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Titel der Sendung: Vor 50 Jahren "Kommt uns nicht mit Fertigem" Ein Lyrikabend in der Ostberliner Akademie der Künste und seine Folgen Autor: Johannes Kirsten Redaktion: Sigried Wesener Sendetermin: 27. 11. 2012 Besetzung: Sprecher: Julian Mehne Zitator: Guido Lang Vor 50 Jahren "Kommt uns nicht mit Fertigem" Ein Lyrikabend in der Ostberliner Akademie der Künste und seine Folgen von Johannes Kirsten Sprecher Zitator Diverse O-Töne* Musik/ Biermann: "Das Lied vom Traktoristen Kalle" darauf O-Ton 1 (Hermlin zitiert Volker Braun) Vorläufiges Andere werden kommen und sagen: EHRLICH waren sie (Das ist doch schon was zu Zeiten der Zäune und Türschlösser!); Sie schrieben für das Honorar und die Befreiung der Menschheit,... Musik und O-Ton 1 weg Sprecher Der Dichter Stephan Hermlin liest Strophen eines Gedichts von Volker Braun. Der Eine - ein angesehener Autor, seit 1961 Sekretär der Sektion Literatur und Sprachpflege der Deutschen Akademie der Künste in Ostberlin. Der Andere - zum Zeitpunkt der Lesung nahezu unbekannt. O-Ton 1a (Hermlin zitiert Volker Braun - letzte Strophe) Doch wir nehmen es auf uns: vergessen zu sein am Morgen! Sprecher Mit Volker Brauns Gedicht "Vorläufiges" endete die Lesung unveröffentlichter Arbeiten an diesem Lyrikabend des 11. Dezember 1962. Ihr folgte eine mehrstündige Diskussion. Zitat "Mehrheitlich um das Jahr 1930 herum geboren, hatten die Jungen zu Beginn der sechziger Jahre ihren großen Auftritt. Sie stellten die energischste, am meisten nach vorn drängende Trägerschicht der kurz nach dem Mauerbau von oben eingeleiteten Reformen. Den Reformprozeß über sein beschränktes Ziel, die Rationalisierung einzelner sozialer Sektoren, hinauszutreiben, in eine kulturelle Modernisierung der DDR-Gesellschaft umzumünzen war ihr eigentliches Anliegen. Zu diesem Zweck verbanden sie sich mit gleichaltrigen Praktikern und Experten, mit Wissenschaftlern, Werkdirektoren, Ingenieuren, Architekten, Formgestaltern, aber auch mit aufgeschlossenen Leitern in Staat und Partei." Sprecher Was hier der Soziologe Wolfgang Engler in seinem Essay "Strafgericht über die Moderne - Das 11. Plenum im historischen Rückblick" beschreibt, galt im Besonderen für die Literatur. Auch hier vollzog sich Anfang der sechziger Jahre ein Generationswechsel. Erste Anthologien wie die von dem 1928 geborenen Gerhard Wolf mit dem Titel "Bekanntschaft mit uns selbst", stellten bis dahin unbekannte junge Autoren vor. Autoren, die oft so jung waren, dass sie den Krieg als Kinder erlebt hatten und nachhaltiger von der Nachkriegszeit und den ersten Jahren der DDR geprägt waren. O-Ton 2 Gerhard Wolf Die meisten dieser jungen Autoren kamen damals noch aus den Arbeitsgemeinschaften junger Autoren, die der Schriftstellerverband hatte [...] In diesen Arbeitsgemeinschaften waren sehr verschiedene Leute, die aus sehr verschiedenen Berufen kamen. Sprecher Gerhard Wolf entwickelte sich zu einem der besten Kenner und Begleiter der neuen Dichtergeneration. In der von ihm besorgten und 1961 im Mitteldeutschen Verlag erschienenen Anthologie sind die jungen Autoren Werner Bräunig, Heinz Czechowski, Bernd Jentzsch, Rainer Kirsch, Karl Mickel und Klaus Steinhaußen vertreten. Selbstbewußt setzen sich diese sechs mit der neuen Lebenswirklichkeit und den Widersprüchen ihres Landes auseinander. O-Ton 3 Gerhard Wolf Stephan Hermlin, der Sekretär der Literatur war in der Akademie, wollte diese jungen Leute, die ja überall rumschwebten und ja interessante Sachen machten vorstellen und hat eingeladen, und ich hab ihm natürlich eine ganze Reihe Vorschläge aus meinem Bereich gemacht. Sprecher Stephan Hermlin nahm den Zeitgeist wahr und reagierte auf Impulse, die von den jungen Leuten ausgingen. Am 5. Oktober 1962 hatten die fünf Akademiemitglieder Kurt Barthel, genannt Kuba, Franz Fühmann, Wieland Herzfelde, Peter Huchel und Hermlin unter dem Titel "Zeitgenössische Lyrik" eigene Texte gelesen. Im Publikum saßen auch junge unbekannte Autoren, die sich in die anschließende Diskussion einmischten. Stephan Hermlin ermunterte sie während der Veranstaltung, ihm ihre Gedichte zuzusenden. Atmo (Verkehrslärm / Stadt) darauf Sprecher Der Robert Koch Platz in Berlin. Direkt an der Charité gelegen, stößt hier die Luisenstraße weiter über den Platz vor dem Neuen Tor auf die Invalidenstraße. Dichter Verkehr brandet heute von Ost nach West und umgekehrt. Dazu der Berlin prägende Baulärm allerorten. 1962 sah es hier ganz anders aus. Die Mauer zog sich hinter der Charité entlang und teilte die Invalidenstraße. Der Robert Koch Platz lag damals am Rand des östlichen Teils der Stadt. Und hier, in der Nummer 7 hatte die Deutsche Akademie der Künste seit 1950 ihren Sitz. Von hier ging der Aufruf in das Land. Es war ein beispielloser Vorgang, als Hermlin nach seiner mündlichen Aufforderung an junge Dichter für Dezember 1962 am Robert-Koch- Platz einen Lyrikabend ansetzte und für diesen in Zeitungen warb und im ganzen Land dazu aufrief, unveröffentlichte Arbeiten einzuschicken. Der Dichter Rainer Kirsch erinnert sich. O-Ton 3a Rainer Kirsch Ich saß neben meiner Frau Sarah und ich kannte eigentlich keinen von denen, ... Das war der Plenarsaal der Akademie der Künste, großer Saal, ich denke dass da 400 Leute reinpassten und das 500 drinne waren,.[...] und nun hatte Hermlin eingeladen, das war ja kein alltägliches Ereignis. Musik/ Biermann "Ermutigung" ("Du, lass dich nicht verhärten", Kölnkonzert) Sprecher Wolf Biermann spielt eines seiner populärsten Lieder 1976 in Köln. In Folge des Konzerts wird er aus der DDR ausgebürgert. Aber 1962 ist Biermann kaum bekannt. Seinen ersten Auftritt vor einer breiten Öffentlichkeit hat er an jenem 11. Dezember im Plenarsaal der Akademie. Lieder von Biermann bilden den Prolog. Dann eröffnet Stephan Hermlin den Abend. O-Ton 4 Hermlin "Wolf Biermann, ein authentischer Dichter. Ich freue mich sehr, dass wir von ihm diese Sachen, die ich übrigens zum ersten Mal gehört habe, hören konnten. Ein Junger Dichter, namens Hannes Würtz hatte mir ein Gedicht geschickt aus dem ich nur zitieren will Mir träumte neulich nachts, wir hätten nicht nur einen, wir hätten hundert Jewtuschenkos: temperamentvoll, zärtlich, wägend. Gestalter des Heute und des Morgen. Mir träumte neulich nachts, daß Träume nicht nur Traum sind. Sprecher Hermlin zitiert aus dem Gedicht "Traum und Aufbruch" von Hannes Würtz, der später bei der Tageszeitung "Junge Welt" die Rubrik "Poetensprechstunde" betreuen wird. Für Hermlin sind diese Zeilen eine willkommene Vorlage, in den Abend einzuleiten. Der Name des russischen Dichters Jewgenij Jewtuschenko ist verbunden mit den legendären öffentlichen Dichterlesungen am Majakowski-Denkmal und im Palast des Sportes in Moskau, wo Tausende seinen Versen zuhörten. Der neue Ton aus der Sowjetunion bewegte weit über den Literaturbereich hinaus. Die Entstalinisierung war noch im Gange und wurde vom XXI. Parteitag der KPdSU 1959 bestätigt. Die Entwicklungen in der Sowjetunion übten damals Druck auf den Machtapparat in der DDR aus. O-Ton 5 Hermlin Ich behaupte nicht, dass wir hundert Jewtuschenkows haben, aber es haben immerhin auf unseren Appell 144 Unbekannte eingeschickt und zwar die Gesamtzahl von 1250 Gedichten. Ich hab sie alle gelesen. ....Von Wolf Biermann, der das natürlich viel besser selbst kann, wenn er zur Gitarre singt: Für Dich Ich ging zu dir Dein Bett war leer. Ich wollte lesen Und dachte an dich. Ich wollte ins Kino Und kannte den Film. Ich ging in die Kneipe Und war allein. Ich hatte Hunger Und trank zwei Spezi. Ich wollte allein sein Und war zwischen Menschen. Ich wollte atmen und sah nicht den Ausgang. Ab hier abblenden - unter folgenden Text und langsam raus Ich sah eine Frau Die ist öfters hier. Ich sah einen Mann Der stierte ins Bier. Ich sah zwei Hunde Die waren so frei. Ich sah auch die Menschen Die lachten dabei Ich sah einen Mann Der fiel in den Schnee Der war besoffen Es tat ihm nicht weh. Ich rannte vor Kälte Über das Eis Der Straßen zu dir Die all das nicht weiß Sprecher Biermanns erstes Gedicht setzt bereits den Ton, der trotz aller Unterschiede prägend für viele gelesenen Gedichte ist. Es sind keine Hymnen auf Sozialismus oder Staat, sondern Liebesgedichte und Alltagsbeschreibungen. Mit Witz und Hintersinn greifen sie die Lebenswirklichkeit der jungen Dichter auf. Rainer Kirsch's Gedicht "Meinen Freunden, den alten Genossen" geht noch einen Schritt weiter. Er sucht die Konfrontation, formuliert ganz direkt seine Unzufriedenheit. O-Ton 6 Hermlin Meinen Freunden, den alten Genossen Wenn ihr unsere Ungeduld bedauert Und uns sagt, daß wir´s heut leichter hätten, Denn wir lägen in gemachten Betten, Denn ihr hättet uns das Haus gemauert - Schwerer ist es heut, genau zu hassen, Und im Freund die Fronten klar zu scheiden, Und die Unbequemen nicht zu meiden, Und die Kälte nicht ins Herz zu lassen. Denn es träumt sich leicht von Glückssemestern, Aber Glück ist schwer in diesem Land. Anders lieben müssen wir als gestern Und mit schärferem Verstand. Und die ganze Last der Wahrheit kennen. Und die Träume ganz beim Namen nennen. Sprecher Zeitgleich ist ein ganz ähnliches Gedicht von Wolf Biermann entstanden. "An die alten Genossen" verschärfte noch einmal den Gegensatz. Biermann liest das Gedicht im Diskussionsteil des Abends. Sein Text meint nichts anderes als: "Abtreten". Das Gedicht endet: Zitat "Drum seid mit meiner Ungeduld Nicht ungeduldig, ihr alten Männer; Geduld Geduld ist mir die Hure der Feigheit Mit der Faulheit steht sie auf Du und Du Dem Verbrechen bereitet sie das Bett. Euch aber ziert Geduld. Setzt Eurem Werk ein gutes Ende In dem ihr uns Den neuen Anfang laßt!" Sprecher Der Theaterregisseur und zeitweilige Assistent Bertolt Brechts Bernhard Klaus Tragelehn hat seine "Ode an die zwei Brötchen" eingeschickt, die wiederum Stephan Hermlin vorträgt. O-Ton 8 Hermlin Ode an zwei Brötchen Für Ch.K. Sättigende! Billige! Fünf Pfennig das Stück. Ihr vom Erlös der leeren Milchflaschen Erschwinglichen! Ihr In der rauen Zeit vor Honorarempfang Treuen! Braune, knusprige, innen weiche und weiße! Erhaltend Zum Dichten den Dichter: Euch zu loben, Bescheidene! Nützliche! Vereinigen sich: Darm, Gaumen, Brieftasche Knurrend. Sprecher Am Ende des Leseteils präsentiert Hermlin sieben Gedichte des damals 23 jährigen Volker Braun aus dessen "Zyklus für die Jugend". Der Anfangsvers wird zur viel zitierten Losung junger Intellektueller in der DDR. O-Ton 9 Hermlin Kommt uns nicht mit Fertigem! Wir brauchen Halbfabrikate! Kommt uns nicht mit Fertigem! Wir brauchen Halbfabrikate! Weg mit dem Rehbraten - her mit dem Wald und dem Messer! Hier herrscht das Experiment und keine steife Routine. Hier schreit Eure Wünsche aus: Empfang beim Leben. Zwischen die Kontinente, zu allen Ufern Spannt seine Muskeln das Meer unserer Erwartungen, An alle Ufer trommeln seine Finger die Brandung, Über die Uferklinge läßt es die Wogen springen und aufschlagen, Immer erneut hält es die Flut hoch und gibt es sie auf: Hier wird täglich das alte Leben abgeblasen. Für uns sind die Rezepte nicht aufgeschrieben, mein Herr. Das Leben ist kein Bilderbuch mehr, Mister, und keine peinliche Partitur, Fräulein, Nix zum Herunterdudeln! Hier wird ab sofort denken verlangt. Raus aus den Sesseln, Jungs! Feldbett - meinetwegen. Nicht so feierlich, Genossen, das Denken will heitere Stirnen! Wer sehnt sich hier nach wilhelminischem Schulterputz? Unsere Schultern tragen einen Himmel voll Sterne. Alles Alte prüft: her, Kontrollposten Jugend! Hier wird Neuland gegraben und Neuhimmel angeschnitten - Hier ist der Staat für Anfänger, Halbfabrikat auf Lebenszeit. Hier schreit eure Wünsche aus: an alle Ufer Trommelt die Flut eurer Erwartungen! Was da an deine Waden knallt, Mensch, die tosende Brandung: Das sind unsere kleinen Finger, die schießen nur Bißchen Zukunft vor, Spielerei. Sprecher Die Verve, mit der der Dichter Hermlin Brauns Texte präsentiert, reißt auch heute noch mit. Dass er die kraftvollen und von Aufbruch und Jugendlichkeit gekennzeichneten Gedichte ans Ende des Leseteils setzt, ist ein starkes Bekenntnis zu Braun und seiner Botschaft. In etwas mehr als einer Stunde las Stephan Hermlin 63 Gedichte von 27 Autoren. Auch der Dichter Karl Mickel ist an diesem Abend im Saal, aufgefordert durch das Publikum, liest er aber erst im Diskussionsteil den Text "Wenn der Frieden ausbricht". Dieser Abend im Dezember 1962 atmet Geschichte. Die Energie und Entschlossenheit der Texte und ihres Vortrags überträgt sich auch ein halbes Jahrhundert später. Die Kunstakademie versammelt Dichterstimmen, die heute nicht nur für die DDR-Lyrik stehen, sondern zum Bleibenden zählen, was deutsche Poesie in den zurückliegenden Jahrzehnten hervorgebracht hat. Die Diskussion beginnt nach einer kurzen Pause. O-Ton 10 Hermlin Aber ich habe jetzt z. B. Biermann kennengelernt, den ich gar nicht gekannt habe. Ich kenne alle anderen eigentlich überhaupt nicht, hab sie nie gesehen, also Jentzsch oder Volker Braun und die anderen, wer ist eigentlich hier? Ich würde mal gerne wissen, wer da ist, von den Vorgelesenen. Saalatmo Applaus, darüber Text Sprecher Die anwesenden Dichter geben sich zu erkennen. Aus dem Publikum kommt der Vorschlag, ob die Autoren selbst noch Texte lesen könnten. O-Ton 11 Hermlin / Publikum Unbekannt: Ich habe einen Vorschlag, sie möchten, wenn sie können, selber noch eins sprechen zu uns Hermlin: Ja natürlich, sehr gut. Also, wie ist es. Könnt ihr Eure Sachen auswendig? Unbekannt: Könnte nicht Wolf Biermann eines seiner Lieder zur Gitarre selber singen. Hermlin: Ohne weiteres, da sitzt er. Ist die Gitarre da? Biermann: Ja unten Sprecher Wolf Biermann erinnert sich später in seiner Poetikvorlesung in Düsseldorf, die in dem Band "Wie man Verse macht und Lieder" veröffentlicht worden ist, mit gewohnt kraftvoller Sprache an den Moment. Zitat "Aber dann nach der Pause ging die Hölle los. Nicht gleich. Es fing damit an, daß mal wieder kein Aas Lust hatte, nun über die vorgestellten Gedichte eine parteilich moderierte Diskussion zu führen. In dieser Verlegenheit kam aus irgendeiner Ecke im großen Rund der Vorschlag, die von Hermlin entdeckten Dichter, soweit sie im Saale anwesend seien, sollten doch noch das eine oder andere neue Stück zum besten geben... Das gefiel dem maulfaulen, dem aufgekratzten Publikum, und so nahm die Katastrophe erst mal gemütlich ihren Lauf. Noch´n Gedicht und noch´n Gedicht, das Publikum leckte genüßlich die neue Lyrik." Sprecher Bernd Jentzsch, der 1976 die DDR verließ und nach der Wende der erste Direktor des Leipziger Literaturinstituts war, macht den Anfang und liest sein Gedicht "Warnung vor dem Jubel". O-Ton 13 Hermlin / Kirschs Hermlin: Wer ist der nächste? Sind Sie Sarah Kirsch? S. Kirsch: Ja, aber ich kann es nicht auswendig. Hermlin: Und sie sind Rainer Kirsch? - Können Sie etwas? R. Kirsch: Dann müsste ich nach draußen gehen und es aus dem Gedächtnis aufschreiben. Das ist sonst unmöglich. Hermlin: Na ja, dann machen Sie es. O-Ton 14 Rainer Kirsch Ich bin mit Sarah rausgegangen, weil ich hatte kein Gedicht mit, und ich wollte mir nicht die Blamage leisten, da oben auf der Bühne zu stehen und jetzt weiß ich nicht weiter zu sagen und deshalb... ich weiß nicht, ob wir beide je einen Text oder zwei... Sprecher Also wird erst einmal Kurt Bartsch, dessen späteres Gedicht "Sozialistischer Biedermeier" Berühmtheit erlangt und der 1980 die DDR verlässt, ein schelmisches Kurzgedicht zum Besten geben. O-Ton 15 Kurt Bartsch Himmelfahrt 1961 Des Menschen Raumflug brachte die Erkenntnis ein, man kommt auch in den Himmel, ohne tot zu sein. Sprecher Wolf Biermann hat inzwischen die Gitarre geholt und begeistert das Publikum mit mehreren Liedern. Musik/ Biermann "Der Hausarzt"(Vier Kinderlieder") Sprecher Sarah und Rainer Kirsch sind wieder im Saal. Sarah Kirsch liest ihr Gedicht "Der Saurier". O-Ton 16 Sarah Kirsch Der Saurier, das böse Tier, war im Norden so groß geworden und so mächtig und so prächtig, daß ihn befiel ein Wahn. Er fraß die Sonne aus ihrer Bahn. In der Eiszeit, da war es soweit, vorbei alle Freud´. Da starb er aus. Lerne daraus! Saalatmo Applaus/ darauf Sprecher Weitere Texte werden gelesen und die Diskussion kommt allmählich in Fahrt. Sie wird das erste Mal kontrovers, als es um eine Arbeit des bereits bekannteren Autors Helmut Baierl geht. In einem von Hermlin in der Lesung vorgetragenen Auszug aus dessen Gedicht "Protokolle" polemisiert der Autor heftig gegen einen Artikel im Neuen Deutschland. Abgeschnittenen weißen Porzellanröhren, die als Vasen tituliert waren, wurde hier abgesprochen, Kunstwerke zu sein. Der Abend wird immer mehr zur Debatte über die Veröffentlichungspraxis dieser Zeitung, und das Auditorium übt heftige Kritik. In der Diskussion und in vielen der gelesenen Texte wird offenbar, offizielle Politik und Lebenswirklichkeit der Jungen driften immer weiter auseinander. Der Mauerbau von 1961 war noch von der naiven Hoffnung begleitet, man könne sich jetzt ganz den inneren Problemen der neuen Gesellschaft zuwenden. Diese Hoffnung wurde schnell zunichte gemacht. Das im Raum stehende Versprechen eines glücklicheren Lebens war schnell bitterer Enttäuschung gewichen. Von Empörung war auch die Auseinandersetzung getragen, die sich um den Einwurf des Redakteurs des Neuen Deutschland Willi Köhler entspann. O-Ton 18 Willi Köhler Aber wenn nur Beifall geklatscht und gesagt wird, wenn, ein Genosse hier sagt, es werden die und die Gedichte veröffentlicht, dann kommt nur Stranka dann frage ich mich, ob das wirklich in Ordnung ist, ob man da nicht sagen muß, jawohl, diese Autoren sind mehr und mehr..., das ist eine gelenkte Atmosphäre, die gegen das "Neue Deutschland" hier geschaffen worden ist. Saalatmo (Tumult) bleibt stehen darauf Sprecher Die Stimmung im Saal droht zu kippen. Der Vorwurf einer "gelenkten Atmosphäre" bedeutet im gängigen Sprachgebrauch: Konterrevolution. Eine Drohung mit weitreichenden Konsequenzen. O-Ton 19 Hermlin Hermlin: Ich möchte als Versammlungsleiter in aller Form und ruhig mich schärfstens gegen das wenden, was sie eben gesagt haben. Ich warne Sie, derartige Dinge in die Welt zu setzen, daß es hier eine gelenkte Diskussion ist. Ich warne Sie. Dieses Argument werde ich nicht noch einmal akzeptieren. Hier findet eine ganz sachliche, ruhige, lebendige, und parteiliche Aussprache statt. (Starker Beifall) Sprecher Die Schärfe im Ton ist unüberhörbar. Die Konsequenzen ahnen vermutlich alle im Saal. B.K. Tragelehn und seine Frau Christa sind an diesem Abend auch Zeugen des Geschehens. Tragelehns Uraufführung von Heiner Müllers "Umsiedlerin" war ein Jahr zuvor verboten worden. Jetzt war er mit einem Text auf der Lesung vertreten und erinnert sich gemeinsam mit seiner Frau an die Stimmung im Saal. O-Ton 20 Tragelehns B.K. Tragelehn: Das war für mich immer paradigmatisch, der Verlauf dieses Abends. Das fing eben an, taktisch geschickt von Hermlin, und dann fing die Diskussion und dann war auch erst mal nichts es ist ganz schwer festzumachen, was das auslösende Moment war. Man hatte das wie wenn der Kessel kocht und... Chr. Tragelehn: Das Ventil aufgemacht wird um den Dampf rauszulassen. B.K. Tragelehn: Nur es war kein Ventil... Chr. Tragelehn: Er explodierte. B.K. Tragelehn: Tendenz zum Reißen des Kessels war ganz deutlich und als solches war der Verlauf beispielhaft, es war ein Bild für die Situation überhaupt, also für ne Grundsituation in der DDR. Sprecher Kurz nach Mitternacht ist alles vorbei. Mehrere Stunden lesen und streiten um Lyrik und Politik finden ihr Ende. Die Freiheit und Offenheit und vor allem die Leidenschaft, mit der hier in so frühen Jahren der DDR, ein Jahr nach dem Mauerbau, diskutiert und rezitiert wurde, ist Teil der deutschen Literaturgeschichte nach 1945. Volker Braun war an dem Abend leider nicht anwesend. Als Student in Leipzig konnte er sich die Fahrt nach Berlin nicht leisten. Am nächsten Tag wurde er überrascht von zahlreichen Glückwunschtelegrammen, die ihm in seiner Parterrewohnung durch den Briefschlitz geschoben wurden. Eines der Telegramme kam von Bodo Uhse dem damaligen Chefredakteur der Zeitschrift "Sinn und Form". Zitat Erbitte Abdruckberechtigung für ihre von Stephan Hermlin am 11. 12. In der Akademie verlesenen und mit so herzlichem Beifall aufgenommenen Gedichte fuer Sinn und Form Heft 1 falls nicht andere Vereinbarungen bestehen umgehende Bestätigung erwuenscht = Bodo Uhse Sprecher Das erste Heft 1963, der von der Akademie herausgegebenen Literaturzeitschrift "Sinn und Form" bringt dann auch unter der Überschrift "Junge Lyrik der deutschen demokratischen Republik" Autorentexte des Akademieabends. Von Braun werden fünf Gedichte veröffentlicht. Biermann ist nicht dabei. Volker Braun bringt das Erscheinen der Gedichte in "Sinn und Form" an den Rand der Exmatrikulation. Später wird er sich an den Moment als an einen erinnern, der ihm klar machte, dass das, was man schreibt, wahrgenommen wird und auch konkrete Folgen haben kann. Die ersten Kritiken des Abends waren positiv. In der BZ am Abend vom 12. Dezember 1962 heißt es: Zitat So turbulent ging es bei einem literarischen Abend seit Jahr und Tag nicht zu. Die Berliner wollen offenbar den Moskauern in ihrem Andrang nach Gedichten nicht länger nachstehen. Sprecher Vereinzelt finden sich auch kritische Töne. Die Berliner Zeitung schreibt: Zitat "Andererseits hatten einige der vom Sekretär der Sektion ausgewählten Gedichte nichts mit unserem sozialistischen Leben gemein." Sprecher Die Lage spitzt sich zu, als 1963 in der ersten Januarnummer des "Sonntag", der wöchentlich erscheinenden Zeitung des Kulturbundes der DDR, ein Artikel des Chefredakteurs Bernt von Kügelgen erschien. Er schlägt hier einen deutlich schärferen Ton an, und richtet sich besonders gegen Kirsch und sein Gedicht "Meinen Freunden, den alten Genossen". Zitat "Aber es gab auch einzelne Gedichte voller Düsterkeit und mühsam enträtselbarer Bilder, in denen die Verfasser darüber klagen, daß Glück in diesem Lande schwer sei und es schwer ist, genau zu hassen, daß Langeweile als Würde gepriesen werde, man gegen das Trockene Argwohn hege, Ratlosigkeit und Durcheinander herrsche. O-Ton 24 Rainer Kirsch Ich sehe mich noch, wir hatten irgendwie Besuch und einer hatte des Sonntag mit, den. Artikel mitgebracht und ich ging rüber in mein Arbeitszimmer und schrieb eine Entgegnung und die haben das tatsächlich gedruckt und noch eine Gegenantwort von von Kügelgen vom Chefredakteur und auf einmal hatten wir ein Publikum, die jungen Lyriker waren ein Thema. Sprecher Trotz aller Kritik dauert der Erfolg des Lyrikabends und der große Zuspruch junger Menschen an. Bereits am 8. Januar hat es einen von der FDJ organisierten Folgeabend im Marx-Engels Auditorium der Humboldt-Universität gegeben. Zahlreiche ähnliche Veranstaltungen in den Bezirken folgten. Ein Phänomen, das als "Lyrik-Welle" in die Literaturgeschichtsschreibung eingegangen ist. Die Sozialistische Einheitspartei versuchte, diese Begeisterung für junge Lyrik für sich auszunutzen. Kurt Hager, verantwortlich für Kultur im Zentralkomitee der SED, attackierte den Akademieabend auf dem VI. Parteitag der SED wenige Wochen später mit scharfmacherischen Worten. Zitat "Der Lyrikabend der Akademie, der auf Initiative und unter Leitung des Genossen Hermlin stattfand, wurde zu Ausfällen gegen das Zentralorgan der Partei mißbraucht und zur Verbreitung von Gedichten, die vom Geist des Pessimismus, der unwissenden Krittelei und der Feindschaft gegenüber der Partei durchdrungen waren. Sprecher Für den Initiator Stephan Hermlin wurde die Situation immer unhaltbarer. Drei Monate später verlor er seine Funktion als Vorsitzender der Sektion Literatur und Sprachpflege in der Akademie der Künste. Er erinnerte sich in einem Interview von 1980 mit dem Akademiemitarbeiter Ulrich Dietzel an die Sitzungen, in denen innerhalb der Akademie über ihn Gericht gehalten wurde. O-Ton 25 Hermlin Vier Sitzungen.... Und die Bilanz dieser unerträglichen, für mich unerträglichen zwanzig Stunden ist fast, fast total negativ. Ich habe für mich unvergeßliche Erfahrungen über die menschliche Natur gemacht im Laufe dieser viermal fünf Stunden. Sprecher Die ganze Affäre sandte ihre Schockwellen bis weit in das Jahr 1963 hinein. Die Partei reagierte aber nicht nur mit Ablehnung, sondern erkannte auch, dass es nötig sei, stärker als bisher auf die Bedürfnisse der jungen Leute einzugehen. Die unter Leitung des ehemaligen Chefredakteurs der Studentenzeitung "Forum" Kurt Turba gebildete Jugendkommission veröffentlichte am 21. September 1963 im Neuen Deutschland ein Jugendkommuniqué, in dem größere Freiräume für die jüngere Generation propagiert wurden. Es schien also mit der Einrichtung von Jugendklubs, mit dem Deutschlandtreffen 1964, der Etablierung des Jugendradios DT 64 und der Neuausrichtung der Zeitschrift "Forum" erste Zeichen für eine sich wandelnde Politik zu geben. 1964 veröffentlicht Gerhard Wolf mit "Sonnenpferde und Astronauten" eine zweite Anthologie junger Lyrik im Mitteldeutschen Verlag. Es wird das einzige Mal sein, dass Texte von Wolf Biermann in der DDR erscheinen. Mit dem 11. Plenum der SED 1965 ist allerdings jede Hoffnung dahin. Die Arbeit der Jugendkommission wird beendet. Zahlreiche Filme werden verboten. Künstler wie Wolf Biermann werden mit einem Auftrittsverbot belegt. Rainer Kirsch erinnert sich an die vergehende Hoffnung, die die Lyrikwelle zu Anfang trug. O-Ton 26 Rainer Kirsch Die ist dahin, aber in einem längeren Prozeß, eben sagen wir mal von 62 bis 65, bis dann dieses Plenum. Wir hatten damals einen Spruch. Die Geschichte geht in Zick Zack Bewegungen, bei Zack muss man den Kopf wegnehmen. So und wir zogen die Köpfe ein, aber nicht, um sie nicht zu benutzen, sondern um sie zu benutzen. Sprecher 1976 wird Wolf Biermann aus der DDR ausgebürgert. Namhafte Künstler und Schriftsteller wenden sich dagegen. Stephan Hermlin ist der Verfasser der Protesterklärung. Sarah Kirsch und andere Künstler verlassen als Folge dieser Ausbürgerung das Land. Trotz aller späteren Rückschläge hat der Lyrikabend gezeigt, was für ein Potential in dieser neuen Schriftstellergeneration lag. Der Keim war gelegt und die Stimmen der jungen Autoren nicht mehr zu überhören. Was bis heute bleibt, sind die kraftvollen und engagierten Texte dieser Generation. Sarah Kirsch, Volker Braun und Wolf Biermann wurden mit der höchsten deutschen Literaturauszeichnung, dem Büchnerpreis, bedacht. Viele Dichter des legendären Abends in der Akademie am Robert-Koch-Platz in Berlin zählen heute zu den bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikern. Musik/ Biermann: "Die Ballade von dem Drainageleger Fredi Rohsmeisel" Ausblenden und Abmoderation 1