COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandrundfahrt "Spurensuche im märkischen Land" Tatorte zwischen Mecklenburg und Schorfheide Von Matthias Baxmann Sendung: 10. Dezember 2011, 15.05h Sprecherin: Barbara Becker Ton: Ralf Perz Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2011 Kennmelodie O-Ton 1 Gerstenberg Ich wollte so einen richtig klassischen Kriminalroman schreiben, als ich das "Kreuz von Krähnack" geschrieben habe. Also einen Roman, der so ganz klar umrissene Orte hat. Kennmelodie Zitatorin Das Schloss baute sich vor ihm auf wie eine Filmkulisse. Doch das Gebäude war ebenso echt wie der Mord, der hier geschehen war. Kennmelodie O-Ton 2 Bauer: Da haben wir das Wohnzimmer, den Balkon mit Blick auf den Schlossteich, in dem der tote Buddhist schwamm (lacht). Wir sind in Wrodow, am Ende der Welt! Kennmelodie Sprecherin: "Spurensuche im märkischen Land" Tatorte zwischen Mecklenburg und Schorfheide Eine Deutschlandrundfahrt von Matthias Baxmann Zitatorin: (Musik unter alle Krimi-Zitate: Ry Cooder, Titel: "Define Violonce", CD "End of Violence", LC7266, DRadio-Nr 91-07760) Krähnack sah aus wie jedes Dorf in der Uckermark. Kleine, teils baufällige, teils bereits sanierte Häuser, in denen vor hundert Jahren gewiss die Angestellten des Schlosses gewohnt hatten, standen dicht nebeneinander an beiden Seiten der Straße. Einige Gebäude waren ursprünglich Stallungen gewesen. Wer hier lebte, war daran gewöhnt, mit harter Arbeit seinen kläglichen Lebensunterhalt zu verdienen. Autor: So schildert der Schriftsteller Ralph Gerstenberg den Ort, der seinem Kriminalroman den Titel gab: "Das Kreuz von Krähnack". Ein erdachter Schauplatz, der jedoch eine Entsprechung in der Wirklichkeit hat - so wie die anderen Tatorte im Krimi auch. Sie liegen verstreut zwischen der Schorfheide und Mecklenburg. Aber was ist Fiktion, was Wirklichkeit? Diese Frage war Ausgangspunkt meiner Recherchereise, die ich zusammen mit Ralph Gerstenberg unternahm. O-Ton 3 Baxmann: Herr Gerstenberg, Ihr Kriminalroman "Das Kreuz von Krähnack" spielt ja vor allem in einem kleinen Ort, der Krähnack heißt. Wo liegt denn dieses Krähnack? Gerstenberg: "Krähnack liegt in der Uckermark, unweit von Templin. Das ist ein fiktiver Ort, der aber ein reales Vorbild hat. Der Ort, der mich zu diesem Roman inspiriert hat, heißt Wrodow. Das liegt so etwas südwestlich von Neubrandenburg, so Richtung mecklenburgische Seenplatte, nördlich von Penzlin. Das habe ich Mitte der neunziger Jahre kennen gelernt über persönliche Kontakte Und das war auch das erste Mal, dass ich in so `ne brandenburgische Gemeinde - da passiert's schon, Fiktion und Realität vermischen sich -, dass ich in so ne mecklenburgische Gemeinde einen tieferen Einblick gewonnen habe. Baxmann: Mich würde jetzt interessieren, wie die Vorlage dieses fiktiven Dorfes Krähnack, also Wrodow, in Wirklichkeit aussieht. Darum würde ich gerne mit Ihnen dahin fahren, nach Wrodow. Gerstenberg: Ja, sehr gerne. Atmo 1 Starten des Motors, Fahrgeräusche (Nach dem Starten unter Autor legen) Autor: Das Dorf Wrodow liegt zirka zwei Autostunden nordwestlich von Berlin. Musik (1): Wilco "Far, far away" Interpret: Wilco Titel: Far, far away CD: being there Track: Disc One / Track 2 Komponist: Jeff Tweedy Text: Jeff Tweedy LC/Best.-Nr.: LC0322 DLR-Archiv#: (ab ca. 0´20 umschneiden auf Atmo (2) Autoradio (selber Titel: Falco nur im Auto aufgenommen) und Atmo (3) Fahrgeräusche, kurz, dann unter O-Ton ausblenden) Autor: Während wir die B 96 hinauf fahren, erzählt Ralph Gerstenberg von sich und seinem Buch, dessen Schauplätze wir aufsuchen werden. Das "Kreuz von Krähnack" ist bereits der 4. Kriminalroman des 1964 in Ostberlin geborenen Autors. Die Umbrüche in der ostdeutschen Provinz, die Gerstenberg durch ausgedehnte Landaufenthalte kennen lernte, haben dazu geführt, dass er nach seiner Henry-Palmer-Krimitrilogie zum ersten Mal Orte außerhalb des Berliner Großstadtdschungels für eine Krimihandlung gewählt hat. Was passiert mit Menschen irgendwo am Ende der Welt, wenn sich deren Lebensbedingungen grundlegend verändern? Wie gehen sie um mit exotischen Zugezogenen und prekären Verhältnissen? Solche und ähnliche Fragen waren Ausgangspunkte seiner Romanarbeit. Im Zentrum von "Das Kreuz von Krähnack" steht der Ermittler Bernhard Oeser. Der etwas übergewichtige Hauptkommissar mit Herzproblemen langweilt sich bei einem Anti-Stress Wochenendseminar auf dem Lande. Als im Nachbardorf ein toter Buddhist aus einem Schlossteich gefischt wird, gibt es für den Berliner Kriminalisten endlich was zu tun. Er taucht ein in die fremde, ländliche Atmosphäre, in der das Verbrechen geschehen war, lernt Menschen und Orte kennen und ermittelt auf eigene Faust. Zitatorin: Den Turm des Schlosses hatte Oeser bereits aus der Ferne gesehen. Ein beeindruckendes Bauwerk, dessen Zinnen über die Wipfel der Bäume ragen. Ehemalige Bauernkaten aus rotem Klinker, an deren Giebeln und Fassaden Satellitenschüsseln klebten, säumten die mit Feldsteinen gepflasterte Straße. Die Reifen des Taxis prasselten über den unebenen Grund. O-Ton 4 Ich glaube, hier geht's jetzt links nach Wrodow ab. Ja, da steht's schon: Wrodow, 2 Kilometer. Müssen wir hier abbiegen. Weiter mit Atmo 3 Auto (unter Autor), ab ..."wir sind da..." Atmo Gewitterdonner (von Margarete) Autor: So wie Gerstenbergs Hauptkommissar Oeser entdecke auch ich am Horizont zuerst den Turm des Schlosses, das sich mitten in der kleinen mecklenburgischen Ortschaft befindet. Wir sind also da. Eine alte Eiche bietet Schutz vor dem plötzlich einsetzenden Gewitter. Atmo 4, Regen O-Ton 5 In meinem Buch ist es ne Buche, vom Gärtner gepflanzt, der aus der Bukowina, dem Buchenland, kommt. Und wir stehen vorm Schloss Wrodow, das die Vorlage für das Schloss in meinem Buch in Krähnack ist, wie ja auch Wrodow das Vorbild für Krähnack war. Zitatorin: Das Schloss baute sich vor ihm auf wie eine Filmkulisse. Doch das Gebäude war ebenso echt wie der Mord, der hier geschehen war. Schon seit Jahrhunderten stand es an dieser Stelle und würde gewiss noch eine ganze Weile dort stehen bleiben. Ein paar gotische Spitzbögen an den Turmfenstern, runde Säulen im Eingangsbereich, neoromanische Fenster und allerlei barocker Zierrat an der Fassade. Um zu ahnen, dass hier verschiedene Epochen ihre Spuren hinterlassen hatten, benötigte man kein Fachwissen. O-Ton 6 Gerstenberg: Und dann ist da ein Saal angebaut worden, auf dessen Zinnen, so ein kleines verziertes Türmchen, sich ein Storchennest befindet Baxmann: Aha, das ist das Schloss praktisch, das von einem Künstler gekauft wurde? Gerstenberg: Ja, es wurde in meinem Buch nur von einem Künstler gekauft. Hier wurde es von einem Künstler und einem Jugendrichter und seiner Frau gekauft. Die teilen sich das Schloss. Der Turmtrakt auf der linken Seite gehört dem Künstler, der vermietet das. Und die rechte Seite gehört Frank Bauer und Brigitte Gross. Und die machen daraus so eine Art Kunstschloss. Die machen da Veranstaltungen. Atmo 5 (Glocke), Atmo 6 (Publikum) kurz, dann (unter Autor) Autor: Auch an diesem Nachmittag wird das Event traditionell mit einer Kuhglocke eröffnet. Unter dem Motto "Kunstbeben. Eins" werden in den farbenfrohen Räumen expressiv- erotische Bilder eines Spanischen Malers gezeigt. Eine Modedesignerin präsentiert ihre extravaganten Kreationen, aus dem Festsaal dringt Klaviermusik von Ulrich Keßler, einem vergessenen Komponisten des expressionistischen Ausdruckstanzes. Atmo 7 (Klavier live) Klavierkonzert live: Alexis Pope spielt Ulrich Kessler (bereits ab "aus dem Festsaal ..." unter vorherigen Autorentext legen, 30-60 sec stehen lassen bis zum Applaus, dann mit Atmo 8(Treppe) unter Autor verblenden Atmo 8 Treppe (unter Autor) Autor: Nach dem Konzert lädt der pensionierte Jugendrichter Frank Bauer zu einer exklusiven Führung durch das Schloss ein. Sein zentraler Teil wurde bereits im 18. Jahrhundert erbaut. Eigentümer war der Penzliner Stamm des mecklenburgisch vorpommerschen Uradels von Maltzan. O-Ton 7 Bauer: Aber wie das so ist mit diesen Schlössern, die Maltzans waren ewig pleite. Ich kann das mittlerweile gut nachvollziehen. (lacht) Es ist ein rechtes Groschengrab. Dann wurde es 1815 an eine bürgerliche Familie verkauft und zwar an Johann Gottlieb Neumann, einem Pferdehändler aus Friedland, der ist in den napoleonischen Kriegen reich geworden durch den Pferdehandel. Im Besitz dieser Familie ist das Gut dann geblieben bis 1933, bis der letzte Neumann kinderlos starb. Autor: Nach Kriegsende und Enteignung bot das Schloss Unterkunft für Flüchtlinge. Zu DDR-Zeiten nutzte man die Räume als Dorfkonsum, Eieraufkaufstelle und für jede Art von Festen der umliegenden Dörfer. Ab 1987 war das Gebäude dem Verfall preisgegeben. Atmo 9 (Treppe 2) kurz, dann unter Autor Autor: Frank Bauer, ein hagerer und vitaler Mann mit Nickelbrille, steigt die Schlosstreppe hinauf in die nichtöffentlichen Räume, die er gemeinsam mit seiner Frau Brigitte Gross bewohnt. O-Ton 8 Bauer: Da haben wir das Wohnzimmer, den Balkon mit Blick auf den Schlossteich, in dem der tote Buddhist schwamm (lacht). Wir sind in Wrodow, am Ende der Welt! Autor: 1993 hat das Berliner Paar das heruntergekommene Schloss in Wrodow entdeckt. O-Ton 9 Bauer: Im strömenden Regen, es war wirklich ruinös, alle Fenster kaputt, die Tauben raus und rein. Aber auf dem Dach klapperte der Storch. Und dann frage ich meine Frau: Willst du es denn machen? - Ja, das machen wir, aber nicht zum Privatisieren. Wir wollen hier was mit Leuten machen, insbesondere mit Künstlern. Autor: Zusammen mit dem Künstler Sylvester Antony kaufte Frank Bauer das Schloss für 120 000 Mark und sanierten das Gebäude zehn Jahre lang mit eigenen Mitteln. Bald fanden erste Veranstaltungen statt: Theateraufführungen, Konzerte, Ausstellungen, sogar Opernbälle, zu denen hunderte von Gästen aus Berlin anreisten. Freunde halfen beim Ausbau. Auch die Bewohner des 65-Seelen-Dorfes gingen den neuen Schlossherren von Anfang an zur Hand. Die meisten von ihnen sind deutschstämmige Flüchtlinge aus Bessarabien, die nach dem Krieg hier angesiedelt wurden. O-Ton 10 Bauer: Sagt Ihnen das was: Bessarabier? Dieses Gebiet am Schwarzen Meer, wo Katharina die Große nach einem der russisch-türkischen Kriege in das damals wüste Land deutsche Kolonisten geholt hat, und zwar über die Donau, d.h. deutsche Kolonisten aus Süddeutschland? Ja, das ist eine interessante Geschichte. Die mussten 1940 das Land verlassen aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes, weil dieses Gebiet der Sowjetunion zugeschlagen wurde, kamen dann aber nicht nach Deutschland, sondern sollten Polen germanisieren. Da mussten sie naturgemäß 1945 auch wieder weg und haben sich dann aufgrund ihres Zusammengehörigkeitsgefühls, insbesondere ihrer protestantischen Religion, in bestimmten Dörfern wieder gesammelt. In Wrodow das Dorf Teplitz. Die haben dann 1946 alle hier im Schloss gewohnt, 90 Personen, und sind dann allmählich, wenn was frei wurde ins Dorf gezogen und haben sich Stallungen ausgebaut. So dass hier in diesem Dorf also keine Mecklenburger, sondern die Bessarabier und ihre Nachkommen leben. O-Ton 11 Skorzik "Ja, Hallo Hildegard, I bin da, is scho arig spät, aber des macht nix, gell. Du horch amal, Hildegard, wir wir jetzt von Bessarabien nach Westpreußen gezogen sind, wie hat die Haupzstadt geheißen, Hildegart? Ostrovova in Bessarabien... O-Ton 11 weiter unter Autor legen Autor: Wenn Anna Skorzik mit ihrer Schwester telefoniert, verfällt sie in ein altertümliches Schwäbisch, den Dialekt, der innerhalb der Familie auch in Mecklenburg noch gesprochen wurde. Anna Skorziks Vorfahren waren von Stuttgart nach Bessarabien ausgewandert. Nach dem Krieg ist sie mit ihren Eltern von Westpreußen über Sachsen nach Wrodow gekommen, wo sich bereits andere Bessarabierfamilien angesiedelt hatten. O-Ton 12 Skorzik: Wir wohnten ja im Schloss oben. In einem Raum haben wir gewohnt, alle sieben Leute, in diesem großen Turmzimmer noch. Dann hat mein Vater gesagt: Nee, wir müssen bauen. Und da ja mein Vater Bauer war, wollte er, so wie das in Bessarabien auch war: halbes Haus Wohnhaus und die andere Hälfte war für die Tiere. Wir hatten Pferde, Kühe, Schweine, Mastrinder. Zwei Jahre haben wir gebaut. Und dann sind wir hier eingezogen. O-Ton 13 Reinhard: Hier in Wrodow haben wir noch Siedlungen gekriegt. Autor: Auch Herbert Reinhardt ist mit seiner Familie aus Bessarabien nach einer langen Flüchtlingsgeschichte im mecklenburgischen Wrodow gelandet. O-Ton 14 Reinhardt: Bodenreform. Hat jeder, wie so die Ecken gerade waren, sechs bis zehn Hektar Acker gekriegt. Drei Familien waren Deutsche, Mecklenburger. Die haben alle mit uns Schwäbisch gesprochen. Die haben die Sprache angenommen. Und die Mecklenburger sind bei uns jetzt alle ausgestorben. Autor: Aber nicht nur Schwäbisch wird im mecklenburgischen Wrodow gesprochen. Bei besonderen Anlässen erklingt sogar die rumänische Nationalhymne aus der Kaiserzeit. O-Ton 15 Wawrik: (singt rumänische Nationalhymne) ... usw. usf. und ein Volkslied noch (singt) "Hai kupile ..." Regie: Gesang weiter unter Autor legen Autor: Der achtzigjährige Gärtner Ambros Wawrik ist in der Bukowina, in den Nordkarpaten, aufgewachsen. Seine Eltern stammen aus Österreich. Nach seiner Ansiedlung in Mecklenburg lebte er in Gemeinschaft mit den Bessarbierdeutschen jahrelang im Wrodower Schloss. O-Ton 16 Wawrik: Wir waren in dieser Zeit nach ´45 zusammengewürfelt in Wrodow. In dieser schweren Zeit haben wir sehr gut zusammengehalten. Wenn einer die Arbeit nicht vollbringen konnte, also er war krank, da kamen die Nachbarn und haben seine Ernte auch reingeholt. Und diese Gemeinschaft ist geblieben in Wrodow bis jetzt. Autor: Wenn Ambros Wawrik von seinem Grundstück aus über den Schlossteich schaut, sieht er Kunstobjekte aus Blech, zum Teil mit Solarfeldern bestückt, ein Außerirdischer ragt acht bis zehn Meter in den mecklenburgischen Himmel hinein. O-Ton 17 Wawrik: Das sind Antony Sylvester seine Skulpturen. Ich bin nicht so für diese Kunst, versteh ich nicht. Ich bin eben ein Naturmensch. Ich geh lieber in den Wald und setz mich dahin und beobachte 'ne Ameise, als wenn ich mir diese Blechdinger angucke, nee. Ich finde das irgendwie - ich weiß nicht. O-Ton 18 Antony: Na ja, man sagt ja immer, Mecklenburg ist ein bisschen rückständig oder so. Die Leute staunen, dass ich das mache, aber sie sind auch nicht spießig, dass sie was dagegen haben. Eigentlich sind alle ganz nett. Autor: Sylvester Antony ist Künstler. Ihm gehört die Turmhälfte des Schlosses. Den Schweinstall hat er zu einer so genannten "Römische Villa" mit Ferienwohnungen ausgebaut. Die weißgetünchten Mauern seiner "Kunsthalle" im ehemaligen Bullenstall sind gespickt mit Zitaten von Joseph Beuys. Auch in Ralph Gerstenbergs Kriminalroman "Das Kreuz von Krähnack" gibt es einen exzentrischen Künstler und Schlossbesitzer. Wie der buddhistische Mönch wird er tot im Schlossteich gefunden, gekreuzigt am Mast eines seiner Kunstobjekte. Zitatorin: "Jesus!", entfuhr es Oeser, als er am Rand des Teiches stand und dem gekreuzigten Schlossherrn in die toten Augen sah. Das Messer steckte ungefähr an der Stelle, an der der Künstler gestern Abend noch eine Rose am Revers getragen hatte. Das Blut, das aus der Wunde über die linke Körperhälfte gelaufen war, hatte sich bereits dunkel verfärbt. Auch die Unterhose, das einzige Bekleidungsstück, das er noch anhatte, war blutdurchtränkt. O-Ton 19 Antony / Baxmann: Antony: Gekreuzigt? Ach, das lehn ich ab, das lehn ich ab. Baxmann: Es ist aber auch mit viel Humor geschrieben. Antony: Na, dann treffen wir uns ja, das ist ja auch hier alles mit viel Humor gemacht. Autor: Sylvester Antony sieht man an, dass er nicht alles bierernst nimmt. Mit seiner silbergrauen Mähne, dem überdimensionierten Brillengestell und der T-Shirt- Aufschrift "R-EVOLUTION - Köpfe werden rollen" wirkt er ein wenig wie Helge Schneider, der einen Künstler mimt. "Cocaine City" heißt die Ausstellung in seiner Kunsthalle. Ein gewisser Hang zu sakralen Selbstinszenierungen scheint ihn mit dem Künstler in Gerstenbergs Roman zu verbinden. Gleich am Eingang hängt ein Selbstporträt mit Heiligenschein. O-Ton 20 Antony / Baxmann: Antony: Sie sehen, der Heilige ist in der Stadt. Und ich habe auch dem Ort versprochen, dass ich jedes Jahr hier ein Wunder vollbringen werde. Garantiert. Baxmann: Das heißt, Sie haben schon Wunder vollbracht. Antony: Ja, also es war so, niemand hat geglaubt, dass das Schloss noch zu retten ist. Niemand hat gedacht, dass aus dem Schweinestall eine Römische Villa entsteht. Und niemand hat gedacht, dass aus dem Rinderstall so etwas entsteht wie Kunst. Ich wurde schon zehnmal totgesagt und fünfmal pleite, aber ich bin noch da. (lacht) Autor: Sylvester Antonys großformatige Bilder sind Übermalungen von Fotos, Inszenierungen städtischer Dekadenz im Neonlichtambiente. Sie sind hier in der Wrodower Kunsthalle entstanden. Bei seinen nächtlichen Fotosessions arbeitete er auch mit Dorfbewohnern zusammen. Als Inspirationsquellen dienen Rammstein, Lady Gaga, Brian Eno oder Peter Sloterdijk, den er "Peter, the Sloter" nennt. Die grellen Großstadtmotive bilden einen starken Kontrast zu der ländlichen Umgebung. O-Ton 21 Antony: Dazu muss man sagen, diese Bilder sind natürlich für meine nächste Ausstellung in Berlin gemacht. Sie werden produziert hier auf dem Lande, weil Bismarck hat ja gesagt: "Die besten Ideen kommen aus der Provinz." Er meinte wahrscheinlich nur sich selbst, aber das macht nichts. Und mit den Leuten hier produziere ich das alles. Und das ist eben das Schöne, also, es ist eine Transformation vom Dorf in die Stadt und zurück. Musik 3: WILCO - "YOU AND I" (von Margarete) Interpret: Wilco Titel: You and I CD: Wilco The Album Komponist: Jeff Tweedy Text: Jeff Tweedy LC/Best.-Nr.: LC0322 DLR-Archiv#: 6096633 Atmo 9 Auto kurz, dann unter O-Ton O-Ton 22 Baxmann / Gerstenberg: Gerstenberg: Er erfährt, dass es in der Nähe von Krähnack ein buddhistisches Kloster gibt. Und es geht ja um einen ermordeten Buddhisten, also liegt natürlich der Verdacht nahe, dass dieser Mann zu diesem Kloster gehört. Baxmann: Und für dieses Kloster gibt es auch tatsächlich eine Entsprechung in der Wirklichkeit? Gerstenberg: Ja, im Brandenburgischen, nördlich von Berlin. Buddhismus in Brandenburg! Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das ohne Probleme abgeht. Da gibt's ja auch den Pfarrer, der ja da auch so sein religiöses Hoheitsrecht quasi hat. Wie geht der mit der religiösen Konkurrenz um? So was hat mich einfach interessiert. Und das Schöne an der Fiktion ist ja, dass man die Konflikte zuspitzen kann, um sie etwas deutlicher zu machen. Autor: Am nächsten Morgen sind wir schon ab sechs Uhr früh unterwegs. Ralph Gerstenberg leitet mich über die nebligen Straßen Brandenburgs zur Klosterschule Ganden Tashi Choeling, das einzige hell erleuchtete Gebäude in der Dunkelheit eines kleinen Dorfes. Atmo 10, Auto/Anhalten/Handbremse unter letzte Worte einblenden O-Ton 23 Baxmann / Gerstenberg Gerstenberg: Wir sind jetzt in Päwesin. Das ist nördlich von Potsdam, und wir stehen hier auf der Hauptstraße vor einem etwas größeren Haus. Darin befindet sich ein buddhistisches Kloster. Baxmann: Aber wie ein Kloster sieht das jetzt nicht aus. Gerstenberg: Nee, die nutzen offenbar einfach die Gebäude, die hier schon immer standen. Baxmann: Sieht aus wie die ehemalige kleine Grundschule. Gerstenberg: Oder so ein Amtsgebäude, so aus frühem 20. Jahrhundert. Ist jetzt auch an der Hauptstraße, gar nicht so klösterlich abgeschieden. Atmo 11 Eintritt Kloster und Schuhe wechseln (kurz, dann unter Autor) Autor: Ein junger Mann mit kahlrasiertem Kopf in traditionellem tibetischem Gewand bittet uns freundlich herein. Während wir die Schuhe ausziehen, erfahren wir, dass das Gebäude vormals als Dorfgasthof gedient hat. In dem zur Gompa, dem Gebetsraum, umfunktionierten ehemaligen Festsaal, findet auch schon das einstündige Morgengebet statt. Meditiert wird auf Tibetisch und Deutsch. Atmo 12 Meditation, deutsch ca. 25´´ frei, dann unter Zitatorin Zitatorin: Die Mönche und Nonnen knieten mit geschlossenen Augen auf dem Boden und meditierten. Die Männer rechts, die Frauen links. Ihre Köpfe waren kahl geschoren und sie kleideten sich genauso, wie es der Tote getan hatte - mit einem Gewand aus rotem Leinen und einem orangegelben Tuch über der Schulter. (Ab hier Stille in Atmo) Auf einmal wurde es still im Gebetsraum. Oeser fragte sich, woher jeder wusste, wann Schluss war mit dem Gesinge. Hatte einer der Mönche ein Zeichen gegeben? Dann setzte der Gesang wieder ein. Atmo (noch 12 bei 1´07 ) Meditation mit Glocke (ca. 15 sec, dann unter O-Ton) O-Ton 24 Kyabchok Das ist ganz genau festgelegt, wann wer was wie macht. Die Glocken sind nicht irgendwann mal gespielt, sondern sie sind eine bestimmte Darbringung, eine Klangdarbringung, die man an gewissen Stellen dann eben auch anwendet. Und wie der Ablauf der Gebete ist, das ist auch genau abgestimmt und wir rezitieren jeden Morgen. Autor: Losang Kyabchok lebt seit zirka zwölf Jahren in der Klosterschule. Davor war der neununddreißigjährige Mönch Schauspieler. Heute bewohnt er - wahrhaft mönchisch - mit einem Hund ein kleines Zimmer, das sich in einem der einzeln stehenden Nebengebäude auf der weitläufigen Parkanlage des Klosters befindet. Der Tagesablauf ist festgeschrieben und wird streng eingehalten. Atmo 13, Vögel unter letzte Worte O-Ton 25 Kyabchok: Nachdem die Vorbereitungen getroffen wurden - wie Darbringungen oder Frühstück vorbereiten oder mit den Hunden die erste Runde Gassi zu gehen usw. -, dann sind sieben Uhr die Gebete, dann haben wir von acht bis halb neun Frühstückszeit, von halb neun bis um neu eine so genannte Putzroutine, dann haben wir mitunter auch Studium, das ist aber nicht an jedem Tag vormittags. Und wenn das nicht der Fall ist, dann gehen wir alle unseren täglichen Arbeiten nach. Die einen Arbeiten in der Küche, bereiten das Mittagessen vor, die anderen sind im Garten tätig oder im Bau, der Erhalt des Klosters muss gewährleistet sein. Oder auch ausgebaut. Hier dieser kleine Tempel ist errichtet worden usw. nur als Beispiel. Zitatorin: Oeser hatte im Büro den Tagesablauf der Klosterinsassen studiert, der auf einem Din-A-4-Blatt an die Wand geklebt worden war. Nach dem Mittagessen wurde wieder meditiert und gearbeitet - bis zum Abendessen. Danach standen wiederum Meditation sowie das Studium der edlen Wahrheiten auf dem Programm - welche auch immer das sein mochten. Der Klosterchor hatte im Esssaal mit seiner Probe begonnen. Musik 4: Klosterchor "Vajrasattva Mantra" / Eigenaufnahme (Intro unter letzten Satz "Zitatorin", ca. 1 min stehen lassen, dann unter Autor ausblenden) Autor: Die spirituelle Leitung der Buddhistischen Klosterschule in Päwesin hat Lama Dechen Losang Chöma. Die 1953 als Carola Däumichen geborene Meisterin unterrichtet zirka 30 Ordinierte und 15 Laien in der Gelugpa-Tradition des tibetischen Buddhismus. Gebäude und Grundstück sollen, abgeschlossen von der übrigen Welt, dem intensiven Studium und Praktikum der reinen Lehre Buddhas dienen, dazu zählen auch die täglichen Verrichtungen in Haus und Garten. Leben ist ein ständiges Lernen. In diesem Sinne ist auch der Begriff "Klosterschule" zu verstehen. Der Weg zur Ordination als Mönch oder Nonne ist lang und mit einem normalen bürgerlichen Leben auf Dauer nicht vereinbar. O- Ton 26 Lama Dechen Also Teilzeitmönch oder -nonne kann man nicht sein. Und jede Person, die hier um Ordination, um Aufnahme in den Orden bittet, muss also mindestens ein Jahr mit uns zusammen leben. In der Zeit sind mehrere auch schon gewesen, die gesagt haben: Nee, das pack ich nicht, das ist nix für mich. Und das ist es dann. Autor: Nicht nur Freundeskreise und berufliche Karrieren werden gegen das Leben in der buddhistischen Klostergemeinschaft eingetauscht, auch das äußere Erscheinungsbild muss dem spirituellen Lebensmodell angepasst werden. Mit kurz geschorenen Haaren und Robe wird ein Buddhist im Straßenbild zwangsläufig kenntlich. Und wenn eine ganze Gemeinschaft von anders aussehenden Menschen in ein brandenburgisches Dorf zieht, bleiben Konflikte mit den Alteingesessenen nicht aus. O-Ton 27 Lama Dechen Der krasseste Fall war am Anfang, als wir auf dem Hof standen und ein Fenster irgendwo aufging: Eh bist du schwul da drüben? Also das war dann hässlich, ja. Wir hatten am Anfang tote Kaninchen vor der Türe, wir hatten auch Konfrontationen mit so genannten Nazi-gesonnenen Menschen. Wo wir dann gesagt haben, jetzt müssen wir hier ein Zeichen setzen, denn wir haben festgestellt, die Leute in der Dorfgemeinschaft drum rum hatten auch Ängste. Und dann kam der Punkt, wo ich sagte: Jetzt ist Schluss. Und dann haben wir uns auch an die Polizei ganz klar gewandt. Und auf einmal haben manche Menschen auch gemerkt, es ist gut, mal den Mund aufzumachen, und haben sich dann auch an uns gewandt aus der Gemeinschaft des Dorfes und haben gesagt: Endlich sagt mal jemand was. Und so konnte sich das eine oder andere lösen. Atmo: Hundebellen kurz, dann unter Autor Autor: Fünfzehn, größtenteils aus dem Tierheim adoptierte Hunde komplettieren die Klostergemeinschaft. Buddhisten haben ein großes Herz für die leidende Kreatur. Den Lebensunterhalt für sich und seinen vierbeinigen Mitbewohner muss sich jeder Klosterbewohner selbst verdienen. 500 Euro, einschließlich Krankenversicherung, reichen für das spartanische Leben hinter den Klostermauern. Doch im Umland gibt es wenig Jobs. O-Ton 28 Lama Dechen Wir kriegen keinerlei Unterstützung, weder von irgendwelchen ausländischen Organisationen, noch von irgendjemand, sondern die Leute müssen gucken, wie sie ihren Alltag fristen. Und da haben wir mal die Problematik der Infrastruktur, die Problematik der Gesellschaft und unsere mal versucht, auf den Tisch zu packen, und haben gesagt, wir suchen einen einfachen Weg, wie wir auf die Leute zugehen können, indem wir ihnen was anbieten, ohne dass die Leute das Gefühl haben, es geht hier um Buddhismus und sie haben irgendwelche Anbindungen oder ähnliche Dinge. Und ich muss sagen, das hat funktioniert. Atmo 14 Friseur, Klopfen, "Schönen guten Tag", danach unter Autor Autor: Der Friseurladen "Hairstyle" ist zirka acht Quadratmeter groß und der einzige in der der Umgebung. Unter der Trockenhaube sitzt eine 94jährige Päwesinerin. Einer etwas jüngeren Kundin werden gerade die Haare geschnitten. Die Friseurmeisterin selbst ist kahlköpfig. An der Wand hängt ein Meisterbrief aus dem Saarland. Bevor Losang Padma buddhistische Nonne wurde, betrieb sie in ihrer Heimat einen Friseursalon mit Angestellten. Den Buddhismus in Brandenburg studierte sie zunächst nebenbei und aus der Ferne. O-Ton 29 Losang Padma Und immer wenn ich Urlaub hatte, bin ich dann in die Klosterschule und hab Arbeitsferien gemacht. Und es war halt so, dass ich mich immer mehr zugehörig oder zu Hause gefühlt hab und dann irgendwann für mich der Entschluss kam, ich möchte gern dorthin ziehen. Und der Entschluss, Nonne zu werden, ist dann im Kloster entstanden. Als ich als Laienperson dort gelebt habe, war's für mich ganz klar, den Weg zu gehen, was ich bisher nicht bereut habe, weil ich fühl mich sehr wohl und freudig und vermiss da überhaupt nichts, was da an weltlichen Aktivitäten ich vorher getan habe. Ja. O-Ton 30 Kundin Was Besseres hätte uns hier im Ort nicht passieren können. Ist immer sehr angenehm hier. Meine Enkelkinder aus Wustermark kommen sogar hierher zum Friseur. Die wollen nirgendwo anders mehr hin. Wir haben Fragen, jeder hat seinen Glauben und wir haben es so oft, dass wir uns untereinander austauschen. Ich bin evangelisch ... ne, wir verstehen uns sehr gut. - Auf jeden Fall. Atmo 15 O-Ton im Backshop (Baxmann: "So, ich nehm einen Spritzkuchen bitte...", dann unter Autor) Autor: "Back-Wahn" heißt der Backshop, der sich gleich neben dem Friseurladen befindet und ebenfalls von der buddhistischen Klosterschule betrieben wird. Im Laden bedient die Novizin-Schülerin Sandra, eine junge Frau mit wachen Augen. O-Ton 31 Sandra / Baxmann Novizin-Schülerin heißt, dass ich gerne Nonne werden will. Ich hab aber noch ein Jahr Zeit, mich auf ein Leben vorzubereiten als Nonne, ein bisschen zu üben sozusagen, und dann, wenn die Ordination kommt, bin ich offiziell eine Nonne. Ich hab zwei Töchter, die eine ist drei Jahre und die andere ist vier Jahre alt. Ich würde ja behaupten, denen geht es besser, als wenn wir nicht im Kloster leben würden, denn sie haben eine große Familie. Baxmann: Und Sie sind von Hause aus aber Bäckerin? Sandra: Nein, ich hab was anderes gelernt. Es gibt eine Bäckerin, die hervorragend diese Kuchen herstellt, wobei wir uns nicht Konditorei nennen, sondern wir sind ein Backshop. Und den Kuchen, den backen wir selbst ... (ab hier unter Autor) Autor: Während ich mit der buddhistischen Backshopverkäuferin plaudere und den wirklich hervorragenden Kuchen probiere, setzen sich drei Männer an den Tisch vor dem Laden und bestellen Kaffee. Von Sandra erfahre ich, dass es sich dabei um den amtierenden Bürgermeister, seinen Amtsvorgänger und den Dorfchronisten handelt. O-Ton 32 Bürgermeisterrunde Ex-Bürgermeister: 'n komischet Jefühl wart doch. Wenn man mit so wat noch nicht konfrontiert wurde: Wat kommt jetz' uff uns druff zu? Buddhisten? Dit war ooch mit Skepsis erstmal von außen zu betrachten, aber mittlerweile hat man sich a.) dran jewöhnt, b.) waren alles freundliche Leute, c.) sind keenem uff'n Jeist jejangen, sag ick mal so. Und da war diese Skepsis nach hinten jedrängt erstmal. Dit einzigste wat mich persönlich stört sind die vielen Hunde im Dorf, muss ick ooch an dieser Stelle sagen. Bürgermeister: Aber wat man in den letzten Jahren auch einfach positiv bewerten muss, ist einfach, dass die Klosterschule sich ins gemeinschaftliche Leben integriert hat. Einmal die Bäckerei, die hier eröffnet hat, der Friseursalon, der sehr gut angenommen wird. Auch die Bäckerei wird sehr gut angenommen. Ansonsten muss man sagen: Umfeld, Umgangsformen, Verhältnis zur Klosterschule, da ist keiner, der sich darüber irgendwie mokiert. Dorfchronist: Es war zu Anfang auch die Befürchtung, dass es keine Religion, sondern eine Sekte ist. Und diese Befürchtungen wurden eben auch zerstreut, dass es halt klar ist, die gehören der buddhistischen Schule an. Und da ist auch etwas Beruhigung eingetreten. Und sie gehen eben nicht von Haustür zu Haustür und versuchen zu missionieren. Die sind ein bisschen für sich, aber schon in der Gemeinschaft angekommen, denke ich. Musik 5: Laibach "Across the universe" Interpret: Laibach Titel: Across the universe CD: Let it be Track: 5 Komponist: Lennon / McCartney Text: Lennon / McCartney LC/Best.-Nr.: DLR-Archiv#: Autor: Von dem Buddhistischen Kloster in Päwesin geht es nun wieder in Richtung Norden. Bei Neustrelitz soll es ein verlassenes Militärgelände der ehemaligen sowjetischen Streitkräfte geben, auf dem der Show Down von Ralph Gerstenbergs Kriminalroman stattfindet. O-Ton 33 Gerstenberg / Baxmann Gerstenberg: Das ist ein Ort, an dem eine Autoschieberbande Autos umbaut, um sie dann nach Polen zu verschieben, `ne versteckte Autowerkstatt im Prinzip. Und ich hab überlegt, wo könnten diese Autos so umgebaut werden, und fand es eigentlich sehr schön, eine russische Kaserne zu nehmen, weil die ja mal sehr präsent waren in dieser Region, die russischen Streitkräfte. Und jetzt gibt es eben diese verlassenen Orte, die teilweise auch noch so sind, wie sie verlassen wurden. Baxmann: Was findet dort statt? Gerstenberg: Der Sohn des einen Verdächtigen, der ist in diese Schiebereien verwickelt. Dem folgt der Hauptkommissar und findet diesen verlassenen Ort. Zitatorin: Sie durchfuhren ein dichtes Waldstück, Laub- und Nadelbäume bunt gemischt. Nur wenige Sonnenstrahlen drangen durch die Kronen der Eichen und Buchen, die links und rechts neben der Straße standen wie uralte Riesen. Ungefähr fünf Minuten im Schritttempo, dann erreichten sie eine Lichtung. Vom Waldrand aus blickten sie auf einen See, der aussah, als hätte ihn Gott persönlich dorthin gespuckt. Dahinter tauchten die Ziegeldächer eines Dorfes auf, das Hauptkommissar Oeser nicht auf der Karte finden konnte. Eine asphaltierte Straße, die niemand dort vermutet hätte, führte wieder in den Wald hinein. Bald erschien ein stacheldrahtumzäuntes Gelände mit einem rostigen Tor, ein Wachhäuschen mit herausgeschlagenen Fenstern. Atmo 16 Auto, kurz dann unter Autor Autor: Auch wir biegen von der Bundesstraße in ein Waldstück ein. Die Landschaft samt Ort und See gleicht den Beschreibungen in Gerstenbergs Roman. Auch das umzäunte Gelände, das rostige Tor und das Wachhäuschen befinden sich dort, wie der Autor sie beschrieben hat. Atmo 17 Ausstieg mit voriger überblenden, Atmo 23 Schritte O-Ton 34 Gerstenberg / Baxmann Gerstenberg: "Also das Tor ist mit Stacheldraht zugebunden. Und davor steht ein Transporter mit Autos, die wahrscheinlich nach Polen gebracht werden sollen. Wahrscheinlich ist das Gebiet auch kontaminiert. Es war ja bekannt, dass die auch Ölwechsel ohne Ölwannen und so was gemacht haben. Meistens sind die Böden hier recht verschmutzt. Hier steht auch, dass es munitionsbelastetes Gebiet ist, also man weiß nicht, was sich noch alles so hier befindet. Baxmann: Und wie kommt man jetzt hier rein? Gerstenberg: Na ja, es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als hier über das Tor zu klettern, nehme ich an. Ich glaube kaum, dass wir jetzt jemanden finden werden, der uns hier aufschließt. Baxmann: Klettern wir mal rüber! Atmo 18, Klettern übers Tor (unter Autor) Gerstenberg: Bin ein bisschen aus der Übung. So. Atmo 19 Schritte unter Auto Autor: Auf dem unübersichtlichen Gelände befinden sich Ruinen von Kasernengebäuden, aus deren Fenstern Bäume wachsen. Etwas weiter ein Garagenhof wie in Gesternbergs Roman. O-Ton 35 Gerstenberg / Baxmann Gerstenberg: Große Tore, dahinter haben dann die Autos gestanden oder vielleicht auch schwerere Fahrzeuge. Gucken wir uns mal an. Baxmann: Hier standen wahrscheinlich die Panzer. Gerstenberg: Die waren ja auch immer getarnt, die Gebäude. Die haben ja extra so Waldsiedlungen genommen, um da halt großes Gerät zu verstecken. Baxmann: Aber sonst deutet eigentlich nichts mehr auf Russenkaserne. Gerstenberg: Nee, man sieht keinen roten Stern, man sieht keine kyrillischen Buchstaben, ist alles entfernt worden. Ja, ist eben schon zwanzig Jahre her. Oder wann sind die abgezogen, in den frühen Neunzigern, ne? Baxmann: `92, `93 so die letzten. Gerstenberg: In dem Roman findet ja dann hier auch der Show down statt, da wird ja auch von anderen Gebäuden geschossen auf die Autoschieberbande, die sich da verbarrikadiert hat in dieser Garage. Und das hätte hier so stattfinden können. Zitatorin: Am Ende des Garagenhofes stand ein Baum. Etwas Weißes leuchtete durch das Laub, das für den Hauptkommissar nicht schwer zu identifizieren war: Ein Helm der Einsatzkräfte. "Verschwindet!", brüllte der Bandenchef. "Wir haben Geiseln" "Was genau sind Ihre Forderungen?", erkundigte sich eine Megafonstimme. Im selben Augenblick bemerkte Oeser den Scharfschützen. Der Körper des Mannes schmiegte sich wie ein Salamander, der in der Sonne döste, an das Garagendach. Sein rechtes Auge starrte durch das Zielfernrohr des Präzisionsgewehres. Dann krachte der Schuss. Musik 6: Tom Waits "Russian Dance" ab 28´´ Mit Autor verblenden Interpret: Tom Waits Titel: Russian Dance CD: The Black Rider Track: 10 Komponist: Tom Waits Text: LC/Best.-Nr.: DLR-Archiv#: Autor: Die Ortschaft Fürstensee liegt direkt neben dem ehemaligen Militärgelände. Ein Landgasthof, eine Kirche. Eine Idylle zwischen Wald und See. Ferienwohnungen werden vermietet. Nichts erinnert mehr daran, dass hier in den achtziger Jahren die mit Atomsprengköpfen bestückten Langstreckenraketen vom Typ SS-20 durch die Wälder gefahren wurden. Bereits in den dreißiger und vierziger Jahren diente das Waldstück als Munitionswerk. Die Armee der ehemaligen Sowjetstaaten betrieb hier ein Tanklager und einen regen Tauschhandel mit den Dorfbewohnern. Russensprit gegen Schnaps oder Bares. O-Ton 36 Dorfbewohner Mit der Krankentrage haben die den Sprit über eine zwei Meter hohe Betonmauer geschmissen. Vier Mann, vier Ecken, dann haben die so ein Fass rüber geschmissen. Die haben die auch direkt den Sprit nach Hause gefahren, das 200- Liter-Fass, auch Kanister. Kurz vor der Wende haben sie ganze Lastzüge abgeschmissen mit Sprit, mit Fässern, 200-Liter-Fässer immer. Dann haste die geholt. Und wenn die gestimmt hat, die Ware, haben die das Geld gekriegt dafür. Autor: Fast jeder der etwas älteren Bewohner der Gegend weiß Geschichten von Begegnungen mit den damaligen Waffenbrüdern zu erzählen. O-Ton 37 Ehepaar Habakus Frau: Wenn man ins Dorf reinkommt, ist doch eine Kreuzung. Und da stand ein russischer Soldat mit Fähnchen und leitete die an, wo sie hin sollten. Nun wollten die Einwohner denen was zu essen geben. Nichts. Wir dürfen nicht von euch was annehmen. Und da hat Eberhard Würstchen gekauft im Laden, damals gab's 'nen Konsum noch, ist hinter ihm rum geschlichen und hat von hinten die Würstchen in seine Tasche gesteckt. Und dann hat er in die Tasche gegriffen und dann hat er aber geschmatzt. Mann: Die Jungs, die wurden ja manchmal tagelang nicht abgelöst. O-Ton 38 Achsnick Im Sommer gab's dann die Panzerverlegeübungen. Da gab's also Punkte, wo die Reguliererposten, die sowjetischen Soldaten, abgesetzt wurden und dann wusste man, irgendwann jetzt kommen auch die Panzer. Aber das konnte sich noch zwei Wochen hinziehen, dass die Regulierer da saßen und sich ihr Feuerchen gemacht haben, sich selbst verpflegen mussten. Und da sieht man noch die einfach ausgehobenen Mannlöcher. Darin haben die auch geschlafen, also die hatten jetzt nicht ein Zelt oder so was. Es sei denn sie hatten selbst noch ein Fahrzeug mit, in dem sie geschlafen haben. Und da war's dann schon so, dass die irgendwann wussten: Ach heute kommt keiner mehr. Und sind dann mit ihrem Panzer als Dienstfahrzeug so ein bisschen rum gefahren und da gab's dann auch mal Kontakt, also dass die einen besucht haben, zu siebend zu acht. Ich kann mich noch erinnern, einmal war's, da haben sie auch ganz schön getrunken, und das war alles auch ganz lustig und am nächsten Tag dachte ich, nee, heute habe ich überhaupt gar keine Lust. Habe ich überall Licht ausgemacht, ich bin nicht da! War nachts um Zehn oder so, hörte ich schon wie sie an der Bahnstrecke gestartet sind mit dem Panzer. Dachte ich, hoffentlich kommen die nicht zu mir. Und was war? Dann drehten sie mit dem Panzer, quietschten und dann an alle Fensterläden: Oh, Towarisch, Towarisch - ich dachte, nee, ich hatte zwei Flaschen Rum mir abgespart und die hatten sie doch gestern schon ausgetrunken. Hier ist nichts mehr! Dachte ich, nein, nicht aufmachen und irgendwann, na, OK, bevor die hier noch auf dumme Ideen kommen, bin ich raus gegangen und sie ganz freudestrahlend hatten selber Flaschen mit und haben gesagt, wir trinken, Towarisch, komm. So und dann ging's wieder los und im Nachgang sehr lustig, aber es war im Alltag dann manchmal auch ein bisschen belastend. Musik (von Schluss) unter letzte beiden Sätze einblenden, kurz frei stehen lassen bis Ende Musik: entweder Musik 6 oder 7 O-Ton 39 Frau Habakus Ein Manöver. Und da kam eine große Kolonne Panzer, 21 Stück. Und der Weg war miserabel. O-Ton 40 Achsnik Und da ist es mal passiert, dass ein Panzer stecken geblieben ist oder nicht weiter kam. Jedenfalls haben die anderen Panzer, die dahinter kamen, mit dem Auftrag "Weiter! Weiter" sind dann rechts auf die Wiese, haben gedacht, jetzt überholen wir den. O-Ton 41 Frau Habakus Die bogen seitwärts aus und blieben in der feuchten Wiese stecken. Und schließlich konnte überhaupt keiner mehr durch. O-Ton 42 Achsnik Und die Wiese heißt ja nach wie vor die Panzerwiese, weil die haben die da nicht mehr rausgekiegt. O-Ton 43 Frau Habakus Da sind von allen umliegenden Dörfern deutsche Frauen und Männer gekommen mit Kaffeebehältern und mit Suppe und mit irgendwas, was man essen kann, geschmierte Stullen, und haben es denen hingebracht. Und jeder hatte seinen Panzer. Musik 7 Balalaika Gap, ca 13 sec, dann unter Autor mit Atmo verblenden Interpret: Camper van Beethoven Titel: Balalaika Gap CD: Telephone Free Landslide Victory Track: 21 Komponist: Text: LC/Best.-Nr.: DLR-Archiv#: Autor: Nachdem alle Tatorte besichtigt sind, verlassen wir die Gegend, der Ralph Gerstenberg die Inspirationen für seinen Kriminalroman "Das Kreuz von Krähnack" verdankt. Seen, Wälder und Felder fliegen am Fenster vorbei. Neben manchen Alleebäumen stehen kleine Holzkreuze. Atmo sich beschleunigendes Auto/innen (von Margarete) unter letzte Worte einfahren damit bis Schluss O-Ton 44 spielen, auch unter Zitatorin (Zitatorin hier ohne Musik) am Schluss von OT 44 mit quietschenden Bremsen abschließen Autor: Unwillkürlich denke ich an den Schluss von Gerstenbergs Krimi, an dem sein Ermittler als Beifahrer im Wagen des überführten Täters auf einen Baum am Straßenrand zu rast. Zitatorin: Oeser versuchte, den Sicherheitsgurt zu lösen, doch der Verschluss klemmte. Panisch drückte er auf den roten Knopf und riss an der Metalllasche, während der Wagen an Tempo gewann. Das weiße Rechteck an dem Baumstamm auf den sie zurasten, wurde immer größer. Ein Auto kam ihnen entgegen. Nicht so, dachte Oeser. Nicht so verrecken! O-Ton 44 Gerstenberg Äh, können wir vielleicht etwas langsamer fahren? Sprecherin: "Spurensuche im märkischen Land" Tatorte zwischen Schorfheide und Mecklenburg Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Matthias Baxmann Sprecherin: Barbara Becker Ton: Ralf Perz Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2011 Manuskript und eine Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de 1