COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR Kostenträger : P 62 110 Titel der Sendung : "Jest tam ktos? Ist da wer?" Literarische Hauserkundungen in Schlesien und Galizien AutorIn : Vera Schneider Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 14.8.2012 Regie : Beate Ziegs Besetzung : Sprecher 1/Kommentare, Sprecherin 1/Zitate, Sprecherin 2/Zitate und Voice Over, Sprecher 2/Annoncen Atmos und Musik Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 MUSIK 1: HEY YOU (VITOLD REK), UNTER DEM TEXT LEISER WEITER SPRECHERIN 1: Als sich Janeczko endlich traute, das Haus zu betreten, umfing ihn im Flur ein Schwall süßlichen Geruchs. Merkwürdig bekannt kam er ihm vor. Jesttamktos?, rief er mehrmals mit belegter Stimme, und als niemand antwortete, stieß er die Tür zur Küche auf und trat ein. Es war niemand da. Großvater sagte: In einem Meer aus Pilzen standen ein Stuhl und ein Tisch. Auf der Tischoberfläche sei ein besonders zierlicher Pilz gewachsen, den er mit einer raschen Handbewegung weggefegt habe. SPRECHERIN 2: In den Küchen und Schlafzimmern hing immer noch ein fremder Geruch. Er kam besonders aus den Schränken und Wäscheschubladen. Die Frauen öffneten sie zaghaft und zogen Wäschestücke heraus, eines nach dem anderen, und wunderten sich, denn es war eine fremdartige, komische, wunderliche Wäsche. [...] Sie standen darin vor dem Spiegel, steckten automatisch die Hände in die Taschen und fanden dort zu ihrer Überraschung zusammengeknüllte Taschentücher, Bonbonpapierchen, Münzen, die nicht mehr in Umlauf waren. SPRECHERIN 1: Eine Kellerlüftung! Als ich Malinas Ruf hörte, machte mein Herz einen Satz, und so schnell ich konnte, rannte ich durch das Gras und die Disteln. Michals Fuß bog ein Distelgestrüpp zur Seite, Malina rupfte ein paar welke Kamillenstiele aus dem Boden, und da war er: ein winziger gemauerter Schacht, der aussah wie der Eingang zu einem unterirdischen Häuschen. MUSIK NOCH MAL HOCHKOMMEN LASSEN, KREUZBLENDE MIT ATMO1A: EISENBAHNWAGGON INNEN (UNTER DEM TEXT STEHEN LASSEN) SPRECHER 1: Im September 2009 reist eine junge Frau aus Niedersachsen in Richtung Osten. Ihr Ziel ist jener Teil Galiziens, der heute zur Ukraine gehört. 1942 war ihr polnischer Großvater von dort geflohen. Die deutschen Machthaber hatten damals eine antipolnische Stimmung geschürt, Pogrome waren die Folge. Nun sucht die Enkelin nach dem Hof, den ihr Großvater verlassen musste. O-TON 1 (JANESCH) Es war wirklich, als hätten unsichtbare Wesen den Weg geebnet. Es hat sich immer jemand gefunden, der total entsetzt war, dass ich irgendetwas alleine machen wollte, der mich irgendwie bei der Hand gepackt hat und mich irgendwohin geschliffen und der mir massiv weitergeholfen hat und immer extrem selbstlos aufgetreten ist. [...] Das war ein ganz großes Geschenk. SPRECHER 1: Für Sabrina Janesch - so heißt die junge Frau - ist diese Reise mehr als eine biografische Spurensuche: Die Tochter einer Polin und eines Deutschen recherchiert für ihren Debütroman. In KATZENBERGE, erschienen 2010, verfolgt die Berliner Journalistin Nele Leibert den Fluchtweg ihres Großvaters zurück - von Schlesien über Ostpolen bis zu seinem Geburtsort in Ostgalizien. ATMO 2A: TÜRKLOPFEN SPRECHER 2 [sachlich]: Gehöft im Oblast Lwiw, Ukraine. Nächste Ortschaft: Zastavne, polnisch: Zdzary Wielkie. Baulicher Zustand: Keine Angaben. ATMO 3B: TÜRÖFFNEN SPRECHERIN 1: Vor dem ersten Bauernhof, zu dem die Scheune gehörte, standen ein paar Truthähne und sahen uns misstrauisch an. Der Hof war umwuchert von Efeu und Bechermalven, sein einst hellblauer Zaun war überzogen mit Moos und Flechten, bog sich nach außen. Kein Hundegebell, und das, obwohl wir so nah wie möglich an den Häusern vorbeigingen. [...] Entnervt kam Michal zurück und sagte, dass ich uns in ein Geisterdorf geführt hätte. Wahrscheinlich sei es schon vor Jahren verlassen worden, wer würde denn heutzutage noch so leben wollen. Er zeigte auf die Lehmbauten. Wie im Mittelalter, befand er. [...] Kurz irritiert von meinem triumphierenden Grinsen und meinem Blick, der an ihm vorbeiglitt, drehte Michal sich um. Ein kleiner Junge in verblichenen Shorts und ausgeleiertem Pullover stand da. Er strich sich mit dem Ärmel über die Nase. Ich bin Jurij. Meine Oma will wissen, was ihr hier macht. SPRECHER 1: Jurijs Großmutter erinnert sich dunkel, wo sich der Hof der Janeczkos befunden haben muss. Doch übrig geblieben ist davon nur der Lüftungsschacht des Kartoffelkellers. Immerhin kann Nele in einem unbeobachteten Moment ein paar Löffel galizischer Erde in das Kopftuch ihrer Großmutter knoten. Diese Erde wird sie noch brauchen. O-TON 2 (JANESCH) Für mich war's [...] schön, das zu finden und über die Grenze von Zeit und Raum meinen Vorfahren die Hand zu schütteln oder ihnen irgendeine Form von Ehre zu erweisen. Aber was mich irgendwie bestürzt hat - vielleicht bin ich einfach ein sehr pragmatischer Geist - ist, dass man dieses Haus oder dieses Gehöft niedergefackelt hat, einfach aus Hass oder aus Destruktivität. Ich hätte mehr verstanden, wenn man die Leute dort rausgeschmissen hätte, um dort jemanden hinzusetzen, der dann da wohnt. SPRECHER 1: Bei ihren Vorarbeiten zu KATZENBERGE stößt Sabrina Janesch auf den Roman TAGHAUS NACHTHAUS von Olga Tokarczuk. Auch die 1962 geborene Polin hat familiäre Wurzeln in der heutigen Ukraine. Ihre Großmutter stammt aus der ehemaligen Hauptstadt Galiziens - Lemberg, ukrainisch Lwiw, polnisch Lwów. O-TON 3 (TOKARCZUK, MIT VOICE OVER) SPRECHERIN 2: Im Laufe ihres Lebens hatte meine Großmutter drei Staatsangehörigkeiten. Vor dem Ersten Weltkrieg, als sie geboren wurde, gehörte diese Region zur Habsburgermonarchie, nach dem Ersten Weltkrieg zum polnischen Nationalstaat. Danach wurden die Gebiete zunächst von den Sowjets und dann von den Deutschen besetzt. Und schließlich war sie Bürgerin der Volksrepublik Polen. Das Schicksal meiner Großmutter erzählt viel über die Verhältnisse in diesen Gebieten: Sie war polnisch, aber auch orthodox, und sprach ukrainisch. SPRECHER 1: In TAGHAUS NACHTHAUS berichtet Olga Tokarczuk über die Umsiedlung der Polen aus den Gebieten, die als Folge des Zweiten Weltkrieges zur Sowjetunion gehörten. Ihre Familie väterlicherseits war nach 1945 repatriiert worden - wieder heimgeholt, wie man das damals nannte. ATMO 1B: GÜTERZUG SPRECHERIN 2: Keiner wußte, wohin sie fuhren. Es gab zwar einen Zugführer, aber der ließ sich selten blicken und sagte immer nur mit geheimnisvoller Miene: "Morgen fahren wir los." [...] Oder er sagte, dort warteten ganze Dörfer auf sie, leerstehende Steinhäuser mit Geräten, von denen sie nie zu träumen gewagt hätten, und daß sie das alles haben könnten. "Du gehst hinein, und alles ist dein eigen." Die jungen Frauen, die ihre Säuglinge stillten, träumten also von Schränken voller Seidenkleider, von hochhackigen Lederschuhen, von Handtaschen mit vergoldeten Verschlüssen, Spitzenservietten und schneeweißen Tischtüchern. Und mit diesem Bild menschlicher Güter vor Augen schliefen sie ein, und wenn sie am Morgen aufwachten, war es kalt und feucht vom Tau. Denn die Waggons hatten keine Dächer, nur Bretter, die ihre Männer geschickt zu Holzdecken verarbeitet hatten. *** MUSIK 2: KEHR` ICH EINST ZUR HEIMAT WIEDER (SCHLESIERLIED) SPRECHER 1: Schlesien gilt als Durchgangslandschaft zwischen Nord und Süd, Ost und West. Im Laufe seiner Geschichte stand es unter böhmischer, habsburgischer, preußischer und polnischer Flagge. In Niederschlesien wurde um 1900 fast ausschließlich Deutsch gesprochen. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte das Potsdamer Abkommen ganz Schlesien östlich der Lausitzer Neiße unter polnische Verwaltungshoheit. Über drei Millionen Deutsche wurden vor allem aus Niederschlesien vertrieben. Aus Ost- und Zentralpolen, auch aus Galizien, kamen polnische Umsiedler und Flüchtlinge in das verwaiste Gebiet. SPRECHERIN 1: Großvater sagte, er habe nicht gewusst, dass er sich für den Rest seines Lebens an ein Stück Land binden würde. Überhaupt sei es schwer gewesen auszuwählen: einen Ort, ein Stück Erde, das ihm zusagte, oder eines, das er nicht ausstehen konnte, das er verabscheuen würde für den Fall, dass die Deutschen wiederkämen. Um ihm das, was er aufgebaut haben würde, wieder wegzunehmen. Der Hass und die Angst, sagte Großvater, haben, wie die Liebe, ihre eigene Logik: Er wollte nichts mögen oder sein Eigen nennen müssen, das sie gelassen hatten, wollte nicht ihre Teller benutzen, ihre Pferde zureiten, von den Früchten der Bäume essen, die sie gepflanzt hatten. Schlesien, hatte er geglaubt, das schlesige, schleimige, schissige Schlesien, sei eine Übergangslösung, eine Art makabrer Scherz, den man sich so lange erlaubte, bis daheim in Galizien alles in Ordnung gebracht worden war. SPRECHER 1: Die Übergangslösung erwies sich als endgültig. Doch das Gefühl, im Provisorium zu leben, hielt sich bei den Umsiedlern noch viele Jahrzehnte. 1992 wurde der deutsch-polnische Grenzvertrag ratifiziert; erst seitdem gehört das Gebiet östlich der Oder-Neiße-Grenze auch völkerrechtlich zu Polen. ATMO 2B: TÜRKLOPFEN SPRECHER 2: Bauernhof in Sichtweite des Katzengebirges, Woiwodschaft Niederschlesien. Nächste Ortschaften: Osola, ehemals Ritschedorf, und Bagno, ehemals Heinzendorf. Baulicher Zustand: umfassend modernisiert. ATMO 3B: TÜRÖFFNEN SPRECHER 1: Dreh- und Angelpunkt des Romans KATZENBERGE ist das Gehöft von Stanislaw Janeczko, Neles geliebtem "Djadjo". Er hatte es nach seiner Flucht bezogen und war dort bis zu seinem Tod geblieben. Sabrina Janesch erinnert sich an ihre Kindheitssommer bei den Großeltern: O-TON 4 (JANESCH) Also es war schon unheimlich idyllisch, es war eine Art Bullerbü, [...] einfach diese absolute Freiheit auf dem Land. Aber es gab diese ein, zwei Schatten [...], die auch immer anwesend waren, und zwar durch die Geschichten der Großeltern. Für ein Kind ist es, glaube ich, sehr traumatisch, wenn man merkt, dass eine Vertrauensperson, eine erwachsene Person, die mit Stärke [...] konnotiert ist, der Großvater, Angst zeigt oder eine Unsicherheit. Und in manchen Geschichten habe ich das gemerkt, dass er sich unsicher gefühlt hat auf dem Hof, und sei es damals gewesen. [...] Das hat mich als Kind schon sehr verunsichert, aber es hat gleichzeitig den Ort auch mit einem merkwürdigen Zauber aufgeladen. MUSIK 3: TRANSYLVANIANA, PART 4 (MAURICE DE MARTIN)/ATMO 4: SPUK SPRECHERIN 1: Großvater sagte, in der ersten Nacht sei er mehrmals aufgewacht, weil er sich sicher gewesen sei, auf dem Dachboden Schritte gehört zu haben. Kein Trippeln eines Tieres, kein zögerliches Suchen, Tapsen, sondern klare, feste Schritte eines bestiefelten Menschen: erst das leicht knallende Aufsetzen der Absätze, dann das Auftreten und die Gewichtsverlagerung, die die Balken ächzen ließ. [...] Als Janeczko im Dunkel des Zimmers die Umrisse seiner Hand erkennen konnte, stand er auf [...], nahm sein Gewehr und ging Stufe für Stufe die Treppe zum Dachboden hinauf. [...] Unter einer Lücke im Dach, im Gegenlicht, hing etwas am Dachbalken. Vom Eingang aus hatte Janeczko es für einen etwas unregelmäßigen Stützbalken gehalten. Als er näher getreten war, sah er, dass es unmerklich hin und her pendelte und dass der unregelmäßige Stützbalken ein vertrocknetes, eingefallenes Gesicht hatte, einen Sonntagsanzug trug und sich an einem Strick langsam im Durchzug hin und her bewegte. TROCKEN WEITER SPRECHER 1: Janeczko beerdigte den toten Deutschen heimlich im Wald. Später errichtete er ein Wegkreuz für ihn und gab damit den Dorfbewohnern Rätsel auf. Wussten sie doch, dass es mit seinem Katholizismus eigentlich nicht weit her war. Doch der Tote vom Dachboden blieb nicht die einzige grausige Entdeckung, die Janeczko auf seinem Grundstück machte. MUSIK 4: TRANSYLVANIANA, PART 1 (MAURICE DE MARTIN)/ATMO 4: SPUK SPRECHERIN 1: Als er vor den drei steinernen Stufen stand, die zur Tür führten, ließ er seinen Blick nochmals über den Hof schweifen: über den Walnussbaum am Gatter, den Hühnerstall, die Mistgrube, die Scheune, deren Tor leicht geöffnet war. Ein kühler Wind schien der Scheune zu entweichen; außerdem der Geruch von Holz und Harz. Schließlich bemerkte er das Paar gelber Augen, das ihn die ganze Zeit aufmerksam beobachtet hatte. Blitzschnell hob Janeczko einen Stein von der Erde und schmiss ihn gegen das Scheunentor. Fort, schrie er, schrie dreimal: Fort! Fort! Fort! Da verschwanden die Augen, und in der Scheune war nichts mehr zu sehen. TROCKEN WEITER O-TON 5 (JANESCH) Es gibt auf alle Fälle mehrere Schlüssel zu dieser Erscheinung. Wenn man das Buch zu Ende liest, könnte man es eben in Verbindung bringen mit einer Art schlechtem Gewissen, mit einem Trauma, das diesen Großvater, diesen Stanislaw Janeczko verfolgt. Es gibt eine sehr unerfreuliche Geschichte mit seinem Bruder, es wird ein Mord angedeutet, vielleicht hat es damit etwas zu tun. Ich glaube aber, wenn man den schlesischen Teil des Buches selber liest, dann würde man es eher damit in Verbindung bringen, dass da noch ein Geist der Deutschen, der Vertriebenen in den Häusern und in dem Land wohnt. Und es ist eher die materialisierte Angst der Polen, die dort hinkommen. Der Großvater ist nicht der einzige, der sich plötzlich mit diesem Spuk konfrontiert sieht. Er geht nach der Nacht in dieses Dorf, zu den anderen Bauern, die sich im Dorf niedergelassen haben, und dort stellt einer lakonisch fest, dass kein Mensch in den Häusern schläft, weil es da spukt. SPRECHER 1: Wer aus Galizien kommt, wo die Baba Jaga zu Hause ist und der Volksglaube blüht, der versteht sich auf derlei Erscheinungen. Janeczkos resolute Frau rückte dem Spuk mit verbrannten Krähen und einem Sud aus ihrem Haar zu Leibe. Das Biest, wie sie es nannten, gab erst nach der Geburt eines Kindes in der neuen Heimat vorläufig Ruhe. Aber für die dritte und endgültige Bannung fehlte eine entscheidende Zutat. Das bekommt die Enkelin Nele Jahrzehnte später zu spüren: SPRECHERIN 1: Für einen Moment halte ich an und lausche, aber es ist nichts zu hören. Ein paar Meter neben mir meine ich, einen Schatten gesehen zu haben, den Einen, Unerhörten, der aufmerksam jede meiner Bewegungen verfolgt. Mein Herz schlägt schneller [...]. In meinem Kopf hörte ich den Tonfall, mit dem Djadjo sagen würde: Mädchen, kämpf mit deinen eigenen Dämonen. Mir fiel erst jetzt, nach seinem Tod, die Antwort ein: Was, wenn Dämonen, wie Sprache oder Land, vererbbar sind? SPRECHER 1: Am Ende wird klar, in welcher Mission Nele nach Galizien gefahren ist: Die dritte Bannung sieht vor, Heimaterde an den neuen Ort zu bringen - die schwarze Erde der Ukraine, die nun im geblümten Kopftuch der Großmutter tausende Kilometer bis zum Friedhof von Bagno gereist ist. SPRECHERIN 1: Langsam schüttle ich das Tuch zwischen Stanislaw und Maria Janeczko aus, streiche es glatt, um auch das kleinste Staubkörnchen nicht zu vergessen. Eines fällt auf eine Chrysantheme, die sich zwischen die Granitplatten verirrt hat. [...] Ich hatte erwartet, dass nun, in diesem Moment, eine Feuersbrunst entflammen würde, Stimmen, die von oben herabregneten, ein Schatten, ein Schemen, der herabfahren würde für immer - oder dass mir wenigstens ein leiser Seufzer entweichen würde. Aber alles ist ganz ruhig, ich auch. *** MUSIK 5:THE INNER LIGHT (BEATLES) SPRECHERIN 2: "Man braucht überhaupt nicht aus dem Haus zu gehen, um die Welt kennenzulernen", sagte Marta plötzlich, als wir auf der Treppe vor ihrem Haus Erbsen pulten. [...] Auf Reisen muß man sich mit sich selbst beschäftigen, man muß sich zu helfen wissen, auf sich achtgeben und darauf, wie man sich der Welt anpaßt. Bei sich zu Hause ist man einfach, man braucht mit nichts zu kämpfen, nichts zu erringen. [...] Man hört auf, sich mit sich selbst zu beschäftigen, und dann sieht man am meisten. ATMO 2C: TÜRKLOPFEN SPRECHER 2: Bauernhaus im Glatzer Land, polnisch Ziemia Klodzka, Woiwodschaft Niederschlesien. Nächste größere Stadt: Nowa Ruda, ehemals Neurode. Baulicher Zustand: Stilvoll renoviert. ATMO 3C: TÜRÖFFNEN SPRECHER 1: Wer Olga Tokarczuks TAGHAUS NACHTHAUS liest, der blickt in ein Kaleidoskop aus Schicksalen, Mythen, Legenden und Träumen. Im Zentrum steht eine Landschaft an der Grenze zwischen Niederschlesien und Tschechien. Die Ich-Erzählerin hat sich dort ein Haus gekauft - wie die Autorin selbst, die TAGHAUS NACHTHAUS als ihr persönlichstes Buch bezeichnet. O-TON 6 (TOKARCZUK, MIT VOICE OVER) SPRECHERIN 2: Die Geschichte war relativ einfach: Wir wollten unbedingt die Stadt verlassen und haben in vielen Gegenden gesucht. Auf dieses Haus sind wir durch eine Zeitungsanzeige gestoßen. Das Haus ist romantisch gelegen, die Umgebung wirkt auf mich inspirierend, sodass ich auf eine natürliche Weise dazu kam, das Buch über das Haus und die Gegend zu schreiben. MUSIK 6: INTRO VON CAVERNA MAGICA (ANDREAS VOLLENWEIDER), UNTER DEM TEXT LEISER WEITER SPRECHERIN 2: Den ganzen ersten Tag verbrachten wir damit, unseren Grund und Boden abzuschreiten. Die Gummistiefel versanken im lehmigen Boden. [...] Am Nachmittag fiel wieder ein mit Schnee vermischter Regen. Das Wasser sammelte sich auf der lehmigen Erde, es bildete kleine Bäche und Rinnsale und verschwand irgendwo unter der Hauswand. Ein unentwegtes Rauschen machte uns Sorgen, und wir stiegen mit einer Kerze in den Keller hinab. Über die steinernen Stufen ergoß sich ein regelrechter Bach, spülte über den Steinfußboden und floß dann tiefer unten wieder hinaus. Wir erkannten, daß das Haus auf einem Bachlauf stand, es war unvorsichtigerweise über fließendem unterirdischem Wasser gebaut, und jetzt ließ sich nichts mehr daran ändern. Es blieb uns keine Wahl, wir mußten uns an das dumpfe, unablässige Geräusch und die unruhigen Träume gewöhnen. SPRECHER 1: In der Nachbarschaft wohnt die Perückenmacherin Marta, die nie verreist und alles weiß. Marta, die uralt ist und scheinbar unsterblich - vielleicht, weil sie im Keller Winterschlaf hält. Marta kennt die Biografie des Hauses seit den Anfängen. Sie hat schon Franz Frost, dem deutschen Erbauer, zur Seite gestanden. SPRECHERIN 2: Den ganzen Tag arbeitete er, hobelte die Dachsparren für das Dach, dann fuhr er mit dem Finger darüber, aber sie blieben so rauh, daß man sich die Haut daran aufriß. Die Ziegel waren vielleicht schlecht gebrannt, denn sie zerbröckelten und der Ziegelstaub rieselte auf die neuen Böden. Das Wasser floß von den Bergen herab durchs Haus, und da konnte auch die Keramikdrainage nichts ausrichten. Doch er gab die Hoffnung nicht auf, daß man mit harter Arbeit und Einfallsreichtum alle Probleme würde meistern können. Deshalb hobelte er nicht weiter an den Sparren, brachte einen groben Putz auf die Wände auf, und die Perückenmacherin im Nachbarhaus gab ihm den Rat, sich nicht länger mit den Drainagerohren abzugeben und das Wasser einfach durchs Haus fließen zu lassen. Sollte es ruhig im Frühling durch den Keller strömen und dann über die Steintreppe nach unten. Sieh zu, daß es einen Ausgang hat, sagte sie. Bohre Öffnungen in die Fundamente, dann kann es in den Teich abfließen. Und das tat er. SPRECHER 1: Franz Frost wurde zur Wehrmacht eingezogen und fiel im Zweiten Weltkrieg. Seine Familie bewohnte das Haus, solange es ging. Denn auch in das Glatzer Land kamen nach 1945 Umsiedler aus dem ehemaligen Osten Polens. Oft lebten sie noch monatelang mit den einstigen Besitzern unter einem Dach, weil deren Abtransport nach Deutschland sich verzögerte. SPRECHERIN 2: Als es Mittag war, hatten sie alle ihre Sachen vom Fuhrwerk hereingebracht. Es war nicht viel, ein paar Kleidungsstücke, Heiligenbilder, Federbetten, Fotografien in Holzrahmen. Frau Bobol machte unter dem merkwürdigen Herd Feuer, weil sie eine Suppe aufsetzen wollte. Sie konnte nirgendwo Wasser finden. Sie ging mit dem Topf um das Haus herum, dachte schon, sie müßte zum Bach, um Wasser zu holen. Schließlich faßte sie Mut und warf einen Blick in die Stube mit den beiden Frauen. Die jüngere sprang auf. "Wasser", sagte Frau Bobol und zeigte auf den Topf. Die jüngere ging zur Küche, doch die ältere fauchte sie an. Die Deutsche blieb einen Augenblick stehen, als zögerte sie. Unwillig zeigte sie Frau Bobol einen Schwengel in der Wand neben dem Herd, an den [Herr] Bobol schon seine Hose gehängt hatte. Sie stellte den Topf darunter und bewegte den Schwengel auf und ab. Wasser floß heraus. SPRECHER 1: Zu dem Gefühl, sich wie ein Kuckuck in eine fremdes Nest zu setzen, kamen bald handfeste Bedrohungen: Ein Monstrum wohnte im Dorfteich. Es verschlang erst die Fische, dann das Vieh und schließlich eine unachtsame Dorfbewohnerin. Eine Maschinengewehrsalve brachte es zur Strecke. Trotzdem blieb die Gegend düster und unwirtlich. O-TON 7 (TOKARCZUK, MIT VOICE OVER) SPRECHERIN 2: Diese Leute mussten das Land für sich neu erschließen, sie mussten es "zähmen". Ich musste das ebenfalls tun und habe das Buch auch geschrieben, um dieses Fleckchen Erde für mich zu zähmen. Dazu gehört auch, Erzählungen, Sagen und Legenden zu finden - oder zu erfinden, wenn sie noch nicht da sind. So bekommt das Land eine neue Identität. Man muss die Details neu beschreiben - Bäume, Kapellen, selbst die Steine, die dort liegen, und die umsäumten Feldwege. Dann kann das Land im menschlichen Bewusstsein wieder existieren. Aber es ist nicht einfach, an solchen Orten zu leben. SPRECHER 1: Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wird das Glatzer Land Ziel von Erinnerungstouristen. Sie verschenken Bonbons an die Kinder und werden von den Erwachsenen argwöhnisch beobachtet. SPRECHERIN 2: Die Deutschen ergossen sich aus Autobussen, die verstohlen auf Seitenwegen stehenblieben, um nicht aufzufallen. Sie gingen in kleinen Gruppen oder Paaren, meistens in Paaren. Er und sie, als suchten sie ein Plätzchen zum Knutschen. Sie machten Fotos von Plätzen, an denen nichts war, was viele verwunderte. Warum fotografierten sie nicht die neue Haltestelle oder das neue Dach anstatt dieser leeren Stätten, an denen nur Gras wuchs [...]. Oder das ältere Ehepaar, das irgendwann einmal in unserer Gegend auftauchte. Beide zeigten uns mit dem Finger die Häuser, die es mehr nicht gab. Später schickten wir uns gegenseitig Weihnachtskarten. Sie sagten uns beruhigend, die Familie Frost erhebe keine Ansprüche mehr auf unser Haus. "Warum sollte jemand auf unser Haus Ansprüche erheben?", fragte ich Marta empört. Und sie antwortete: "Weil er es gebaut hat". SPRECHER 1: Nicht nur im Roman erweist sich die Sorge der Polen als unbegründet. Olga Tokarczuk freundet sich mit dem Deutschen an, dessen Großeltern die Erbauer ihres Hauses waren. Bei einem seiner Besuche macht die Autorin eine überraschende Entdeckung. O-TON 8 (TOKARCZUK, MIT VOICE OVER) SPRECHERIN 2: Eines Tages zeigte er mir alte Fotos von den Bewohnern des Hauses, und ich war baff. In meinem Buch gibt es eine Hauptfigur, eine alte Frau, Marta; die ist nicht so ganz realistisch angelegt. Ich habe sie aus meiner Fantasie aufgebaut, wollte erreichen, dass sich der Leser mit ihr identifizieren kann, und habe sie mit einigen Details ausgestattet. Es ging um Dinge wie die Frisur, den Pullover oder die Art, wie sie ihn zuknöpfte. Dann kam mir ein Foto in die Hände, zu sehen war die ganze Familie, um einen Tisch versammelt, ein Bruder trug die Wehrmachtsuniform. In der Mitte saß die Großmutter, und sie glich der Marta aus TAGHAUS NACHTHAUS: Sie hatte ihr Haar ähnlich gescheitelt, trug einen ähnlichen Pullover, sogar die Knöpfe stimmten und - was besonders erstaunlich war - sie trug sogar den gleichen Namen, den ich für meine Protagonistin gewählt hatte. Ich erzähle diese Geschichte immer mit einer gewissen Distanz, aber für mich ist es bis heute ein Phänomen, wie diese Ähnlichkeiten zustande kamen; ich kann es mir nicht erklären. MUSIK 7: DAMSEL (VITOLD REK) SPRECHER 1: Im April 2011 lernen sich Olga Tokarczuk und Sabrina Janesch im polnischen Swinoujscie (Swinemünde) kennen: Die Veranstalter der Usedomer Literaturtage haben sie zu einer gemeinsamen Lesung in den Jazz-Club "Centrala" geladen . An diesem Vormittag gewinnt ganz nebenbei Gestalt, was die Gedächtnisforschung "dialogisches Erinnern" genannt hat: Im europäischen Gedenken an traumatische Ereignisse gilt es, die Zusammenhänge zwischen den nationalen Geschichtserzählungen zu erkennen. Und das gelingt nicht ohne die Einfühlung in das Leiden der Anderen. MUSIK 8: TALE V (GORAN BREGOVIC), UNTER DEM TEXT LEISER WEITER SPRECHERIN 2: Wer war dieser Mensch, der über Nacht deutsche Ortsnamen zu polnischen gemacht hatte? Manchmal hatte er poetische Geistesblitze gehabt, manchmal einen entsetzlichen Wortschöpfungskater. Er benannte alles von Grund auf neu, er schuf diese gebirgige unebene Welt. Aus dem Vogelsberg machte er Nierode, Gotschenberg taufte er patriotisch in Polska Gora (Polenberg) um, das melancholische Flucht wurde zu dem banalen Rzezina, dafür nannte er den Magdal Felsen in Bogdal um. [...] Dabei schaffen Worte und Dinge doch einen symbiotischen Raum wie Birken und Pilze. Die Worte wachsen aus den Dingen und sind erst dann in ihrem Sinn gereift und bereit, ausgesprochen zu werden, wenn sie in einer Landschaft wachsen. [...] Mit Menschen ist es wohl ähnlich, denn sie können nicht losgelöst von einem Ort leben. Menschen sind Worte. Erst dann werden sie real. Vielleicht war es das, was Marta meinte, als sie sagte: "Wenn du deinen Ort gefunden hast, bist du unsterblich." MUSIK WIEDER HOCHKOMMEN LASSEN, BIS ZUM ENDE DER SENDEZEIT WEITER Janesch, Sabrina: Katzenberge. Roman. Berlin: Aufbau 2010, S. 63 Tokarczuk, Olga: Taghaus Nachthaus. Stuttgart, München: Deutsche Verlags-Anstalt 2001, S. 262 Janesch, Sabrina: Katzenberge, S. 264 ebd., S. 249 Tokarczuk, Olga: Taghaus Nachthaus, S. 250 Janesch, S. 43 ebd., S. 68 ebd., S. 73 f. ebd., S. 8 ebd., S. 181 ebd., S. 286 Tokarczuk, S. 52 Tokarczuk, S. 8 f. Tokarczuk, S. 138 f. ebd., S. 253 f. ebd., S. 102 f. Dramaturg der Usedomer Literaturtage ist Thomas Schulz vom Deutschen Kulturforum östliches Europa. Ihm verdanke ich die Idee zu dieser Sendung und viele wertvolle Anregungen. ebd., S. 192 21