hat sich nach denen des Gemeinwesens zu richten. O-Ton (31) (Thomas Maissen): Der eigentliche Wortführer war Jean Bodin, der ein berühmtes Buch "Les six livres de la République" verfasst hat, in dem er die Souveränitätslehre festgelegt hat, die eigentlich bis heute noch gültig ist. Gegen einen Herrscher darf man sich nicht erheben, es gibt kein Widerstandsrecht gegen diesen Herrscher und die Berufung auf Gottes Willen zählt nicht, denn hier geht es um die politische Unterordnung unter denjenigen, der alleine fähig sein muss, für die Sicherheit, für den Frieden, für das Ende des Bürgerkriegs zu sorgen. Das ist die dritte Partei, die sich ausbildet. Also die "politiques", die sich zwischen einer katholischen Konfessionspartei und einer zugleich katholischen Adelspartei auf der einen Seite und auf der anderen Seite einer reformiert hugenottischen Adels- und Konfessionspartei positioniert. Man kann sich vorstellen, dass von diesen drei Lagern dasjenige der "politiques" im Grunde das Anspruchsvollste war, weil es von Juristen getragen war, die sich Gedanken machten grundsätzlich über das Wesen des Staates, die beiden anderen Parteien waren viel stärker von religiösen Überlegungen geprägt. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Ich lasse mich in meinen Beziehungen zu den Großen von keinerlei Leidenschaft treiben, von Haß sowenig wie von Liebe, und mein Wille ist weder durch erlittene Kränkungen noch durch mir erwiesene Dienste geknebelt. Ich betrachte unsere Könige mit einer lediglich von Gesetzestreue und Bürgerpflicht bestimmten Anhänglichkeit, die meine Privatinteressen nicht mehren und nicht mindern - und dazu beglückwünsche ich mich. Auch die gerechte Sache beschäftigt mich nur in Maßen, ohne jeden Überschwang. Gegen Bindungen und Verpflichtungen, die sich unseres Innern bemächtigen wollen, bin ich gefeit. Zorn und Haß liegen jenseits dessen, was der Gerechtigkeitssinn uns auferlegt. Ich könnte im Notfall wahrhaftig - und ich scheue mich nicht, es zu gestehn - ohne Bedenken dem heiligen Michael eine Kerze darbringen und eine zweite seinem Drachen. Ich würde der gerechten Sache bis an den Scheiterhaufen folgen, aber, wenn es sich vermeiden läßt, nicht hinein. O-Ton (32) (Uwe Schultz): Da kommt auch wieder seine politische Haltung klar zum Ausdruck. Die Konvention, der er sich verpflichtet fühlt, verlangt, dass er sich redlich parteimäßig festlegt, das tut er auch, aber er lässt sich nicht in militärische Auseinandersetzungen hineindrängen, und er kann das auch durchhalten. Er ist ganz eindeutig auf der Seite der Katholiken geblieben, aber er hat gleichzeitig sehr viel Verständnis für die Protestanten - die Hugenotten muss man in dem Fall sagen - gehabt, und er hat den Ausgleich gesucht, aber er hat sich vor allem diesem Konflikt entzogen. Er war kein Revolutionär, er war jemand, der immer betont hat, es sei leichter ein Haus zu zerstören, als es wieder aufzubauen. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): In diesem Streit ist die bessere und gerechtere Partei zweifellos jene, die den alten Glauben und die alte Ordnung des Landes verficht. Ich verabscheue Neuerungen, welches Gesicht sie auch tragen mögen, und ich habe Grund dazu, weil ich äußerst verhängnisvolle Auswirkungen hiervon erleben mußte. Nichts ist einem Staat so nachteilig wie Neuerungen. Wenn ein Stück aus den Fugen geht, so kann man es stützen. Sprecherin: Wie oft mag Montaigne, während um ihn herum die Feindseligkeiten kein Ende nehmen wollen, in seinem Turm die Feder fallengelassen haben und aufgesprungen sein, um seine Beine wieder in Bewegung zu bringen und seinen Geist in Bewegung zu halten. Wie oft wird er mit lebhaften Schritten seine Bibliothek von einem bis zum anderen Ende durchquert haben. "Die Form der Bibliothek ist rund, sie mißt sechzehn Schritt im Durchmesser." Und wie oft hat er bei seinem Hin und Her auch das ein oder andere Buch aus seinen Bücherstapeln herausgegriffen - Dichter und Denker aus der Antike, aus dem Humanismus, politische Schriften, Theologisches, Geschichtswerke, Biographien, Autobiographien - sprunghaft, unsystematisch wie auch seine Gedanken sind. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Ich blättre einmal in diesem, einmal in jenem Buch, ohne Ordnung: wie es sich eben ergibt. Stoße ich beim Lesen auf Schwierigkeiten, zernage ich mir auch nicht die Nägel hierüber, sondern lasse die Sache, nachdem ich sie zwei-, dreimal vergeblich angegangen bin, auf sich beruhen. Wollte ich mich damit aufhalten, würde ich mich verlieren - und meine Zeit obendrein; denn mein Geist lebt vom ersten Zugriff. Wenn mir das eine Buch mißfällt, nehme ich ein andres zur Hand. Sprecherin: Denn Spontaneität und Bewegungsfreiheit des Geistes bleiben für ihn unabdingbar für das Denken. Daher lässt er ebenso gern seine Blicke und seine Gedanken einfach schweifen. Schaut aus einem der drei Turmfenster, von denen er zu jeder Jahreszeit eine freie Aussicht ringsum auf die Landschaft hat. Im Winter allerdings kann es dort oben ganz schön zugig werden. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Kein Raum ist stärker den Winden ausgesetzt als dieses Turmzimmer; doch gerade daß es abgelegen und ein bißchen mühsam zu erreichen ist, gefällt mir, weil es mir so die Leute vom Leib hält und die körperliche Anstrengung mir guttut. Hier bin ich also ganz zu Hause, hier suche ich ganz mein eigner Herr zu sein und diesen einzigen Winkel sowohl der ehelichen und töchterlichen als auch der gesellschaftlichen Gemeinschaft zu entziehen. Überall sonst bin ich Herr nur dem Namen nach, in Wirklichkeit aber redet mit jeder dazwischen. Arm dran ist meines Erachtens, wer bei sich zu Hause nichts hat, wo er bei sich zu Hause ist, wo er sich verbergen, wo er mit sich selbst hofhalten kann. O-Ton (33) (Uwe Schultz): Das Leben im Turm war also quasi ein Rückzug auf eine Existenz, an der auch Frauen keinen Anteil hatten. Die Frauen wurden auf Distanz gehalten. In dem Turm konnte er sich zurückziehen mit seinen Büchern, in dem Turm fand nichts Gesellschaftliches statt, es war eine Isolierstation für ihn. Sprecherin: Der Publizist Uwe Schultz. Es war sein "Hinterstübchen" - seine "arrière boutique", wo "wir unser tägliches Gespräch von uns zu uns selbst führen" können und in dessen Freiraum niemand hineinzureden und niemand hineinzuregieren hat. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Die größte Sache der Welt ist, daß man sich selbst zu gehören weiß. Sprecherin: Und ganz en passant erfahren wir, dass Seigneur de Montaigne auch eine Frau und eine Tochter hat. "Ich verheiratete mich mit dreiunddreißig und lobe mir die Fünfunddreißig, die Aristoteles für das Richtige hält." Zweiunddreißig ist er in Wirklichkeit, als er die 21jährige Françoise de La Chaissagne ehelicht. Eine standesgemäße Heirat für den damaligen Ratsherrn. Françoise ist die Tochter eines namhaften und einflussreichen Kollegen in Bordeaux. Ihre Mitgift beträgt ansehnliche 7000 livre tournois. Es ist eine arrangierte und hauptsächlich auf Wunsch der Eltern geschlossene Ehe. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Von mir aus würde ich sogar der Weisheit, falls sie mich gewollt hätte, die Ehe ausgeschlagen haben. Doch was wir immer auch daherreden - Sitte und Brauch führen uns am Gängelband. Als ich zur Ehe bestimmt wurde, war ich gewiß schlechter für sie gerüstet und von größerem Widerwillen erfüllt als heute, da ich die Probe aufs Exempel gemacht habe. Und wie zügellos man mich auch halten mag, befolgte ich in Wahrheit die Gesetze des Ehestandes strenger, als ich es versprochen und selbst erwartet hatte. Sprecherin: Wider Erwarten gelingt ihm also die "Probe aufs Exempel", glückt ihm sein "essai" in Sachen Ehestand. Eines aber möchte der Essayist aus der Ehe und vor allem aus dem Ehebett herausgehalten wissen - die ihm von Jugend an so geläufigen Spiele von Venus und Amor. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Ich bin noch nicht so lange von der Hofliste der Gefolgsleute Amors gestrichen, daß meinem Gedächtnis seine bezwingende Macht entschwunden wäre. Aber im vernunftgelenkten Geschäft der Ehe sind die Begierden nicht derart wild, sie sind abgestumpfter und eher trübselig. Amor haßt es, wenn man sich an etwas anderes hält als an ihn selbst und nimmt deshalb nur als lustloser Gast an Verbindungen teil, die zu anderen Zwecken eingegangen werden. Und das ist bei der Ehe der Fall: Familienbande und Vermögen haben darin zu Recht ebensoviel Gewicht wie Anmut und Schönheit, oder noch mehr. Wie entgegengesetzt ist das alles zu den Liebeshändeln! Deshalb finde ich es eine Art Unzucht, wenn man sich im verehrungswürdigen Ehebund den maßlosen Ausschweifungen der Sinnenbrunst hingibt. Der Mann, sagt Aristoteles, dürfe seine Frau nur zurückhaltend und zuchtvoll berühren, damit sie, falls er sie allzu ungestüm reize, vor Wollust nicht außer Rand und Band gerate. Sprecherin: Hier stutzt der Leser. Ist das tatsächlich die Stimme unseres Freigeists "in Sachen eroticis"? Doch Montaigne spricht hier ganz als das Kind seiner Zeit. Es galt als anstößig, sich als Ehemann seiner Frau gegenüber wie ein leidenschaftlicher Liebhaber zu verhalten. Das schade nicht bloß ihrer Seele, sondern ebenso der Fortpflanzung. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Was Aristoteles des Gewissens wegen rät, raten die Ärzte der Gesundheit wegen: Eine allzu heftige und hitzige Wollust, erklären sie, verderbe den Samen und hemme die Empfängnis. O-Ton (34) (Thomas Maissen): Die Frau als die Ehepartnerin ist natürlich ganz entscheidend für die Fortpflanzung, für die Geburt von Stammträgern, in erster Linie natürlich Männern, zuständig. Nicht nur bei Königshäusern, sondern natürlich bei all diesen Adligen, die auch Land zu vererben haben, die auf einen langen Stammbaum angewiesen sind. Sprecherin: Montaignes Freund und Nachfolger im Parlament von Bordeaux, der Jurist Florimond de Raemond, weiß in seinen Erinnerungen zu berichten: Zitatsprecher (2) (Florimond de Raemond): Ich habe den Autor oft sagen hören, er habe, erfüllt von Glut und Jugend, seine Frau zwar geheiratet, die von außergewöhnlicher Schönheit und großem Liebreiz war, dennoch aber habe er sich mit ihr nur in dem Maße vergnügt, wie es sich für die Achtung und Ehre des Ehebetts schickte, und ohne jemals mehr als ihre Hände und ihr Gesicht entblößt zu sehen, nicht einmal ihre Brust, obwohl er im Umgang mit anderen Frauen durchaus lustvoll und ausschweifend war. O-Ton (35) (Uwe Schultz): Er hat mit Frauen, wie das beim Adel üblich war, Umgang gehabt. Man hat sich das so vorzustellen, dass zu dieser Epoche der Geschlechtsakt nicht die Bedeutung hatte, wie er sie heute hat, sondern das war ein Vergnügen wie anderes, wie Essen und Trinken, mental hat er da keine große Rolle drin gesehen. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Die Liebe ist eine fröhliche und springlebendige Gefühlsregung; sie hat mich nie in Verwirrung oder tiefes Leid gestürzt, sondern immer nur erhitzt und durstig gemacht - und genau da muß man einhalten. Liebesbeziehungen machten mir Spaß, aber ich vergaß mich dabei nicht. Erregung, ja - aber bitte keine Raserei! Doch nie war ein Mann, wenn er sich ans Werk machte, mehr auf Verhütung bedacht. Der Zeugungswunsch muß ausschließlich der Ehe vorbehalten bleiben. O-Ton (36) (Thomas Maissen): Das heißt, es gibt einerseits eine gewisse funktionale Betrachtungsweise der Frau bei einem männlichen Adligen, der sich sagt, wer ist mir standesgemäß. Da spielt natürlich auch sehr stark die Heiratspolitik von solchen Familien eine große Rolle, während es andererseits auch durchaus Raum gibt in diesem 16. Jahrhundert in Frankreich für wirkliche Zuneigung, für Abenteuer, für die Mätressen. Es ist also nicht etwas, was man versteckt, sondern was nebenher geht. Das wird nicht unbedingt als Gegensatz empfunden in einer christlichen Gesellschaft, die ja durchaus auch die Augen verschließen kann vor den Realitäten, wenn es Machthaber sind oder einflussreiche Adlige, die ihr Recht durchsetzen können und die Frauen, mit denen sie ein Verhältnis haben, auch beschützen können. Gegebenenfalls auch Bastarde, also, uneheliche Kinder versorgen können, das wirtschaftliche Moment spielt hier auch 'ne Rolle. Sprecherin: Der Historiker Thomas Maissen. Das freilich ist Montaignes Geschmack nicht. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Eine gute Ehe, falls es die gibt, macht sich mit der Liebe nicht gemein. Sie ist eine linde Lebensgemeinschaft voller Beständigkeit und Vertrauen, mit einer unendlichen Zahl nützlicher und handfester wechselseitiger Dienste und Pflichten. Keine Frau, die einmal auf den Geschmack gekommen ist, möchte jemals die Rolle einer Mätresse ihres Gatten übernehmen. Wenn sie als Ehefrau in seinem Herzen wohnt, so wohnt sie darin weit ehrenvoller und sicherer. Sprecherin: In ihrem Ehealltag allerdings wohnen Gatte und Gattin in getrennten Bereichen. Michel in seinem Turm, Françoise in ihrem "Tour de Madame". Die Türme sind durch einen Wehrgang miteinander verbunden. Hin und wieder begibt er sich in ihr Gemach, um seinen ehelichen Pflichten nachzukommen. Wie es bei solchen Pflichtübungen auf Seiten der Ehefrau bestellt sein mag, darüber gibt sich Montaigne freilich auch keinerlei Illusionen hin: "Wie, wenn sie, während sie dein Stangenbrot ißt, es mit der Soße lustvollrer Vorstellungen würzte?" Aus welchem Grund bloß, sinniert er weiter - Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): ...verordnen wir ausgerechnet den Frauen besondere Enthaltsamkeit? Keine Leidenschaft ist unabweisbarer als die Geschlechtliche. Die Ehe, wie wir sie zu führen pflegen und von der wir behaupten, sie habe die Aufgabe, die Frauen vor der Feuersbrunst zu bewahren, ist kaum dazu angetan, auch nur ihre Glut zu dämpfen. Ich behaupte, daß Mann und Frau aus ein und demselben Lehm geknetet sind; wenn man von Erziehung und Brauch absieht, besteht jedenfalls kein großer Unterschied zwischen ihnen. Sprecherin: Im Laufe ihrer Ehe bringt Françoise sechs Kinder zur Welt - allesamt Töchter. Fünf Kinder sterben bereits kurz nach der Geburt. Die Säuglingssterblichkeit in diesen Zeiten ist hoch. "Ich habe zwei oder drei Kinder verloren, als sie noch gestillt wurden, nicht ohne Betrübnis, wenn auch nicht mit Murren." Eltern müssen damit rechnen. Trotzdem - "Es gibt kaum ein Erlebnis, das so ans Herz greift." Als einziges Kind bleibt seine Tochter Léonor am Leben und erreicht das Erwachsenenalter. Kurz vor seinem Tod wird sie ihrem Vater noch eine Enkelin schenken. Einen männlichen Stammhalter hat Montaigne nicht gezeugt, aber - mon Dieu: Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Wir hängen unser Herz etwas zu sehr an die Bestimmung unserer männlichen Erben und Nacherben - in der lächerlichen Hoffnung, so unsere Namen verewigen zu können. Auch messen wir den haltlosen Spekulationen über die künftige Entwicklung der kindlichen Anlagen eine allzu große Bedeutung bei. Was mich angeht, bin ich mir keineswegs sicher, ob ich es nicht vorzöge, statt in der Umarmung mit meiner Frau in der Umarmung mit den Musen ein vollkommen wohlgestaltes Kind gezeugt zu haben. Diesem hier, so wie es ist, gebe ich jedenfalls das, was ich gebe, rückhaltlos und unwiderruflich, wie man es bei leiblichen Kindern tut. Musik Sprecherin: Vier Jahre führt Montaigne in seinem Turmzimmer nun schon "rückhaltlos und unwiderruflich" Buch über seine Gedanken. Nach wie vor liebt er seine Ausritte zu Pferd. Reitet durch die Weinberge seiner Ländereien, kostet, wenn es an der Zeit ist, hier und da von den reifen Trauben, wirft hier und da einen Seitenblick auf die jungen Frauen und plaudert mit den Weinbauern. Gelegentlich besucht er Freunde in der Nachbarschaft, macht Höflichkeitsbesuche bei anderen Schlossherren und Schlossdamen. Auch Schloss Montaigne - wenn auch nicht sein Turm - steht Besuchern stets offen, selbst jetzt in diesen unsicheren Zeiten. "Mein Haus steht jederzeit jedem offen." Seine einzige Schlosswache ist ein bejahrter Pförtner. Zitatsprecher (1) (Montaigne): Seine Aufgabe ist nicht, mein Tor zu verteidigen, sondern die Honneurs anständig zu machen. Wache stehen für mich die Sterne - das genügt mir. Sprecherin: Seit zwei Jahren ist König Karl IX. tot. Neuer König ist nun sein Bruder Heinrich III.. Der Machtkampf zwischen den verfeindeten Parteien aber geht unvermindert weiter. Der Glaubenskampf zwischen Katholiken und Hugenotten im Namen Gottes und ihrer jeweils unverrückbaren Wahrheitsansprüche wird weiterhin ohne Pardon ausgefochten. Für Montaigne ist und bleibt es ein schändliches Unterfangen. Zitatsprecher (1) (Montaigne): Beobachtet doch einmal, wie wir die Religion tatsächlich zu Wachs in unseren Händen machen, um aus einer so festen und eindeutigen Setzung so viele widersprüchliche Gebilde zu kneten! Wann hätte man da je deutlicher sehen können als im Frankreich unserer Tage! Die einen zerren sie nach links, die anderen nach rechts, die einen nennen sie weiß, die anderen schwarz, alle aber beuten sie auf gleiche Weise für ihre ehrgeizigen und gewalttätigen Unternehmungen aus. Schaut euch an, mit welch erschreckender Unverschämtheit wir die göttlichen Glaubenssätze zu unserem Spielball machen und wie gottlos wir damit umspringen, indem wir sie je nachdem, an welche Stelle in diesen Gewitterstürmen des Bürgerkriegs uns das Schicksal verschlägt, bald von uns schleudern, bald wieder aufgreifen. Sprecherin: Dann - inmitten dieses heillosen Hin und Her - findet Montaigne unverhofft sein Gleichgewicht. 1576 lässt er eine Schaumünze prägen. Die Münze zeigt eine ausbalancierte Waage, und über der Waage steht sein berühmter Wahlspruch: "Que sais-je?" - "Was weiß ich?" Zitatsprecher (1) (Montaigne): Die Pest des Menschen ist, daß er zu wissen wähnt. Man stelle sich ein fortwährendes Bekennen von Unwissenheit vor, ein völlig unparteiisches, unter keinen Umständen irgendeiner Seite zuneigendes Denken. Wie viele Wissenschaften haben wir doch, die offen einräumen, daß sie mehr auf Spekulation als auf Erkenntnis beruhn. Wir wären daher viel besser beraten, wenn wir uns vom gewohnten Gang der Welt leiten ließen, ohne unsere Nase in alles zu stecken. Eine gegen jedes vorgefaßte Urteil gefeite Seele ist auf dem Weg zur inneren Ruhe ungemein weit voraus. Sprecherin: Bei seinen täglichen Rundgängen durch die Turmbibliothek war Montaigne vor kurzem auf die Schriften der antiken Skeptiker gestoßen. Vor allem ihr Leitsatz "Ich halte ein" schlägt bei ihm ein wie ein Blitz - "epécho", so lautet das griechische Wort, mit dem der Vater des antiken Skeptizismus, Pyrrhon von Elis, die Konsequenz aus seinem Zweifel an der Wahrheitsfähigkeit menschlichen Erkennens gezogen hatte. Denn zu jedem Urteil gebe es ein Gegenurteil, zu jedem Richtig ein Falsch, zu jedem Weiß ein Schwarz. Deshalb sei es weise, mit dem Urteilen innezuhalten und so wie eine im unentschiedenen Gleichgewicht ruhende Waage zu verharren. "Noch nie haben Sterbliche etwas so offensichtlich Wahrheitsgemäßes und Heilsames ersonnen wie die Lehre des Pyrrhon." Das also ist es: "Epécho" - "ich halte ein" und enthalte mich eines Urteils, vor allem dann, wenn es um letzte Wahrheitsfragen geht. Denn "was weiß ich?" schon als Mensch über diese Dinge mit meiner bloß begrenzten Erkenntnisfähigkeit. O-Ton (37) (Uwe Schultz): Diese Gleichheit der Argumente und keine Dominanz der einen über der anderen, das hat er im Zeichen der Waage ausgedrückt. Das hat er auf eine Münze prägen lassen, und die Sprüche dieser Skeptiker und auch andere hat er in die Balken gravieren lassen in schwarzer Schrift, in die Holzbalken, und hat quasi sein Bekenntnis wiederholt. Er war der Meinung, dass jede Doktrin ihn zwingen würde, sich einer Partei anzuschließen ausschließlich, das war ihm alles zuwider. Und diese Haltung, sich nicht auszuliefern, die hat er aufrechterhalten können. O-Ton (38) (Thomas Maissen): Es hat nichts zu tun mit Atheismus oder mit einer grundsätzlichen Distanz zum Glauben, aber über diese Fragen, die letztendlich religiös sind, da haben die Menschen nur einen begrenzten Einblick, da können nur begrenzt darüber entscheiden. Montaigne ist da bezeichnend für eine solche Haltung, die letztlich zur Skepsis kommt, eine Skepsis, die sich nährt aus dem Aufeinanderprallen von Wahrheitsansprüchen, wo dann der auf Weisheit bedachte und auf Distanz auch zu diesen emotionalen Welten bedachte Montaigne sagt, es gibt Dinge, über die können wir Menschen gar nicht entscheiden, wir können darüber reden, aber es ist unsinnig, sich deswegen den Kopf einzuschlagen. Und das ist eigentlich eine Haltung, die für diese Gruppe der "politiques" bezeichnend ist, dass man gleichsam die konfessionelle Frage jedem Einzelnen überlässt, aber dafür Gehorsam einfordert. Also, man will Untertanen, und es ist nicht so wichtig, welcher Konfession sie sind. O-Ton (39) (Uwe Schultz): Mit der Religion ist es bei Montaigne so 'ne Sache, wie weit sein katholischer Glaube ausgeformt war, weiß ich nicht. Er hat sich zwar den ganzen konventionellen Riten nicht entzogen, aber da gibt es ein ziemlich hartes Wort von Pascal, der Skandal im Leben von Montaigne war, dass er keinen einzigen Gedanken in den "Essais" auf das Jenseits verwendet. Das war ihm völlig egal. Es gab nur das Leben. Er hat diese ganzen transzendenten Geschichten der Religion zur Seite geschoben, unauffällig, nicht aggressiv. Zitatsprecher (1) (Montaigne): Ich glaube nicht, daß die rein menschlichen Mittel hierfür auch nur im geringsten tauglich sind und wir durch unsere Bemühungen um eine triftige Beweisführung jemals das übernatürliche Wissen Gottes erlangen könnten. Unser Glaube ist nicht unser Verdienst, nicht unserer Verstandeskraft und Einsicht haben wir unsere Religion zu verdanken. Sprecherin: Wie häufig ist ihm wohl dieser Gedanke durch den Sinn gegangen, wenn er von seinem Schlafgemach aus im ersten Stockwerk dem Gottesdienst in seiner Kapelle unten im Erdgeschoss gefolgt ist. Keine Frage - Montaigne ist ein 'guter' Katholik in dem Sinne, dass er den religiösen Gepflogenheiten nachkommt und am Herkömmlichen festhält. "Weil ich nicht imstande bin zu wählen, folge ich der Wahl anderer und bleibe in dem Geleise, in das Gott mich gesetzt hat." Zugleich aber ist er als 'echter' Skeptiker tolerant und offen, jeglichen Glauben gelten zu lassen. "Keine Behauptung bringt mich aus der Fassung und kein Glaube verletzt mich, sosehr er dem meinen zuwiderlaufen mag." Denn letztendlich - Zitatsprecher (1) (Montaigne): Wir nehmen unsere Religion nur auf unsere Weise und aus unsren eigenen Händen an und nicht anders, als die anderen Religionen angenommen werden: entweder weil wir sie im Lande unserer Geburt als üblich vorfanden oder weil wir ihre Altehrwürdigkeit achten oder weil wir die Strafen fürchten, die sie den Ungläubigen androht, oder ihren Versprechen trauen. Ein anderer Himmelsstrich, andere Glaubenszeugen, ähnliche Verheißungen und Drohungen können uns auf dieselbe Weise einen entgegengesetzten Glauben einpflanzen. Christen sind wir im gleichen Sinne, wie wir Périgordiner oder Deutsche sind. Sprecherin: Welch unerschrockenes Wort in diesen Zeiten! Religion - eine Angelegenheit lediglich von Herkunft und Gewohnheit, der Vielfalt menschlicher Lebensformen in dieser Welt entsprungen. Und "ganz gleich, was man uns predigt", fügt er hinzu, stets sollten wir bedenken, "daß eine sterbliche Hand es uns reicht, und eine sterbliche Hand es entgegennimmt." Und damit Punkt! Musik Sprecherin: Im Frühjahr 1580 beendet Montaigne das erste und zweite Buch seiner "Essais". Die Ausgabe wird in Bordeaux veröffentlicht. Was er jetzt braucht, ist Bewegung, viel Bewegung. Ende Juni bricht er zu seiner "grand tour", seiner "großen Reise", auf. Vorher überreicht er in Paris sein Buch Heinrich III. und nimmt auf dessen Wunsch mit seinen Reisebegleitern an der Belagerung von La Fère an der Oise teil, das von Hugenotten gehalten wird. Dabei wird sein Freund Philibert de Gramont, ein Günstling des Königs, von einer Kugel tödlich getroffen. Im August schließlich erfolgt die Weiterreise der Gruppe zu den Bädern von Plombières, dann über Mülhausen nach Basel, zu den Bädern von Baden, und weiter nach Augsburg, München, Innsbruck, Verona, Padua, Venedig, Florenz bis nach Rom. Endlich sitzt er wieder im Sattel! Reitet acht bis zehn Stunden, ohne dass es ihm zuviel wird. Zitatsprecher (1) (Montaigne): Jenen, die mich fragen, warum ich auf Reisen ginge, pflege ich zu antworten, daß ich zwar wüßte, wovor ich fliehe, nicht aber wonach ich suche. Wenn man mir sagt, bei den Menschen in fremden Ländern gebe es vielleicht genauso wenig gesunde Moral und ihre Sitten seien doch wohl auch nicht besser als unsere, erwidere ich, stets sei es ein Gewinn, einen unzweifelhaft schlechten Zustand gegen einen nur zweifelhaften einzutauschen. Das Reisen scheint mir, von den angeführten Gründen ganz abgesehn, eine ersprießliche Betätigung. Der Geist übt sich dabei ständig in der Beobachtung neuer, ihm unbekannter Dinge. Ich wüßte (wie ich schon oft gesagt habe) keine bessre Schule, uns im Leben weiterzubilden, als ihm unausgesetzt die Mannigfaltigkeit so vieler anderer Daseinsweisen, Anschauungen und Gebräuche vorzuführen und ihn an diesem ewigen Wandel der Erscheinungsformen unserer Natur Geschmack finden zu lassen. Musik 3. Stunde Musik Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Es ist nicht leicht, mich auf Trab zu bringen; bin ich aber erst einmal in Schwung, halte ich durch, solang man will. Wenn man nun mein Alter gegen meine Reisen ins Feld führt, entgegne ich, daß es im Gegenteil Sache der Jugend ist, sich einzuschränken. Als ich jung war, verbarg ich meine munteren Regungen hinter wohlbedachter Zurückhaltung; alt nun, vertreibe ich die mißmutigen, indem ich die Zügel lockere. Sprecherin: Alt ist Montaigne für uns Heutige keineswegs - siebenundvierzig Jahre -, als er 1580 seine große Reise antritt. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): "Aber in eurem Alter werdet ihr nie von einer so langen Wegstrecke zurückkehren!" Na und? Ich unternehme meine Reise weder, um zurückzukehren, noch um ans Ziel zu kommen. Ich unternehme sie allein um der Bewegung willen, solang mir die Bewegung gefällt. Ich bin unterwegs, um unterwegs zu sein. Sprecherin: Montaigne bleibt sich also treu. Schließlich ist er noch nie ein Stubenhocker gewesen. Selbst in seinem Turm, in den Jahren, in denen er seine "Essais" niederschreibt, ist er ständig "auf Trab". "Ich schildere nicht das Sein, ich schildere das Unterwegssein - von Tag zu Tag, von Minute zu Minute", so das fortlaufende Momentum seines Schreibens. Beim Reisen bleibt er in Schwung. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Die Einteilung meines Reiseplans läßt sich jederzeit und allerorts ändern. Er gründet auf keinen großen Erwartungen, jede Tagesetappe ist mir Ziel genug (und mit meiner Lebensreise halte ich es genauso). Wenn ich fürchtete, woanders als am Ort meiner Geburt zu sterben, dann würde ich Frankreich, dann würde ich mein Kirchspiel kaum jemals ohne Zittern und Zagen verlassen - fühle ich doch ständig den Krallengriff des Todes in Kehle und Lende. Für mich ist er überall derselbe. O-Ton (40) (Uwe Schultz): Montaigne war in seinen vorgerückten Jahren sehr bestimmt durch Schmerzen der Nierensteine. Diese Schmerzen zählen ja bis heute zu dem höchsten Grad an Schmerzen, was dem Menschen zuzumuten ist, bevor er sich der Ohnmacht überlassen muss. Also, das war etwas, was ihn sehr beschäftigt hat, nicht nur physisch. Es ging schon damit los, dass er diese Steine auch bei seinem Vater, als der im vorgerückten Alter war, als Krankheitsbild erlebt hatte. Und das führt dann auch, nachdem er zehn Jahre in seinem Turm gesessen hat, dazu, dass er gesagt hat, jetzt will ich auch noch mal eine Reise machen. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): So steinkrank ich bin, halte ich mich doch acht bis zehn Stunden ununterbrochen im Sattel, ohne daß es mir zuviel würde. Kein Wetter ist mir zuwider. Auch Luftveränderung und Klimawechsel machen mir nichts aus: Jeder Himmelsstrich ist mir recht. Hätte ich zu wählen, würde ich, davon bin ich überzeugt, lieber als im Bett zu Pferde sterben. Sprecherin: Tatsächlich ist sein Nierensteinleiden mit ein 'Stein des Anstoßes' für seine Reise. Vor drei Jahren - er ist vierundvierzig - ist die Krankheit bei ihm ausgebrochen. "Wüßte ich doch keine, vor der ich seit meiner Kindheit einen größren Horror gehabt hätte!" Was ihm guttut, ist der Besuch von Heilbädern. Zuvor schon hatte er in den benachbarten Bädern der Pyrenäen Linderung von seinem Steinleiden gesucht. "Was das Trinken der Heilwässer betrifft, hat es sich so gefügt, daß ihr Geschmack mir in keiner Weise zuwider ist und, selbst wenn sie uns nichts nützen, zumindest ungefährlich sind", lautet die lakonische Auskunft unseres Skeptikers. Auch hier hält er es mit seinem Wahlspruch "Was weiß ich?" Jedenfalls will er auf seiner "grand tour" auch die verschiedenen Bäder aufsuchen, die auf der Route liegen, die ihn und seine Reisegruppe über die Schweiz und Deutschland nach Italien, nach Rom führen soll - das Ziel aller guten Katholiken. Uwe Schultz, Publizist und Verfasser einer Montaigne-Monographie: O-Ton (41) (Uwe Schultz): Die erste Station war Plombières, das ist ja im Elsass. Dort hat er seine Nierensteine zu kurieren versucht, was natürlich nicht gelang. Die Schmerzen blieben ihm erhalten, es gab gelegentlich eine gewisse Linderung. Also, diese Reise ist natürlich die übliche Kavalierstour gewesen, die war sehr teuer übrigens. Man musste, das Reisen war sowieso sehr teuer in der Epoche, man musste sich zusammentun, zwischen fünf, sechs Personen. Ein jüngerer Bruder war auch dabei, dazu kamen natürlich noch die Diener, und man zog ganz langsam dem Ziel entgegen, was natürlich Rom war. Sprecherin: Von seiner Reise ist uns sein Reisetagebuch erhalten geblieben. Seinen "Essais" getreu schildert er auch hier sein "Unterwegssein - von Tag zu Tag, von Minute zu Minute" und führt ebenso akribisch Buch über seine körperlichen Befindlichkeiten. "Selbst im engsten Würgegriff des Leidens fahre ich fort, mich zu beobachten." Ausnahmsweise nimmt er nicht selbst die Feder in die Hand, sondern diktiert den ersten Teil einem begleitenden Sekretär. Zitatsprecher (2) (Reisetagebuch): Wir begaben uns nun nach Baden: eine kleine Stadt. Sie ist katholisch und steht dennoch unter dem Schutz der acht protestantischen Schweizer Kantone. Die Bäder liegen in einer Talmulde. Beim Trinken kommt einem das Wasser etwas fad und schal vor. Am Tag nach unserer Ankunft, also am Montagmorgen, trank der Herr de Montaigne sieben kleine Gläser davon; am nächsten Tag fünf große Gläser. Das von ihm am Dienstag getrunkene Wasser hatte ihm dreimaligen Stuhlgang verschafft und war noch vor Mittag vollständig wieder abgegangen. Am Donnerstag setzte der Herr de Montaigne das Trinken des Heilwassers fort, das vorn wie hinten Wirkung zeigte. Am Freitag reisten wir um sieben Uhr nach dem Frühstück ab. O-Ton (42) (Uwe Schultz): Unterwegs ging's dann rüber nach Süddeutschland, und dann in Augsburg, das hat ihn sehr interessiert, stellte er diese Konfessionsneutralität fest zwischen Protestanten und Katholiken, das hat auf ihn einen großen Eindruck gemacht. Er hat gesehen, dass sich Partner aus verschiedenen Konfessionen mühelos verehelichten, dass die auch geschäftlich gut miteinander konnten, das war für ihn ein Idealbild, das er sich für Frankreich gewünscht hat. O-Ton (43) (Thomas Maissen): Der Eindruck, den Montaigne hat, ist natürlich geprägt durch die Erfahrung von zwanzig Jahren Bürgerkrieg. Also, das ist ähnlich, wie man heutzutage einen Syrer in die Türkei einreisen lässt, der würde auch sagen, das ist eine relativ friedliche Gesellschaft und hat natürlich absolut recht. Das bedeutet nicht, dass die Gesellschaften nicht doch sehr konfliktträchtig waren. Was die Friedenslösung im Reich mit dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 ermöglicht, ist ein status quo, d.h. die konfessionellen Gegensätze werden in dem Sinn eingefroren, wie es dann eine Formulierung sagt: "cuius regio, eius religio", also, wer das Sagen hat politisch, wer der Herrscher ist, der entscheidet über den Glauben der Untertanen, wenn die ihnen nicht folgen wollen, dann müssen die auswandern. Das ist keine Dauerlösung unbedingt, aber es ist ein Provisorium, in dem die religiöse Wahrheitsfrage nicht mit der Waffe ausgefochten werden muss, sondern wir können nebeneinander existieren. Sprecherin: Thomas Maissen, Historiker mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit: O-Ton (44) (Thomas Maissen): Und das ist doch der Unterschied zwischen der Situation in Frankreich, wo ein jahrzehntelanger Bürgerkrieg tobt, während im Reich die Konflikte selten auf die militärische Ebene kommen, aber ein eigentliches Zusammenleben von Katholiken und Protestanten nur sehr beschränkt stattfindet. In einzelnen Städten wie zum Beispiel Augsburg. Zitatsprecher (2) (Reisetagebuch): Augsburg gilt als die schönste Stadt Deutschlands. Bei unserer Ankunft fiel uns auf, daß man hier einen ungewöhnlichen Wert auf Reinlichkeit legt. Der Herr de Montaigne besuchte am nächsten Morgen mehrere Kirchen, und in den katholischen fand er den Gottesdienst überall hervorragend gestaltet. An lutherischen Kirchen gibt es sechs, zwei wurden den Katholiken weggenommen, die vier anderen haben die Lutheraner selbst gebaut. Am selben Morgen besichtigte er deren eine, die einem großen Kollegsaal gleicht: keine Bilder, keine Orgel, kein Kreuz. Die Wände voller Bibelsprüche auf deutsch. Eheschließungen zwischen Katholiken und Lutheranern sind an der Tagesordnung. Unser Wirt zum Beispiel war Katholik, seine Frau lutherisch. O-Ton (45) (Uwe Schultz): Es war auch ein sehr reiches Land, dieses Süddeutschland um diese Zeit. Er hat sich sehr amüsiert, dass die Küche dort, die in Frankreich eine sehr große Rolle spielt, sehr viel üppiger und verfeinerter war als in Frankreich. Das alles ist dann im 30jährigen Krieg zerstört worden. Zitatsprecher (2) (Reisetagebuch): Es gibt kaum eine Mahlzeit, zu der nicht Konfekt und Schachteln mit kandierten Früchten gereicht würden. Das Brot ist das denkbar vorzüglichste, und die in diesem Land meist weißen Weine schmecken gut. An vielen Orten herrscht der Brauch, die Zimmer und Speisesäle zu parfümieren. Am Mittwoch, den neunzehnten Oktober, nahmen wir in Augsburg unser letztes Frühstück ein. Sprecherin: Allmählich wird das Wetter schlecht. Obwohl Montaigne einmal festgelegte Reiserouten hasst - "sieht es rechts bedenklich aus, wende ich mich nach links" -, schickt die Reisegruppe sich an, zügig nach Italien und dann weiter nach Rom zu ziehen. "Am letzten Tag des November kamen wir durch die Porta del Popolo in Rom an." O-Ton (46) (Uwe Schultz): Rom - das war Gregor XIII., und es war die Zeit auch, als der Index gerade erst eingeführt war. An der Stadtgrenze musste er dann seine Bücher vorweisen, die wurden zum Teil konfisziert, seine "Essais" waren dann auch einem Lektor zu offen, dass das alles nicht so ganz katholisch korrekt sei. Dieses hat dazu geführt, dass er, weil er ja nun auch Adliger war, mit den Kirchenadligen, den höheren Kardinälen, sehr vornehm dinierte, und der Abbé, der diese Kritik hatte, der wurde sanft an den Rand gedrängt. Montaigne hat dann gesagt, das ändern wir später, und als er dann wieder zurück war, hat er genau diese Stellen noch verschärft. Zitatsprecher (2) (Reisetagebuch): Am Weihnachtstag hörten wir in der Peterskirche den Papst die Messe lesen. Der Herr de Montaigne fand es in dieser Messe (wie in anderen später) kurios, daß der Papst, die Kardinäle und sonstige Prälaten fast während des ganzen Gottesdienstes nicht nur sitzen blieben, sondern auch munter miteinander plauderten. Sprecherin: Am 29. Dezember findet eine Audienz beim Papst statt. Bei demselben Papst, Gregor XIII., der acht Jahre zuvor anlässlich des Massakers in der Bartholomäusnacht ein "Te Deum laudamus" zum Dank hatten singen lassen. Doch es sei, wie es sei - für einen katholischen Adligen gehört eine Papstaudienz bei seinem Romaufenthalt unbedingt dazu. Zitatsprecher (2) (Reisetagebuch): Der Papst sitzt in einer Ecke des Raums. Wer immer die Eintretenden sein mögen - nach ein, zwei Schritten müssen sie ein Knie zur Erde beugen und warten, bis der Papst ihnen den Segen gibt. Dann setzen sie ihren Weg bis an einen vor den Füßen des Papstes liegenden Samtteppich fort, an dessen Rand sie sich auf beide Knie niederlassen. Als die Herren an diesem Punkt der Zeremonie angekommen waren, setzte der Botschafter, der sie vorstellte, ein Knie auf den Boden und schlug das Gewand des Papstes an dessen rechten Fuß so zurück, daß ein roter Pantoffel mit einem weißen Kreuz zum Vorschein kam. Die Knienden rutschten jetzt bis zum Fuß des Papstes vor und beugten sich zur Erde, um ihn zu küssen. Der Herr de Montaigne sagte später, der Papst habe hierbei die Fußspitze etwas angehoben. O-Ton (47) (Uwe Schultz): Diese Visite beim Papst wirkt auf uns heute sehr, sehr komisch. Die Visite war hochoffiziell, das gehörte mit dazu, daran hat er auch überhaupt keinen Anstoß genommen. Er hat mit seiner Kirche seinen Frieden gemacht, und er hat das dann auch sehr genossen. Sprecherin: Montaigne aber wäre nicht Montaigne, ließe er unterwegs seine Blicke über Land und Leute schweifen, ohne sie als veritabler connaisseur des femmes mit besonderem Augenmerk auf die Damenwelt zu richten. Zitatsprecher (2) (Reisetagebuch): In Florenz sagte der Herr von Montaigne, bisher keinem Volk begegnet zu sein, wo man schöne Frauen so selten zu Gesicht bekäme wie in Italien. Im Rom habe er, drei, vier Frauen ausgenommen, auch nichts Überragendes entdecken können. Gemeinhin fand er, sähe man hier keineswegs so viele häßliche Frauen wie in Frankreich. In Frankreich wiederum hätten die Frauen einen schlankeren Körper, denn hier ließen sie ihn um die Taille auseinandergehen, so daß sie wie bei uns die Schwangeren einherschritten. Dafür habe ihr Auftreten mehr Hoheit, Sanftmut und Milde. Sprecherin: Aber auch die Krankheit meldet sich immer wieder zu Wort. "Am Abend schied er eine Menge Sand aus, dem ein dicker, harter Stein folgte. Er blieb fünf bis sechs Stunden in der Rute stecken, ehe der Durchgang geschafft war." Im April verlässt Montaigne mit seinen Begleitern Rom. Ziel ist Lucca und die Bagni della Villa in der Nähe von Pisa. Ihm gefällt die Landschaft mit ihren Bergen, die teils mit Kastanien- und Olivenbäumen, teils mit Reben bewachsen sind. Er mietet sich dort das "schönste Haus besonders wegen der Aussicht, die den ganzen kleinen Talgrund mit dem Lauf der Lima umfasst." Sein Sekretär ist nicht mehr dabei, das Reisetagebuch führt er nun selber weiter. Er unternimmt kleine Touren nach Lucca, Pisa, noch einmal Florenz, kehrt wieder in die Bäder zurück und bleibt den ganzen Sommer dort. Gesundheitlich aber geht es ihm miserabel. "Ständig schied ich äußerst trüben, roten Urin aus, oft mit etwas Sand." Neben schweren Nierenkoliken peinigen ihn neuerdings mörderische Kopf- und Zahnschmerzen. Er fühlt sich in weitaus üblerer Verfassung als zu Beginn seiner Reise. "Der Zustand des Kopfes blieb sich immer gleich - kurzum: schlecht. Ich wurde dieses Bads allmählich überdrüssig." Dann am siebten September notiert er: Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Ich hielt mich morgens eine Stunde im großen Bad auf. Am selben Morgen wurde mir ein von Rom nachgeschickter Brief des Herrn du Tausin übergeben, der am zweiten August zu Bordeaux geschrieben war und in dem er mir mitteilte, daß ich am Tag zuvor einstimmig zum Bürgermeister gewählt worden sei. O-Ton (48) (Uwe Schultz): Das war der Anlass, die Reise abzubrechen, die sonst endlos länger gelaufen wäre. Also, dieses ewig In-Bewegung-sein, ewig sich neue Dinge zu erschließen, das war für ihn eine Existenzform, die im großen Kontrast zu seiner Turmexistenz steht. Das war für ihn eine Variante, die er sich gewünscht hat, die ihm aber nicht zuteil wurde. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Am letzten Tag des November kehrte ich schließlich zur Nacht nach Montaigne heim, von wo ich am zweiundzwanzigsten Juni 1580 aufgebrochen war. So hat meine Reise siebzehn Monate und acht Tage gedauert. Sprecherin: Auf Schloss Montaigne angekommen findet er einen Brief des Königs vor, der ihn schon unterwegs hatte erreichen sollen. Zitatsprecher (2) (Heinrich III.): Herr von Montaigne! Da ich Sie für Ihre höchste Treue und Ergebenheit in meinem Dienste hoch schätze, habe ich mit großer Freude vernommen, daß man Sie zum mayor meiner Stadt Bordeaux gewählt hat, und ich habe dieser Wahl mit um so größerer Freude zugestimmt, als sie ohne Ränkespiel und trotz Ihrer langen Abwesenheit getroffen wurde. Aus diesem Grund befehlige ich Ihnen und fordere Sie hiermit ausdrücklich auf, nach Erhalt des Briefes sofort und unverzüglich zurückzukehren, Ihrer Pflicht nachzukommen und Ihr Amt anzutreten. Das Gegenteil würde ich mit großem Mißfallen zur Kenntnis nehmen. Gebe Gott, daß Sie verehrter Herr von Montaigne, bei guter Gesundheit sind. HEINRICH. Sprecherin: Damit erübrigt sich für Montaigne die Frage: "Die Wahl annehmen oder nicht?" Er tritt sein Bürgermeisteramt an und wird gegen den Widerstand des ultra katholischen Lagers nach zwei Jahren, 1583, sogar für eine weitere zweijährige Amtszeit wiedergewählt. Erneut sieht es so aus, als sei er "bis über beide Ohren in Amt und Aufgaben hineingetaucht" - doch es scheint nur so. Jetzt im Alter und als Ertrag seiner Jahre im Turm weiß er Abstand von Amt und Würden zu halten. Denn eins verliert er nie aus dem Blick: "Der Bürgermeister von Bordeaux und Montaigne, das waren immer zwei - klar und säuberlich voneinander geschieden." Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Ich lasse mich selten auf etwas ein. Meine Meinung ist, daß man andern sich zwar leihen sollte, sich hingeben aber nur sich selbst. Wenn man mir die Führung fremder Geschäfte aufdrängte, versprach ich zwar, sie in die Hand zu nehmen, nicht aber in die Leber, in die Lunge; sie zu schultern, nicht aber, sie mir einzuverleiben; für sie Sorge zu tragen, gewiß, nicht im geringsten aber, mich dafür zu ereifern. Musik, ein Stück allein und stehen lassen Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Die meisten unserer Tätigkeiten sind Possen. Die ganze Welt treibt Schauspielerei. Wir müssen unserer Rollen darin gebührend einnehmen, aber eben als Theaterfigur. Aus Maske und Aufmachung sollte man nicht ein wirkliches Wesen machen, und aus Fremdem nichts Eigenes. Wir wissen Haut und Hemd nicht auseinanderzuhalten. Es reicht, sich das Gesicht zu schminken, das Herz bedarf dessen nicht. Sprecherin: Seine zweite Amtszeit fällt in eine Zeit, die auf die längste und blutigste Phase des Bürgerkriegs zutreibt, der mit kurzen Atempausen nun schon über zwanzig Jahre andauert. O-Ton (49) (Thomas Maissen): Die Situation wurde in Frankreich unübersichtlich in dem Moment, als klar wurde, dass die herrschende Dynastie vermutlich nicht fortgesetzt würde. Man muss sich vorstellen, dass das eigentlich ziemlich unwahrscheinlich war. Heinrich II. hatte vier Söhne, und von diesen vier Söhnen überlebte keiner, so dass er einen männlichen Nachfolger hätte zur Welt bringen können. Der König in den 1580er Jahren war Heinrich III., der drittgeborene Sohn Heinrichs II., sein jüngerer Bruder starb im Jahr 1584, damit war klar, wenn Heinrich III., der Verhältnisse zu Männern hatte und für seinen Lebenswandel auch umstritten war, wenn dieser Heinrich III. nicht doch irgendwie einen Sohn kriegt, dann würde Heinrich von Navarra, also, der Anführer der hugenottischen Partei, der Thronfolger. Das war der Nächste in der dynastischen Erbfolge. Sprecherin: Thomas Maissen, Historiker mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit: O-Ton (50) (Thomas Maissen): Das war für die katholische Mehrheit in Frankreich eine unerträgliche Vorstellung. Daraus formierte sich dann ein entschiedener Widerstand, der von Heinrich von Guise angeführt wurde, und damit kam es zu diesem Krieg der drei Heinriche: Heinrich von Navarra als Führer der Reformierten, Heinrich von Guise als Führer des ultra katholischen Lagers, und Heinrich III., der dazwischenlag und sich bemühte, die Autorität der Krone aufrechtzuerhalten gegen diese beiden konfessionellen Parteien, die natürlich viel stärker mobilisieren konnten in ihrem unbedingten Drängen zu einer Heilslösung, zu einer Lösung der Wahrheitsfrage. O-Ton (51) (Uwe Schultz): In dieser Situation hat Michel de Montaigne immer zu vermitteln versucht zwischen diesen Extremen, das ist ihm wohl ganz gut gelungen, weil er auch als Autorität in dem Amt als Bürgermeister Anerkennung gefunden hatte. Er hatte eine Vermittlerrolle auch spielen können bei schwierigen Situationen. Die Stadt ist zu dieser Zeit nicht in einen militärischen Konflikt gekommen, das ist eine Tätigkeit gewesen, auf die er sehr stolz war und zwar zu recht, aber es ist eben auch eine Parteinahme gegen die Parteinahme. Sprecherin: Es ist die Frucht seiner Skepsis, deren "unparteiisches, unter keinen Umständen irgendeiner Seite zuneigendes Denken" ihm die Freiheit verschafft hat, am Treiben der Welt teilzuhaben, ohne selbst davon getrieben zu werden. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): In den wenigen Verhandlungen, die wegen der uns heute zerfleischenden Parteiungen und Unterparteiungen mir zwischen unseren Fürsten zu führen aufgetragen war, habe ich peinlich vermieden, eine Maske aufzusetzen, die sie verleiten könnte, mich mißzuverstehen. Berufsdiplomaten suchen nach besten Kräften gegenüber jedem ihre Gedanken zu verbergen und allen nach dem Mund zu reden. Ich hingegen bekenne mich aufs lebhafteste zu meinen Meinungen und zeige mich ganz so wie ich bin - ein Neuling und Grünschnabel von Unterhändler, der lieber seinen Auftrag verfehlt als sich selbst. Musik Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Auch hat mich mein Freimut schon durch sein Ungestüm jedes Verdachts enthoben, dass ich ein falsches Spiel treiben könnte, zudem durch meine offenkundige Arglosigkeit und Unparteiischkeit. Sprecherin: Der Unparteiische aber muss in einem kompromisslos parteiischen Kampf um Thronfolge und Religion sein Verhandlungsgeschick erproben. Ein "essai" ganz eigener Art. Wieder ist er viel im Sattel und "auf Tour", versucht auf der einen wie auf der anderen Seite zu vermitteln. 1584 ist Heinrich von Navarra mit großem Gefolge sogar bei ihm auf Schloss Montaigne zu Gast. "Er wurde zwei Tage von meinen Leuten, ohne einem einzigen seiner Offiziere, bedient - und er schlief in meinem Bett." Dennoch wird der Krieg zwischen den drei Heinrichen in den folgenden Jahren nicht vor Mord und Königsmord zurückschrecken. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Die Christen übertreffen alle andern an Feindeshaß. Unser Glaubenseifer tut Wunder, wenn er sich mit unsrer Neigung zu Ehrgeiz und Habsucht, zu Verleumdung und Rachgier, zu Grausamkeit und Aufruhr verbündet. Die Gegenrichtung hin zu Mäßigung, Wohlwollen und Güte aber schlägt er weder zu Fuß noch auf Flügeln ein. O-Ton (52) (Thomas Maissen): Heinrich III. als König sah sich immer stärker unter Druck gesetzt durch die Guise, die auch die Bevölkerung gegen ihn mobilisierten, und sah sich in dieser Situation gezwungen praktisch, dass er die Anführer des Guisenlagers ermorden ließ, um seine Autorität zu stärken. Das führte nun umgekehrt dazu, dass er die Autorität im katholischen Lager, im radikalen katholischen Lager, vollends verlor. Die haben dasselbe gesagt, was die Reformierten nach der Bartholomäusnacht gesagt haben, der König - ein katholischer König zumal - wendet sich gegen uns, und sie haben dem König den Krieg erklärt. Das zwang nun wiederum Heinrich III. dazu, sich mit Heinrich von Navarra, seinem Vetter und Schwager zu verbünden. Sprecherin: Ein Jahr später, am 2. August 1589, wird Heinrich III. bei seiner Morgentoilette von einem fanatisierten Dominikanermönch - Jacques Clément - erstochen. Noch auf dem Sterbebett erkennt Heinrich III. Heinrich von Navarra als seinen legitimen Nachfolger, als Heinrich IV. an. O-Ton (53) (Thomas Maissen): Also, genau das, was die radikalen Katholiken nicht wollten. Auf einmal war ein Hugenotte an der Spitze des Königreichs, und damit ging dieser Bürgerkrieg eigentlich von drei Parteien in einen Bürgerkrieg von zwei Parteien über. Auf der einen Seite die "politiques", die die königliche Autorität hochhalten wollten, also jetzt Heinrich IV. verteidigen wollten, auch wenn sie Katholiken waren. Weil sie gesagt haben, ob das jetzt ein Hugenotte ist oder ein Katholik, das ist nicht das Entscheidende, entscheidend ist, dass der legitime König hier herrscht. Und auf der anderen Seite ein weiter ultra katholisches Lager unter den Guisen oder denen, die überlebt haben in der Familie, die eben auch durch diese Auseinandersetzungen sehr dezimiert war. Sprecherin: Längst ist Montaigne wieder in seinem Turm. Ein Jahr zuvor hat er in Paris die vierte, um ein drittes Buch erweiterte Ausgabe seiner "Essais" veröffentlicht. Er nimmt die täglichen Rundgänge in seiner Bibliothek auf und blättert wie gewohnt in seinen Büchern, die ihn nun schon so lange begleiten. Häufig muss er in letzter Zeit an den denken, der sie ihm vor vielen Jahren vermacht hat. An den einzigen und unvergessenen Freund - an Étienne de La Boëtie. Noch immer fühlt er grenzenlosen Schmerz über seinen Verlust. "Ich verfiel in ein derart quälendes Grübeln über den Herrn de La Boëtie und konnte mich derart lange nicht daraus befreien, daß mich dies völlig niederwarf." Denn einmal in seinem Leben hat es ihn wie ein Blitz aus heitrem Himmel getroffen. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Bei der ersten Begegnung, die zufällig auf einer großen städtischen Feier und Geselligkeit erfolgte, fühlten wir uns so zueinander hingezogen, ja so miteinander bekannt und verbunden, daß wir von Stund an ein Herz und eine Seele waren. Unsere wechselseitige Zuneigung gedieh rasch zur Vollkommenheit. Da sie nur von kurzer Dauer sein sollte und so spät begonnen hatte - waren wir doch beide damals schon gestandene Männer - durfte sie keine Zeit verschwenden. Es war nicht ein bestimmter Beweggrund, auch nicht zwei, nicht drei, nicht vier und nicht tausend, sondern was weiß ich welche Quintessenz aus allem, die meinen ganzen Willen ergriff und mitriß, um sich in seinen zu versenken und darin zu verlieren; die seinen ganzen Willen ergriff und mitriß, um sich in meinen zu versenken und darin zu verlieren. Sprecherin: Welch leidenschaftliche déclaration d'amour aus der Feder Montaignes, der ansonsten in Sachen Liebe und Passion stets die contenance zu wahren weiß. La Boëtie wiederum hat ihm ein Sonett zugeeignet, darin heißt es: Zitatsprecher (2) (La Boëtie): Du, Montaigne, bist mit mir verbunden durch die Macht der Natur und durch die Tugend, die süße Verlockung der Liebe. O-Ton (54) (Uwe Schultz): Das war eine tiefgehende Seelenfreundschaft, man muss ganz klar sagen. La Boëtie war zwei Jahre älter als er. Er war auch wie er Parlamentsrat. Der Mann stammte aus Sarlat. Sarlat im Périgord ist eine wunderschöne Stadt, die heute touristisch fürchterlich überlaufen ist. Und mit ihm hat er geistige Austauschmöglichkeiten genutzt auch im Zusammenhang mit ihrer Funktion als Parlamentsräte. Das war für ihn ein großer Verlust. Diese Freundschaft war etwas, was in seinem Leben eine große Rolle gespielt hat. La Boëtie war für ihn gewissermaßen das Idealbild, und es blieb immer eine Lücke in seinem Leben. Sprecherin: Montaigne ist Mitte zwanzig, als er Étienne de La Boëtie kennenlernt. Beide kannten sich bereits vom Hörensagen - Montaigne genießt den Ruf eines freimütigen jungen Ratsherrn, von La Boëtie kursiert ein Manuskript mit dem Titel "Discours de la servitude volontaire" - "Von der freiwilligen Knechtschaft". O-Ton (55) (Uwe Schultz): Das ist ein Buch, das Geschichte gemacht hat und bedeutete, dass die Gegner des Königs nicht aktiv zu den Waffen greifen sollten, sondern sie sollten sich einfach verweigern. Und diese Schrift ist durch Europa und die Jahrhunderte gegangen und ist bis bei den 68ern in Frankreich angekommen. War aber die gemäßigte Variante der Unruhen, und das war die Haltung, die dann auch für Montaigne wichtig wurde, nicht aktive politische Aktion, sondern Rückzug, Verweigerung und Gehen auf Distanz. Sprecherin: Als "Essai wider die Tyrannen zum Lobpreis der Freiheit" liest Montaigne die Schrift seines Freundes. Sie sollte im ersten Buch seiner "Essais" einen Ehrenplatz erhalten und das Licht einer größeren Öffentlichkeit erblicken. Zu diesem Zeitpunkt ist La Boëtie bereits seit siebzehn Jahren tot. Als Montaigne entdeckt, dass dessen Schrift inzwischen von hugenottischer Seite für ihre politischen Zwecke in Umlauf gebracht worden ist, verzichtet er auf sein Vorhaben. Er will keine Missverständnisse aufkommen lassen. Denn er ist sicher, dass sein loyaler Freund "eher seine Fähigkeiten dafür eingesetzt haben würde, die Feuersbrunst zu löschen, als zu ihrer weiteren Entfachung Brennstoff zu liefern". Montaigne setzt ihm dafür ein anderes Denkmal. In seinem wohl persönlichsten Essai mit dem Titel "Über die Freundschaft", den er dem Freund und ihrer Freundschaft widmet, findet er die wunderbaren Worte: Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Wenn man in mich dringt zu sagen, warum ich Étienne de La Boëtie liebte, fühle ich, daß nur eine Antwort dies ausdrücken kann: "Weil er er war, weil ich ich war." Sprecherin: Lediglich vier Jahre dürfen sie ihre Freundschaft genießen. Dann wird La Boëtie unerwartet ein Opfer der Ruhr oder der Pest. Montaigne ist an seiner Seite, als er 1563 stirbt. La Boëtie vermacht ihm seine Bibliothek, die im Turmzimmer von Schloss Montaigne eine würdige Heimstatt findet. Vielleicht verdanken wir seinem Schmerz um den früh Verstorbenen sogar ein Stück weit seine "Essais". Sein tägliches Gespräch 'von sich zu sich selbst' ist auch Erinnerung und Ersatz für die schmerzlich vermisste Zwiesprache mit seinem Freund. Denn eigentlich "wäre mir ein Umgang vonnöten (wie ich ihn ja einmal hatte), der mich anreizte, unterstützte und weiterführte." Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Wenn ich mein ganzes späteres Leben, obwohl ich es Dank der Gnade Gottes angenehm, bequem und, vom Verlust eines solchen Freundes abgesehen, frei von schwerem Kummer verbringen durfte, durch und durch ruhigen Gemüts, weil ich mich mit meinen natürlichen Gaben begnügte und keine anderen suchte - wenn ich dieses ganze spätere Leben mit jenen vier Jahren vergleiche, in denen es mir vergönnt war, die beglückende Nähe und Gesellschaft dieses Mannes zu genießen, so ist es nichts als Rauch, nichts als freudlose, dunkle Nacht. Musik, ein Stück allein und stehen lassen Sprecherin: Doch sollten wir dies nicht als das letzte Wort Montaignes nehmen. Er, der alle Register seiner Seele kennt, weiß nur zu gut, wie sehr sie den hellen Tag und die Freuden des Lebens liebt. Würde er die Summe ziehen, wäre es für ihn keine Frage: Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Nicht im 'glücklich sterben' wie der Philosoph Antisthenes wollte, nein, im glücklich leben ruht nach meiner Meinung das menschliche Glück. Sprecherin: 1589 steckt der 56-Jährige tief in den Vorbereitungen zu einer nochmals erweiterten Ausgabe der "Essais" mit über tausend neuen Zusätzen und Einschüben. Wie sollte es auch anders sein, ist seine Seele doch "ständig in der Lehre und Erprobung". So war es in jungen Jahren, genauso ist es im Alter. "Wer sähe nicht, daß ich einen Weg eingeschlagen habe, auf dem ich unermüdlich fortschreiten werde, bis der Welt Tinte und Papier ausgeht." Schließlich gehen er und seine "Essais" von Anfang an "Hand in Hand und im gleichen Schritt". Jetzt im Alter ist sein Schritt wohl immer noch "rüstig und rasch", aber auch gezügelter als in jungen Jahren - und das in jeder Hinsicht. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Unsere Gelüste regen sich im Alter nur noch selten. Jener Mann, der in der Antike sagte, er sei den Jahren dankbar, daß sie ihn von der Wollust befreit hätten, war anderer Auffassung als ich. Niemals werde ich der Impotenz Dank wissen, und wenn sie mir noch so gut bekäme. Aber es stößt mich ab zu sehen, wie sich das Alter mit jenem Fünkchen armseliger Manneskraft, von dem es kurz aufgeheizt wird, als wild entbrannter Krieger aufspielt und so vorzutäuschen sucht, es hätte noch ein ordentliches, ja großartiges Tagewerk in den Lenden. Nichts als Strohfeuer! Musik Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Man sollte den Lüsten weder nachlaufen noch vor ihnen wegrennen - man sollte sie willkommen heißen. Ich nehme sie sogar mit etwas bereiteren und breiteren Armen auf als üblich, denn ich folge meinem natürlichen Hang. Ihre Nichtigkeit groß herauszustellen, können wir uns ersparen, wir bekommen sie ohnehin deutlich zu spürn. Sprecherin: Vertraue also der Natur und sei der, der du nun einmal bist. Es klingt einfach, und dennoch - das weiß Montaigne ebenso - ist nichts so schwierig, "wie unser Leben recht und natürlich zu leben". Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Die Natur hat uns das Leben dermaßen wohlausgestattet in die Hand gegeben, daß wir uns nur bei uns selber zu beklagen brauchen, wenn es uns zur Last fällt und ungenutzt entflieht. Besonders in dieser Stunde, da ich merke, wie sehr mein Leben an Zeit abnimmt, will ich, daß es an Gewicht zunehme. Ich empfinde die Süße von Wohlergehen und Glück wie die andern, aber nicht, indem ich beiläufig darüber hinweggleite. Man muß sie vielmehr auf der Zunge zergehen lassen, ihr nachspüren und sie nachschmecken, um so dem gebührend zu danken, der sie uns schenkt. O-Ton (56) (Uwe Schultz): Das ist wohl basiert auf seinem Glauben, dass alle diese Dinge ihren natürlichen Verlauf nehmen können und auch sollten. Das führt dazu, dass er auch seine Steinschmerzen als etwas Natürliches hinnimmt, es ist die Natur, die sich vollzieht. Und diese natürliche Perspektive, die hat er sich erhalten können, das hat ihm Ruhe gegeben. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Lassen wird doch die Natur ein wenig walten, sie versteht ihr Geschäft besser als wir! Die Übel haben ihr Leben und ihre Grenzen, ihre Krankheiten und ihre Gesundheit. Wer sie mit herrischer Gewalt zu verkürzen sucht, verlängert und vermehrt sie. Man bannt sie nachhaltiger durch Höflichkeit als durch Widerstand. Sprecherin: Eine Haltung ganz eines französischen Edelmanns, ganz eines Michel de Montaigne würdig. Trotz der "schier unerträglichen Schmerzattacken", die seine Nierenkoliken ihm regelmäßig bescheren. Wie eh und je liebt er die Geselligkeit und ist ehemaligen Kollegen, Freunden ein entspannter Gastgeber. Plaudert, lacht und genießt "die plötzlichen Einfälle und pointierten Wechselreden, wie sie sich im vertrauten und heitren Umgang mit Freunden immer wieder ergeben". Und wie eh und je hasst er alles steife, alles eitle, alles anmaßende Getue. Manchmal möchte er am liebsten "den Menschen bis aufs Hemd ausziehen und seinen dümmlichen Dünkel in den Staub treten". Erkenne dich selbst - nackt, ohne Pomp und Getöse, so wie er es in den drei Büchern seiner "Essais" zu keiner Zeit müde geworden ist zu erproben. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Ich führe ein Leben ohne Glanz und Gloria vor Augen - warum auch nicht? Man kann alle Moralphilosophie ebenso gut auf ein niedriges und namenloses wie auf ein reicher ausgestattetes Leben gründen: Jeder Mensch trägt die ganze Gestalt des Menschseins in sich. Meiner Ansicht nach sind jene Leben am schönsten, die sich ins allgemeine Menschenmaß fügen, auf wohlgeordnete Weise, ohne Sonderwünsche, ohne Wundersucht. Sprecherin: Obwohl Montaigne kein offizielles Amt mehr bekleidet, verfolgt er in seinem Schloss sehr genau das politische Geschehen, steht weiterhin mit Heinrich IV. in Verbindung, dessen Herrschaft nach wie vor mit aller Härte angefochten wird. Da die Hauptstadt Paris fest in den Händen des ultra katholischen Lagers der Guise ist, hat der König Tours zu seiner vorläufigen Hauptstadt erklärt. Zwischen Heinrich IV. und Montaigne gehen Briefe hin und her, in denen der König versucht, seinen geschätzten Kammerherrn, der Montaigne seit 1577 ist, als Ratgeber an seinen Hof zu ziehen. O-Ton (57) (Uwe Schultz): Diese Rolle des Kammerherrn war eine Auszeichnung, die konnte der jeweilige König oder auch sonstige Fürst gewähren. Diese Rolle bedeutete keine Anwesenheit in der Kammer des Königs, das war eine reinen Titulatur im Gegensatz zu den Ämtern. Sie war eine Ernennung, aber sie war nicht käuflich. Generell kann man sagen, dass das Verhältnis zwischen beiden außerordentlich von Sympathie geprägt war. Sie haben mehrere Briefe gewechselt mit jeweils gegenseitiger Hochachtung. Aber es war in seinem Leben schon sehr spät: Ach, lieber nicht - auf Distanz sind die Könige wohl besser zu ertragen, auch wenn ich ihm mein Bett gegeben habe. Jeden Tag ihn zu sehen und dann mich über bestimmte Themen mit ihm auseinanderzusetzen, das wäre ihm zu mühsam gewesen. Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Sire, Euer Brief vom 30. November hat mich erst zu dieser Stunde erreicht, so daß der Zeitraum, den Ihr mir für Euren Aufenthalt in Tours genannt habt, bereits verstrichen ist. Eurer Majestät hat es beliebt, nicht allein vor meinem Alter, sondern auch vor meinem Wunsche Achtung bezeugend, mich an einen Ort zu berufen, wo Ihr ein wenig Ruhe vor Euren anstrengenden Taten habt. Sollte dies bald Paris sein, werden mich weder Umstände noch Krankheit davon abhalten, mich dorthin zu begeben. Montaigne, den 18. Januar 1590 Euer sehr ergebener und gehorsamer Diener und Untertan, MONTAIGNE. Sprecherin: Eine wahrhaft diplomatische Antwort des Kammerherrn. In seinen "Essais" aber notiert Montaigne: "Ich bin nicht mehr in den Jahren, daß ein großer Wechsel einen Sinn für mich hätte." Drei lange Jahre sollten ohnehin noch ins Land gehen, in denen Heinrich IV. die Hauptstadt Paris durch eine schonungslose Belagerung niederzuzwingen sucht. Die endgültige Lösung allerdings ist eine andere. O-Ton (58) (Thomas Maissen): Bis Heinrich IV. dann gesagt hat, es ist mir klargeworden, ich kann dieses Frankreich nur versöhnen und ich kann hier den Frieden nur herstellen, wenn ich zum katholischen Glauben übertrete. Man hat dann nachher so'n bisschen sprichwörtlich gesagt, er hätte gesagt: "Paris vaut une messe", also, es lohnt sich für Paris, d.h. für den Ort, wo die Königsherrschaft lokalisiert ist, lohnt es sich zu konvertieren. Ist nur ein Bonmot, ein nachträgliches. Aber trifft die Situation nicht schlecht, dass für ihn die Glaubensfrage nicht im Vordergrund stand, sondern die machtpolitische Frage, wie er sich da durchsetzen würde, und damit hatte er jetzt auch die Bevölkerungsmehrheit tendenziell hinter sich. Und es gelang ihm, dieses radikal katholische Lager zu besiegen, in dem es eben auch keinen legitimen Thronfolger gab. Und damit hat sich eigentlich die Idee der legitimen Thronfolge durchgesetzt, aber mit der Zusatzklausel gleichsam, dass der Herrscher immer ein Katholik sein müsse. Sprecherin: Am 25. Juli 1593 konvertiert Heinrich IV. in der Kathedrale von Saint-Denis nördlich von Paris feierlich zum katholischen Glauben. Am 27. Februar 1594 lässt er sich in der Kathedrale Notre-Dame de Chartres salben und zum König krönen. Am 22. März 1594 zieht er in Paris ein. Vier Jahre später erlässt er das entscheidende Edikt von Nantes, das dem Land siebenundachtzig Jahre Religionsfrieden sichern wird. Musik Sprecherin: Michel de Montaigne erlebt das Ende der Hugenottenkriege nicht mehr. Am 13. September 1592 stirbt er 59-jährig. Nicht wie er sich gewünscht hatte unterwegs zu Pferde, sondern daheim auf Schloss Montaigne. Ursache ist auch nicht sein Steinleiden - wahrscheinlich ist es Diphtherie, eine Halsentzündung mit eiternden Abzessen, die Zunge und den Rachenraum anschwellen lässt und dem Kranken langsam die Luft abschnürt. O-Ton (59) (Uwe Schultz): Er hat natürlich den Tod in vielerlei Form in seinem Leben gesehen, seinen eigenen hat er in Ruhe kommen sehen. Es gibt wenig Zeugnisse über sein Sterben, er hat seine Freunde und befreundeten Standesherrn aus der Region zu sich gebeten und ist dann mit dem, was zum katholischen Ritus als Sterbeprogramm gehört, auf stille Weise verschieden. Er hat auch die Vorstellung, dass die Sorge danach, was mit seinem Leichnam passieren soll, das sei nicht mehr seine, das könne man dann lieber den Überlebenden überlassen, und dazu gehörte seine Frau, die das sehr nobel arrangiert hat. Zitatsprecher (2) (Familienchronik): Sein Herz wurde in der Kirche Saint-Michel beigesetzt, und Françoise de la Chaissagne, Madame de Montaigne, seine Witwe, ließ seinen Leichnam nach Bordeaux bringen und in der Feuillantenkirche beisetzen, wo sie ihm ein Grabmal errichten ließ. Sprecherin: Heißt es in der Familienchronik. - "Ein Mensch bin ich, nichts Menschliches ist mir fremd", diesen berühmten Satz des römischen Komödiendichters Terenz hatte Montaigne neben anderen Leitsätzen in die Deckenbalken seiner Bibliothek gravieren lassen. Nicht zufällig direkt über seinem Schreibpult. "Nichts Menschliches ist mir fremd" - diesem Leitspruch sind er und seine "Versuche" durch zwanzig Jahre bewegtes Leben unbeirrt gefolgt. Mit großer Offenheit nach allen Seiten und - so hatte er es im Vorwort für die erste Ausgabe geschrieben - "am liebsten rundum unverhüllt, rundum nackt". Diese Freizügigkeit hat er sich zu bewahren gewusst. Bis hin zum letzten Kapitel seiner "Essais", in dem er die ebenso kräftigen wie ungeschminkten Worte findet: Zitatsprecher (1) (Michel de Montaigne): Es ist höchste, fast göttergleiche Vollendung, wenn man das eigene Sein auf rechte Weise zu genießen weiß. Wir suchen andere Lebensformen, weil wir die unsre nicht zu nutzen verstehn; wir wollen über uns hinaus, weil wir nicht erkennen, was in uns ist. Doch wir mögen auf noch so hohen Stelzen steigen - auch auf ihnen müssen wir mit unsren Beinen gehen; und selbst auf dem höchsten Thron der Welt sitzen wir nur auf unsrem Arsch. Musik Sprecher (Abspann): "Jeder Mensch trägt die ganze Gestalt des Menschseins in sich" - Eine Lange Nacht mit Michel de Montaigne. Von Astrid Nettling mit: Thomas Maissen, Historiker mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit und Direktor am Deutschen Historischen Institut Paris Uwe Schultz, Publizist und Verfasser einer Monographie über Michel de Montaigne Musik Musikliste 1. Stunde Titel: La mia Barbara für Laute Länge: 02:01 Solist: Joachim Held (Laute) Komponist: John Dowland Label: hänssler-classic/Laudate Best.-Nr: CD 98.218 Titel: Prélude Aus: Pièces de luth Länge: 02:30 Interpret: Hopkinson Smith Komponist: Ennemond Gaultier Label: NAIVE Titel: On en dira ce qu´on voudra Länge: 01:32 Interpret: Hopkinson Smith Komponist: Claudin de Sermisy Label: Telefunken Titel: Pavana e gagliarda "della Traditora". Für Zink, Laute und Gitarre Länge: 02:20 Ensemble: Accordone Dirigent: Guido Morini Komponist: Anonymus Label: Cypres Best.-Nr: 1643 Titel: Passagio für Laute Länge: 00:34 Solist: Joachim Held (Laute) Komponist: Joachim Van den Hove Label: hänssler-classic/Laudate Best.-Nr: CD 98.218 Titel: Onse Vader ins Hemelryck Länge: 06:14 Interpret: Eric Bellocq Komponist: Nicolas Vallet Label: HARMONIA MUNDI FRANCE Titel: Que Dieu se montre seulement Länge: 02:22 Interpret: Carpe Diem Genève Komponist: Pascal de L´Estocart Label: Gallo Titel: Galliarde des Dieux Länge: 01:34 Interpret: Claude Deboves Komponist: Guillaume Morlaya Label: HARMONIA MUNDI FRANCE 2. Stunde Titel: Il bianco e dolce cigno Länge: 03:02 Interpret: Quartetto di Liuti da Milano Komponist: Jacobus Arcadelt Label: Brilliant Classics Titel: La Magdalena Länge: 02:17 Interpret: La Rossignol Komponist: Pierre Attaingnant Label: Tactus Titel: La Battaglia Intavolierung für Laute solo Länge: 01:28 Solist: Paul O'Dette (Renaissancelaute) Komponist: Clément Janequin, Marco Dall'Aquila Label: HARMONIA MUNDI FRANCE Best.-Nr: 907548 Titel: Susane un jour Länge: 02:20 Ensemble: Le Concert Brisé Komponist: Orlando di Lasso Label: CARPE DIEM Titel: La Pacifique Länge: 01:40 Interpret: Florence Bolton Komponist: Anthoine Boesset Label: ALPHA Titel: Tota pulchra es Länge: 02:55 Interpret: Orchestra of the Renaissance Komponist: Nicola Gombert Label: GLOSSA 3. Stunde Titel: Galliarde des Dieux Länge: 01:34 Interpret: Claude Deboves Komponist: Guillaume Morlaya Label: HARMONIA MUNDI FRANCE Titel: Passagio für Laute Länge: 00:39 Solist: Joachim Held (Laute) Komponist: Joachim Van den Hove Label: hänssler-classic/Laudate Best.-Nr: CD 98.218 Titel: aus: Suite französischer Tänze für kleines Orchester, (6) Bransle d'Escosse Länge: 01:45 Orchester: Bamberger Symphoniker Dirigent: Werner Andreas Albert Komponist: Claude Gervaise, Estienne de Tertre Label: Schwann MUSICA MUNDI Titel: L'aveuglé Dieu Transkription für Laute Länge: 01:40 Solist: Claude Debôves (Laute) Komponist: Clément Janequin Label: HARMONIA MUNDI FRANCE Best.-Nr: HMC 901099 Titel: Pilchra es amica mea Länge: 01:33 Interpret: Le Concert Brisé Komponist: Giovanni Pierluigi da Pelstrina Label: CARPE DIEM Titel: Une jeune fillette Länge: 01:06 Interpret: The Parley of instrument Renaissance Violon Band Komponist: Jean-Baptist Besard Label: Hyperion Titel: Pauane 11 "La Bataille" für Instrumente Länge: 01:14 Ensemble: Hesperion XX Dirigent: Jordi Savall Komponist: Anonymus Label: ASTREE Best.-Nr: ES 9966 Titel: Allemande Länge: 04:50 Interpret: Doulce Mémoire Komponist: anonym Label: Ricercar Literaturliste Michel de Montaigne Essais Erste Moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett Eichborn Verlag, Frankfurt a. M., 1998 14´30 min Michel de Montaigne Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland übersetzt von Hans Stilett Eichborn Verlag, Frankfurt a. M., 2002 4´10 min Julien Coudy (Hrsg.) Die Hugenottenkriege in Augenzeugenberichten keine Übersetzerangabe Karl Rauch Verlag, Düsseldorf, 1962 2´05 min Jean Lacouture Michel de Montaigne, Ein Leben zwischen Politik und Philosophie. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller Campus Verlag, Frankfurt a.M., 1998 1´55 min "Jeder Mensch trägt die ganze Gestalt des Menschseins in sich" Eine Lange Nacht mit Michel de Montaigne Seite 4