COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Literatur 11.2.2014 Wunderkammer des Abseitigen Experimentalkunst aller Epochen auf Ubuweb.com Von Sieglinde Geisel 1) Ubuweb, Peggy Awesh (ca. bis 0:20, fade out) (27’’) http://www.ubu.com/film/ahwesh_puppet.html 2) O-Ton Goldsmith (14’’) Well, it began … … was out there. Sprecher 1/Voice over Nun, angefangen hat es mit meiner eigenen Sammlung. Ich bin Sammler, ich habe Tausende solcher Kunstwerke, und der Grundstock war die Digitalisierung meiner ursprünglichen Sammlung. Das war noch vor dem File Sharing, bevor irgendetwas im Internet zu haben war. 3) Ubuweb, Inuit Throat Singing (0:55-1:12) (1’42’’) http://ubumexico.centro.org.mx/sound/ethno/inuit/mp3/Inuit-Throat-Singing_07.mp3 4) O-Ton Goldsmith (33’’) (1:38) I would call it … what I think is good. Sprecher 1/Voice over Ich würde es ein unzuverlässiges Archiv nennen, ein subjektives Archiv, eines, das nach meinen Vorlieben und Launen als Sammler wächst und sich entwickelt, geprägt von meiner Geschichte, von meinem Geschichtsbegriff, es formt sich, indem ich voranschreite. Und das ist auch das Problem, denn ich weiß nicht, was ich tue. Ich bin Dichter, nicht Kunsthistoriker. Ich mag diese Dinge einfach. Ich nehme, was ich gut finde. 5) Ubuweb, Edmondez Gwilly (nur ein paar Sekunden) (1‘22‘‘) http://ubumexico.centro.org.mx/sound/Edmondez_Gwilly/MAX_KURT_%20Anatomical_Disseminator/Edmondez-Gwilly_Track-15_Max-Kurt-One_2009.mp3 6) O-Ton Bök: (21’’) (2:21) He vets everything… of his own tastes. Sprecher 2/Voice over: Er prüft alles, er entscheidet, was auf die Website kommt. Sie stützt sich voll und ganz auf seine Interessen. Es ist seine eigene private Sammlung von Dingen, die ihn beeindrucken, ihm gefallen. Keineswegs ist es eine Website, die das Material nach akademischen Gesichtspunkten historisch aufarbeitet. Sie spiegelt seinen Geschmack. 7) Ubuweb: Anton Bruhin, Rotomotor (ausblenden, unterlegen…) (3‘45‘‘) http://ubumexico.centro.org.mx/sound/bruhin_anton/rotomotor/Bruhin-Anton_Rotomotor_05_Rotomotor.mp3 8) O-Ton Kniep: (15‘‘) Ich glaube, es ist die derzeit bedeutendste Anlaufstelle für avantgardistische Literatur überhaupt. Für mich ist es erste Anlaufstelle, wenn ich insbesondere Lautpoesie suche oder auch konkrete Poesie. Es gibt nichts Vergleichbares im Moment. 9) O-Ton Stephan: (15‘‘) ... ein Riesenhaufen, es ist eine Sammlung, mehr als eine Sammlung ist es ja nicht. Er wertet es ja nicht, er ordnet das nicht an, außer um es so halbwegs übersichtlich zu machen, es nach Genres zu ordnen, hier ist Sound, und hier Film... 10) Ubuweb, Christian Bök, Ursonate (bis 0:47) (1‘14‘‘) http://ubumexico.centro.org.mx/sound/bok/Bok-Christian_Ursonate.mp3 Autorin: Christian Bök mit einer Schnelllesung von Kurt Schwitters „Sonate in Urlauten“ – eines von Zehntausenden von Avantgarde-Werken auf Ubuweb. Seit 1996 gibt es die Website www.ubu.com, damals hatte der New Yorker Konzeptkünstler und Dichter Kenneth Goldsmith damit begonnen, seine private Sammlung ins Netz zu stellen. In den letzten achtzehn Jahren hat sich Ubuweb zu einer Wunderkammer für alles entwickelt, was die modernen Künste an Abseitigem, Obskurem und Verborgenem zu bieten haben: Videos, Musikaufnahmen und Gedichte, darunter Raritäten aus dem Archiv, so kann man etwa Paul Celan oder Anna Achmatowa im Original hören – aber auch Adorno, Lacan oder John Cage. Jüngst kam eine Abteilung dazu, mit Tanz-Videos von Fred Astaire bis Sasha Waltz. Der kanadische Dichter Christian Bök ist ein enger Freund von Kenneth Goldsmith. 2013 war er beim Poesiefestival der Berliner Literaturwerkstatt zu Gast, einerseits mit seiner stupenden Performance von Kurt Schwitters „Ursonate“, andererseits auch als Cheerleader für Ubuweb. Christian Bök hat Kenneth Goldsmith bereits Mitte der 90erjahre kennengelernt. 11) O-Ton Bök (39‘‘) Kenny was working … of avant-garde. Sprecher 2/Voice-over Kenneth arbeitete damals an einer Website und sammelte dafür visuelle Poesie, die ihn interessierte. Er wollte sie online stellen, und als in den Neunzigerjahren das Internet schneller wurde, sah er, dass er nicht nur Bilder ins Netz stellen konnte. Er begann, Sound Poetry –Aufnahmen in die Website zu integrieren und schließlich hörte er auf, zwischen den Genres zu unterscheiden. Er sagte, wenn ich schon Bilddarstellungen mit konkreter Poesie und Audiofiles mit Klangpoesie ins Netz stelle, dann kann ich auch Filme und andere Dokumente der Avantgarde berücksichtigen. 12) O-Ton Goldsmith: (15’’) I come home … the site gets built. Sprecher 1/Voice-over: Ich komme von der Arbeit nach Hause, dann bringe ich meine Kinder zu Bett, gieße mir ein großes Glas Whisky ein und arbeite von zehn Uhr nachts bis ein Uhr morgens an Ubuweb, jeden Abend, bis ich zu müde bin. Und das ist es im Wesentlichen: So wird die Seite gebaut. Autorin: Der Dichter Kenneth Goldsmith, der an der Penn State University Literatur unterrichtet, war immer schon ein besessener Sammler. Angefangen hatte es mit der Bibliothek seines Großvaters und mit einer ersten eigenen Plattensammlung der Beatles. Später wurde Goldsmith Bildhauer und war DJ bei einem alternativen New Yorker Radiosender. Das Internet hat die Tätigkeit des Sammelns fundamental verändert. 13) O-Ton Goldsmith (38‘‘) We don’t have to… cultural materials now. Sprecher 1/Voice-over: Wir müssen das Haus nicht mehr verlassen um zu sammeln. Jeden Abend gehe ich an meinem Küchentisch Platten kaufen, ich lade mir wunderschöne Dinge herunter, von denen ich in früheren Zeiten nur hätte träumen können, und für die ich viel Geld hätte bezahlen müssen. Jetzt bekomme ich das alles umsonst, es ist wundervoll. Ich habe Stapel von Festplatten, und wie alle Leute heutzutage habe ich viel mehr Musik auf meinen Festplatten, als ich je werde hören können. Es geht nicht darum, Musik zu genießen, ja nicht einmal darum, sie zu kennen. Wir sind alle besessene Sammler geworden, einfach weil es da ist, weil wir es haben können. Wir horten heute Kultur-Material. 14) Ubuweb, Hans Arp, “Bevor Dada da war, war Dada da” (bis 0:32) (3‘08‘‘) http://ubumexico.centro.org.mx/sound/arp_hans/Arp-Hans_03_Dada-Sprache.mp3 15) O-Ton Goldsmith (19’’) In this way … two names together. Sprecher 1 /Voice-over: Es ist eine Art intuitiver Sammlung. Ich habe das Gefühl, bestimmte Dinge gehören auf die Website, Dinge, die normalerweise nicht beieinander stehen. In der Film-Abteilung kommt beispielsweise der Name Samuel Beckett alphabetisch direkt neben dem Namen Captain Beefheart zu stehen. Nirgendwo sonst würde man diesen beiden Namen zusammen begegnen. 16) Ubuweb, Captain Beefheart (0:25-0:37) (12‘‘) http://www.ubu.com/film/corbijn.html 17) O-Ton Goldsmith (4’’) But when you… without Samuel Beckett… Sprecher 1/Voice-over Aber wenn man es sich überlegt: Captain Beefheart hätte nicht existiert ohne Samuel Beckett. 18) Ubuweb, Beckett, Embers (ab 0:26) (2’18’’) http://ubumexico.centro.org.mx/sound/beckett_samuel/macgowran/MacGowran-Jack_Speaking-Beckett_04_from-Embers.mp3 19) O-Ton Goldsmith (9’’) … so those are … the new avant-garde. Sprecher 1/Voice-over … das ist die Art von intuitiven Verbindungen, die ich gerne herstelle, über die Genre-Grenzen hinweg, und das gehört gewissermaßen zur Unschärfe, die ich in der neuen Avantgarde sichtbar machen möchte. 20) O-Ton Stephan (38‘‘) Normalerweise gibt es ja immer über Museen oder Filmreihen so kuratorische Zusammenhänge, die dieses Material zugänglich machen, und die Schwelle ist da relativ hoch, man muss in die Innenstädte, die richtigen Feuilletons lesen, um überhaupt darauf aufmerksam zu werden. Und er sagt: Wir hauen das jetzt alles da rein, wir stellen’s einfach alles online, und dann schauen wir, was passiert. Und indem er es dann so rekontextualisiert, wirkt es plötzlich ganz anders. Der erste Reflex wäre ja, Oh mein Gott, der entwertet das ja alles total, aber das passiert, finde ich, überhaupt nicht. Sondern es sieht nur anders aus, wie genau ist eigentlich schwer zu sagen. Autorin: So der Berliner Journalist Felix Stephan. Man findet auf Ubuweb nicht nur Captain Beefheart neben Samuel Beckett, sondern auch Paul Celan neben Louis-Ferdinand Céline oder den Revolutionär Vladimir Lenin neben dem Beatle John Lennon. Auf Ubuweb sind Dinge gesammelt, die niemand kennt: Künstlerformationen wie Runzelstirn & Gurgelstock oder Linnunlaulupuu etwa sind selbst auf Wikipedia nicht zu finden. Zu den spektakulärsten Funden auf Ubuweb allerdings dürfte eine Stimme gehören, von der es, nach der Überzeugung mancher Biographen, gar keine Aufnahmen gibt. 21) Ubuweb, Stimme von Samuel Beckett: (31‘‘) http://ubumexico.centro.org.mx/sound/beckett_samuel/various/Beckett-Samuel_Acceptance-Speech-Italy-Prize_Sorrento_1959.mp3 Autorin: Samuel Beckett bedankt sich für einen Hörspielpreis, den er 1959 in Italien erhalten hat. Dem Komponisten und Philosophen John Cage ist ein ganzer Schwerpunkt gewidmet, und in der Tat scheint in seinem Denken das Konzept von Ubuweb Gestalt zu finden. So stellt Cage etwa die Frage nach dem Besitz von Ideen: 22) Ubuweb, John Cage, Diary 1, (0:10 - 0:22) (12’’) http://www.ubu.com/sound/cage_diary.html 23) O-Ton Goldsmith: (32´´) I deal with materials … simply an attitude. Sprecher 1 /Voice-over: Ich habe es mit Materialien zu tun, die Leben verändern. Alles von John Cage auf meiner Website hat mein Leben verändert. Alles von Marcel Duchamp hat mein Leben verändert, alles von Joseph Beuys. Das sind für mich die drei wirklich großen Figuren auf meiner Website. Sie haben mich veranlasst, anders zu leben, anders zu denken. Von Cage, Beuys und Duchamp habe ich gelernt, dass jeder ein Künstler sein kann, dass es kein besonderes Talent dazu braucht, dass das Künstlersein einfach in einer Haltung besteht. Autorin: Kenneth Goldsmith unterrichtet an der Penn State University nicht nur Literatur, sondern auch das Fach „uncreative writing“ – unkreatives Schreiben. Zum einen sei der Kreativitätsbegriff heute in eine Sackgasse geraten und selbst unkreativ geworden. Zum anderen gebe es inzwischen so viel Literatur auf der Welt, dass man keine neuen Texte brauche. Die Studenten lernen, worauf es beim Plagiieren ankommt, wie man beispielsweise entscheidet, was sich zu plagiieren lohnt und was man mit seiner Kopie anstellen kann. Auch Goldsmiths eigene Dichtung besteht aus vorgefundenen Texten: Sein Buch mit dem Titel „Day“ etwa enthält die Abschrift einer kompletten Ausgabe der New York Times, mitsamt Anzeigen und Börsenkursen. Lesen wird das niemand, nicht einmal er selbst, wie Goldsmith freimütig eingesteht – es handelt sich um Konzeptkunst, die uns zum Nachdenken bringen soll. 24) Ubuweb, Kenneth Goldsmith, „Traffic“ ( http://mediamogul.seas.upenn.edu/pennsound/authors/Goldsmith/Traffic/Kenneth-Goldsmith_Traffic_WFMU_Sept-2006.mp3 Autorin: Kenneth Goldsmiths Text „Traffic“ besteht ausschließlich aus Verkehrsmeldungen. Im Jahr 2011 war er damit im Weißen Haus zu Gast – die Obamas waren von der Lesung begeistert. Auch Ubuweb ist in gewissem Sinn ein konzeptionelles Kunstwerk des Plagiator-Dichters Goldsmith. Es geht um Sammeln und Aufbereiten, teilweise auch in Zusammenarbeit mit anderen. 25) O-Ton Kniep: (22´´) Das Besondere dabei ist eben auch, dass Dichter diese Seite betreiben. Es ist ja nicht nur Kenneth Goldsmith - Charles Bernstein gehört dazu, das sind Leute, die sich unglaublich gut auskennen, die eine Passion haben für Dichtung. Deshalb kann man wirklich sicher sein, dass diese Seite lebendig bleibt, weil dieses vitale Interesse da ist, Dichtung zu verbreiten. Autorin: Für Matthias Kniep ist Ubuweb eine wichtige Ressource, denn er ist Mitarbeiter der Literaturwerkstatt Berlin, die sich in besonderem Maß der internationalen Lyrik widmet. 26) O-Ton Kniep (20´´) Es sind ja nicht nur tote Künstler da gesammelt, es sind auch noch lebende Künstler, wenn wir zum Beispiel etwas zur Sound Poetry machen wollen, zum Beispiel im Rahmen des Poesiefestivals, dann recherchieren wir auf der Seite, können schon mal reinhören, was machen die Künstler gegebenenfalls auf der Bühne, und wie ist das Material einzuschätzen von der Qualität. Insofern ist die Seite unglaublich wichtig. Autorin Ubuweb ist als Fundgrube unerschöpflich. Schon lange hat niemand mehr einen Überblick über das, was man hier finden kann, zwischen A wie Marina Abramovic - 27) Ubuweb, Marina Abramovic, „Bioguarde“, „Just listen to me“ (4´´) http://www.ubu.com/sound/abramovic.html Autorin und Z wie Jonathan Zorn: 28) Ubuweb, Jonathan Zorn, “Conversation Piece” (ein paar Sekunden, fade out) http://mediamogul.seas.upenn.edu/pennsound/authors/Zorn-Jonathan/All-Talk/Zorn-Jonathan_Conversation-Piece.mp3 Autorin Jeden Tag kommen neue Files dazu. Obwohl Goldsmith als „Autor“ der Website eine Auswahl trifft, verhält er sich nicht wie eine Jury: Große Kunst und große Namen haben ebenso Platz wie Dilettantisches, Misslungenes, Belangloses. Alles, was abseits des kommerziellen Mainstream liegt und irgendwie das Etikett Avantgarde verdient, ist auf Ubuweb willkommen. Denn der Name, nach Alfred Jarrys „Roi Ubu“, ist Programm: Mit Systematik hat Kenneth Goldsmith nichts im Sinn. Er bekennt sich vielmehr zum Absurden, zur Pataphysik im Sinne von Alfred Jarry. 29) O-Ton Goldsmith: (1´03´´) My whole sense of history… me no money. Sprecher 1 /Voice-over: Mein Geschichtsbegriff ist insgesamt pataphysisch und unkorrekt. Ich fühle mich, als wäre ich der König Ubu der Kunstgeschichte. Das Tolle ist Folgendes: Weil Ubuweb die einzige Website ihrer Art ist, hat ausgerechnet derjenige, der die ganze Sache aufbricht, nun eine Art von Kanon geschaffen, der benutzt und zitiert wird, nur weil es eben nichts anderes gibt. Das Beste, was geschehen könnte, wäre, dass das Museum of Modern Art eine solche Website erstellt und Ubuweb obsolet macht. Ich hätte nichts dagegen, wenn jemand sich dieser Sache richtig annehmen würde und ich mich anderen Dingen zuwenden könnte. Doch die Leute haben Angst vor dem Urheberrecht, das ist der Grund dafür, dass in all diesen Jahren nichts Derartiges geschehen ist. Wenn das Museum of Modern Art einen Film ins Netz stellen würde, müsste es Tausende von Dollars für die Rechte bezahlen. Wenn ich einen Film ins Netz stelle, frage ich niemanden, ist stelle ihn einfach rein, und da ist er dann. Der Aufbau und rechtmäßige Betrieb von Ubuweb würde eine Institution wie das MoMa zig Millionen Dollar kosten. Mich hat es null Geld gekostet. 30) O-Ton Bök: (10´´) Most of the material… in doing so. Sprecher 2 /Voice-over: Das meiste Material auf der Website ist in der Tat gestohlen, er hat es ohne Genehmigung ins Netz gestellt, und ich denke, er befindet sich damit in einer Grauzone des Rechtssystems. 31) O-Ton Goldsmith: (26´´) I always say, if we’d had to ask … it to the general public on Ubuweb. Sprecher 1 /Voice-over: Ich sage immer, wenn wir um Erlaubnis bitten müssten, gäbe es uns nicht. Ich nehme Werke, ich stelle sie ins Netz, und sie erscheinen in einem neuen Zusammenhang, sie werden Teil der Sammlung. Inzwischen gibt es wahrscheinlich zehntausend Künstler auf der Website. Ich nehme die Kunstwerke meist von File Sharing-Websites, sehr exklusiven Seiten, zu denen die meisten Menschen keinen Zugang haben. Und wie Robin Hood nehme ich es von dort und überlasse es auf Ubuweb dem allgemeinen Publikum. Autorin: Robin Hood bricht bekanntlich Gesetze, in diesem Fall geht es um das Urheberrecht – doch als ehrlicher Verbrecher begeht Kenneth Goldsmith seine Taten um des Gemeinwohls willen. Indem er das vernachlässigte Erbe der Moderne allen zugänglich macht, nimmt er eine gesellschaftliche Aufgabe war – und obendrein noch, ohne dass es den Staat oder die Nutzer etwas kostet. Da sich mit Avantgarde- sich ohnehin kein Geld verdienen lässt, fügt Ubuweb niemandem Schaden zu, und bitten Künstler auch kaum je darum, ihre Werke von der Website zu entfernen, im Gegenteil. 32) O-Ton Goldsmith (8´´) The odd thing is… on there. Sprecher 1 /Voice-over: Das Seltsame ist: Weil Ubuweb die einzige Website dieser Art ist, wollen inzwischen sogar sehr etablierte Künstler um jeden Preis mit ihrem Werk vertreten sein. Autorin Als Robin Hood der Avantgarde achtet Kenneth Goldsmith darauf, dass auf Ubuweb nur Dinge ins Netz gestellt werden, die schwer zu bekommen oder schlicht vergriffen sind. Wird ein Buch oder eine CD neu herausgebracht, verschwindet das Werk sofort von Ubuweb. Auch lässt die technische Qualität mancher der hochgeladenen Dokumente zu wünschen übrig: Wer sich etwa einen Film zu Genusszwecken in besserer Qualität anschauen will, soll ihn sich bitte kaufen, so die Haltung der Macher von Ubuweb. Gäbe es Ubuweb nicht, müsste man es erfinden – und doch ist es erstaunlich, dass es bisher keine Urheberrechtsklagen gegeben hat. 33) O-Ton Goldsmith (22´´) I do get away … at stake there. Sprecher 1 /Voice-over: Ich kann es mir leisten – ist das nicht unglaublich! Ich glaube, die Leute scheren sich nicht um dieses Material. Es ist nicht genug Geld im Spiel, als dass jemand Geld ausgeben wollte, um Ubuweb zu bekämpfen. So befinden wir uns bezüglich der Urheberrechte tatsächlich in einer Grauzone, in der es der Kultur erlaubt ist, sich frei zu bewegen, weil niemand große Verluste befürchten muss. Autorin: Ubuweb funktioniert ohne jedes Geld. Sogar der Speicherplatz auf den Servern wird von Universitäten gespendet, nur für den Domainnamen bezahlt Kenneth Goldsmith fünfzig Dollar im Jahr. 34) O-Ton Goldsmith: (1´) I do this ... involved with grants, bäh… Sprecher/Voice-over: Ich tue das nicht für Geld. Ich habe kein Geld, ich nehme kein Geld, ich berühre kein Geld. Es ist ein Hobby. Ich glaube, das ist einer der Gründe, warum die Seite überleben konnte. Ich denke mir, wenn ich Geld nehmen würde, müsste ich alle bezahlen, nicht wahr? Wenn ich damit reich werde, sollten alle damit reich werden. Deshalb dachte ich von Anfang an, wir machen es am besten ganz ohne Geld, und in den letzten achtzehn Jahren habe ich weder jemals Geld ausgegeben noch eingenommen. Ich habe den Eindruck, ich bin wirklich allein damit, niemand schaut zu, und deshalb komme ich ungeschoren davon. Als Künstler in Amerika, als Dichter, ist man wirklich allein. Es gibt keine Stipendien für Dichter. Ich habe einen Vollzeitjob, anders geht es nicht, außer man ist kommerziell erfolgreich. In dieser Situation sind gewisse Dinge möglich, verrückte Dinge wie Ubuweb. Andernfalls wäre ich gelähmt durch das fund raising, dann wäre das mein Vollzeitjob – bäh. Ich würde mich auf keinen Fall mit Fördermittelanträgen beschäftigen wollen – bäh. Autorin: Eine Dame aus der Nachlassverwaltung von John Cage allerdings hat sich vor einigen Jahren gemeldet. 35) O-Ton Goldsmith: (9´´) They said... that we know. Sprecher 1 /Voice-over: Sie sagten: Wir wollen Sie nur wissen lassen, dass wir wissen, was Sie auf Ubuweb tun. Ich fragte: Und? Doch sie sagte nur: Wir wollen Sie nur wissen lassen, dass wir (es) wissen. 36) O-Ton Kniep: (31´´) Man muss sagen, es ist ein nicht-kommerzielles Projekt, deshalb habe ich aus meiner Sicht keine Probleme damit, dass das Material präsentiert wird, bei dem die rechtliche Lage zumindest unklar ist. Wenn ein Künstler sich beschwert, dann wird das Material sofort von der Website genommen. Bisher ist das aber kaum passiert. Es hat ja auch eine traurige Seite, denn es gibt sehr, sehr wenig Interesse an avantgardistischer Kunst. Das heißt, diese Seite erregt kaum Anstoß, weil sich kaum jemand dafür interessiert. Autorin: „No poets don’t own words“ – keine Dichter besitzen keine Worte, so könnte man die Zeile ungefähr übersetzen, die der amerikanische Dichter Brion Gysin in allen Varianten permutiert: 37) Ubuweb, Brion Gysin, „Poets don’t own words“ (ev. nur bis 0:30) (56´´) http://ubumexico.centro.org.mx/sound/gysin_brion/Mektoub/Gysin-Brion_Mektoub_10-No-Poets-Don%27t-Own-Words.mp3 Autorin: Auch wenn Worte niemandem gehören: Die Rechtslage bleibt ein heikler Punkt. Die Website könnte jederzeit verschwinden, heißt es im Manifest von Ubuweb, die Nutzer werden aufgefordert, Dateien herunterzuladen und auf ihrer eigenen Festplatte zu speichern. Eine Vorsichtsmaßnahme allerdings gibt es, um urheberrechtlichen Konsequenzen vorzubeugen: 38) O-Ton Goldsmith (13´´) Ubuweb is … in plain sight. Sprecher 1 /Voice-over: Ubuweb ist nicht so leicht zu finden. Es ist nicht auf Google, man muss die Seite bereits kennen. Es ist oft seltsam, wer alles Ubuweb nicht kennt – und viele Leute haben wirklich noch nie davon gehört. Es hält sich versteckt, in aller Öffentlichkeit. Autorin: … wie jener Brief in Edgar Allan Poes berühmter Detektivgeschichte, den niemand finden konnte, weil er offen auf dem Tisch im Flur lag. Ubuweb findet man nur über Links von anderen Seiten, etwa Wikipedia. Früher waren Künstler oder Rechte-Inhaber durch die automatische Suchfunktion „Google-Alert“ auf Ubuweb aufmerksam geworden, und Kenneth Goldsmith musste umständlich Sinn und Zweck seiner Website erklären. In der Regel erhielt er jeweils nachträglich die Erlaubnis für die Veröffentlichung, doch diese Korrespondenz nahm zu viel Zeit in Anspruch. Wer Ubuweb bereits kennt, kann sich per Twitter auf dem Laufenden halten lassen, doch ansonsten ist die Website immer noch erstaunlich klandestin. Der Kulturjournalist Felix Stephan hat in der „Welt“ 2013 einen Artikel über Ubuweb geschrieben, und er ist damit ein Pionier in den deutschen Feuilletons. Diese hatten von Ubuweb bisher kaum Notiz genommen. 39) O-Ton Stephan: (22´´) Die Geschichte ist die, dass ich irgendwie drauf gestoßen bin, über irgendeinen Link, und zwar vor Jahren schon, und ich kannte das schon sehr, sehr lange und habe deswegen gedacht, dass das allgemein bekannt ist, und habe dann (...) mit nem Redakteur darüber gesprochen und war überrascht, dass er es nicht kannte, und so kam es dazu, dass ich darüber geschrieben und das in Deutschland vorgestellt habe, und ich habe tatsächlich gesehen: Da wurde bisher nicht drüber geschrieben. 40) O-Ton Goldsmith (21´´) It’s like good … people pretty happy. Sprecher 1 /Voice-over: Es ist wie in Zeiten der guten alten Underground-Kultur: So wie früher jemand einem eine Kassette in die Hand drückte und sagte: Hey, hör dir mal diese Band an! So hat sich Kultur im Underground schon immer verbreitet. Jemand, den man kennt, sagt: Schau dir diese Seite an! So ist das Ganze im Fluss. Wenn man Ubuweb googelt, findet man nur Links zur Seite, aber nicht die Seite selbst. Und damit scheinen die meisten Leute gut leben zu können. 41) O-Ton Kniep (38´´) Es ist eine Seite von Enthusiasten für Enthusiasten. Man kann Wochen, Monate verbringen, um sich das alles anzugucken und anzuhören. Und das Material ist im Lauf der Zeit sehr disparat geworden. Das heißt, das, was unter Avantgarde verstanden wird, ist weit gefasst. Es gibt Telefoninterviews von Bob Dylan, es gibt Lesungsmitschnitte von William S. Burroughs, es gibt Kurzfilme von Orson Welles. Als jemand, der sich auch für deutschsprachige Literatur interessiert, findet man natürlich Schwitters, man findet Gomringer, man findet Jandl, man findet Celan – wie gesagt, disparates Material, aber hervorragend. Und man findet es eben zum Teil nur dort. 42) Ubuweb, Burroughs, “Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt” (ev. erst ab 0:37) (2´18´´) http://ubumexico.centro.org.mx/sound/burroughs_william/WSB-Sings/Burroughs-William-Sings_08_Burroughs_ich-bin-von-kopf-bis-fub-auf-liebe-eingestellt.mp3 Autorin: So klingt es, wenn William S. Burroughs als Marlene Dietrich auftritt. 43) O-Ton Bök: (18##) They are not … what’s up there. Sprecher 2 /Voice-over: Es handelt sich nicht unbedingt um die kanonischen Werke aus der Geschichte der Avantgarde. Oft sind es gerade die ungewöhnlichsten, die seltsamsten, verrücktesten Dinge, die vergessen sind. Werbefilme, in denen Salvador Dali auftritt, oder Videos von Richard Serra, den wir vor allem als Bildhauer kennen. Solche Dinge, die man von dem betreffenden Künstler nicht erwarten würde – das ist es, was man hier findet. Autorin: Wer weiß heute noch, dass Joseph Beuys in den achtziger Jahren Popsongs geschrieben hat, damals als Ronald Reagan US-Präsident war? „Wir wollen Sonne statt Reagan“: 44) Ubuweb, Joseph Beuys, “Wir wollen Sonne statt Reagan” (ev. ab 0:33) http://ubumexico.centro.org.mx/sound/beuys_joseph/Beuys-Joseph_Sonne-Statt-Reagan.mp3 45) Ubuweb, Captain Beefheart, 11:27-11:37 (12´´) “I like to tell you people watching, listening – boohh!” http://www.ubu.com/film/corbijn.html 1