KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe: Literatur Titel: Im Stream. Bringt das Netz neue Spielarten literarischer Intellektualität hervor? Autor: Florian Felix Weyh Redakteurin: Barbara Wahlster Sendetermin: 2.12.2012 Regie: Klaus Michael Klingsporn Besetzung: Erzähler, Sprecherin, Zitator, Zitatorin Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Atmo Vom elektronischen Zufallsgenerator erzeugte "Ambient Music", Variante 1. 01 Peter Glaser - 0'09 Ich erinnere mich, da war irgendeine Winterolympiade. Und einer von den sechzehn Leuten, die da im Chat waren, hatte einen Schwarzweißfernseher zuhause. Und die anderen haben ihm immer die Farbe durchgesagt. 02 Jan Ulrich Hasecke - 0'02 Das sind halt diese Pioniertage. 03 Peter Glaser - 0'17 Und dann hat man ihm eben gesagt, welche Farbe die Hose von dem Skispringer hat oder so. Das waren so kollaborative Momente. Wo man gemeinsam gewissermaßen an einem Text, an einer Alltagserzählung oder wie auch immer ... also das ist ohne li- terarische Absicht geschehen. Aber ich hatte da natürlich immer das Auge als Schrift- steller drauf! 04 Jan Ulrich Hasecke - 0'07 Damals sind wir schlicht und einfach nicht wahrgenommen worden. Wir sind überhaupt nicht ernst genommen worden als Autoren vom klassischen Literaturbetrieb. 05 Robert Simanowski - 0'11 Da war Begeisterung dahinter, und die große Frage, wie sich avantgardistische Litera- turformen in den neuen Medien entwickeln. Und da hatte ich mir schon sehr viel ver- sprochen von Hyperfiction. 06 Stephan Porombka - 0'06 Autoren, die immer noch Bücher schreiben, haben irgendwas Eigenartiges! Also die glauben auch an irgendwas Eigenartiges. ZITATSPRECHERIN "Das Schreiben unter Strom bringt avantgardistische Literatur hervor. Es will nicht die Gegebenheiten der Gegenwart ignorieren. Es will sich auch nicht dem Fort- schritt verweigern und sich aufs Meditieren verlegen." SPRECHERIN ... so zu lesen bei Stephan Porombka, "Schreiben unter Strom: Experimentieren mit Twitter, Blogs, Facebook & Co". Als Buch publiziert im Jahre 2011. ZITATSPRECHERIN "Statt um [das] ,Abschalten' geht es hier um das ,Hands on'. Man will an die Gerä- te, mit ihnen spielen und etwas ausprobieren, um auf diese Weise die Gegenwart zu erkunden und literarisch zu reflektieren. Und man will zugleich neue Möglich- keitsräume für eine Literatur erkunden, die sich dann gar nicht unbedingt auf dem Markt verkaufen lässt. Diese Literatur lebt vor allem davon, dass sie etwas Neues hervorbringt, von dem man überrascht wird und an das man sich überhaupt erst mal gewöhnen muss." 07 Peter Glaser - 0'03 Das, was mir gefällt vor allem an Twitter, ist: Es zwingt dich zum Dichten! SPRECHERIN ... sagt Peter Glaser, Schriftsteller. Gewinner des Klagenfurter Ingeborg-Bach- mann-Preises 2002. Ehrenmitglied des Chaos Computer Clubs. Er ist äußerst an- getan von der Begrenzung seiner literarischen Möglichkeiten auf 140 Buchstaben ... inklusive Leerzeichen. 08 Peter Glaser - 0'05 Und es kann ja eigentlich für einen Autor nichts Schöneres geben: Dass dann alle dichten müssen! Atmo. Ein Schalter klackt. Dann mehr. Dann ein ganzes Konzert an Schaltern. ERZÄHLER Strom an. Im Hintergrund beginnt etwas zu flimmern. Atmo. Klangcollage aus typischen TV-Geräuschen. ZITATSPRECHERIN "Der Fernseher ist eine Wunderlampe. Hin und wieder möchte der Kasten mehr sein als nur ein kleiner, beschränkter Spiegel der Welt. Diese Lampe will in wun- derbaren Farben und Formen brodeln, fließen, surren, sprühen, funken, zittern, schreien und leuchten." SPRECHERIN Die Schweizer Künstlerin Pipilotti Rist guckt in die Röhre. Damals. Als man noch in die Röhre guckte. ZITATSPRECHERIN "Die Farben wechseln malerisch, sie kippen oder bluten aus, schlangenartige Stö- rungen verändern die Bildformen, oder sie legen sich leicht versetzt in geänderter Farbe übereinander. Dies ist bewegte Hinterglasmalerei." 09 Peter Glaser - 0'39 Bis ich zum ersten Mal in meinem Leben 1978 vor einem Computer gesessen bin, war ein Fernseher für mich eine Schneekugel, die einzig und allein angestarrt werden konnte wie ein Götze. Die Programmgewaltigen haben diese Schneekugel befüllt mit Programmen, und ich konnte gucken oder nicht gucken. So! Und als ich das erste Mal vor einem Computer saß, der ja nach meinen Begrifflichkeiten an einem Fernseher an- geschlossen war - den Begriff Computermonitor gab es gar nicht, man musste einen kleinen Fernseher anschließen -, dann sagte der Freund, der da zu mir gesagt hatte "Ich habe einen Computer zuhause", sagte dann: "Willst du auch mal was tippen?" Natürlich! Und das ist ein Moment gewesen, der mein Leben verändert hat. Ich hab dann "Hallo!" eingetippt, und es war sofort im Fernsehen! ERZÄHLER Wie alle Autoren seiner Generation ist Peter Glaser in einem fest gefügten, starren Mediensystem aufgewachsen. Für die Literatur war das Buch zuständig, für die Meinungsbildung Zeitung und Radio, für die Kommunikation das unmittelbare oder über Telefon geführte Gespräch und für die Unterhaltung Kino und Fernsehen. Al- le diese Gefäße ... SPRECHERIN Durchaus kein willkürlich gewähltes Bild, sondern eine Grundmetapher der Me- dienwissenschaft: Medien sind Gefäße. ERZÄHLER ... bewahren ihren Inhalt abgeschlossen und voneinander geschieden auf. Zwar kann man etwas von einem in ein anderes Gefäß gießen, aber dabei verschüttet man regelmäßig etwas. Nie bleibt nach Umbettung eines Inhalts das Gesagte und Gemeinte gleich. Dass sich Informationen wie ein großer Strom durchs Universum wälzen, mal hierhin, mal dorthin ergießen, solange jeder Haushalt einen Abzapf- hahn besitzt, ist eine schier utopische Vorstellung. Jedenfalls 1978 noch, als sich der Urknall ereignet: 10 Peter Glaser - 0'23 Das war umwerfend! Und man muss das jetzt so jedem, der ein bisschen jünger - ich bin Jahrgang 1957 - als ich ist, muss man erklären, warum das so ist: Ich bin mit dem Fernsehen aufgewachsen als ein komplett geschlossenes System! Das heißt die Vor- stellung, dass ich da irgendwie eine Hinterglasmalerei mache, dass ich in dieses Vakuum der Bildröhre irgendwie eingreifen kann, war vollkommen unvorstellbar. ZITATSPRECHER "Zu Hause entpuppte sich das Ding in den Styroporverschalungen als wulstige Schreibmaschinentastatur aus Plastik. Es kam mir ziemlich mickrig vor, einfach billig wie Taiwan-Spielzeug." SPRECHERIN Medienarchäologie. Aus einer Reportage von Matthias Horx, niedergeschrieben im Jahre 1984. ZITATSPRECHER "Lediglich diese komischen Zeichen auf der Vorderseite der Tasten zeigten, dass es sich um etwas Kompliziertes handeln mußte. Ich fummelte umständlich das Ver- bindungskabel an meinen Fernseher und suchte lange nach dem richtigen Kanal. Dann flippte ich fast aus wie ein Vierjähriger in der Bonbonfabrik, als auf einer dunkelblauen Fläche ein hellblauer Punkt blinkte und das nette Wort ,ready' darunter stand. Das Ding schien freundlich zu sein. Es hatte offensichtlich das Be- dürfnis, mit mir zu kommunizieren." 11 Peter Glaser - 0'27 Dass ich mich hinsetzen kann mit etwas, das irgendwie ausschaut ähnlich wie eine Plastikschreibmaschine und was schreiben kann, und das ist sofort im Fernsehen, das war unvorstellbar! Das war ein ganz dramatischer Übergang! Dass ich irgendwie be- griffen habe: Jetzt verändert sich was, jetzt kann ich da rein! Und jetzt kann ich mein eigenes Programm machen. Jetzt kann ich einfach was schreiben, und das ist sofort im Fernsehen. Und diese Vorstellung, dass das dann gleichzeitig auch noch andere Leute sehen, so das schwang da zwar mit, das war aber noch viel unvorstellbarer wie das, was ich da gerade erlebt hatte. Atmo Vom elektronischen Zufallsgenerator erzeugte "Ambient Music", Variante 2. ERZÄHLER Drei Jahrzehnte später ist das Unvorstellbare zum Alltag geworden, die Bildröhre durch den Flachbildschirm abgelöst und Monitore dienen nur noch manchmal als Gefäße für Fernsehbilder. Der Strom verbindet jeden mit jedem, alles mit allem und schafft eine neue Kommunikationsordnung, in der Gefäße herkömmlicher Art nur noch als Scherben herumliegen. Das gleiche Schicksal könnte die literari- schen Formen ereilen. Allerdings wäre dies keine Schreckensvision, sondern ähnelte eher dem Bild jener Rodungsarbeiten, die Natur in Zivilisation verwandeln - wobei zum Schluss willentlich ein paar urtümliche Reservate unangetastet blieben. Stephan Porombka, Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Hildesheim: 12 Stephan Porombka - 0'40 Die Formate werden so diffundieren, und da wird es so viele neue Sachen geben, dass man wahrscheinlich - wenn man das immer als Literatur begreifen will - irgendwann verrückt wird! Weil dauernd eben so neue Sachen vorkommen. Und dann wird es jen- seits davon den alten, guten, gemütlichen Literaturbereich geben, in dem es noch den Roman gibt, also in dem man sozusagen das hat, was man dann im Bereich des Marketing "Produktsicherheit" nennt: Vertrauen! Kein Stress! Kauf ich mir ein Lyrik- bändchen, und dann weiß ich, was ich kriege. Es gibt so ein paar Formatschienen, die da bedient werden, und dafür sind die Verlage zuständig. Und das findet da statt. Und vielleicht ist das das, was Literatur ist, nur dieser eingeschränkte Bereich, der eben relativ stabil bleibt. Während alles drum herum explodiert! ZITATSPRECHERIN "Das Schreiben unter Strom macht es möglich, mit Entspanntheit das zu machen, was man gerade macht. Locker bleiben!" SPRECHERIN ... empfiehlt Porombka in seinem Buch "Schreiben unter Strom", das aus Er- fahrungen mit jungen Hildesheimer Studenten im Studiengang "Kreatives Schreiben" hervorgegangen ist. Eine Gebrauchsanleitung für literarische Experimente auf Twitter und Facebook, bei Google+ und in Blogs. ZITATSPRECHERIN "Nicht linear zu leben und zu schreiben heißt, die Hierarchien von Anforderungen aufzulösen und je nach Produktionszusammenhang das Unwichtige wichtig, das Wichtige dagegen unwichtiger werden zu lassen. Wenn man sich nur darauf ein- lässt, alles kontingent und temporär zu denken, muss man eben nicht fürchten, dass man das, was man tut, so tun muss, als sei es das Einzige und Letzte, was man noch im Leben zu tun hat." 13 Stephan Porombka - 0'42 Wir müssen doch jetzt nur mal einen höher zoomen auf unser Leben, wie bei Google Earth so ein Stück rauszoomen, um uns mal in größeren Kontexten wahrzunehmen. Machen wir mal auf hundert Jahre: Da verschwinden wir doch sowieso! Wir ver- schwinden einfach! Es ist eine Einübung in die Vergänglichkeit, und das meine ich jetzt ganz spirituell. Also dass das eine spirituelle Logik hat zu sagen: "Ne, das ver- schwindet! Das bleibt nicht. Warum?" Das was bleibt, ist sozusagen, dass es so was wie Übertragungsenergie gibt. Nicht das Ding bleibt, also die Substanz! Aber die Frage ist, ob jemand was damit anfangen konnte? Ob jemand das aufgenommen hat und irgendwas anderes draus gemacht hat? Und ob man nicht sozusagen einfach eine andere Idee der Zeugung hat, jemanden auf den Weg setzt. Und der sozusagen wieder dabei ist, andere auf den Weg zu setzen. SPRECHERIN Die Zeugung eines Gedanken im Kopf eines Fremden ist ein literarisches Urmotiv. Dieses Urmotiv treibt die meisten Schriftsteller an, ja eine ganze Medienindustrie, ob papierfixiert oder elektronisch, gründet sich darauf. ZITATSPRECHER "Medien sind Unternehmen zur Bildung von neuem Eigentum. Dieses neue Eigen- tum realisiert sich in den Köpfen der Menschen." SPRECHERIN ...erkannte Alexander Kluge schon 1985. ERZÄHLER Mit einer Rezension über Alexander Kluge beginnt im Februar 2012 der Zweifel an den alten Gefäßen und die Neugier auf die neuen Formen an. Seit jeher verfasst der hochdekorierte Intellektuelle - Jurist, Schriftsteller, Filmemacher, Medien- unternehmer - Avantgarde-Texte nach dem Verständnis der Modernen Kunst im 20. Jahrhundert: Assoziativ, diskontinuierlich, oft rätselhaft. Dieser Strom aus mal erfundenen, mal Medienberichten entnommenen Fragmenten ergibt im Auge des Betrachters nicht immer einen Sinn, verweist aber stets auf seine Quellen, den bürgerlichen Bildungskosmos. So etwas gehört zwischen zwei Buchdeckel ge- presst, und folgerchtig geschieht das seit fünfzig Jahren auch so. Mit dem "Fünften Buch", einer Riesencollage über 550 Seiten, setzte Alexander Kluge sein Lebens- werk in bewährter Manier fort. Wie immer mit einer Mixtur aus Text und Bild: Atmo. Das typische Surren einer Schmalfilmkamera. ZITATSPRECHERIN "Abbildung: Rainer Werner Fassbinder beschäftigte sich eine Woche lang mit an- deren Projekten, statt mit mir den Film über die Scheidungen unserer Eltern anzu- fangen, auf den sich unsere Teams vorbereitet hatten. Er konnte sich nicht ent- schließen, die Rolle seiner Mutter in dem Ehekonflikt mit seiner wirklichen Mutter zu besetzen (die ja Schauspielerin war), hielt es aber für ebenso unmöglich, statt dessen eine Schauspielerin aus seinem Team mit der Rolle zu betrauen." Atmo. Erst den Originalsound der Rundfunkkritik von F.F. Weyh im Hintergrund an- spielen, als liefe er irgendwo im Radio. Dann den Zitatsprecher mit demselben Text darüber. ZITATSPRECHER "Ein Foto von Rainer Werner Fassbinder, darunter diese Zeilen - typisch für Kluges Montagetechnik, um die Hermetik des physisch im Buch gefesselten Textes durch Bilder aufzubrechen. Das war lange ein Alleinstellungsmerkmal Kluge'scher Prosa, ja signalisierte deren avantgardistische Modernität." ERZÄHLER ... schrieb der Kritiker des Buches und ließ seine Verunsicherung erkennen. Denn angefangen bei den "Lebensläufen" von 1962 war Kluge für ihn immer ein wichti- ger Autor gewesen. Nun aber erschien dem Kritiker das Spätwerk des 80-Jährigen plötzlich schal und fad. Und das konnte er auch begründen: Atmo. Dito wie oben Originalsound als Radio im Hintergrund. Zitatsprecher darüber. ZITATSPRECHER "Heute ist Text nicht mehr physisch ans Buch gefesselt. Als moderner Mensch nehme ich an sozialen Netzwerken teil, lasse auf einem separaten Bildschirm neben mir einen interessanten und oft hoch intellektuellen Stream laufen, der genau das tut, was Kluge schon immer tat, Bilder und Text mischen, Literaturzitate mit eigenen Gedanken verblenden, Dokumentation und Fiktion ineinander über- gehen zu lassen. Ich kann zurückscrollen, wenn ich wegen der Konzentration auf meine Arbeit einen Beitrag verpasse, aber dennoch ist der Text flüchtig und pocht nie auf Erhabenheit und Ewigkeit wie bei Kluge. Plötzlich las ich dessen Mi- niaturen in Konkurrenz zu den vielen Textfragmenten im Stream, und sie verloren jäh an Impressivität." ERZÄHLER Wenn man aber Alexander Kluge nicht mehr literarisch rezipieren kann, weil er wie ein alltäglicher Text-Bild-Strom im Internet funktioniert, stellt sich die Frage, ob nicht umgekehrt der Stream bei Google+ Literatur à la Kluge erzeugte, ohne dass die einzelnen Textlieferanten dies intendierten? 14 Jan Ulrich Hasecke - 0'38 Das ist ein interessanter Gedanke, dass eben diese Netzliteratur, von der wir geträumt haben damals, dass die unbewusst entsteht! Wir haben damals halt gesehen: Das ist ein neues Medium, das bietet uns neue Möglichkeiten, jetzt können wir uns hinsetzen und machen was Neues! Das kann man natürlich so machen, das hat dann vielleicht nicht so wunderbar geklappt. Aber jetzt gibt es halt diese großen Plattformen wie Facebook und Google+ und Twitter oder was auch immer, die einen Stream erzeugen, den man sich als Rezipient natürlich irgendwie zusammenstellt, wo man irgendeine Art von Einfluss hat - je nachdem, was einen interessiert -, aber in dem jetzt halt tatsäch- lich solche Collagen entstehen. 15 Robert Simanowski - 0'20 Das wäre im Grunde das Äquivalent zu den Mitschreibprojekten im literarischen Be- reich. Und der Essay als Genre ist per Definition natürlich offen genug für eine solche Form, zielt darauf, dass man eine Frage unakademisch und ohne Begrifflichkeit un- bedingt klären zu müssen behandelt. Und das ist genau das, was in dem Stream pas- siert. SPRECHERIN ... meint Robert Simanowski, Professor für Medientheorie an der Universität Ba- sel. Er hat die Entwicklung der Netzliteratur seit Mitte der 90er-Jahre kontinuierlich verfolgt und kennt deswegen auch Pioniere wie Jan Ulrich Hasecke: 16 Robert Simanowski - 0'16 Hasecke hab ich ... die Texte habe ich damals viel gelesen, und die habe ich ge- schätzt, die waren klug und witzig. Und ich kann das gut verstehen, dass er weiter in dieser Gemeinde auftritt. Aber auch, dass er die Bücher in einer aktuellen Weise publiziert für Kindle, als elektronische Texte. 17 Jan Ulrich Hasecke - 0'27 Das hat zwei Gründe. Der erste Grund ist, dass die Texte, die ich schreibe, sich nicht so gut verkaufen, dass ein Verlag daraus ein Buch drucken würde. Das wäre wirt- schaftlich unvernünftig. Es gibt einfach Texte, die als Buch wirtschaftlich nicht sinnvoll zu distribuieren sind. Da ist es viel besser, wenn man ein E-Book nimmt, da kann man mit ganz wenig Lesern immer noch ein, zwei, drei Euro verdienen, und das ist dann auch gut so. ERZÄHLER Der zweite Grund für Jan Ulrich Hasecke, nach wie vor im elektronischen Uni- versum zu siedeln, kommt weniger defensiv daher. Er passt auch besser in die technikbegeisterte Biografie des studierten Filmwissenschaftlers und heutigen Werbetexters aus Solingen: 18 Jan Ulrich Hasecke - 0'11 Die E-Book Reader sind mittlerweile so bequem zu lesen, dass man kein Buch mehr in die Hand nehmen möchte! Wer einmal abends im Bett gelesen hat mit einem schweren Buch auf der Brust, weiß, wie schön ein E-Book sein kann! ERZÄHLER E-Books und der Stream bieten nicht einfach nur neue Varianten, Text und Bild zu präsentieren; sie ermöglichen zugleich einen andersartigen Umgang mit Informati- onen und unterliegen dabei einem rasanten Tempo: Keineswegs ist ihnen wie noch bei Büchern Ewigkeit in den Leib eingeschrieben. Im Gegenteil, der Stream rauscht vorbei wie ein echter Fluss - oder wie eine Radiosendung. Allerdings hat der technologische Urknall nicht erst um 2005 mit der Blog-Software WordPress, dem Netzwerk Facebook und dem Kurznachrichtendienst Twitter stattgefunden, sondern mindestens zehn Jahre zuvor, als das ursprünglich unversitäre Internet zum Medium der Massen wurde. 19 Jan Ulrich Hasecke - 0'32 Wenn man sich die Techniken anschaut, die man benutzt hat in den 90er-Jahren ... im Prinzip hat sich da nicht so viel geändert! Es sind sehr viele Sachen hinzugekommen mit JavaScript, so dass die Webseiten interaktiver werden, dass die einfacher zu be- dienen sind, dass es schöner aussieht. Aber die grundsätzliche Struktur des Netzes, die hat sich von der reinen Technik her nicht sehr stark geändert. Was natürlich sich stark verändert hat, ist, dass der Traffic heute sehr stark in diesen eingepferchten Communities wie in Facebook oder in Google+ stattfindet. ERZÄHLER ... Communities, die allein durch ihre schiere Teilnehmerzahl eine nachhaltige Ver- änderung unserer Kommunikationsprozesse erwarten lassen. Auch für die im Kern konservative Literatur heißt das, sich auf die Suche nach neuen Formen zu be- geben. So könnte es den fließenden Essay der Vielen geben, könnten Aphoris- men als geistige Filetspitzen auf Twitter eine Renaissance erleben und Blogs eine nachhaltige Rolle bei der politischen Meinungsbildung spielen. Auf dialogische Formate wartet vielleicht ein aufregendes Revival jenseits von Bühne und Lein- wand. Allerdings steht dieser Hoffnung als trauriges Mahnmal die vor fünfzehn Jahren gefeierte Hypertext-Literatur entgegen: Obwohl von Literaturwettbewerben nach Kräften gefördert, ging sie nach kurzer Blüte sang- und klanglos unter. ZITATSPRECHERIN "Durch Querverweise können Leser in einem Hypertext von einer Textpassage in eine andere springen. (...) Als Sprungbrett werden per Mausklick Hyperlinks aktiv, die es erlauben, zwischen den Knoten - so nennt man die zu einzelnen Informa- tionspäckchen zusammengefassten Textpassagen - hin- und herzuflitzen. Hyper- texte könnte man auch als Überfliegertexte bezeichnen." SPRECHERIN Medienarchäologie. Ein Wörterbuch zum "Cyberslang" aus dem Jahre 1999 erklärt die Funktionsweise von Hypertexten. 20 Jan Ulrich Hasecke - 0'29 Also ich habe auch ein wenig mit Hypertext-Geschichten experimentiert, aber man kommt da auch schnell wieder an eine Grenze. Wir benutzen den Link heute eigentlich durchgehend als klassische Referenz auf eine Quelle, die wir zitieren. Oder auf weiter- führende Informationen, die wir jetzt in unserem Text gerade mal nicht anbringen wollen. Die künstlerische Verwendung von Links findet sicherlich nur ganz vereinzelt in einzelnen Projekten statt, die es dann doch noch mal hier und dort gibt. ERZÄHLER Der erste Emanzipationsversuch vom Papiertext schlug also fehl - doch zu schei- tern, macht manche Menschen trotzig. Daraus entsteht Kreativität, und exzessive Sprachspielereien können die Folge sein. SPRECHERIN Der zwitschernde Buchstabensänger. Peter Glaser als Sprechsteller. Atmo: Caféhaus unter dem O-Ton, dann übergehend zu Newsroom-Atmo unter dem Erzähler. 21 Peter Glaser - 0'26 Es gibt von diesen klassischen Caféhausliteraten aus Österreich aus der vorigen Jahr- hundertwende eine Bezeichnung, die heißt Sprechsteller. Das heißt, die haben damals tatsächlich schon eine Definition gehabt für Leute, die keine Zeile schreiben! Die da aber im Caféhaus mitsitzen, sozusagen unter den schreibenden Kollegen, und einen Funken für die Götter verschießen. Dinge, die nicht festgehalten werden, wo einfach nur jeder sagt: "Gefällt mir! Passt jetzt genau!" Und ist auch schon wieder ver- schwunden. ERZÄHLER Als ein solcher Sprechsteller begreift sich der aus Graz stammende Berliner Autor, denn er arbeitet gerne auf Zuruf - jedenfalls im übertragenen Sinne. An Tagen mit vielen bewegenden Nachrichten, entfleuchen seiner Feder - nein: Tastatur! - ein paar Dutzend sprachspielerischer Kommentare zum Weltgeschehen. Der pro Texteinheit auf 140 Zeichen begrenzte Kurznachrichtendienst Twitter dient ihm dabei als Kanal für Bonmots, Aperçus, Aphorismen, die wie Freibeuterschiffe den Kommunikationsverkehr kreuzen und stören. Wer flüchtig hinsieht, dem Stream also geringe Beachtung schenkt, meint oft zunächst nur eine Banalität zu lesen: Ein, zwei, drei Worte ohne tieferen Sinn. Bis er merkt: Da ist doch was! 22 Peter Glaser - 0'02 (lacht) Ja, stimmt! ERZÄHLER Buchstaben werden verdreht, ergänzt oder ausgelassen, eine Schreibweise bleibt unverständlich, solange man sie nicht laut ausspricht, ein Assoziation kann sich nur bei Leuten bilden, die den fehlenden Kontext im Kopf selbst ergänzen. 23 Peter Glaser - 0'09 Gibt auch so Sachen, die zünden dann nicht gleich. Die sind auch ein bisschen ge- mein. Manches Mal erlaube ich es mir auch, ein bisschen an so Grenzen zu gehen. Heute hatte ich zum Beispiel so einen Satz "Twix of the Lost Ark!" Atmo. Originalsound der Werbung "Raider heißt jetzt Twix". 0'10 24 Peter Glaser - 0'33 Er ist ein bisschen schwieriger. Das Original heißt "Raiders of the Lost Ark" und heißt auf deutsch "Jäger des verlorenen Schatzes". Das kennt jeder! Ich mach solche Sa- chen eher selten, weil ich nicht davon ausgehen kann, dass alle den englischen Titel kennen. Und ich kann auch nicht davon ausgehen, dass alle alt genug sind, Leute die das lesen, diesen Werbespruch aus den frühen 90er-Jahren: "Raider heißt jetzt Twix", also als diese Schokoriegelfirma beschlossen hat, dass die jetzt eine andere Marken- bezeichnung kriegen. Dass ist schon extrem. Ich versuch's im Grunde genommen mit klaren deutschen Sätzen, wenn ich wieder dieses Twittergefühl hab! SPRECHERIN Twittergefühl. Atmo Vom elektronischen Zufallsgenerator erzeugte "Ambient Music", Variante 1. ZITATSPRECHERIN / ZITATSPRECHER / SPRECHERIN ruhig mit Wieder- holungen auf der Suche nach der richtigen, sinntragenden Betonung "Haare zu Berge: Stehaufmähnchen / Treffen sich zwei Homöopathen im Selbst- verdünnungsrestaurant / Wörter zu Fluchscharen! / Der Mann hat eine Wissens- vergiftung. Schwester, schnell was Antiskeptisches! / Crowdsourcing: Schwerter zu Klugscharen / Wenn Autovervollständigung juristisch fragwürdig ist, wird sich die Automobilindustrie warm anziehen müssen. / Der ProblemBER / Ton- ablagerungen: Gab es einst Orchester auf dem Mars? / iPhone 5: das Sellphone / Alle Bücher gehören an die Wand gestellt! / Wie geht's der Photovoltaikbranche? Solarla. / Nicht zu vergessen den Spengler, wenn wieder mal zu viel Untergangs- blech geredet wird. / Stille Tage im Klischee / Rente sich, wer kann! / Die eier- kraulende Wollustsau / Banker: Bonitäter / Jüngere Tweets werden gebeten, älte- ren oder körperbehinderten Tweets unaufgefordert ihren Platz zu überlassen." 25 Peter Glaser - 0'30 Es ist so, dass wenn ich zum Beispiel vorher ein paar Tage ganz strikt einem Thema folgen musste, dann gönne ich mir manches Mal einen Tag, wo ich mich einfach hin- schmeiße aufs Sofa und mir denke: "Hah! So! Jetzt!" Und irgendwie das dann loslasse. Es ist eine Regression. Es ist ein Spiel und Spaß, auch für mich. So eine ganz kurze, kleine Form, wo ich dann nach zwei Sätzen schon was fertig habe und zufrieden und glücklich bin, und sofort eine Reaktion hab! ZITATSPRECHERIN "Wer bei Twitter belangloses Geschnatter liest, der hat es sich so ausgesucht. Der Vorwurf der Belanglosigkeit bedeutet letztlich nur, dass da jemand den Twit- terstream eines anderen Menschen betrachtet. Das ist, als würde man fremde Ho- sen anziehen und sich dann beschweren, dass sie so schlecht passen. Dem Be- sitzer passen sie gut." SPRECHERIN Kathrin Passig: "Die Kunst des Zwitscherns", ein Vortrag in 227 Tweets. 26 Robert Simanowski - 0'19 Ich stimme jedenfalls zu, dass Twitter das Medium ist, das dem Aphorismus eine Renaissance beschert. Es gibt ja auch Bücher, die Tweets drucken. Interessanterweise vom Pons-Verlag, also von einem sprachlich orientierten Verlag. Das ist schon interessant zu sehen! Und da gibt es schöne Sachen. Ein Aphorismus, der mir gefällt: "Wer unter Flugangst leidet, steht ständig unter Zugzwang." 27 Peter Glaser - 0'18 Am reizvollsten finde ich diese Zeilen, wo ich was schreibe und gegenüber einer bana- len Formulierung nur in dem Satz, den ich schreibe, einen einzigen Buchstaben ver- ändere. Das ist sozusagen das Ideal: Du veränderst einen Buchstaben und hast sozusagen ein Minimum an Varianz, und aber ein möglichstes Maximum an Effekt. ZITATSPRECHERIN / ZITATSPRECHER durcheinander "Störe meine Krise nicht. / Ganztagsschulden. / Wehrdienstverweiberung. / Stan- dard & Poor's stuft USA auf USB herab. / Sparta heißt jetzt Spart. / Mobham- med." SPRECHERIN Aus einem literaturwissenschaftlichen Lexikon: Aphorismus. ZITATSPRECHER "Kurzer, schlagkräftig und äußerst prägnant formulierter einzelner Prosasatz zur Einkleidung eines eigenartigen persönlichen Gedankens, Werturteils, einer Augen- blickserkenntnis oder Lebensweisheit. Bewusste und betonte Subjektivität des Ur- teils und überspitzte, nicht streng logische, oft witzig gehaltene Begründung im Verein mit dem Anspruch auf scheinbare Gültigkeit schließen den Aphorismus nicht in sich ab, sondern fordern vom Leser eine eigene gedankliche Aus- einandersetzung." ERZÄHLER ... die sich bei Glaser-Fans zweifellos aus Gewohnheit einstellt, den sonst ergeben seine Textsplitter oft keinen Sinn. Sie sind kontextabhängig und bieten bei ent- sprechender Aufschlüsselung ein intellektuelles Vergnügen für Gebildete und In- formierte. Aber gehört zu diesem Kontext auch Wissen über den Autor? Ist es wichtig, wer beispielsweise den Flugangst-Aphorismus in die Welt gesetzt hat? 28 Robert Simanowski - 0'08 Die Nachfrage ist berechtigt! Wahrscheinlich kommt es ja darauf heutzutage nicht mehr an, also auf die Autorschaft, sondern eben darauf, das irgendwie einzuwerfen und damit weiterzuarbeiten. ERZÄHLER Dieses Einwurfprinzip bei Twitter fällt vor allem dort auf, wo die Verfasser verdeckt operieren. Ebenfalls große Virtuosität besitzt ein anonymer Autor ... SPRECHERIN Oder anonyme Autorin. ERZÄHLER ... der oder die unter dem Alias "Ich locke Wickler" agiert und als Motto für seinen oder ihren Twitter-Account "Verwirrtuell" gewählt hat. ZITATSPRECHERIN / ZITATSPRECHER durcheinander 0'26 "Breitensport fängt vor allem da an, wo du in der Türe stecken bleibst. / Keine Ge- schenke erkalten die Freundschaft. / Ich lebe übrigens unter dem Sexistenzmini- mum. / Bei der Prüfung für Terroristen zählt vor allem, wie viele Anschläge sie pro Minute schaffen. / Nach schlechten Witzen mache ich gern ein scherzverzerrtes Gesicht." 29 Robert Simanowski - 0'16 Um mit einem Aphorismus von Karl Kraus zu argumentieren: "Aphorismus ist immer eine halbe oder anderthalb Wahrheit." Und wenn das stimmt, dann ist klar, dass natür- lich in der Diskussion dann der Twittergemeinde eben das zurechtgestutzt werden muss auf diese eine Wahrheit, die in dem Tweet liegt, in dem Aphorismus. SPRECHERIN Überprüfung der These. Peter Glaser twittert hoch artifiziell: ZITATSPRECHER "Umkunstung: Der blaue Raider heißt jetzt Dix." ZITATSPRECHERIN wiederholt nachdenklich "Umkunstung: Der blaue Raider heißt jetzt Dix." SPRECHERIN Wenige Minuten später folgt eine erste Anmerkung zu Glasers assoziativer Komik: ZITATSPRECHERIN "Kommt das eigentlich von deiner Kaffeemarke oder hast du ein anderes Geheim- nis?" SPRECHERIN Der Autor antwortet: ZITATSPRECHER "Ich bin mal als Kind in einen Kessel mit Buchstaben gefallen." SPRECHERIN Darauf folgt ein zweiter Kommentar von einem anderen Leser: ZITATSPRECHERIN "Buchstaben? Oder Buchstabensuppe?" ERZÄHLER Dann ist der Stream schon wieder weitergeflossen. Kommentaräußerungen sind bei Twitter übrigens nur umständlich möglich, ein Dialog entsteht eher bei Facebook oder Google+, wenn Peter Glaser zeitgleich auch dort seine Twitter- Shorties publiziert. 30 Peter Glaser - 0'14 Das ist auf Facebook ein gewisser Vorteil, dass die Leute dann zum Teil mitspielen. Die werden so ein bisschen mitgerissen. Also das geht dann teilweise ins schwer Al- berne auch. Ist okay! Wie soll ich sagen? Das sind dann halt so die Funken, die noch aus dem Feuerwerk links und rechts rauskommen. 31 Stephan Porombka - 0'17 Heute schrieb ihm einer drunter, unter "Internet macht doom, das Internet macht doom", also d-o-o-m. Und dann war der erste Kommentar von einem, der oft bei ihm kommentiert, der schrieb dann: "Huch, habe ich ein Deja-vu?" Also weil das natürlich schon mal kam! Wer Peter Glaser lange verfolgt, merkt, die kommen wieder, die Apho- rismen! 32 Peter Glaser - 0'15 Also wenn ich völlig überarbeiteten bin oder so, dann greife ich mal auf irgendetwas zurück, was ich schon einen länger zurückliegenden Zeitraum nicht verwendet habe, und wo ich mir denke: "Das ist so gut, das kann man einfach noch mal bringen!" ERZÄHLER Denn nur die Wiederholung schafft Präsenz. Meist ist die Wirksamkeit der 140- Zeichen-Botschaft schon nach ein paar Minuten verpufft, weil sie so schnell aus dem Sichtfeld des Empängers wieder herausfließt, wie sie hineingeflossen ist. Zwar garantiert das elektronische Medium, technische Ausfallsrisiken oder Lösch- attacken von Serverbetreibern einmal hintan gestellt, grundsätzlich eine ständige Gegenwärtigkeit. Alles Alte lässt sich mit demselben mühelosen Mausklick ab- rufen wie Brandneues und Aktuelles; man muss nicht mehr aufwändig in Biblio- theksmagazinen danach suchen. Aber in der nicht mehr statischen, sondern an der Oberfläche bewegten Spielart der Datenspeicherung des Streams ruft eben keiner mehr etwas Altes ab. ZITATSPRECHER "Für die konkrete Nachrichtenaufnahme sind soziale Netze (...) eigentlich ein Hor- ror. Zu viel Grundrauschen, zu viel Nebensächliches, Unnützes. Zudem zufalls- gesteuert, kurzatmig und meist oberflächlich. Als kreative Spielwiese, um mit neue Arten der Kommunikation, dem Sammeln und Austausch von Informationen und Meinungen, von Nachrichten und Wissen, von Vorurteilen und Propaganda zu experimentieren, ist es ein faszinierendes Medium." ERZÄHLER ... kommentiert der Journalist Albert Absmeier auf Google+. SPRECHERIN Dort sind anonyme Äußerungen unerwünscht. Die meisten Diskussionsteilnehmer agieren unter ihrem Klarnamen. ERZÄHLER Er tut das in einem extrem langen und gehaltvollen Textstrang über den Sinn und Nutzen des Netzwerks im Februar 2012. Als die Diskussion nach 48 Stunden ab- ebbt, liefert ein anderer Teilnehmer das Schlusswort, obwohl er gar nicht wissen kann, dass es Schlusswort bleibt. Rein formal gesehen, tröpfeln noch ein paar Sätze hinterher, doch inhaltlich hat Ralf Boch ... SPRECHERIN Bei Google+ muss niemand sein Profil ausfüllen, so dass Alter, Profession und Herkunft dieses Textlieferanten im Dunkeln bleiben. ERZÄHLER ... einen zentralen Schlüssel zum Stream gefunden: ZITATSPRECHER "Es geht hier doch darum, eine virtuelle Identität zu pflegen. Ein Vermächtnis. Ei- nen Schriftsatz, der Sinngebung erzeugt. Wir sind ja nicht alle Shakespeares oder Ciceros. Aber wir sind doch Bürger dieser Welt. Wenn schon nicht Poesie, wenn schon nicht Analytik und neues Denken, dann doch zumindest politische Teilhabe. Meinungsbildung im Global Village. Lest doch mal Thomas Bernhard: Der Unter- geher. Du bist dein Kommentar. Und möchtest du nicht glanzvoll sein?" 33 Robert Simanowski - 0'35 Wenn man wirklich an der Themenklärung interessiert wäre, dann würde man es nicht zulassen dürfen, dass man irgendetwas verpasst aus einem Diskussions-Stream! Dann müsste man ihn von vorn bis hinten lesen, um auch die Argumentationsent- wicklung nachvollziehen zu können. Und das tut man nicht! Man guckt ab und zu rauf, weil man ab und zu Informationen haben will. Und das ist es! Die Information ist zur Unterhaltung geworden, im Alibi der Problembewältigung. Aber es ist eben nicht wirk- lich Problembewältigung, sondern es ist eigentlich ein In-der-Kommunikation-sein, um der Kommunikation willen. 34 Stephan Porombka - 0'34 Es gibt so was wie eine Rückbesinnung aufs Ich und die Inszenierung des Ich. Aber wir haben es nicht mehr mit dem alten, modernen, leidenden Ich zu tun, das auf der Suche nach seiner Totalität ist, nach seiner Werkeinheit ist. Ich glaube eher, dass dieser Ich- Bezug verbunden ist mit einer Lockerung der Zwänge. Es gibt viel eher - natürlich auch wiederum mit pathologischen Problemen verbunden, das ist klar - Spiele mit dem Ich. Immer Versuche, sich neu zu entwerfen. Und sich nicht für ein letztes Ich zu halten oder nicht auf ein letztes Ich zu zielen, sondern sich selbst viel stärker als eine Zwischenstufe zu verstehen, auf die wieder wieder etwas anderes folgt. Eine andere Form der Ich-Wahrnehmung, der Ich-Konstitution. ERZÄHLER ... ergänzt der Literaturwissenschaftler Stephan Porombka die Gedanken Robert Simanowskis. In Porombkas Buch "Schreiben unter Strom" resultiert aus dieser Diagnose allerdings eine fast gegenläufige Empfehlung an die Studenten. Sie sol- len das Spiel keineswegs sorglos betreiben, wenn sie via Kommentarfunktion in den sozialen Netzwerken Identitäten konstruieren. Das Werk pocht nämlich auch auf seine Rechte: ZITATSPRECHER "Man muss sich für die Kommentare genau überlegen, welcher Idee sie folgen, welche Funktion sie haben und welche Effekte sie erzielen sollen. Und das heißt: Wer bei Facebook schreibt, braucht ein poetologisches und ästhetisches Programm für das kommunikative Schreiben, in dem man nicht mehr als isolierter Autor tätig ist, sondern auf radikale Weise zum Teil eines Kollektivs wird, an dem man individuell partizipieren kann, wenn man es durch das Einspeisen eigener Schreibenergien unterstützt." 35 Peter Glaser - 0'34 Das hat was Dialogisches, obwohl es in Wirklichkeit kein Dialog ist. Also alle reden munter aneinander vorbei, in den seltensten Fällen redet man miteinander! Es gibt zwar die Kommentarfächer sozusagen unterhalb von einem jeweiligen Beitrag, und es ist aber eher selten, dass sich da was einer Debatte, einer Diskussion oder einem Ge- spräch ähnelt, ergibt. Es gibt so kleine Pingpongs, wo Leute noch mal irgendwie so einen kurzen Zwischenraunzer, wie der Österreicher sagt, abgeben. Manches Mal - also das ist jetzt schon so ein bisschen sarkastisch - fühle ich mich auch an so dieses Sortierband in einer Müllsortieranlage erinnert, besonders bei Facebook. Atmo Vom elektronischen Zufallsgenerator erzeugte "Ambient Music", Variante 2. SPRECHERIN Müllband oder Medium: Der Stream auf dem literarischen Prüfstand. 36 Peter Glaser - 0'32 Google+ und Facebook - da ist der ungeordnete Zustand noch der eigentliche Aggre- gatzustand, der dann quasi ganz schamlos als Qualität verkauft wird! Also das wäre so - ich sag es jetzt mal ein bisschen zugespitzt -, als wenn du eine Zeitung nimmst, die mit der Schere in einzelne Artikel zerschneidest und die irgendwie so zusammenrührst und dann noch Freunde einlädst und sagst: "Zerschneide deine Lieblingszeitungen!" Und man rührt das alles in so einem riesigen ... in so einer Grabbelkiste wie im Super- markt, und dann schreibt man "Facebook" irgendwie außen drauf. (Lacht) It's a mess! Es ist ein Durcheinander. 37 Stephan Porombka - 0'17 Meine Frau ist ja Literaturkritikerin. Und natürlich fragen wir uns dann auch so immer in Gesprächen, die wir haben, oder Diskussionen: Was jetzt sozusagen das Neue, das andere, was in den Netzen stattfindet? Ich erkläre das dann immer und sage: "Das und das passiert." Dann sagt sie immer: "Ja, ist okay! Ist gut. Aber was hat das mit Literatur zu tun?" 38 Jan Ulrich Hasecke - 0'41 Ich war damals vielleicht auch schon einer derjenigen, die gesagt haben, dass die Netzliteratur, wenn sie denn Erfolg haben will, vor allen Dingen Literatur sein muss! Al- so unter literarischen Phänomenen verstehe ich auch etwas, was wahrgenommen wird in der Öffentlichkeit. Und dazu gehören eben dann hinterher die Blogs. Die sind tat- sächlich in der Öffentlichkeit wahrgenommen worden. Aber diese interaktiven Hyper- text-Projekte oder kollaborativen Schreibprozess-Projekte, die sind nicht in der Öffent- lichkeit wirklich wahrgenommen worden. Daraus hat sich jetzt keine literarische Traditi- on gebildet, dass Leute das gelesen haben. Das ist erst passiert, als die Blogs auf- getaucht sind. ERZÄHLER Strukturell betrachtet, sind die Streams von Google+ und Facebook nur vernetzte und kollektiv erstellte Weiterentwicklungen von Blogs. ZITATSPRECHER "Blog, auch Web-Log, Wortkreuzung aus engl. World Wide Web und Log für Log- buch, ist ein auf einer Website geführtes und damit - meist öffentlich - einseh- bares Tagebuch oder Journal, in dem mindestens eine Person, der Web-Logger, kurz Blogger, Aufzeichnungen führt, Sachverhalte protokolliert oder Gedanken niederschreibt." SPRECHERIN ... erläutert Wikipedia. ERZÄHLER Praktisch seit Anbruch des Internets gibt es auf privaten Homepages öffentliche Äußerungen, denen ab ungefähr der Jahrtausendwende spezielle Blog-Software wie WordPress zu einer Neuerung verhalf und damit die Gattung Blog definierte: Seither kann man die Texte kommentieren. 39 Jan Ulrich Hasecke - 0'08 Das ist im Grunde das, was der Leserbrief der Zeitung schon seit zweihundert, drei- hundert Jahren macht. Das ist im Grunde nichts Neues! Technisch geht's halt einfach ein bisschen schneller. ERZÄHLER ... meint der Netzliteratur-Veteran Jan Ulrich Hasecke, ist aber dennoch über- zeugt: 40 Jan Ulrich Hasecke - 0'08 Wenn man jetzt eine wissenschaftliche Arbeit schreiben würde, könnte man da über die Blog-Literatur sicherlich etwas machen. International und national gesehen. ZITATSPRECHERIN "Als unkommentierte, ungelesene Äußerungen verpuffen Millionen Online-Tage- bücher in der öffentlichen Schublade." ERZÄHLER ... stellte Medientheoretiker Robert Simanowski dagegen schon 2008 in seiner Monografie "Digitale Medien in der Erlebnisgesellschaft" fest. Seine Diagnose lautete damals, dass nicht ... ZITATSPRECHERIN "... die originelle Idee die öffentliche Präsenz garantiert, sondern die Verlinkung, die man sich organisieren kann. Davon lebt die Vernetzungsmanie auf MySpace und anderswo." SPRECHERIN Facebook dominierte da noch längst nicht das digitale Universum so wie heute, aber das inzwischen gescheiterte Netzwerk MySpace wies den Weg in die Zu- kunft: Ausschließlich auf sich selbst gestellt Botschaften im Internet zu versenden, erweist sich immer mehr als hoffnungsloses Unterfangen. Nur wer sich mit ande- ren zum Stream vereinigt, kann hoffen, für einen kurzen Moment des Vorbei- fließens von vielen wahrgenommen zu werden. Für den Wissenschaftler Simanowski, der sich um trennscharfe Begriffe bemüht, fällt das Blog übrigens gar nicht in den Bereich digitaler Literatur. Lieber wäre ihm, dass ... 41 Robert Simanowski - 0'23 ... man unter digitaler Literatur nicht Texte versteht, die digitalisiert wurden, sondern Texte, die wirklich die ästhetischen Merkmale der digitalen Medien einsetzen und anders nicht funktionieren würden. Dass das eine Bedingung ist für die Definition. Und das schließt dann natürlich Blogs, die im Grunde einfach Texte sind, aber eben in der Öffentlichkeit entstehen, davon aus. 42 Peter Glaser - 0'27 Ich habe angefangen zu bloggen in den 90er-Jahren aus diesem Grund, dass ich als Schriftsteller manches Mal abends vor der Tagesschau gesessen bin, und der Tages- schausprecher oder die Sprecherin - jetzt nicht explizit, aber quasi - mir freundlich mitgeteilt hat: "Guten Abend, ich bin die Wirklichkeit!" Und dann sitz ich als kleiner Schriftsteller dort, der sozusagen für die anderen vielen Subjekte spricht, und ich sitze dann da, knirsch mit den Zähnen und denke mir: "Aber ich bin doch auch die Wirklich- keit!" ERZÄHLER ... woran kein Zweifel besteht. Aber dennoch soll diese lineare Form des Wirklich- keitskommentars, wie er in Blogs stattfindet, hier nicht weiter betrachtet werden. Die Wirkung von Blogs auf politische und gesellschaftliche Vorgänge ist eine so- ziologische Frage, keine ästhetische. Interessant erscheint dagegen das, was schon zu Zeiten der Hypertext-Euphorie als neue Leseerfahrung angestrebt wurde. Robert Simanowski hat lange nach literarischen Beispielen gesucht... 43 Robert Simanowski - 0'17 ... wo allein die Navigationsform das Verständnis der Geschichte verändert! Und das war ja die Argumentation, dass der Kontext eines Textes - also woher ich auf ein Text- segment komme -, dass der dann auch das Verständnis dieses Textes bestimmt. ERZÄHLER Aber er wurde in den 90er-Jahren nicht fündig. Die üblichen Hypertextexperi- mente, die den Leser nach ein paar Zeilen via Link vor eine Wahl stellen, gab es in Papierform nämlich schon lange - und schon lange ähnlich erfolglos! In seinem Standardwerk "Interfictions" von 2002 zählt Simanowski Beispiele auf: ZITATSPRECHER "Auf multilineares Erzählen trifft man auch außerhalb des Computers, wie Ray- mond Queneaus Cent mille milliards de poèmes zeigen, zehn Sonette auf ge- stärkten Blättern, die erlauben, dass die Vers-Teile der Sonette einzeln umgeblättert und so mit jedem Vers der anderen neun Sonette kombiniert werden [können]. (...) Ältere Beispiele kombinatorischer Dichtung findet man in den Poetikmaschinen des Barock - Georg Philipp Harsdörffers Wechselsatz aus dem Poetischen Trichter oder Quirinus Kuhlmanns Libes-Kuss - und in den Labyrinth- bzw. Gittergedichten der Antike." 44 Robert Simanowski - 0'20 Ich rede nicht davon, dass man durch unterschiedliche Navigation unterschiedliche Textsegment liest! Das ändert natürlich das Verständnis der Geschichte, wenn man zu bestimmten Texten gar keinen Zugang hat, und dafür zu anderen Texten. Aber die Frage ist: Kann ich einen Text einmal so lesen und einmal so lesen? Abhängig von der Navigation, wie ich zu diesem Text komme und was ich vorher schon gelesen habe? ERZÄHLER Ja, das kann man - aber anders, als es in den 90ern gedacht wurde. Nicht der Autor als allmächtiger Dramaturg und Strippenzieher diktiert die Rezeptions- bedingungen seiner Literatur, sondern der Leser tut das. Durch die radikale Individualisierung des Streams auf seiner Seite - jeder bestimmt autonom über die Quellen - kann ein und dasselbe Medienfragment - Text, Bild, Ton - mal so oder mal so verstanden werden; gesetzt den Fall, diese Fragmente unterliegen wie Peter Glasers Aphorismen einer gewissen Kontextabhängigkeit. SPRECHERIN Im Stream gibt es keine objektive Mitteilung mehr, die jeder identisch versteht. Der Stream erzeugt unvorhersehbare Nachbarschaften - und zwar deutlicher als in ei- nem Bücherregal, bei dem allenfalls die Buchtitel ein beziehungsreiches Neben- einander bilden. Im Regal bleibt das eigentliche Mediengefäß "Buch" ja ver- schlossen; es schirmt seinen Inhalt gegen andere Inhalte ab. ERZÄHLER Doch selbst wenn sich das auf die Masse der Informationen im Stream nicht dra- matisch auswirkt, verändert sich darüber hinaus die Funktion der Bausteine. Ste- phan Porombka glaubt, dass heute Fragmente anders wirken als bei ihrer Verwen- dung in den klassischen avantgardistischen Kunsttechniken: 45 Stephan Porombka - 0'41 Wenn ich jetzt nach einer Formel suchen würde ... nur weil ich gesagt habe, dass im Fragment stark die Sehnsucht steckt, dass man doch noch irgendwie das Ganze er- reicht und irgendwas Ganzes herstellt, also noch ein Ideal mitschleppt, als Fiktion oder als Idee oder als Hoffnung. Dann würde ich bei den Stücken und Fragmenten, mit denen man es heute zu tun hat, so stark zu tun hat, würde ich vielleicht vorschlagen, nicht mehr von Fragment zu sprechen - und damit an diesen alten romantischen Kon- text anzuschließen -, sondern von Relais! Weil ein Relais viel eher die Funktion hat, Sachen zu lenken, wie Energie aufzunehmen und weiterzugeben. Es hat sozusagen eine Zwischenfunktion, aber es ist selbst nichts. Und das, was beim Relais interessiert, ist, dass es weitergibt und was es weitergibt. ZITATSPRECHER "Relais: Automatische Schalteinrichtung, die mittels eines schwachen Stroms Stromkreise mit einem stärkeren Strom öffnet und schließt." SPRECHERIN ... erläutert der aktuelle Duden in seiner Online-Variante den Begriff. 46 Stephan Porombka - 0'15 Es ist jetzt mehr als ein Witz oder als ein Apercu, weil dahinter schon ein Medien- wechsel steht, wenn ich jetzt Relais sage. Aber tatsächlich: Das Relais ist viel eher das, was in die eigene Vergänglichkeit einübt als das Fragment etwa. Weil das Frag- ment eben immer noch sozusagen die Idee hat, irgendwie auf das Ganze verweisen zu können. Das hat das Relais nicht mehr. ERZÄHLER Diese Metapher ist keineswegs aus dem Nichts geboren. Die ersten Computer wurden noch nicht mit elektronischen Bauteilen, sondern mit elektromagnetischen Relais bestückt. Autoren verwandeln sich also in Stephan Porombkas Bild zu Ar- beitern, die Denkmaschinen am Fließband montieren, und wie alle Fließband- arbeiter werden sie vom Endabnehmer kaum mehr als Individuen wahrge- nommen. Das ist demotivierend, demütigend und eine scharfe Kränkung für jenen Narzissmus, aus dem bislang alle Kunst entstand. Die jungen Absolventen des Hildesheimer Studiengangs "Kreatives Schreiben" bilden den Konflikt idealtypisch ab: 47 Stephan Porombka - 0'36 Die haben zwei Sachen, die unvermittelt nebeneinanderstehen. Zum einen, weil die meistens auch aus Elternhäusern kommen, wo das Schreiben und das Lesen was zählt, tragen die einen ganz alten bildungsbürgerlichen Begriff von Literatur mit sich. Fängt bei "sich ausdrücken" an. Also man drückt sich mit Literatur aus, sich vor allen Dingen, man findet sich mit Literatur. Oder Literatur hat die Aufgabe, etwas auszu- drücken! So was wie einen Sinnspruch im Kopf zu haben, aber den nur so zu verpacken ... "Die Welt ist so anonym, und sie sollte anders werden!" Oder: "Beziehungen sollte man gut und richtig führen" oder so. Das sind so Ausführungen, die die machen. Gleichzeitig sind sie aber natürlich medial schon in ganz anderen Wel- ten! ZITATSPRECHER "Mit etwas jugendlichem Leichtsinn ließe sich da glatt Folgendes sagen: Wo das Netzwerk regiert, kann es eigentlich keine Werke mehr geben. Sie sind aufgelöst in kommunikativer Interaktion, in Rede und Gegenrede und einem beständigen Zusammenfallen von Produktion und Rezeption." SPRECHERIN ... pflichtet ein ehemaliger Student Porombkas, der heutige Journalist Johannes Schneider, seinem Lehrer im Berliner "Tagesspiegel" bei. Die altmodische Auto- ren-Leser-Partnerschaft gelte nicht mehr, weil beide sich den Regeln der Maschi- ne zu unterwerfen hätten: ZITATSPRECHER "Sollten sich Schreibende und Lesende nicht zuallererst der Tatsache stellen, dass das gängige Schreibgerät dieser Tage, der vernetzte Rechner, zu allem ge- eignet ist - aber nicht, um einen Roman damit zu schreiben?" 48 Stephan Porombka - 0'26 Wir werden da alle ganz schön zu knapsen haben! Dass es diese alten, ja auch tief- reichenden, sedimentierten Topoi gibt des Schreibens, des Werks, des Ichs und so weiter. Die ihre Gültigkeit haben, allein dadurch, dass sie uns wie anerzogen sind. Und von der Kultur auch noch mitgeschleppt werden. Und sei es nur als Leerformeln. Und dass gleichzeitig aber die Kultur sich so weit weiterentwickelt, dass sie mit diesen alten Werkbegriffen, alten Autorbegriffen, alten Ich-Begriffen und so weiter überhaupt nichts mehr anfangen kann. ZITATSPRECHERIN "Das Dokument ,funktioniert' nicht mehr wie früher." SPRECHERIN ... meint auch der Jurist, Medienunternehmer und Blogger Christoph Kappes. Er stieß jene lange und gehaltvolle Diskussion auf Google+ an, und sinnierte etwa in der Häfte des Threads: ZITATSPRECHERIN "Für ein ideales gedachtes Publikum zu schreiben, ist nicht schwierig, (...) weil Du immer hineinhorchst in Dein gedachtes Publikum. (...) Jetzt ist alles ,social', das Publikum kann nicht mehr abstrakt gedacht werden, es ist ja da, ganz konkret da, und es zeigt sich, wie schwierig es ist sich zu verständigen. Der Text ist nie ,zuende', er setzt sich in den Kommentaren fort und nimmt unvorhergesehene Wendungen. Der Text zeigt sich nun als das, was er ist: ein Haufen Symbole. Die Bedeutung der Symbole ist eine Hypothese, die sich als richtig oder falsch erweist, im Laufe des Prozesses. Es ist schriftlich wie ein Buch, aber vom Prozess her eher wie ein freier Vortrag auf der Bühne, ein interaktives Bühnenformat. Natürlich kann man sich hinstellen und etwas aufsagen und dann gehen, das sind die Linkschleudern. Sobald Du aber zuhörst und mitmachst, ist es ein Experiment, für das man sich fallen lassen muss und das grandios sein, aber auch fatal scheitern kann." ERZÄHLER Für Christoph Kappes scheint das Experiment gescheitert zu sein. Ein paar Mona- te später findet man ihn, der ursprünglich ein eifriger Diskutant war, nur noch mit spärlichen Beiträgen im Stream. Die Atomisierung des Autors behagt nicht jedem, wiewohl aus dieser Ursuppe auch hin und wieder außerordentlich tiefgängige Fort- setzungstexte entstehen. Betrachtet man diese genau, erkennt man rasch ein ge- meinsames Merkmal: Fast immer beginnen sie mit einem sorgfältig formulierten, gehaltvollen Ausgangsstatement; und fast nie sind ihre Urheber vorrangig durchs Netz geprägt Menschen, sondern eher Angehörige der alten Gutenberg-Intelligent- sia. ZITATSPRECHER "Zwischenbilanz zu Spitzers ,Digitale Demenz', das ich gottseidank gerade durch habe." ERZÄHLER ... eröffnet etwa der habilitierte Münchner Medienwissenschaftler Martin Lindner im September 2012 eine sorgfältige Auseinandersetzung mit Manfred Spitzers Streit- schrift "Digitale Demenz". Die Debatte erstreckt sich über 59 Kommentare ver- schiedenster Mitwirkender und demontiert im interdisziplinären Erkenntnisprozess die von Spitzer behauptete Wissenschaftlichkeit seiner Thesen. Das sind die Licht- seiten des Streams, die dem Glaserschen Müllsortierband-Schatten gegenüber- stehen, und vielleicht wohnen wir bei solchen Texten der Geburt eines neues intel- lektuellen Formats bei, dem des kollaborativen Essays. Doch Literaturprofessor Porombka wendet ein: Werden und Vergehen im digitalen Strom lassen vermutlich kein dauerhaftes neues Format mehr zu. 49 Stephan Porombka - 0'40 Wie lange will man ihm geben, damit es sich etabliert? Und wann zählt es für uns als etabliert? Muss es ein Jahr da sein oder zwei? Oder erwarten wir, dass es sich als eine Form etabliert, die in germanistischen Seminaren behandelt wird? Ich glaube, alles was sich entwickelt, wird von extremer Kurzlebigkeit sein! Wenn wir jetzt ein Format entwickeln, wird es das bestimmt geben, aber es wird nicht staatstragend sein. Und es wird nicht lange bleiben, weil es dann neue Sachen gibt. Aber einfach, weil's neue Pro- gramme gibt, neue Apps! Oder es gibt neue Plattformen. Und dann macht das Puff!, und dann gibt es wieder neue Sachen, die sicherlich irgendwas zu tun haben mit kur- zen Formen. Die aber auch was zu tun haben werden mit der Bebilderung. Als würden die Mediengrenzen überschritten, wahrscheinlich auch mit Filmen oder mit Filmchen. Ob sich der Schwarm aber lange damit aufhalten wird, das will ich bezweifeln! 50 Jan Ulrich Hasecke - 0'10 Wenn ich heute im Internet einen Text veröffentlichen möchte, wo ich sagen möchte "Ich möchte jetzt die maximale Wirkung erzielen!", würde ich diesen Text nicht mehr in Deutsch schreiben, sondern in Englisch schreiben. ERZÄHLER Das ist eine der bevorstehenden Entwicklungen, die auf deutsche Autoren zu- kommt. Jan Ulrich Hasecke: 51 Jan Ulrich Hasecke - 0'28 Ich hab es halt einmal gemerkt, als ich einen Text bewusst in Englisch verfasst habe, dass die Zugriffszahlen tatsächlich drastisch in die Höhe gegangen sind! Es hatte was mit der aktuellen Eurokrise zu tun und war ein relativ kurzer Text, und da habe ich ge- sagt: "Okay den schreibst du jetzt nicht in Deutsch, den schreibst du jetzt in Englisch, weil im Grunde interessiert das jeden hier in Europa." Und es war tatsächlich so: Die Zugriffszahlen haben sich verfünffacht, nur weil ich in Englisch geschrieben habe! ERZÄHLER Wenn dann alle Autoren auf englisch schreiben und womöglich im selben Ein- heitsstream vereint sein werden, dann wird das große Jammern und Wehklagen über die sozialen Netzwerke eine kulturapokalyptische Dimension erreichen. Zurecht? - Nein, sagt Stephan Porombka in einem Vortrag zur Zukunft digitaler Literaturformen: ZITATSPRECHER "Wir treten ein in die Boom­Zeit der Literatur. Und wer jetzt die Augen zumacht und behauptet, das alles sei flach, sei nur uninteressanter Kram und technische Spielerei jenseits des eigentlichen literarischen Schreibens, das letztlich Roman- form annehmen und in Büchern gedruckt werden müsse, der ist taub und tumb. Schlimmer noch: Wer sich jetzt abwendet und versucht, einfach die Skripte des alten Literaturbetriebs nachzuspielen, der interessiert sich auf sentimentale Weise für Bücher und Buchkitsch, nicht aber für Literatur und literarische Kreativität." ERZÄHLER Auch der Medienwissenschaftler Robert Simanowski kommt zu einer unerwarteten Einschätzung: 52 Robert Simanowski - 0'36 Der italienische Philosoph Gianni Vattimo sagte in den 80er-Jahren, dass die Philo- sophen nicht mehr die Aufgabe haben, den Menschen zu zeigen, wohin sie unterwegs sind, sondern wie sie damit leben, dass sie nirgendwohin unterwegs sind! Wenn das wirklich die Aufgabe ist, dann können wir eigentlich Facebook nur positiv betrachten! Denn Facebook zeigt uns, wie wir in dieser Situation leben, ohne dass wir wieder zu fundamentalistischen Ideologien oder Sinnvorstellungen zurückkehren müssen. Die Zerstreuung, die Facebook bietet, wäre faktisch die Möglichkeit dann das Projekt der Moderne zu retten, am Fundamentalismus neuer Ideologien vorbei. SPRECHERIN Und das letzte Wort nimmt sich der Stream: ZITATSPRECHERIN "Dann schmeiße ich noch eine Runde Luhmann zum Abschluss: Je mehr Men- schen, desto größer die Komplexität. Soziales Miteinander ist immer ein Versuch, Komplexität zu reduzieren." SPRECHERIN Nadine W. aus Mainz. Wer immer sie ist. ERZÄHLER Vermutlich ein kleines Relais. Porombka, Stephan: "Schreiben unter Strom: Experimentieren mit Twitter, Blogs, Facebook & Co", Biblio- graphisches Institut, Mannheim 2011. (E-Book-Version, deswegen ohne Seitenzahlen.) Rist, Pipilotti, zit. nach Herzogenrath, Wulf: "TV-Kultur", Verlag der Kunst, Dresden 1997. (S. 132) Horx, Matthias: "Chip-Generation", Rowohlt Verlag, Reinbek 1984. (S. 18) Porombka ebd. Kluge, Alexander: "Die Macht der Bewußtseinsindustrie und das Schicksal unserer Öffentlichkeit", in: Bis- marck, Klaus von et al., Industrialisierung des Bewußtseins, Piper Verlag, München 1985. (S. 97) Kluge, Alexander: "Das Fünfte Buch", Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. (S. 105) Weyh, Florian Felix: "Für Kluge Leser", DLF-Büchermarkt vom 19.2.2012. http://www.dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/1678320/ Abel, Jürgen: "Cyber Sl@ng", C.H. Beck Verlag, München 1999. (S. 60) Glaser zit. nach https://twitter.com/peterglaser Passig, Kathrin et.al.: "Die Kunst des Zwitscherns", Residenz Verlag, St. Pölten 2012. (S. 68) Glaser ebd. Wilpert, Gero von: "Sachwörterbuch der Literatur", Kröner Verlag, Stuttgart 1989. (S. 41) zit. nach https://twitter.com/worthort zit. nach https://plus.google.com/118359023992790949354/posts/ZnF97uWdE6w ebd. Porombka ebd. http://de.wikipedia.org/wiki/Blog Simanowski, Robert: "Digitale Medien in der Erlebnisgesellschaft", Rowohlt Verlag, Reinbek 2008. (S. 64) ebd. (S. 65) Simanowski, Robert: "Interfictions", Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2002. (S. 66) http://www.duden.de/rechtschreibung/Relais http://www.tagesspiegel.de/kultur/literaturdebatte-der-roman-ist-tot-/6338140.html ebd. zit. nach https://plus.google.com/118359023992790949354/posts/ZnF97uWdE6w zit. nach https://plus.google.com/102484891814321353019/posts/SG3Zkr2EfPi Porombka, Stephan: "Das Nächste, bitte!", http://www.perlentaucher.de/essay/das-naechste-bitte.html zit. nach https://plus.google.com/118359023992790949354/posts/ZnF97uWdE6w 27