COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandrundfahrt Der lange Weg ins Paradies Völklingen im Saarland Eine Sendung von Christa Schmidt 13. Juli 2013, 11.05 Uhr Ton: Peter Seyffert Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2014 Atmo Hüttenlärm CD track 9, Kokerei Autorin 103 Jahre war über Völklingen keine Sonne zu sehen – nur eine fahle Scheibe im dunstigen Grau. Jeden Tag verteilten sich dreißig Tonnen Staub über der Stadt. Wenn Abstiche in den Hochöfen gemacht wurden, sah es aus, als würde das Tal brennen... 1. Atmo Hüttenlärm CD track 5, Möllerhalle, ab 0:17 01 Zitator: (Joseph Roth, 1927, S.75, Briefe aus Deutschland) Aus dem Werk flammt es gegen den Himmel. Eine ständige, regelmäßige, daseinserhaltende Katastrophe. 2. Atmo Hüttenlärm CD track 9, Kokerei, ab 0:12 Autorin Was der Schriftsteller Joseph Roth 1927 als Katastrophe wahrnahm, ist heute Weltkulturerbe – ein begehbares Denkmal und eine grandiose Kulisse für Kunstausstellungen und Konzerte. Über die Magie eines Ortes, an dem ein paradoxes Kunststück gelingt: Eine Flamme am Brennen zu halten, die längst gelöscht ist. Kennmelodie Sprecher vom Dienst Der lange Weg ins Paradies Völklingen im Saarland Eine Deutschlandrundfahrt von Christa Schmidt 1. Musikakzent Nicolas Lens, Feuerrequiem, flamma, flamma Langsam ausblenden darüber 3. Atmo Gerüsteabbau 140522 02, ab 0:30 darüber 1. O-Ton Hendrik Kersten, track 52, 0:25–0:33 Völklingen hat eine sehr interessante Eigenschaft, die Stadt liegt nicht etwa am Fluss, sondern die Stadt liegt am Eisenwerk und das Eisenwerk liegt am Fluss. Autorin Die runden Kuppeln der Winderhitzer ragen aus dem Saartal empor, Hochöfen, Schlote, konturiert von fünf spitzen Winkeln aus Gasleitungen. Am 4. Juli 1986 um 12.30 Uhr wurde der letzte Hochofen der Völklinger Hütte stillgelegt. Was blieb, ist eine Riesenplastik, hunderte von Metern lang. Gearbeitet wird auf dem 6 Hektar großen Gelände immer noch, um den rostigen Koloss zu erhalten. 4. Atmo Schulklasse 140522 03 ab 0:30 darüber Autorin Vor dem gigantischen Rohrleitungssystem stehe ich fassungslos, mit Hendrik Kersten, einem Kunsthistoriker, der seit vielen Jahren Besucher über das Gelände führt. 4. Atmo Ende 2. O-Ton Hendrik Kersten (Folder 01, 140522 11 ab 0:04) Ja, das ist eine schöne Ecke hier zum Durchatmen, relativ geräuscharm, es ist ja heute auch schönes Wetter... wir stehen unter dem Schrägaufzug und das ist natürlich ein welteinmaliges Monster, man kann`s nicht anders nennen, heute ganz still und man kann (natürlich) ahnen, dass all diese Drähte und dicken Seile irgendwann einmal in Funktion waren und ein infernalisches Gequietsche von sich gegeben haben, also so hundert Ferkel mit Mega-Verstärker, so muss man sich das vorstellen, 24 Stunden lang ununterbrochene Geräuschkulisse, die über die Stadt ging, je nach Windrichtung und das waren die Völklinger natürlich gewöhnt, die hatten ein Ohr immer auf die Hütte, Tourenabfall, Gebläse, oder dieser Schrägaufzug, der immer funktionieren musste, das ist so die Blutbahn dieser Hütte, ohne die geht nix und das ist tatsächlich wahr, 24 Stunden, 100 Jahre ununterbrochener Betrieb. Autorin Und dann war es plötzlich totenstill. Die sozialen Folgen waren verheerend. Achttausend Menschen verloren ihren Arbeitsplatz und in der ersten Zeit hatten viele Völklinger Schlafstörungen, nicht nur wegen existenzieller Sorgen. An den beständigen Lärm gewöhnt, war die plötzliche Stille für sie nur schwer auszuhalten. 6. Atmo Schritte auf Metalltreppen, Treppensteigen ,Track 140522_ 44 1:25-1:50 darüber Autorin Unternehmer und Gewerkschafter waren sich einig: Der alte Schrott muss weg, wir machen das alles platt! – Von wegen! Es ging weiter! Acht Jahre nach seiner Stilllegung, 1994, ist das Eisenwerk von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt worden, als erstes Industriedenkmal der Welt, gleichbedeutend mit den ägyptischen Pyramiden, dem indischen Tadsch Mahal. 6. Atmo/ Blende 3. O-Ton Hendrik Kersten track 33 , 0:05 – 0:29 Ja, das war schon ne dreiste Unternehmung, die Völklinger Hütte als proletarischen Emporkömmling neben die anerkannten Werke der großen Kunst der Welt, der Menschheit zu stellen, als Kumpel neben die Pyramiden, oder als Genosse neben die Kölner Dome, das ist erklärungsbedürftig..... 7. Atmo Glocken track 140522_ 21 0:00 -0:10 darüber Autorin Zu einer Erklärung kommt es noch nicht. Wie das paradoxe Kunststück geglückt ist, eine Flamme am Brennen zu halten, die schon gelöscht war, erfahre ich später, denn plötzlich landen wir an einem kleinen, romantischen Steg. 4. O-Ton Hendrik Kersten, track 140522_ 09, 0:09 – 0:48 Ja, hier stehen wir eigentlich ziemlich unvermittelt vor dem Zimmer mit der Aufschrift „Trauzimmer“, Standesamt Völklingen, was da nicht steht ist, das Standesamt ist natürlich ganz woanders, aber wir auf der Hütte sind ein ganz beliebter Heiratsstandort geworden. Nachdem sich das rumgesprochen hat, dass man sich hier trauen kann, stolpert man hier nur so über die Bräute, die an allen Ecken und Enden stehen und schöne Fotos machen und das ist ein Paradies für Verheiratete, oder die sich trauen wollen und Fotografen, die ihren Spaß daran haben. Bessere Motive kriegen sie natürlich gar nicht und da stehen die Paare aus ganz Deutschland Schlange, um in Völklingen zu heiraten. 5. O-Ton 140522_10 ab 0:08-0:29 Christa Schmidt: Wer kam denn auf diese Idee? Hendrik Kersten: So was passiert immer zufällig. Das originale Völklinger Trauzimmer im Rathaus war nicht zugänglich, die hatten Baumaßnahmen und haben einfach angefragt, können wir das bei euch machen, und wir haben gesagt, ja, warum nicht, machen wir, und dass das dann so ein Erfolg wird, war wirklich niemandem klar und jetzt ist das Trauzimmer sozusagen dauerhaft zu uns verlegt. Autorin Nicht nur das Standesamt, auch Ausstellungshallen und ein Konzertsaal verbergen sich in der ehemaligen Eisenhütte, diesem „welteinmaligen Monster“, vor dem man ameisengleich steht, einigermaßen eingeschüchert. An manchen Stellen schaut man wie in eine Bauchhöhle hinein, sieht Darmschlingen, fast chirurgische Einblicke, und die Möllerhalle ist tatsächlich so etwas wie der Bauch der Hütte. Hier lagerten einst 12.000 Tonnen Rohstoffe, ein Riesengebäude, 150 Meter lang. Alles ist offen, Traum und Albtraum für Ausstellungsmacher, auch die Höhe. 6. O-Ton Hendrik Kersten (track 14, 0:24 – 0:41) Hier sind schnell mal 10 oder 12 Meter erreicht und wenn man hier was aufhängen will, heißt das natürlich irgendwie Seile von oben nach unten spannen und die fliegen nicht von alleine, also ist die Frage, wie kommt man dahin: mit Kletterern? Wird `n teurer Spaß und die einfachste Variante ist in so einem Fall einfach: Flitzebogen. Autorin Mit Pfeil und Bogen über die 10m hohen Eisenträger Stahlseile zu schießen, um daran Bilder aufzuhängen, solche Ideen zieht der Kunsthistoriker öfter aus der Tasche, Lösungen für ziemlich ungewöhnliche Probleme mit denen er hier immer wieder zu tun hat, in der, wie er sagt, verrücktesten Ausstellungshalle, die man sich vorstellen kann, – diesem gigantischen Stahlbetongebäude, dessen Wände Geschichten erzählen. 7. O-Ton Hendrik Kersten, track 15, (0:06 – 0:56) Ja, wenn man vor so `ner Wand steht, ...., dann ist man natürlich fasziniert, irgendwo wird man im Laufe der Zeit auch nach dieser Ästhetik `n bisschen süchtig. Dass man das jetzt zu Hause im Wohnzimmer haben will, kann ich nicht sagen, da wär meine Frau auch nicht sehr begeistert, wahrscheinlich. Ich für meinen Teil sehe da oft fast sowas wie Kunstwerke drin, also wenn man da n Rahmen drumhängt hier, einfach an ner stinknormalen Wand im Gebläsehaus oder hier in der Möllerhalle, dann hat man eigentlich fast ein fertiges, sehr speziell-ästhetisches Kunstwerk. Das ist natürlich Zufall, das ist einfach so entstanden, wie hier jahrzehntelang Erz die Wände heruntergebrochen ist und seine Spuren hinterlassen hat, und die werden nach wie vor erzählt. 8. Atmo Schulklasse 140522_05 ab 0:33 langsam ausblenden Autorin Zur Gebläsehalle, dem anderen Veranstaltungsort der Völklinger Hütte, gelangen wir über eine überdachte, mit Holz verschalte Brücke, geeignet für Schulklassen, die wie die Bräute hier an allen Ecken auftauchen. Früher war diese Brücke nur ein Steg, ein Wartungssteg, über den man eher balancieren musste. Wie eine Wand schlägt uns ein warmer, öliger Geruch entgegen, eine Spur der alten Zeit. Nicht nur die Wände sind noch gesättigt von dem Öl, auch die Gebläse, die jahrzehntelang Heißluft in die Hochöfen pumpten. 80 Liter Öl brauchte eine Maschine am Tag. Es war 60 Grad heiß und die Böden waren rutschig. Heute herrscht hier, abgesehen von der öligen Luft, die klassische Ausstellungsatmosphäre. Statt dem Quietschen, Dröhnen und Fauchen der Maschinen, sinnlich erfahrbar, 60 Jahre Pop-Kultur: die Love-Parade, ein Nierentisch, eine Picassotapete, oder ein alter Waschmittelkarton. 8. O-Ton Hendrik Kersten, track 30, 0:06 – 0:44 Ja, im Grunde ist es so wie der Andy Warhol seinen Waschmittelkarton auf den Sockel der Galerie gestellt hat und behauptet hat: DAS ist Kunst, das ist relevant, das ist für unsere Gegenwart von viel größerem Belang als, was weiß ich, noch ne Mona Lisa...., das ist das Credo der Pop-Kultur und das ist bei uns ähnlich. Wir sind im Grunde als große Völklinger Hütte sowas wie n Waschmittelkarton, der auf n Sockel gestellt wird und uns dann als proletarisches Etwas, als Gebrauchsgegenstand durchsetzen müssen und gleichzeitig verbrüdern mit anerkannten, großen Kunstwerken. 2. Musik Beatles „Can’t buy me love“ Autorin Im alten Völklinger Bahnhofsviertel ist von dem historischen Kneipenareal nichts mehr zu sehen. Über 90 „Verkaufsstellen geistiger Getränke“ wurden in den Unterlagen der Stadt Völklingen gelistet. Mitte der 1980er Jahre wurde ein großes Einkaufszentrum als Stadttor über die ehemaligen Hüttenkneipen gebaut – dort wo einst der „Schichtwechselmythos“ entstanden ist. Jeder Arbeiter hatte seine Kneipe, wo er „dahemm“ war. Zwischen lila, knallgrün und quietschgelb gestrichenen Häusern entdecke ich die „Hüttenschänke“, eine der letzten verbliebenen Arbeiterkneipen. 9. Atmo Hüttenschänke, 140522_76 ab 0:37 darüber Autorin An der Theke – entspannte Wohnzimmeratmosphäre, im Speiseraum – mit Parkett ausgelegt und weißen Kugelleuchten über den Tischen – beherrscht ein großes, auf die Wand gemaltes Gemälde die Atmosphäre: Der gigantische Organismus des Stahlwerks, mit wie Rüsseln aufragenden, rauchenden Hochofenschloten der Völklinger Hütte. 10. Atmo track folder 02 140523_ 33, ein Gast kommt herein, Essen 0:20-0:30 Autorin Der Wirt, Dieter Baldauf, ehemaliger Postbeamter, kocht auch selbst, und setzt sich, gleich nachdem er aus der Küche kommt, zu mir an einen Tisch im Speiseraum. 9. O-Ton Dieter Baldauf, track 77, 0:10:0:37 Ich bin also hier im Gasthaus Hüttenschänke auf die Welt gekommen. Und meine Eltern haben das Ganze 1958 erbaut, und 1960 wurde dann diese Kneipe eröffnet und ich bin quasi mit dem Dreirad hier in der Kneipe rumgefahren und habe die Gäste sozusagen schon genervt als Kind. 11. Atmo Hüttenschänke 140522_76 ab 0:10 Darüber Autorin: Ein paar Jahre später hat Dieter Baldauf nicht mehr genervt, sondern sich im Gasthaus der Eltern nützlich gemacht. 10. O-Ton Dieter Baldauf, track 78, 0:04- 0:36 So dann in den 70ern, als wir zur Schule gingen, mussten wir als erstes morgens um halb 6 abwechselnd, wir waren drei Brüder, mithelfen, hier am Buffet Gläser spülen oder halt irgendwo gucken, dass alles richtig laufen tut. Die Oma saß in der Küche und machte Hackschnittchen, und wir halfen dann so gut es ging, bevor wir in die Schule gingen. 12. Atmo Hüttenschänke 140522_76 ab 0:20 darüber Autorin Früh um 7 war der erste Schichtwechsel des Tages rum. Hütte und Kneipenviertel bildeten einst ein siamesisches Zwillingspärchen. Die 8 Torhäuser des Werkes müssen von oben betrachtet wie ein Organismus gewirkt haben, der Menschen rhythmisch ansaugt und ausspuckt. Wenn tausende Männer aus den Toren zu ihrer Kneipe strömten, wo sie „dahemm“ waren, gab es erstaunlicherweise kein Chaos. Es war ein überschaubares Ritual, das in seinen feinen Verästelungen erlernt und korrekt vollzogen werden musste. 11. O-Ton Dieter Baldauf, track 79, 0:00-0:40 Als die Hütte noch boomte, da waren hier 25 000 Mitarbeiter tätig und im Gegensatz zu heute ist das natürlich jede Menge gewesen. Und da war morgens um 6, mittags um 2 und abends um 10 jede Menge bei uns los. Wir mussten mit 3 Mann Personal das Buffet bewältigen. Die standen in Dreierreihen um unser Buffet und jeder wollte dann 3 Bier, einen Schnaps und ein Hackschnittchen, bevor die Busse bei uns vor der Tür, oder in der Hochstadtstraße, wo wir auch noch einen Ausgang hatten, abgefahren sind. 13. Atmo Hüttenschänke 140522_76 ab 0:50 darüber Autorin Es gab nicht nur Hackschnittchen, auch Krokodile – so hießen die Kümmelstangen, längs aufgeschnitten und mit Käse belegt. Wenn der Zeitpunkt der Abfahrt nahte, setzten sich die Männer gemeinsam in Bewegung wie ein Block. In der Hütte, auf dem Werksgelände, war Alkohol absolut verboten – hier wurde Tee getrunken, 5 Liter am Tag. Der Flüssigkeitsbedarf, besonders an den heißen Arbeitsplätzen wie am Hochofen, war enorm. Dieter Baldauf hat Gäste, die sich an diese Betriebszeiten noch erinnern. 12. O-Ton Dieter Baldauf, track 80, 0:35-0:54 Und wir freuen uns dann immer wieder, wenn diese Gäste bei uns heute noch vorbeischauen. Und manche haben sich verändert, manche muss man dann fragen, wer bist du, oder woher kennen wir uns, aber irgendwie sind’s immer noch diese Gäste, die früher bei meinen Eltern schon da waren. Autorin Dieter Baldauf ist nicht nur Gastwirt, der bis vor einigen Jahren auch noch als Postbeamter gearbeitet hat, sondern auch Musiker, der Schlager liebt und eine eigene Kapelle hat. 13. O-Ton, Baldauf, track 81, 0:00-0:36 Wenn man also zurückdenkt, welche Musik damals gelaufen ist und die Musik, die heute im Radio abläuft, sind das natürlich zwei ganz unterschiedliche Sachen, weil früher hat man Heino gehört, was man heute natürlich auch noch (lacht), aber Cindy&Bert, Bert ist ja leider verstorben, war ja ein Völklinger Bub, die Cindy gibt´s immer noch und das waren halt diese Lieder, immer wieder sonntags, die damals in den 70ern, 80ern gelaufen sind und..... Langsam ausblenden Und darüber kurz 3. Musikakzent Cindy & Bert, Immer wieder sonntags überblenden in Atmo Kokerei 02 Zitator ... hinunter zu den Plätzen, wo die Schienen entstehn, die Stangen, die Drähte.....Am besten gefallen mir die dünnen Drähte. Ihre Kurven sind die elegantesten und lebendigsten, ... sie entspringen ...ganz schmalen Löchern, lassen ein leises, geradezu distinguiertes Zischen vernehmen und sind die Aristokraten unter den feurigen Schlangen. Mit einem kühnen grellroten Elan springen sie in die Welt.....ergriffe sie nicht ein aufmerksamer Mann mit einer scharfen, schneidenden Zange..... Autorin ... schrieb 1927 der Schriftsteller Joseph Roth in „Briefe aus Deutschland“ . Der Mann mit der Zange war der Umwalzer, und die Drähte, mit einem Durchmesser bis zu 10 cm, waren schwer. In dem ehemaligen Walzwerk der Völklinger Hütte, in dem jetzt das Cafe Umwalzer ist, wirft der Kunsthistoriker Hendrik Kersten seinen Blick auf diesen Beruf. 14. O-Ton Hendrik Kersten, track 36, 1:40 – 2:07 Supergefährlich sieht`s heute im Film aus den 30er Jahren aus, wie ein Ballett, aber es ist ein Todesballett. Da konnte einen, wenn man Pech hatte, so ein Draht treffen und da gibt’s natürlich Horrorgeschichten, die man dann nicht gerne erzählt und lieber nicht erleben möchte, wenn nämlich so ein Draht wirklich mal einen Oberschenkel durchschlagen hat, da konnte man ja nicht weglaufen, da mussten die Kollegen den Herrn festhalten, bis die 250 Meter Stahl da durchgeschossen waren. 05. Musik Metropolis, Maschinenthema 14. Atmo Hüttenlärm CD track 15 ab 0:20, Sinterhalle darüber Autorin Das Unglück des Umwalzers, der sein Bein bei der Arbeit verlor, war nicht der einzige Unfall in der hundertjährigen Geschichte der Völklinger Hütte. Von 1881 an haben die Gebrüder Röchling die „Hütte“ zu einem der größten Eisen-und Stahlwerke im Deutschen Reich gemacht. Im ersten Weltkrieg wurden hier über 80% der deutschen Stahlhelme produziert. Bereits 1898 übernahm Hermann Röchling von seinem Vater Carl das Werk. 1919 wurde der Sohn Hermann als Kriegsverbrecher zu 10 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und kaufte sich frei. Auch im 2. Weltkrieg stand das Werk wieder im Dienst deutscher Kriegswirtschaft. Tausende von Zwangsarbeitern aus den besetzten Gebieten wurden hier beschäftigt, unter Bedingungen, die vielen von ihnen das Leben kostete. Verantwortlich dafür war der mit Hitler eng befreundete Hermann Röchling. Zwischen 1946 und 1951 wurde er wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit inhaftiert und durfte Völklingen Zeit seines Lebens nicht mehr betreten. Ein Denkmal für die hier auf der Hütte zu Tode gekommenen Zwangsarbeiter gibt es immer noch nicht. 15. O-Ton Hendrik Kersten, track 55, 0:54–1:30 Das ist noch nicht ganz klar, wie man dem gerecht werden will, man kann natürlich nicht einfach nur die Namen irgendwo eingravieren.....denn es ist natürlich einfach notwendig, das wachzuhalten und auch dann einen Ort zu bieten an dem man der Sache vernünftig gedenken an und deswegen ist da Eile wirklich nicht geboten, sondern eben Sorgfalt und die Möglichkeit auch nachfahrende Erkenntnisse, die immer wieder jedes Jahr neu aufkommen, einzuarbeiten. Autorin Hermann Röchling war maßgeblich beteiligt an der Etablierung der Zwangsarbeit. Und doch beschloss der Völklinger Stadtrat 1956, einen Stadtteil nach dem verurteilten Kriegsverbrecher zu benennen: Hermann-Röchling-Höhe. Seit 2013 heißt sie nur noch Röchling-Höhe. Eine Bürgerinitiative hat sich jahrelang für die Umbenennung des Völklinger Stadtteils eingesetzt – wieder zurück zu Bouser Höhe. Mit Christoph Gottschalk, einem, der gegen den Namen Röchling gekämpft hat, bin ich verabredet. An der Hotelrezeption, als ich mir ein Taxi bestelle, komme ich mit einer jungen Frau ins Gespräch, Sarah Müller, die 1993 in Völklingen geboren ist. 16. O-Ton Sarah Müller, folder 02, track 38, 0:05–0:26 Ich komme ja von der Hermann-Röchling-Höhe, die wurde ja umbenannt zur Röchling-Höhe, damit können wir uns nicht abfinden, wir sagen immer noch, wir kommen zu „Hermann“, meine ganze Familie wohnt da oben, mein Opa ist beim Obst- und Gartenbauverein der erste Vorsitzende und das ist einfach die Hermann-Röchling-Höhe (0:21) 15. Atmo Taxifahrt track 140522_ 60, 0:30- 038 darüber 17. O-Ton Taxifahrerin track 60, ab 1:00 – 1:20 Also viele Leute von der Röchling-Höhe, die wollen den Namen Hermann-Röchling behalten, weil.... ganz einfach, die sagen, der Hermann Röchling war zwar ein Kriegsverbrecher, aber er hat das Ganze ja doch geschaffen, für viele Leute Brot und Wohnung geschaffen.....(es piept)...sie sind net angeschnallt. Musik: Major 9, Back Again Autorin Christoph Gottschalk ist vor gut zehn Jahren wieder zurückgezogen in seine Heimat, nach Völklingen. Anfang der 1970er hat er hier sein Abitur gemacht, studierte Eisenhüttenkunde, mit einem Stipendium der damals noch Röchlingschen Eisen-und Stahlwerke und ging ins Ruhrgebiet, dann nach Bayern, wollte aber immer in die Heimat zurück. 2003 hat er sich auf der Röchling-Höhe ein Einfamilienhaus gekauft, in dem er mich empfängt. Von dem Esstisch aus schaue ich in den Garten auf eine Buddha-Statue, der er in seiner Ausstrahlung gleicht. 18. O-Ton Christoph Gottschalk, track 68, 0:08 – Als ich das Haus hier gekauft hatte, hatte ich dann nach einem Jahr mal angefangen zu hinterfragen, wieso der Name Hermann Röchling noch immer für diesen Ortsteil gilt und wieso der noch nicht abgeschafft wurde und habe dann sehr schnell die hier kennengelernt, die das so empfanden wie ich (0:30, Schnitt)....0:46, und dann hatten wir angefangen mit einer Umfrageaktion wie die Bevölkerung hier oben zu einer möglichen Änderung stünde, also Umbenennung zurück zu Bouser Höhe. Autorin 1000 Zettel haben sie verteilt, und bei einem Rücklauf von 200 waren immerhin 50% für die Umbenennung. 19. O-Ton Christoph Gottschalk, track 69, 0:12 – 0:26 und 0:36– Die Rückbenennung „Bouser Höhe“ war der äußere Anlass zuviel Druck auf den Topf zu machen, weil das so evident falsch war, dass der Kriegsverbrecher nach wie vor geehrt wird, eine Benennung eines Ortsteils ist eine Ehrung..... 0:36 wir haben dann sehr schnell gemerkt, es geht eigentlich um eine Verehrung der Täter, nicht nur von Hermann Röchling, und um die Verleugnung der Opfer, die Opfer sind nie vorgekommen. Autorin Das für die Bürgerinitiative scheinbar schlechte Ergebnis, dass jetzt „Röchling-Höhe“ auf dem Ortsschild steht, ist für Christoph Gottschalk kein Grund, den Kampf aufzugeben. 20. O-Ton Gottschalk, track 71, 0:04 – 0:58 Wir haben ja Mitstreiter, die hier oben verwurzelt sind, aber auch Völklinger, die andere persönliche Schicksale haben, da gibt es unseren Freund Manfred Engel, der ist 1930 oder 33 geboren......, der ist Jude und in der Vorbereitung zur Flucht, im Saarland hatte man ja Zeit von 33-35 waren die Nazis ja nicht hier, konnte man ja fliehen, ohne größere Probleme, aber in der Vorbereitung zur Flucht ist die Mutter wohl ums Leben gekommen und das ist sein Trauma, was ihn wirklich hartnäckig das betreiben lässt, der will den Namen Röchling hier verschwinden sehen, weil er alle Röchlings für sein persönliches Schicksal verantwortlich macht. Autorin Christoph Gottschalk hält Hermann Röchling, der schon sehr früh von einem judenfreien Saarland geträumt hat und der bereits 1935 NSDAP beigetreten ist, für einen der großen Kriegstreiber in Deutschland. 21. O-Ton, Christoph Gottschalk, Track 72, 0:39– 0:58 Also, der Mann ist nicht vom Kaliber, ich würde sagen, nicht mal Eichmann, Befehlsempfänger, sondern der war Ideengeber und Befehlsgeber. Autorin Das Hermann-Röchling-Denkmal wurde im vergangenen Jahr mit roter Farbe übergossen. Verdächtigt wurden Mitglieder der Bürgerinitiative „Gegen das Vergessen und die Gleichgültigkeit“. Christoph Gottschalk war in dieser Zeit in Österreich, der Heimat des Schriftstellers Joseph Roth, der 1928 über das Stumm-Denkmal im saarländischen Neunkirchen schrieb... 03 Zitator Die Industrie-Diktatoren ... posieren zwar eine bescheidende Zurückhaltung und auf die patriarchalische Herzensgüte, mit der sie den Erfolg steigern, gäbe ihnen heutzutage kein Arbeiter einen Vorschuß Pietät. Man kann in diesem Denkmal... ein Denkmal einer ganzen Zeit, eines ganzen Unternehmergeschlechts sehen. Es war das Geschlecht der patriarchalischen Herzen aus Eisen und Stahl. 6. Musik Eric Burdon „Paint it black“ Autorin Auf meinem Weg zu Professor Meinrad Maria Grewenig, dem Generaldirektor des „Weltkulturerbes Völklinger Hütte“, gibt es viele Häuser, deren Putz in knalligen Farben leuchtet. Solange täglich 30 Tonnen Sinterstaub über der Stadt niedergingen, machte es keinen Sinn, die Häuser zu streichen. Und seit 1986, seit der Schließung der Hütte, gibt es eine große Sehnsucht nach Farbe. Doch nicht nur die Fassaden haben sich seitdem verändert, auch der Geruch, das Klima, der Sound. Die Völklinger leben seit fast 30 Jahren in einer anderen Stadt, ohne umgezogen zu sein. 15 a Atmo außen, Stadt, 140522_37 bis 0:07 Autorin In den 1950er Jahren war Völklingen die reichste Stadt Deutschlands. Wen kümmerte es, dass Radio Luxemburg sie damals zur hässlichsten Stadt erkor? Die Heiratswilligen in jüngster Zeit offensichtlich nicht, obwohl Facebook neulich zu demselben Ergebnis kam. 16. Atmo Autohupen und Tuten, 0:02-0:07 22. O-Ton ,MMG, 140523 01, ab 0:08, hupen geht weiter im Hintergrund (insges. 0:29) Ja, das ist grad ne Hochzeit, wir haben ja in der Völklinger Hütte den offiziellen Trausaal der Stadt Völklingen (0:16), 0:39, die Anfragen hier in der Völklinger Hütte zu heiraten kommen bundesweit und die Stadt Völklingen ist komplett ausgebucht und sie versucht im Moment halt diese Anfragen massiv abzuwehren, denn es ist von der Kapazität offensichtlich nicht mehr zu schaffen, aber die Menschen lieben das sehr. 17. Atmo Autohupen wieder ab 0:02 Autorin Vom Bürofenster aus sind nicht nur frisch Vermählte zu sehen, auch ein hundert Jahre altes Paar, das im Inneren noch glüht. 23. O-Ton MMG, 04, 0:00-0:29 Im Volksmund werden diese beiden sichtbaren Schlackeberge Hermann und Dorothea genannt, nach den damaligen Hütteninhabern Hermann Röchling und seiner Frau Dorothea. Diese Namen sind natürlich ganz tief auch in das Bewusstsein der Völklinger eingedrungen und sie dienen als Landmarken, auch für die Orientierung in der größeren Landschaft. Autorin Aus heißer Schlacke sind die Berge gewachsen. Auch knapp 30 Jahre nach Stilllegung der Hütte, hat sich die Glut im Inneren erhalten – die Spitzkegelhalden, auf denen mittlerweile außergewöhnliche Tiere und Pflanzen leben, dampfen immer noch. In Goethes gleichnamigen Epos haben sich die Eltern von Hermann und Dorothea als Paar auch auf rauchenden Trümmern gefunden. Und plötzlich fällt mir die Frage wieder ein, die mir auf der Spurensuche durch die Völklinger Hütte entfallen war: Wie ist das paradoxe Kunststück geglückt, eine Flamme am Brennen zu halten, die längst gelöscht war, wie wurde die abbruchreife Eisenhütte zum Weltkulturerbe? 24. O-Ton, MMG: track 140523, 06 ab 0:03 )insgesamt 0:46) 1986, im Juli, wurde der letzte Hochofen stillgesetzt, damit war im Grunde die Zeit des Eisengießens, des Eisenschmelzens in der Völklinger Hütte zuende (0:15), (ab 1:04 weiter) und es wurde dann parteiübergreifend einheitlich, einstimmig der Beschluss gefällt, dass diese .... Völklinger Eisenhütte abgerissen wird. Finanziert sollte der Abriss aus den Erträgen der Schrottpreise werden, die damals sehr hoch und auskömmlich waren, aber wie es dann manchmal so ist, vielleicht hatte der liebe Gott da auch die Hand im Spiel, es sind dann praktisch über Nacht die Schrottpreise in den Keller gegangen und der Abriss war nicht mehr finanzierbar (1:38). Autorin Was folgte, erscheint wie eine Schelmengeschichte, wie ein Streich aus einer Zeit, in der die weisen Schildbürger sich noch nicht dumm stellten. Statt zuzuschauen wie das alles in den nächsten 150 Jahren zusammenfällt, wurde die Hütte, deren Verschrottung durch Unternehmer und Gewerkschafter beschlossen war, sehr schnell unter Denkmalschutz gestellt und das Antragsverfahren für das UNESCO-Welterbe auf die Bahn gebracht. Im Dezember 1994 führte es in Phuket in Thailand zum Erfolg. Die Völklinger Hütte wurde, als erste Großanlage aus der Blütezeit der Industrialisierung, zum Weltkulturerbe. Fünf Jahre später wurde Meinrad Maria Grewenig zum Generaldirektor der Industriekathedrale ernannt. Er sollte den rostigen Koloss mit Leben füllen und eine Brücke in die Zukunft bauen, für die nächsten Generationen. 25. O-Ton, MMG, track 140523 08, ab 0:13 So richtig los ging es dann im Herbst. Im Vorlauf gab es dazu gewisse Turbulenzen, weil es gab keine Beispiele und es gab keine Vorbilder für die Entwicklungsarbeit(0:27)....(0:56) ich sag mal, damals hab ich das schon sehr intensiv empfunden wie’n Harakiri-Job, denn das hätte auch voll daneben gehen können, die Gefahren, die hier lauern, auch die systematischen Zwänge, etwa in der Finanzierung. Autorin Ein Wagnis ist auch das, was wie ein zweiter Völklinger Schildbürgerstreich erscheint. Hier, im Saartal, 600 km vom Meer entfernt errichteten die Völklinger Stadtwerke eine Meeresfischzuchtanlage auf dem ehemaligen Gelände der Kokerei. Seit Mitte April kann man dort Fische kaufen, die ohne den Einsatz von Antibiotika gezüchtet werden. Meinrad Maria Grewenig ist begeistert. 26. O-Ton, MMG, track 1405233 07, ab 0:03 ... Ich war ja auch einer, der dort frische Doraden und Wolfsbarsch gekauft hat. Die Fische schmecken sensationell. Gut, sie sind vielleicht ne Spur teurer als beim Discounter, aber dafür weiß ich, dass sie noch n halben Tag vorher lebend im Wasser geschwommen haben (0:33)..... (0:58) und ich denke, das ist auch ein guter Schritt. Dahinzukommen braucht’s natürlich schon ne gewisse Phantasie. 7. Musik, Eric Burdon, „Ring of fire“ Autorin Auf dem Rückweg vom Generaldirektor des „Weltkulturerbes Völklinger Hütte“ gehe ich einmal mehr vorbei an den Hochofenschloten, die wie Rüssel in den Himmel ragen – und spüre den Impuls: Da will ich rauf! Ich habe Glück. Peter Backes hat Zeit, bevor er die nächste Besuchergruppe über das Gelände führt und begleitet mich. Zunächst auf einem Klangspaziergang: 27. O-Ton Peter Backes, 140523, track 22, 0:02-0:09 Wir haben hier im Bereich des Erzgleises einen Klangspaziergang installiert, auf dem verschiedene Geräusche der Hütte abgespielt werden. 18. Atmo 140523 023 Geräusch von flüssigem Eisen, 2:20 –2:40 darüber Autorin Was sich hier wie plätscherndes Wasser anhört, ist das Geräusch von flüssigem Eisen, das beim Abstich in einem Hochofen entsteht. In Betriebszeiten des Werkes wurde alle zwei bis vier Stunden ein Abstich gemacht. Rote Flammen schlugen damals in den Himmel, als würde das Tal brennen. Aber tatsächlich war auch Wasser ein wichtiges Element im Produktionsprozess. 19. Atmo 140523 23 3:20 –4:10, Geräusch vom Wasserhochbehälter darüber Autorin Um die Hochöfen kühl zu halten, wurden unglaubliche Mengen von Wasser verbraucht. Das Wasser aus der Saar wurde im Wasserhochbehälter, den man im Hintergrund hört, gesammelt und in die verschiedenen Bereiche des Werkes abgepumpt. 20. Atmo 140523/024 Schritte, Aufschließen einer Tür, 0:20–0:28 darüber 21. Atmo: 140523 / 024 Klopfen der Stampfmaschine ab 1:51 bis 2:10 darüber Autorin Das Klopfen der Stampfmaschine in der Kokerei war eines der Geräusche, das die Akustik im Saartal bis zur Stillegung 1986 bestimmt hat. Und jetzt beginnt der Aufstieg auf den Hochofen. 22. Atmo track 026, ab 0:25 (mit Vogelgezwitscher) bis 0:29 langsam ausblenden dann 3:00 tiefes Atmen Autorin Wir sind jetzt in 27 m Höhe auf der Gichtbühne – „begichten“ heißt das Beschicken von Hochöfen mit den Rohstoffen. Aber wir steigen weiter..... 23. Atmo 026, 3:19 –.... Autorin und blicken dann, in 45 m Höhe von der Aussichtsplattform eines Hochofens in ein sehr grünes Saartal. Immer noch ist von hier oben die starke Verbindung zwischen Industrie und Natur zu sehen. Umgeben von Wäldern scheint das Weltkulturerbe wie ein toter Elefant mitten in einem Gelände zu liegen, in dem drumherum die Stahlindustrie weiterlebt. 4500 Menschen arbeiten hier in der Saarstahl AG, wo die Hochöfen längst von Computern gesteuert werden. 24. Atmo Hüttenlärm, , CD track16, Hochofenabstich, ab 0:50 , dann ausblenden darüber Vogelgezwitscher 140524_47 ab 0:15 -0:36 Autorin Den simulierten Lärm des Eisenwerks noch im Ohr mache ich mich auf den Weg zu Manfred Baumgärtner. Er hat schon in den 1950er Jahren, als 14Jähriger, bei unvorstellbarer Hitze am Hochofen der Völklinger Hütte gearbeitet. Auch er wohnt in einem bunt bemalten Haus. Der drahtige 70Jährige begrüßt mich lachend und erzählt, wie sein Arbeitsleben auf der Hütte begonnen hat. 28. O-Ton Manfred Baumgärtner, track 140524_ 03, 0:05-0:38 1956 bin ich aus der Schule entlassen worden und da war die Alternative entweder Hütte, oder auf die Grube, als Bergmann, da hat meine Mutter gesagt, du gehst auf die Hütte, da hast du eine Lebensstellung und so bin ich dann auf der Hütte angefangen, als Hochöfner mit 14 Jahren und war dann nach 2 Jahren ausgelernt und bin dann eingesetzt worden mit Früh-, Mittag-, Spätschicht und 56-Stunden-Woche war das damals noch bei nur 12 Tagen Urlaub im Jahr. Autorin Es folgten 30 Jahre Schichtarbeit an einem Hochofen, der bis zu 1500 Grad heiß wird. Kaum zu glauben, dass man dort auch frieren kann. 29. O-Ton, M.B., track 04, 0:26–0:53 Im Winter, wenn’s kalt war, da waren wir froh, wenn der Abstich war, da haben wir uns an der Strahlungswärme ein bisschen aufgewärmt. Man kann sich das gar nicht vorstellen, ein Hochofen bei minus 15 Grad, wo sich an der Wasserkühlung Eiszapfen gebildet haben und dann vorne flüssige Schlacke, das kann man sich gar nicht vorstellen. Hätte ich damals geahnt, dass das Welterbe wird, ich hätte das fotografiert und würde heute Postkarten verkaufen. Autorin Eine unvorstellbar schwere Arbeit! Aber Streik in dem Röchlingschen Stahlwerk hat Manfred Baumgärtner nur einmal erlebt – als Kind. 30. O-Ton, M.B., track 09, 0:16–0:45 Als Junge mit 12 Jahren hab ich erlebt wie auf der Hütte ein ganz großer Streik war, wir haben so 20 Meter vom Torhaus weg gewohnt, da konnte ich aus dem Fenster raus sehen und konnte dann sehen, wie die Leute die Autos umgeschmissen haben und angesteckt haben und nach 8 Tagen war dieser Streik dann beendet und die Leute waren wieder wirklich zufrieden, was sie genau erreicht haben, weiß ich nicht, auf jeden Fall war es das Größte, was ich jemals in der Stahlindustrie erlebt hab. 25. Atmo, Kuckucksuhr, track 09, 0:04–0:15 Autorin Gabriele Baumgärtner, die mit ihrem Mann in diesem Sommer goldene Hochzeit feiert, kommt mit Tee herein und ich glaube nicht, was ich sehe – so jung sieht sie aus. Auch sie erinnert sich an den Streik. Damals war sie acht Jahre alt. 31. O-Ton, Gabriele Baumgärtner, track 10, 0:22– 0:41 Menschenmassen kamen an uns vorbei und wir hatten eigentlich richtig Angst... Großmutter und ich, wir sind dann gleich nebenan in die Türe reingegangen, weil wir Angst hatten, uns passiert etwas, das war ein richtiger Pulk von aufgebrachten Menschen, um was es damals ging, weiß ich heute erst, damals eigentlich nicht. Autorin Woran sich Manfred Baumgärtner aber vor allem erinnert, ist die jahrzehntelang gute Kameradschaft – auch wenn ein Kumpel mal drei Tage lang, statt nach Hause, in die Kneipe gegangen ist. 32. O-Ton, M.B., track 16, 0:33-0:46 Während der Arbeitszeit haben wir diese Leute, dann mal..., leg dich mal hin, in die Ecke da, schlaf dich mal aus, und die anderen haben die Arbeit mitgemacht, es war schon eine sehr, sehr gute Kameradschaft und verständnisvoll waren wir ... Autorin Und verständnisvoll war auch seine Frau, mit drei Kindern, die ruhig sein sollten, während der Schichtarbeit, wenn der Mann tagsüber schlafen musste. Seine Arbeitskleidung musste nicht nur täglich gewaschen, sondern wegen der fliegenden Eisenfunken, den sogenannten Hüttenflöhen, geflickt werden und nicht nur das. 33. O-Ton, Gabriele Baumgärtner, track23, 0:20 -0:33 Und dann hatte mein Mann einen kleinen Spleen, das werd ich nie vergessen. Mein Mann wollte in den Arbeitshosen Bügelfalten, das musste sein, sonst gab es mächtig Ärger. Autorin Mit 44 Jahren hatte Manfred Baumgärtner 30 Jahre Schichtarbeit am Hochofen hinter sich. Die erschienen ihm nicht so schwer wie das, was dann auf ihn zukam. Er, der neben der harten Arbeit weiterbildende Schulen besucht hat, Hüttentechniker wurde und Industriemeister, wurde auserkoren, den Wendepunkt zu bewirken: für die Geschichte der Stadt Völklingen, für die Lebensgeschichten der Arbeiter und Einwohner, für ihn selbst. Er musste den letzten Hochofen, Hochofen 6, stilllegen. 34. O-Ton, Manfred Baumgärtner, track 14, 0:39-0:53 Mein Empfinden war, an dem 4. Juli 1986 um 12.30 Uhr, vollkommen leer im Kopf, ich wusste nicht wie mir geschehen ist und was jetzt weiter mit mir passiert, also es war unfassbar für mich. Autorin Plötzlich war es totenstill in der Stadt, 8000 Menschen verloren ihren Arbeitsplatz. Einer der Kameraden hatte todesmutig an der höchsten Stelle des Hochofens, in 47 m Höhe, eine schwarze Fahne angebracht. Niemand wusste, wie es jetzt weitergehen soll. Manfred Baumgärtner bekam, auf Grund seiner guten Ausbildung, drei Monate später eine Arbeit in einem Drahtwalzwerk in Burbach angeboten und hat sofort zugesagt. 35. O-Ton, Manfred Baumgärtner, track 15, 0:18–0:26 Und an diesem Tage hab ich dann meinen Kindern und meiner Schwiegertochter erzählt, mit Tränen in den Augen, dass ich wieder was Neues hab. 36. O-Ton, G. Baumgärtner, track 24, 0:26–0:49 Wir haben richtig Angst gehabt, jede Nachrichten haben wir verfolgt, was wird werden, werden wir gerettet, werden wir nicht gerettet, was wird passieren, das war unsere Angst, das war beklemmend, aber wir habens gepackt. Autorin Unglaublich viel haben sie zusammen gepackt, Manfred und Gabriele Baumgärtner, und nächsten Monat wird Goldene Hochzeit gefeiert. Da wird getanzt, denn beim Tanzen hatte auch alles angefangen, vor über 50 Jahren. 37. O-Ton Gabriele Baumgärtner, track 21, 0:04–0:42 Ich war relativ jung, durfte das erste Mal tanzen gehen, und wie der Zufall es will, war doch da ein Mann, der mir eigentlich gut gefallen hat,..., er hat mir gefallen, da kam ein anderer Mann, wollte mit mir tanzen, ja, was mach ich denn jetzt, dann hab ich doch ganz einfach gesagt, es tut mir schrecklich leid, ...ich bin schon vorengagiert, natürlich mit Bammel, denn das war zu dieser Zeit sehr schlimm, das durfte man nicht machen und dann stand doch tatsächlich dieser junge Mann auf und sagte: darf ich bitten. Ja, so habe ich meinen Mann kennengelernt. 8. Musik: Ton, Steine, Scherben, Schritt für Schritt ins Paradies 26. Atmo 140524_47 ab 0:09 Paradiesgarten, Vogelgezwitscher, Autorin Schritt für Schritt ins Paradies - mit Franz Gonder. Früher war er Industriekaufmann in der Völklinger Hütte, jetzt ist er hier Besucherbegleiter. Kurz vor dem alten Kokereigelände zeigt er auf ein merkwürdiges Gebilde. 38. O-Ton, Franz Gonder, track 140524_ 36, 0:05- Der Besucher des Weltkulturerbes kann auch Requisiten von Filmen sehen, die hier gedreht werden, u.a. „Die wilden Kerle 5“ und hier stehen wir genau vor der Vampirjagdmaschine und wenn man genau hinblickt, dann sieht man noch hier an der rechten Seite den Knoblauch im Wind. Autorin Auch der eine oder andere Tatort wurde hier schon gedreht, ein prima Standort, um eine Leiche zu finden und jetzt sind wir in der alten Kokerei, in der auf einem Bildschirm und mit Lautsprechern simuliert wird, wie es hier vor dreißig Jahren noch war. 27. Atmo: Kokerei, track 37, 0:38- 1:15 darüber 39. O-Ton Franz Gonder Den Ort muss man sich vorstellen, als würde man am Rande eines Vulkans stehen, Feuer, Rauch, Qualm, Schwefel und was man hier grade sieht: Der Koks wird aus den Koksbatterien herausgeschoben, mit Wasser übersprüht, die Feuerwand bricht zusammen und wir haben den uns bekannten Koks. 28. Atmo, track 54, Schritte auf Stahlstufen, 0:00-0:06 darüber Autorin Franz Gonder zitiert einen Arbeiter, der früher hier in der Kokerei gearbeitet hat: 40. O-Ton Franz Gonder track 54, 0:20-0:36 Das Geld, das man hier verdient hat, war zu schade, um es auszugeben, das hätte man sich einrahmen müssen und an die Wand hängen – weil es einfach ein sehr schwer verdientes Geld war.... 29. Atmo Vogelgezwitscher track 140522_50, 0:12-0:20 darüber Autorin Jetzt endlich, sind wir im Paradiesgarten, der nichts anderes ist als die ehemalige Kokerei. 41. O-Ton, Franz Gonder, track 40, 0:06-0:30 Als die Kokerei stillgelegt wurde, da hatte ja 20 Jahre kein Mensch mehr das Gelände betreten und die Natur und die Tiere haben sich das Gelände zurückerobert und daher darf es nicht verwundern, wenn man plötzlich während einer Führung einen Fuchs sieht, der da ohne Scheu an den Menschen vorbeiläuft. 30. Atmo, Vogelgezwitscher, track 140522_50, 0:33-1:00 Darüber Autorin Nicht nur Füchse sieht man, auch seltene Tiere wie Rotbauchunken, besondere Echsenarten, Turmfalken, Eisvögel, eine ungewöhnliche Menagerie. Es dampft und wimmelt von Leben. Nur eine leichte Melange aus Teer liegt noch von damals in der Luft. Wo früher kein Grashalm wuchs, waren 20 Jahre nach der Stilllegung einige Gebäude nicht mehr zu sehen – total zugewildert! Eine überwucherte Ruinenlandschaft. Nach vielen Wintern mit Frost zerbröselte der Beton und in die Ritzen haben sich Samen eingenistet, da hat keiner Mutterboden angefahren, aber überall wachsen Bäume, blühende Sträucher, Holunder, Brombeeren, Mohn, Kornblumen. Auch Flechten und Moose wurden entdeckt, die nur hier existieren und Botaniker in Erstaunen versetzen. Auch Franz Gonder, der hier jede Woche Führungen macht, ist immer wieder aufs neue erstaunt. 42. O-Ton Gonder Backsteine! , Stahlbeton, was wachsen drauf? Birken! Die Natur ist eben doch stärker, als alles, was der Mensch baut, das kann man hier gut nachvollziehen, ich stehe auf Betan und neben mir wachsen Birken. 31. Atmo, track 50, 1:30- 1:40 Darüber 43. O-Ton,Franz Gonder, track 50, 1:43-1:54 Sehen Sie das Schild, GEHÖRSCHUTZ TRAGEN! Den hätten Sie zu Betriebszeiten gebraucht, das einzige, was sie heute hören ist das Rauschen von Blättern und Zwitschern von Vögeln (track 47 anschließen:1:26-1:40), unvorstellbar, wenn Sie die Geräusche der Kokerei noch in Erinnerung haben, mit dem Gestampfe, mit dem Getöse, mit dem Lärm, mit dem Gestank, und jetzt zwitschern die Vögel hier. 32. Atmo, Vögel, Schritte track 47, 0:35–0:40 darüber 44. O-Ton, Franz Gonder, track 44, 0:06-0:15, es wird oft der Vergleich gezogen (korrigieren beim Schnitt) mit Ruinenstädten in Mittelamerika, wo auch alles überwuchert ist von der Natur und genauso so sieht es auch hier aus. Autorin Nur sind wir hier in der Völklinger Hütte im Saarland, in der saarländischen Variante eines kolumbianischen Dschungels sozusagen. Alles grün und direkt hinter diesen Bäumen ragt empor die gigantische Hochofenanlage, hunderte von Metern lang, mit den Kuppeln ihrer Winderhitzer, mit den Rohren der Gasreinigungsanlage, mit den Schornsteinen wie Rüssel – als würde alles nur für einen Moment die Luft anhalten, als könnte alles gleich wieder losgehen. 8. Musik: Ton, Steine, Scherben, Schritt für Schritt ins Paradies Kennmelodie   Sprecher vom Dienst:   Der lange Weg ins Paradies Völklingen im Saarland Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Christa Schmidt   Die Zitate sprach Jean-Claude Kuner Ton: Peter Seyffert Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2014. Manuskript und das audio zur Sendung finden Sie im Internet unter deutschlandradiokultur.de 1