Manuskript Kultur und Gesellschaft Reihe : Zeitreisen Titel : Kassandra und die Katastrophe. Vor 25 Jahren erschien Ulrich Becks soziologischer Klassiker "Risikogesellschaft" Autor : Matthias Eckoldt Redakteur : René Aguigah Sendung : 20.04.2011 / 19:30 Uhr Regie : Besetzung : Sprecher, Sprecherin, Zitator Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Im O-Ton: * Ulrich Beck, emeritierter Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians- Universität München * Dirk Baecker ist Professor für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen * Armin Nassehi, Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München Pressetext: Am 26. April 1986 geschah der Unfall von Tschernobyl - kurz darauf veröffentlichte Ulrich Beck seine Studie "Risikogesellschaft". Sofort avancierte das Buch zum Kommentar zur Katastrophe und wurde einer der wenigen Bestseller der Soziologie. Beck sah die Moderne im Zeichen technologisch produzierter Risiken in eine neue Phase eintreten, in der es nun weniger um die Verteilung der produzierten Reichtümer, sondern mehr um die Verteilung der produzierten Risiken ging. Die völlig neue gesellschaftliche Konstellation zeichnete er in dem Apercu nach: "Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch." Mit dem Übergang von der Industrie- zur Risikogesellschaft prognostizierte Beck auch einen umfassenden sozialen Wandel. Zeitverträge, Leiharbeit, Kampf der Geschlechter und Singelisierung waren Stichworte in Becks Diagnose, die mittlerweile Lebenswirklichkeit geworden sind. Und was erklärt der Begriff "Risikogesellschaft" in einer Welt des globalen Terrorismus, der Klimaerwärmung und der Bankenkrise? Regie: Musikakzent mit technischen Warntönen unterlegen Sprecherin: 26. April 1986, morgens ein Uhr dreiundzwanzig. Block 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl. Sprecher: Es sollte ein Versuch werden, um die Sicherheit des Kraftwerks zu demonstrieren. Doch in der Folge mehrerer Bedienfehler kam es zu einem unkontrollierbaren Leistungsanstieg des Reaktors auf das Hundertfache. Die Druckrohre rissen auf, die 3000 Tonnen schwere Deckplatte hob sich, und das Graphit im Reaktor geriet in Brand. Radioaktivität entwich. Durch die enorme Hitze wurde sie hoch in die Atmosphäre geschleudert und weitflächig verteilt. (01)O-Ton(Beck): Es war ein wunderschöner Frühling, und es blühte alles. Und gleichzeitig kam ... die Nachricht: Das ist alles verseucht und wird möglicherweise noch stärker verseucht, und darin verbirgt sich eine Lebensgefahr der Verstrahlung. Sprecher: Der Soziologe Ulrich Beck. (02)O-Ton(Beck): Wenn meine Erinnerung mich nicht täuscht, war eine der Überraschungen, die ich erlebte, dass ... die Gefahren, die gerade durch den Fortschritt der Modernisierung ... erzeugt werden, dass diese Gefahren sich vollständig unseren Sinnen entziehen. Dass wir sozusagen blind sind: Wir können sie nicht riechen, wir können sie nicht schmecken, wir können sie nicht hören. Und das war der Eindruck, der mich damals auch gleich überwältigt hat. Regie: Musik noch einmal hoch Sprecherin: Ulrich Beck saß in jenen Tagen über den Druckfahnen seines Buches, das im Suhrkamp Verlag erscheinen sollte. Der Titel stand bereits fest: Zitator: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Sprecher: Damit bediente sich Beck nicht der damals in der intellektuellen Landschaft grassierenden Vorsilbe "post", lateinisch für "nach". Er sprach weder von "Postmoderne" noch von "Posthistoire" oder "Posthumanismus". Zwar teilte er die Ansicht, dass in der westlichen Welt etwas zu Ende ging und ein tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel sich vollzog. Doch wählte er für seine Analyse einen Begriff, der den riskanten Aspekt dieser Dynamik betonte. Der Unfall von Tschernobyl prägte Becks soziologischem Unternehmen, die Gegenwart als Risikogesellschaft zu beschreiben, den Gültigkeitsstempel der Wirklichkeit auf. Und die Auflage seines Buches schoss in die Höhe. Sprecherin: Unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe schrieb Ulrich Beck im Geleitwort: Zitator: Aus gegebenem Anlass: Die Kehrseite der vergesellschafteten Natur ist die Vergesellschaftung der Naturzerstörungen, ihre Verwandlung in soziale, ökonomische und politische Systembedrohungen. Alltägliche Lebensregeln werden auf den Kopf gestellt. Märkte brechen zusammen. Es herrscht Mangel im Überfluss. Das ist das Ende der klassischen Industriegesellschaft mit ihren Vorstellungen von nationalstaatlicher Souveränität, Fortschrittsautomatiken, Klassen, Leistungsprinzip, wissenschaftlicher Erkenntnis. Vieles, das im Schreiben noch argumentativ erkämpft wurde, liest sich nach Tschernobyl wie eine platte Beschreibung der Gegenwart. Ach, wäre es die Beschwörung einer Zukunft geworden, die es zu verhindern gilt. (03)O-Ton(Baecker): Der Erfolg hat vor allen Dingen damit etwas zu tun, dass es keine Alternative zu diesem Buch gab. Sprecherin: Dirk Baecker ist Professor für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin- Universität Friedrichshafen. (04)O-Ton(dito): Das heißt, es gab kein Buch, das man einer allgemeineren, intellektuell interessierten Leserschaft empfehlen konnte, um sich schnell und mit hinreichender Solidität und mit hinreichendem intellektuellen Reiz über die zentralen Fragen der Gesellschaft dieser Zeit zu orientieren. Es gab in Deutschland ein klares Vakuum, das daraus entstand, dass den Texten von Adorno und Horkheimer und anderen eigentlich in den achtziger Jahren nichts mehr gefolgt war und man nicht wusste, wer denn jetzt so etwas wie ein intellektueller Star sein könnte. Und diese Lücke - ich weiß nicht, ob Ulrich Beck sie erkannt hat - aber er hat sie auf jeden Fall gefüllt. Sprecher: Ulrich Beck markiert mit dem Begriff "Risikogesellschaft" einen Epochenbruch. Demnach haben zwar die rasant wachsenden Produktivkräfte die materielle Not weitgehend abgeschafft, zumindest in der sogenannten Ersten Welt. Doch zugleich setzt derselbe Prozess Risiken und Selbstbedrohungspotenziale in nie dagewesenem Ausmaß frei. Sprecherin: Der entfesselte technisch-ökonomische Fortschritt hat eine Stufe erreicht, auf der er sich selbst aufzuheben droht. Die Logik der Reichtumsproduktion wird zunehmend überlagert von der Logik der Risikoproduktion. Zitator: Risiken, wie sie in der fortgeschrittensten Stufe der Produktivkraftentwicklung erzeugt werden - damit meine ich in erster Linie die sich dem unmittelbaren menschlichen Wahrnehmungsvermögen vollständig entziehende Radioaktivität, aber auch Schad- und Giftstoffe in Luft, Wasser, Nahrungsmitteln und damit einhergehende Kurz- und Langzeitfolgen bei Pflanze, Tier und Mensch - unterscheiden sich wesentlich von Reichtümern. Sie setzen systemisch bedingt, oft irreversible Schädigungen frei, basieren auf kausalen Interpretationen, stellen sich also erst und nur im Wissen um sie her, können im Wissen verändert, verkleinert, vergrößert, dramatisiert oder verharmlost werden und sind insofern im besonderen Maße offen für soziale Definitionsprozesse. (05)O-Ton(Beck 17:10): Der Versuch war, die Soziologie - selbst an der Spitze ihrer Reflexion - nicht im Elfenbeinturm zu belassen, sondern die Risikogesellschaft stellt auch ein Experiment einer Soziologie dar, die den Spagat zwischen der akademischen und der öffentlichen Debatte versucht. Sprecher: Ulrich Beck versteht es, mit essayistischer Schärfe zu formulieren und findet eingängige Slogans, um seine Gedankengänge nachvollziehbar zu machen. So bringt er den gesellschaftlichen Wandel, um den es ihm in seinem Buch geht, auf eine einfache Formel. In der Industriegesellschaft hieß der Hilferuf: Zitator: Ich habe Hunger! Sprecherin: In der Risikogesellschaft rufen die Betroffenen: Zitator: Ich habe Angst! Regie: Musikakzent (06)O-Ton(Nassehi 6:10): Ich versuche soziologische Theorien immer an ihrer, man könnte fast sagen, Ästhetik zu beobachten. Sprecherin: Armin Nassehi, Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. (07)O-Ton(Nassehi): Die Ästhetik der Beck'schen Theorie besteht eigentlich darin, dass sie in der Lage ist, das, was sie beschreibt, in Erfahrung übersetzen zu können. Also diese Beschreibungen beschreiben natürlich eine Generation, die ökologische Schäden das erste Mal als das Ergebnis eigener Entscheidungen wahrnimmt. Und diese Übersetzbarkeit in Erfahrung, das ist eigentlich die besondere große Leistung von Ulrich Beck. Sprecher: Die sechsstellige Auflagenhöhe der "Risikogesellschaft" mag Beleg dafür sein. Sprecherin: Doch was macht die Rede vom Risiko Mitte der achtziger Jahre so massenwirksam? Das Leben war für den Menschen zu allen Zeiten schon riskant - nicht zuletzt, weil er als einziges Tier von seinem Ende weiß und damit sein Erdendasein im Schatten des stets drohenden Todes abläuft. Gut sind Zeiten vorstellbar, in denen unsere Vorfahren mit unmittelbar bedrohlicheren Gefahren zu tun hatten. Ob sie nun von natürlichen Feinden, Wetterunbilden, Feuersbrünsten oder Epidemien herrührten. Sprecherin: Um das qualitativ Neue im Umgang mit dem Risiko deutlich zu machen, prägte Ulrich Beck den Begriff der "reflexiven Moderne": (08)O-Ton(Beck): Für mich ist zunächst wichtig, dass Modernisierungsprozesse durch ihre Radikalisierung und damit auch durch ihren Erfolg, Konsequenzen erzeugen, die ihrerseits - egal, ob sie reflektiert werden oder nicht - die Grundlagen der bisherigen Modernisierungsprozesse infrage stellen. Das Beispiel dafür sind für mich immer schon die Umweltkonsequenzen der Industrieproduktion gewesen. Das heißt, reflexive Modernisierung hat mindestens zwei Dimensionen. Das eine sind Folgen ... in der Natur, die Zerstörungen anrichten und auch damit Rückwirkungen auf die Institutionen haben, und das zweite ist, wieweit das zum Gegenstand öffentlicher Reflexion und damit auch politischer Konsequenz gemacht wird. (09)O-Ton(Baecker): Was jetzt mit dem Stichwort der Reflexivität, der kritischen Beobachtung der modernen Gesellschaft durch sich selbst aufs Tapet kam, war die Frage: ... Müssen wir nicht lernen, die Umwelt und die Produktion der Gefahren in der Umwelt durch die Gesellschaft vollkommen neu zu beobachten? Eine regelrechte Neuorientierung von Wahrnehmung? Und als wenn das nicht schon dramatisch genug wäre, musste man auch noch anfangen, wirklich ernst zu nehmen, dass alle Risiken, die die Menschheit wirklich bedrohen können, nicht mehr von irgend einer kalten, fremden, anonymen, unbekümmerten Natur oder Geschichte in die Welt gesetzt werden, sondern von uns selber. Es sind die Atomkraftwerke, die wir bauen, die die Gefahren produzieren, die wir als selbsterzeugte Gefahren und eben auch als Risiken begreifen müssen. Regie: Musikakzent Sprecher: Das Neue an den neuen Risiken, die Beck in seinem Untersuchungsgang von 1986 interessieren, ist, dass sie hausgemacht sind. Darüber, wie man die Wirkungen dieser Risiken beobachten und wie man sie eventuell eingrenzen kann, entspann sich in den späten achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts eine Kontroverse mit der soziologischen Systemtheorie. Sprecherin: Dieser wesentlich von Niklas Luhmann begründeten Theorie geht es um die Beobachtung sozialer Systeme wie Politik, Recht, Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft, Religion, Erziehung und Massenmedien. Dabei wird danach gefragt, auf welche Weise die einzelnen Systeme ihre je spezifische Realität erzeugen und sich selbst erhalten. Sprecher: Aus systemtheoretischer Sicht beobachtet beispielsweise das Politiksystem die Welt durch die Brille der Unterscheidung Macht/Ohnmacht. Das heißt, in der Politik geht es vor allem darum, ob man ein Amt bekommt oder nicht; ob man in der Regierung sitzt oder in der Opposition. Werte wie soziales Handeln, das Bemühen um eine gerechte Gesellschaftsordnung oder um eine wie auch immer geartete Ausländerpolitik sind aus systemtheoretischer Sicht keine handlungsleitenden Werte für das politische System. Denn das Ziel ist die Macht. Und die von den Politikern oder Parteien vertretenen Anschauungen sind eher Mittel zum Zweck. Soziales oder ausländerfeindliches Engagement hat aus systemtheoretischer Sicht weniger moralische Beweggründe als vielmehr Machtkalkül. Sprecherin: Die Kontroverse zwischen Ulrich Beck und Niklas Luhmann entzündete sich am Risikobegriff selbst. Während Beck Risiko im Kontext von Sicherheit sah, konzentrierte sich Luhmann auf die Unterscheidung Risiko/Gefahr. (10)O-Ton(Beck): Wir haben viele Gemeinsamkeiten, der große Unterschied liegt darin, dass Luhmann davon ausgeht, dass alle möglichen Entscheidungen, die Menschen in allen möglichen Bereichen dauernd treffen, immer Folgen für andere haben, die diese Folgen nicht vermeiden können. Er nennt das Risiko und Gefahr. Gefahren - das ist zum Beispiel derjenige, der als Beifahrer im Auto sitzt und die Entscheidungen des Autofahrers in Kauf nehmen muss, weil er von den Folgen einfach betroffen ist. Und seine Vorstellung ist, dass eine solche Fülle von Beziehungen permanent entstehen, wo wir alle Entscheidungen treffen und dann Folgen für andere auslösen, dass daraus nicht wirklich eine politischen Dynamik entsteht, sondern sich das wechselseitig permanent neutralisiert. Und da habe ich von vornherein die Perspektive der Großgefahren ... entgegengestellt, in der ich davon ausging, dass genau diese Art von Folgen - beispielsweise Umweltprobleme, aber auch Klimawandel und jetzt, wie wir wissen, eben auch Finanzkrise - eine Dimension haben, die die bisherigen Institutionen und damit auch die Systeme, deren Stabilität für ihn ja ganz selbstverständlich war, fundamental infrage stellt. Sprecherin: Becks Perspektive, die sich aus der Betrachtung von Risiken vor dem Hintergrund anzustrebender Sicherheit ergibt, nimmt jene Groß-Risiken in den Blick, die von den technologischen Kräften der Moderne produziert werden. Diese Risiken sollen - schockhaft - ein Umdenken erzeugen und die moderne Gesellschaft zur Reflexion ihres selbsterzeugten Zerstörungspotentials zwingen. Die Risiko- Gesellschaft bekäme so ein allgemeines Gefahrenbewusstsein, wiederum prägnant von Ulrich Beck zugespitzt mit der Formulierung: Zitator: Not ist hierarchisch, Smog demokratisch. Sprecherin: Die neuen Risiken nehmen keine Rücksicht auf den sozialen Status und gelten für alle Menschen. Beck folgert daraus die allgemeine Politisierung der Betroffenen, denen die bestehenden Institutionen und Systeme nicht mehr ausreichen, um ihrem Unwohlsein Ausdruck zu geben. Regie: Musikakzent Sprecher: Die jüngste Reaktor-Katastrophe, die von Fukushima, lässt sich als Beleg für Becks Hoffnung auf Politisierung der Betroffenen verstehen - aber ebenso für Luhmanns Beobachtung, dass es den sozialen Systemen immer wieder gelingt, mit den Irritationen durch neue Risiken fertig zu werden. Der Unfall von Fukushima und dessen Folgen, das damit neu ins öffentliche Bewusstsein gerückte Risiko bei der Kernenergiegewinnung, hat das politische System in Deutschland gerade nicht zusammenbrechen lassen, sondern ihm - im Gegenteil - sogar neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Die Regierungskoalition aus Union und FDP reagierte mit einem Moratorium und lässt deutsche Atomkraftwerke überprüfen. Und den Grünen gelang es mit ihrem klaren "Nein" zur Atomkraft, so viele Stimmen zu sammeln, dass sie in Baden-Württemberg zum ersten Mal einen Ministerpräsident stellen können; bundesweit schweben sie im Umfrage-Hoch. So ist das politische System insgesamt durch das gesteigerte Risikobewusstsein in gewissem Sinn noch stabilisiert worden: Es hat sich gezeigt, dass es innerhalb der Politik ein Forum für die Angst der Bevölkerung vor einem AKW-Unfall gibt. Sprecherin: Auch das Wirtschaftssystem geht gestärkt aus der Reaktorkatastrophe hervor. Es reagiert mit der Neuausrichtung des Strommarktes, ja, es bekommt durch die Forderungen nachhaltiger Energiegewinnung Spielraum für Preiserhöhungen. Schließlich zeigt sich auch das System der Massenmedien vom kaum enden wollenden Nachrichtenfluss aus Japan eher bereichert als eingeschränkt: mit "Brennpunkten" und Sondersendungen. Sprecherin: Die Soziologen Niklas Luhmann und Ulrich Beck - beide haben uns Mittel an die Hand gegeben, wichtige Aspekte der modernen Risikoproduktion in den Blick zu bekommen. Mit Beck kann man erkennen, wie sich eine ganze Gesellschaft für Gefahren neuen Ausmaßes sensibilisiert. Und mit Luhmann ist gut zu beobachten, wie sich die gesellschaftlichen Systeme auch angesichts steigender Risiken immer wieder einzupendeln verstehen. (11)O-Ton(Baecker): Das war eine der schärfsten Beobachtungen damals, die auch bei mir das größte Umdenken hervorgerufen hat, dass Luhmann irgendwann ganz lapidar eigentlich ... feststellte, wie das eigentlich sein kann, dass die Ökologen - also die gesamten grün-alternativen Bewegungen - sich so unglaublich kenntnisreiche Sorgen um die schwierige Balance von sogenannten Ökosystemen in der Natur selber - im Amazonas oder in den Ozeanen oder im Tümpel um die Ecke machen konnten und überhaupt nicht damit rechneten, dass die Gesellschaft, das Zwischenspiel zwischen Wirtschaft, Politik und Religion und Wissenschaft und Erziehung ... ähnlich prekäre und gerade eben im Gleichgewicht gehaltene Strukturen aufweisen könnte, so dass man eigentlich mit derselben Vorsicht, mit der die Ökologen aufforderten, mit der Natur umzugehen, auch mit der Gesellschaft umgehen lernen können müsste. ... Diese Reorientierung, dass wir es überall, wo es sich um menschliche Verhältnisse handelt, mit prekären Gleichgewichten, mit komplexen Abläufen, bei denen wir ständig davon ausgehen müssen, dass wir weder ihre Logik begriffen haben, noch die nächste, geschweige denn die übernächste Zukunft vorhersehen können, ... das war eigentlich die große Botschaft. Regie: Musikakzent Sprecher: Im zweiten Teil von Ulrich Becks "Risikogesellschaft" beschreibt der Vollblutsoziologe, wie er sich selbst gern nennt, einen sozialen Wandel - und kommt damit von den technologisch produzierten Risiken zu jenen Risiken, die sich in den konkreten Lebensweisen der Menschen auftun. Sprecherin: Beck gelingt es jedoch nicht, die sozialen Veränderungen als Folge der technologischen Risikoproduktion zu erklären. So stehen im Gang der Untersuchung soziale und technische Risiken unverbunden nebeneinander. (13)O-Ton(Beck): Das ist eine Schwäche des Buches, dass ich das so nebeneinandergestellt habe, ohne die innere Verbindung zu sehen. Ich würde heute sagen, das waren damals noch so Argumentationsstränge, die ich auf ihre innere Verbindung noch nicht untersucht hatte. Heute würde ich sagen, dieser soziale Wandel, mit dem ich vor allen Dingen auch Individualisierung meine, aber auch die Veränderung der Berufsstruktur, die größere Labilität und Fragilität von Berufen und Arbeitsverhältnissen, dieser soziale Wandel ist Teil der reflexiven Modernisierung. Ein Prozess, in dem der Erfolg von Modernisierungsprozessen in den Nebenfolgen, die er auslöst, die bisherigen institutionellen Grundlagen infrage stellt. Und dafür haben wir einerseits den sozialen Wandel im Sinne der Individualisierung, auf der anderen Seite die Risikoproduktion. ... Also diese Kombinationen sind die Prozesse, die die bisherige Herrschaftsordnung unterminieren, katastrophale Folgen möglicherweise erzeugen, aber auch neue Handlungschancen für Gruppen und für Politik. Sprecherin: Wenn Beck von "Individualisierung" spricht, meint er damit nicht, wie aus Menschen mündige Personen werden, nicht, Einmaligkeit oder Emanzipation. Sondern er fragt: Zitator: Welcher Zuschnitt von Lebenslagen, welcher Typus von Biographie setzt sich unter entwickelten Arbeitsmarktbedingungen durch? Sprecher: An dieser Stelle kommt Beck dem systemtheoretischen Zugang erstaunlich nahe, da er nicht den Einzelnen im Blick hat, der mit seinen Handlungen die Gesellschaft gestaltet, sondern die Gesellschaftsbedingungen sieht, die den Einzelnen zur Gestaltung einer bestimmten Biographie nötigen. (14)O-Ton(Baecker): Wir leben in einer individualisierten Gesellschaft, jeder muss ein Individuum sein, das heißt für einen Soziologen immer, niemand kann sich auf eine Gruppe zurückziehen, niemand kann sich auf eine Herkunft zurückziehen, niemand kann sich auch auf eine elitäre oder per se subkulturelle Perspektive zurückziehen, sondern jeder muss erstmal für sich gerade stehen. ... Die Leute sind auf der Suche nach ihren Lieblingskonsumgütern, nach ihrem nächsten Karriereschritt, nach ihrem Ausbildungsweg, auf der Suche nach ihren Ferienzielen, allesamt ausschließlich auf sich selber gestellt - natürlich im Zusammenhang einer kulturindustriellen Prägung. Sprecherin: Der soziale Wandel betrifft Beruf und Familie. In der Erwerbsarbeit tritt nach Beck an die Stelle der standardisierten Vollbeschäftigung die flexibel-plurale Unterbeschäftigung. Die einstigen Konstanten Arbeitszeit, Arbeitsort und Arbeitsvertrag, werden relativiert. Niemand kann mehr damit rechnen, von der Ausbildung bis zur Rente lediglich einen Beruf und einen Arbeitgeber zu haben. Auf dem Arbeitsmarkt kursieren Stichworte wie: Zitator: Zeitarbeit, job-sharing, Leiharbeit, lebenslanges Lernen und training on the job. Sprecher: Und die Grenze zwischen Arbeit, Nicht-Arbeit und Arbeitslosigkeit wird fließend. Sprecherin: Auch die familiären Strukturen verändern sich. Die Frauen drängen in den Arbeits- und Karrieremarkt. Das Modell der Kleinfamilie wird von alternativen Lebensformen abgelöst - wie: Zitator: Alleinerziehende, Singles, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, seriell polygame Ehen. Sprecher: Das soziale Risiko wird an den zur Individualisierung gezwungenen Einzelnen delegiert. Diese Einsicht von Ulrich Beck regte in der Soziologie das Konzept der Mikrodiversität an. (15)O-Ton(Baecker 23:25): Das heißt, auf dem Mikro- auf dem kleinsten Level der Gesellschaft sind wir nichts anderes als divers. ... Wir sind nicht mehr zusammenfassbar, in irgendwelche Herkunftsgruppen, wir sind nicht mehr zusammenfassbar in Berufsgruppen. Man muss dabei bleiben, dass die Individualisierung zu dieser Mikrodiversität, also zur Freiheit individueller Entscheidungen führt, was wohlgemerkt nicht heißt, dass jedes einzelne Individuum nicht sehr genau die Zwänge sieht, unter denen es agiert. Die Pointe liegt ja gerade darin, dass dem Individuum niemand dabei hilft, mit jeweils seinen Zwängen fertig zu werden. Um seine Zwänge zu beherrschen, braucht es seine eigenen freien Entscheidungen. Das ist ja sozusagen das größte Ausmaß der Zumutung. Sprecher: Noch einen weiteren entscheidenden Wandel hat Ulrich Beck vorhergesagt. Unter dem Eindruck der gestiegenen Risiken, sowie der sich tatsächlich ereignenden Katastrophen büßt die Wissenschaft an Autorität ein. Ihr Wahrheitsanspruch wird in einem doppelten Sinn demontiert: Sprecherin: Von Außen, weil von Katastrophe zu Katastrophe klarer wird, dass weder Wissenschaft noch Technologie in der Lage sind, die produzierten Risiken zu beherrschen oder auch nur vorherzusagen. Und von innen, weil die Relativität von Erkenntnissen durch die kritische Wissenschaftstheorie immer mehr öffentliches Gehör bekommt. Zitator: Die Wissenschaften werden jetzt beim Gang in die Praxis mit ihrer eigenen objektivierten Vergangenheit und Gegenwart konfrontiert. Sie kommen damit nicht mehr nur als Quelle für Problemlösungen, sondern zugleich als Quelle für Problemursachen ins Visier. In Praxis und Öffentlichkeit treten den Wissenschaften neben der Bilanz ihrer Siege auch die Bilanz ihrer Niederlagen entgegen - und damit das Spiegelbild ihrer uneingelösten Versprechen. Sprecher: Auch diese Beobachtung von Ulrich Beck erfuhr in der Soziologie eine Fortschreibung. Armin Nassehi, an dessen Lehrstuhl Kultursoziologie, Politische Soziologie, Religionssoziologie, Wissens- und Wissenschaftssoziologie zusammenkommen, hat den Begriff der Strukturellen Insuffizienz der Wissenschaften geprägt: (16)O-Ton(Nassehi): In den Funktionssystemen ist es ganz interessant, dass den Funktionssystemen ganz bestimmte Aufgaben von der Gesellschaft ja nicht zugewiesen bekommen im Sinne, dass da jemand sitzt und das zuweist, sondern dass die öffentlichen Erwartungen daran stark sind. Also die öffentliche Erwartung etwa an Wissenschaft ist, uns genau zu sagen, was der Fall ist. Nun gibt es mindestens zwei Erfahrungen, die ganz merkwürdig sind. Die eine Erfahrung ist die, dass wir uns daran gewöhnt haben, dass Prognosen nicht stimmen. Also die Zeitungen und das Radio natürlich auch sind jeden Tag voll von Beschreibungen darüber, dass frühere Prognosen nicht in der Weise eingetreten sind, wie man das gerne gehabt hätte, und niemand wird davon so richtig nervös. Das heißt, wir haben uns daran gewöhnt, dass wissenschaftliche Prognosen nicht eintreffen. Das zweite ist, dass zum gleichen Gegenstand unterschiedliche Experten Unterschiedliches zu sagen haben. Das ist ein Hinweis darauf, dass wir offensichtlich auf das, was Wissenschaft eigentlich soll, nämlich Sicherheit zu produzieren, nicht bauen können, weil wir empirisch feststellen, dass Wissenschaft eher Unsicherheit produziert. Regie: Musikakzent Sprecher: Die Breiten- und Tiefenwirkung von Ulrich Becks "Risikogesellschaft" ist in der Geschichte der Soziologie ohne Vergleich. Eine Fortsetzung findet das Buch 2007, als der mittlerweile emeritierte Soziologie-Professor die "Weltrisikogesellschaft" vorlegt. Hier erweist er sich wiederum als scharfer Prognostiker: wenn er über globale Finanzkrisen schreibt, als habe der Zusammenbruch der Lehman-Brothers-Bank von 2008 bereits stattgefunden. Sprecherin: Aber die weltweite Bankenkrise, die sich zur globalen Wirtschaftskrise auswächst, begann erst, als Becks Buch "Weltrisikogesellschaft" bereits auf dem Markt war. Woher also dieses erneut unter Beweis gestellte prophetische Talent? (17)O-Ton(Beck): Das ist eine schöne Frage, die mich auch sehr ehrt, aber sie liegt in meinem Verfahren. Es ist nicht so sehr, dass ich auf die jeweiligen Tatsachen, die uns aus den Medien entgegen springen, gucke, sondern dass ich versuche, diese innere Logik, dieses Drehbuch der Risikodramaturgie soziologisch zu rekonstruieren. Viele dieser Dinge, die systematisch in dieser Logik angelegt sind, sind konsequent entwickelt worden. Und die Überraschung liegt eigentlich darin, dass sich die Wirklichkeit an dieses soziologische Drehbuch auch hält. ... Dass bei Finanzrisiken die Kontrollierbarkeit behauptet wird und permanent schon sichtbar wird, dass die Institutionen gar nicht in der Lage sind, das zu gewährleisten, das konnte man fast schon mit bloßem soziologischem Auge sehen. Dass es wirklich zu einer Definition eines globalen Risikos kam, weil der Hauptakteur der amerikanischen Wirtschaft selbst zum Zentrum dieser Risikoproduktion und Risikodefinition wurde, das hat mich in gewisser Weise selbst überrascht, aber es war gleichsam auch in der Logik des Argumentes angelegt. Regie: Musik Sprecher: Seit Fukushima haben die technologisch produzierten Risiken noch einmal ihr Gesicht verändert. War der Unfall von Tschernobyl noch auf die folgenschwere Verkettung menschlicher Fehler zurückzuführen, so hat sich in Japan eine Katastrophe trotz aller erdenklichen Sicherheitsvorkehrungen ereignet. Sprecherin: Doch Ulrich Beck ist auch nach 25 Jahren der Beschäftigung mit dem Thema im Grunde optimistisch. Er sieht nicht die Apokalypse, sondern die Möglichkeit ihrer Verhinderung durch sich neu formierende, politisch wirksame Betroffenengemeinschaften und bleibt damit seinem bereits 1986 in der "Risikogesellschaft" eingeführten Ansatz treu. (18)O-Ton(Beck): Wenn man über diese Themen öffentlich spricht oder auch persönlich nachdenkt, dann herrscht zunächst einmal das Gefühl der Bedrohung vor und auch der Ausweglosigkeit. Was soll man tun? Der Einzelne ist dem völlig ausgeliefert. Alles verfinstert sich, und die Zeit scheint uns davon zu laufen, wie uns auch immer wieder die Klimaforscher sagen. Wenn man das aus einer soziologischen Perspektive betrachtet, dann ist es merkwürdigerweise gerade diese Art der Bedrohung, die jetzt nicht mehr nur Einzelne betrifft, sondern möglicherweise sogar ganze Länder oder im Grenzfall sogar die ganze Menschheit. Diese Art von Bedrohung stiftet eine neue Bewegung, eine neue Möglichkeit, über Grenzen hinweg miteinander zu kooperieren, um das abzuwenden. Risiko ist ja nicht die Katastrophe, Risiko ist die Antizipation der Katastrophe in der Gegenwart, um die Katastrophe letzten Endes zu verhindern. Regie: Musik und aus. 1