Zeitfragen 19. April 2017 Vor 50 Jahren: Die Adenauer-Ära Eine Zeitreise ins Nachkriegsdeutschland von Winfried Sträter Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Musik Caterina Valente (1967-Schlager:) Wo meine Sonne scheint Wo meine Sonne scheint, wo meine Sterne stehn, da kann man der Hoffnung Land und der Freiheit Licht in der Ferne sehn. Autor Alle waren solide in Lohn und Brot, jeder an seinem Platz, die Haare ordentlich gekämmt, Gut und Böse klar unterschieden. Die Konfliktlage in der Welt: übersichtlich. Das parteipolitische Spektrum im Bundestag auch. Was für eine Zeit! "Der Freiheit Licht in der Ferne" besang Caterina Valente. Hat es mich gestört, dass ich damals als kleiner Junge nach dem Friseurbesuch mit einem "Pottschnitt" nach Hause kam, die Haare glatt und kurz und hochgeschnitten wie die Wehrmachtssoldaten früher? Oder dass ich als Linkshänder "das feine Händchen" benutzen musste, als ich schreiben lernte - das rechte, weil das rechte das richtige Händchen war? Und dass noch ein Gummiknüppel auf dem Küchenschrank lag für den Fall, dass wir nicht hören wollten? Alles hatte seine Ordnung. April 1967. Staatsbegräbnis für Konrad Adenauer. Aus der Predigt von Kardinal Frings: "Ich glaube, wir können von Konrad Adenauer sagen, dass er ein Mann des Glaubens war, dass er sein Leben aus dem Glauben heraus gestaltet hat." Ende einer Ära, der die nachwachsende Generation bald ihren Stempel aufdrückte: Oh du schreckliche, muffige, eisige Adenauer-Zeit! Lied anspielen: "Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien" Autor Das war der Ausgangspunkt gewesen 1948. O-Ton Adenauer 1. 9. 1948 "Die drei Mächte, die sich entschlossen haben, diesen Rat ins Leben zu treten, ließen sich dabei von der Absicht leiten, dass dem politisch völlig auseinandergebrochenen deutschen Volke eine neue politische Struktur gegeben werde. Denn, meine Damen und Herren, einmal muss ein Anfang gemacht werden." Autor Adenauer im Parlamentarischen Rat, der 1948/49 das Grundgesetz ausarbeitete, um für die Westzonen wieder ein staatliches Gebilde aufbauen zu können. Eine deprimierende Zeit des wirtschaftlichen Elends, des Flüchtlingschaos, der moralischen Erniedrigung, des wirtschaftlichen und politischen Bankrotts. Eigentlich war Adenauer in jenen ersten Nachkriegsjahren gar nicht der richtige Mann, um die Zukunft bewältigen zu können. Über 70, viel zu alt und ein harter Konservativer. Jeder wusste, dass das Pendel nach der rechtsextremen Hitlerzeit erst mal nach links ausschlagen musste. Die neu gegründete CDU hatte einen idealen Kandidaten dafür: Karl Arnold, 46 Jahre jung, seit 1947 Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und ein leidenschaftlicher Verfechter des Prinzips, über Parteigrenzen hinwegzudenken. O-Ton Karl Arnold in Silvesteransprache 1947 "Die Gesetze des Handelns aber müssten bei den Kräften der Vernunft bleiben, wenn eine Neuordnung werden soll. Autor Aber Adenauer setzte sich gegen seinen innerparteilichen Rivalen durch und drückte der ersten Bundestagswahl 1949 seinen Stempel auf: Freiheit und Wohlergehen gegen Sozialismus und Planwirtschaft. Noch aber schien die SPD die erste Regierungspartei der Bundesrepublik zu werden. Der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher war überzeugt, dass er für den ersten Kanzler im Nachkriegsdeutschland prädestiniert sei. Verfolgter des Nazi-Regimes. Deutscher Patriot, der deutsche Interessen gegenüber den Alliierten vertrat. Antikapitalist in einer Zeit, in der in London die Labour Party regierte, mit der Hoffnung, Westeuropa auf das Gleis eines demokratischen Sozialismus zu setzen. O-Ton Kurt Schumacher - deutsche Opfer Wenn wir jetzt sehen, welche Opfer die Deutschen gebracht haben in dem hoffentlich vorübergehenden Verlust ihrer staatlichen Existenz, in dem hoffentlich vorübergehenden Verlust weiter landwirtschaftlicher Gebiete des deutschen Ostens, in der hoffentlich vorübergehenden Zerreißung Deutschlands in nationaler, kultureller, wirtschaftlicher und staatlicher Hinsicht und wenn wir das wirtschaftliche Desaster anschauen, nun, werte Versammlung, das sind schon Reparationen. Autor Schumacher oder Adenauer: das war 1949 eine echte politische Alternative, die die Volksparteien heute nicht mehr bieten können. War Schumacher progressiv und Adenauer konservativ? Das ist im Nachhinein nicht so eindeutig zuzuordnen, wie es damals schien. Schumacher, der sich selbstverständlich zu den progressiven Kräften zählte, wetterte gegen Reparationen und die Politik der Alliierten und schlug dabei erstaunlich nationale Töne an. Und dann - die Art zu reden. Deutsche Redner hatten ihr Publikum angebrüllt. Nicht nur, weil sie das Reden ohne Lautsprecher gelernt hatten. Sondern - es war auch eine Haltung. Spätestens seit 1933 wurde in Deutschland gewissermaßen immer nur gebrüllt. Schumacher klang noch so wie die Redner früher. O-Ton Schumacher "Heute ist die Frage: Kommunist oder Sozialdemokrat, die Frage: Russe oder Deutscher?" (Jubel) Autor Adenauer schlug in seinen Reden einen wohltuenden Erzählton an, erst recht im Radio. Wahlkampf 1949: O-Ton Adenauer (MM 1999 Bundestagswahl) Vergessen Sie einmal, dass, während ich zu Ihnen spreche, draußen ein Wahlkampf tobt, der sehr hässliche Begleiterscheinungen zeitigt. Während in der bisherigen Staatengeschichte bei Zusammenbrüchen von Staaten und Staatsregimen, stets eine Regierung da war, die auf irgendeine legitime oder legitimierte Weise von ihrer abtretenden Vorgängerin die Aufgaben übernahm, bestand in Deutschland nach 1945 auf vielen Gebieten bis jetzt ein Vakuum, eine völlige Leere. Daraus mögen Sie die geschichtliche Bedeutung der Bundestagswahlen erkennen. Autor Der Kandidat spricht zu seinen Hörern, als ob er nicht Wahlkampf mache, sondern eine Neujahrsansprache halte. Aber die politische Botschaft, die er in seiner Ansprache verpackt, ist giftig. O-Ton Forts. Adenauer Bei Ihnen, den Wählern, liegt es am letzten Ende, wie diese Leere ausgefüllt werden soll. Ob mit einer Institution, einem Parlament und einer Regierung, die uns wieder dem Zwang, der Staatsallmacht, dem Sozialismus in die Arme führt, oder mit einem Bundestag und einer Bundesregierung, dem das Schicksal des einzelnen, seine Freiheit und sein Wohlergehen oberstes Gesetz ihres Handelns sein wird. Autor Das ist Teil des Phänomens und des Erfolgs Adenauers: Er stellte seine Gegner in die Ecke - als ob Schumachers SPD fast so schlimm sei wie Ulbrichts SED. Das war ungerecht, um nicht zu sagen: infam, wenn man bedenkt, wie unerbittlich Schumacher und die SPD gegen die Machthaber in der DDR kämpften. Aber die deutsche Nachkriegsgesellschaft war empfänglich dafür, geprägt durch das alte Freund-Feind-Denken der Nazi-Zeit und das neue Freund-Feind-Schema des Kalten Krieges. O-Ton Adenauer Der Kalte Krieg wird mit aller Kraft gegen uns geführt. Die 5. Kolonne steht bei uns überall bereit. Autor Adenauer warnte unermüdlich vor der kommunistischen Gefahr - und, fast in einem Atemzug, vor den Sozialdemokraten als unsicheren Kantonisten - schließlich waren sie es, die bei den Wahlen auf Abstand zu halten waren. Bei der ersten Bundestagswahl 1949 gelang das nur knapp, mit 31 zu 29 Prozent. Bei der Wahl zum Bundeskanzler benötigte Adenauer die absolute Mehrheit, das hieß bei 402 Abgeordneten: 202 Stimmen. O-Ton 15. 9. 1949 - Bundestagspräsident Köhler, Verkündung Kanzlerwahl Mit Ja haben gestimmt 202, mit Nein 142 gestimmt, 44 Abgeordnete haben sich der Stimme enthalten, und eine ungültige Stimme. Autor 202 von 202 benötigten Stimmen - inclusive seiner eigenen Stimme: Für Adenauer war es egal, wie knapp er die Hürde genommen hatte. Entscheidend war, dass er nun die Bundesrepublik nach seinem Bild formen konnte. Und davor hatte er bemerkenswert wenig Angst. Einem weniger selbstgewissen Politiker wäre mulmig geworden bei dem Gedanken an die Aufgabe, eine Demokratie aufzubauen - nach dem Desaster der Weimarer Republik, der Fremdheit der Deutschen gegenüber der Demokratie, der schwer einschätzbaren Nachwirkungen der Nazi-Zeit. Adenauers Stärke war, dass er genau wusste, was er für sein Land wollte: zuvorderst die Verbindung zum ehemaligen Kriegsgegner USA. O-Ton Regierungserklärung Adenauer 1949 Lassen Sie mich, meine Damen und Herren, in dieser Stunde mit besonderem Dank der Vereinigten Staaten von Nordamerika gedenken. Ich glaube nicht, dass jemals in der Geschichte ein siegreiches Land es versucht hat, dem besiegten Lande in der Weise zu helfen und zu seinem Wiederaufbau und zu seiner Erholung beizutragen, wie das die Vereinigten Staaten gegenüber Deutschland getan haben und tun. Autor Adenauers Dank an die USA in seiner ersten Regierungserklärung 1949 wies den Weg zu einer grundlegenden außenpolitischen Neuorientierung: feste Einbindung in den Westen. In der Innen- und Gesellschaftspolitik war Adenauer auf den ersten Blick kein Neuerer. O-Ton Regierungserklärung Adenauer 1949 Unsere ganze Arbeit wird getragen sein von dem Geist christlich-abendländischer Kultur und von der Achtung vor Recht und vor der Würde des Menschen. Autor Die Ära Adenauer gilt als die Zeit der Restauration. Wäre etwas anderes möglich gewesen nach der materiellen, moralischen und intellektuellen Selbstzerstörung Deutschlands in der Nazizeit? Die SPD hätte an die Traditionen der Arbeiterbewegung angeknüpft - bei Adenauers CDU wurde stattdessen das christliche C groß geschrieben. Kirchenmusik einblenden, unterlegen Autor Sehr schnell hatten sich nach 1945 wieder die Kirchen gefüllt. Nach den Verheerungen und den Verbrechen im Krieg erleichterte der kirchliche Segen den moralischen Neuanfang. Für die katholische Kirche, für Bischöfe, Priester und Prälaten, war diese unverhoffte Wende ein Geschenk des Himmels. Seit 1871 war Deutschland protestantisch dominiert. Mit Adenauer an der Spitze war die neue Republik plötzlich rheinisch-katholisch geprägt. Man konnte "katholische Luft atmen", wie Heinrich Böll schrieb. Kirchenmusik noch mal freistehen lassen Autor Die katholische Kirche konnte nun der Gesellschaft ihren Stempel aufdrücken. Was heute parteiübergreifend als modern angesehen wird, musste bei der Verabschiedung des Grundgesetzes und in der praktischen Politik der 50er-Jahre der Adenauer-Regierung mühsam abgerungen werden: die Gleichberechtigung von Mann und Frau. O-Ton Frieda Nadig 1949 Am reformbedürftigsten ist zweifellos das eheliche Güterrecht. Die Gleichstellung von Mann und Frau muss aber auch im Beamtenrecht erfolgen. Die Bestimmung, dass die Frau nur bis zum 35. Lebensjahr ins Beamtenverhältnis überführt werden kann, muss beseitigt werden. Seine Beibehaltung wäre ein Verstoß gegen das Grundgesetz. Von außerordentlicher Bedeutung ist die soziale und wirtschaftliche Gleichstellung der Frau. Autor Die Reformen, die die SPD-Abgeordnete Frieda Nadig in einer Bundestagsdebatte Ende 1949 einforderte, um den Gleichberechtigungsparagrafen des Grundgesetzes mit Leben zu füllen, ließen lange auf sich warten. Das war der Muff der Adenauer-Ära. Die Prüderie. "Was Eheleute wissen müssen": So lautete ein katholischer Ratgeber zur Aufklärung, da ja nach der Eheschließung etwas Unaussprechliches geschah, bevor die Kinder kamen und die Familie vollständig wurde. Zitator[1] "Wenn Mann und Mädchen sich begegnen und wenn ihr Empfinden zueinander dann wächst, wenn aus der Verliebtheit Liebe wird, dann drängen sie zueinander. Das ist ganz natürlich und recht. Vor der Ehe ist es notwendig, diese Kraft des Zusammendrängens zu beherrschen, bis die Stunde geschlagen hat, in der Mann und Frau sich das Sakrament der Ehe gespendet haben. Dann aber ist die Einswerdung nicht reife Frucht, sondern Blüte erst, die reifen will." Autor "Was Eheleute wissen müssen." O-Ton ("Die Sünderin" 1951) Anfangs wirst Du manchmal traurig sein, ich weiß. Denn es war ja schön mit uns beiden. - Ich bleibe bei Dir, Liebster. - Autor "Die Sünderin" - Hildegard Knef - ein Hauch Nacktheit auf der Leinwand. Einer der größten Kinoskandale der 50er-Jahre. Das war der Muff der Adenauer-Ära. Das Eingezwängtsein in sehr steifen Konventionen. Adenauer war 1876 geboren, trug Zylinder, liebte die bürgerliche Ordnung seiner Jugendjahre in der Kaiserzeit. Dass ein so alter Mann Westdeutschland aus dem Sumpf der Nazizeit zog und in eine neue Zeit führte, war im Grunde kurios, auf jeden Fall stilbildend. Zumeist übersehen wird, dass dieser alte Mann auch einer der größten Neuerer der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts war. Gemeinsam mit dem Propheten der sozialen Marktwirtschaft, Ludwig Erhard, gelang Adenauer der große Bruch in der Geschichte des deutschen Konservatismus. Traditionell lehnten die deutschen Konservativen die Demokratie ab. Mit der CDU bekannten sich die deutschen Konservativen zum ersten Mal zur Demokratie. Ein kaum zu überschätzender Fortschritt für die Stabilität der Bonner Republik. Und: Die Union überwand die konfessionellen Gegensätze, die Aufteilung in protestantische Deutschnationale und katholische Zentrumspartei - ein großer Fortschritt, zumal sich ein ähnlicher Prozess in der Gewerkschaftsbewegung abspielte. Die Einheitsgewerkschaft trat an die Stelle der alten Richtungsgewerkschaften. Auch diese fundamentale Neuerung wäre ohne die Unterstützung durch die Unionsparteien nicht möglich gewesen. Selbst auf wirtschaftlichem Gebiet gab es grundlegende Neuerungen. Allen voran: das Verhältnis von Kapital und Arbeit - die Mitbestimmung in der Montanindustrie, im Kernbereich der damaligen deutschen Industrie. Schließlich: Adenauers großer Coup im Wahljahr 1957: die Rentenreform. O-Ton (Anton Storch 1957 "Ich möchte gerade unseren Alten und Gebrechlichen sagen, dass ich mich sehr darüber freue, dass sie nunmehr ihren Lebensabend in Ruhe und Frieden und ohne Sorge vor der Not der nächsten Tage gestalten können." Autor Bundesarbeitsminister Anton Storch 1957. Als im selben Jahr der dritte Bundestag gewählt wurde, war die Republik auf eine Weise konsolidiert, wie es niemand 1949 erwartet hätte. Wirtschaftswunder, gefestigtes Regierungssystem, Einbindung in das Verteidigungsbündnis NATO, Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. All das war mit dem Namen Adenauer verbunden, auch wenn es nicht die Leistung eines einzelnen Politikers war. Aber das Bundestagswahlergebnis von 1957 - 50,2 Prozent, absolute Mehrheit für die Unionsparteien - war ein Triumph des Kanzlers. Die SPD hatte gegen ihn keine Chance. Bemerkenswert ist, wie wenig souverän er trotzdem mit seinem politischen Gegner umging. O-Ton Adenauer (DLR-Archiv 16. 8. 1957) "Die Politik, die die sozialdemokratische Führung will, macht Deutschland zum russischen Satelliten." Autor Für den Sozialdemokraten Fritz Erler sprengte Adenauer den Rahmen des demokratisch Tolerierbaren: O-Ton Fritz Erler (DLR-Archiv 16. 8. 1957) Der Bundeskanzler hat wiederholt den Ausspruch getan, die Sozialdemokratie dürfe niemals an die Macht, er sei fest entschlossen, hat er sogar gesagt, sie niemals an die Macht zu lassen, weil das den Untergang des deutschen Volkes bedeuten würde. Meine Damen und Herren, wer in einem demokratischen Staatswesen sagt, die einzige andere große Partei, um die es in Wahrheit geht, die dürfe niemals an der Macht teilhaben, der beansprucht damit für seine Partei das Recht der Alleinherrschaft für immer. Das ist ein Anschlag auf die Grundprinzipien der freiheitlichen Demokratie." Autor Aus der Rückschau ist es kaum verständlich, warum Adenauer im Wahlkampf 1957 so sehr auf die im Grunde darniederliegende SPD einschlug statt viel mehr auf die eigenen Leistungen zu verweisen. 1957 allerdings regte sich Protest gegen die Diffamierungen. Rudolf Augstein kommentierte unter dem Pseudonym Jens Daniel kurz vor der Wahl im September 1957 zornig: Zitator "Der Vergleich zwischen den Personen Hitler und Adenauer ist wahrhaft unzulässig - der Vergleich zwischen dem Volk Hitlers und dem Volk Adenauers scheint dagegen geboten. ... Die Verketzerung der Opposition .. ist schon wieder so weit vorgeschritten, wie es vor zwölf Jahren, bei Auflösung der Konzentrationslager, nur die schlimmsten Pessimisten für möglich gehalten haben. Im Hinterhof der deutschen Seele dämmert ein Misthaufen, den Hitler und Adenauer, jeder nach seinem Zeitgeist, mit atavistischem Instinkt aufgestöbert und sich nutzbar gemacht haben: die Genugtuung, wenn die jeweilige Opposition vom starken Mann an der Spitze durch die Gosse geschleift wird. ... Ist es statthaft, um der Erringung einer parlamentarischen Mehrheit willen den inneren deutschen Schweinehund loszulassen? Autor Die Prägungen durch die Nazizeit waren noch lange nicht überwunden. Die Bundesrepublik hatte Züge eines autoritären Staates. Aber: Es regte sich etwas. Im Januar 1958 rechneten Thomas Dehler (FDP) und Gustav Heinemann (SPD) auf eine Weise mit Adenauers Deutschlandpolitik ab, dass die Regierungsbank sprachlos war. So etwas hatte es noch nie gegeben. Die Bundesbürger konnten das Ereignis am Radio verfolgen, da die Debatte live übertragen wurde. O-Ton (Bundestagsdebatte 23.1.58 / Dehler und Heinemann) Dehler: "Der Kampf zwischen Christentum und Bolschewismus, zwischen Christ und Antichrist: wer so spricht, meine Damen und Herren, will keine Politik. Der will sie nicht, der geht ihr aus dem Wege, der sagt, diese Menschen drüben, Verbrecher, Gangster, wir haben´s doch hier gehört, mit denen kann man nicht verhandeln. ... Sie haben unser Volk von der politischen Entscheidung weggeführt. So gewinnt man Wahlen, aber man verliert die Demokratie!" Heinemann: Ich habe dem Herrn Bundeskanzler nie und keinen Augenblick vorgeworfen, dass er einen Ausgleich betrieb mit den westlichen Nachbarn. Das war unerlässlich. Aber ich habe ihm immer vorgeworfen, dass er mit diesem westlichen Ausgleich neue Ostfeindschaft verbunden hat. ... Wer Deutschland immer noch tiefer spalten will, kann es nicht besser machen, als in Fortsetzung immer noch dieses Weges. Herr Bundeskanzler, für mich persönlich bedeutet dieses Alles an Sie die Frage, ob sie nicht nachgerade zurücktreten wollen." (Beifall, ausblenden) Autor Weihnachten 1959 schreckten Hakenkreuz-Schmierereien die Öffentlichkeit auf. Zitator "Deutsche fordern: Juden raus!" Autor Das hatten Rechtsradikale an die wiederaufgebaute Kölner Synagoge geschmiert. Heinz Galinski, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Berlin, war alarmiert: O-Ton Galinski (RIAS, Zeit im Funk 28. 12. 1959) Die Synagogenschändung in Köln stellt eine Kette unliebsamer Ereignisse in der Bundesrepublik dar. Die Warnungen, die von unserer Seite in letzter Zeit erhoben wurden, sind immer wieder verniedlicht worden. Autor Im Berliner Abgeordnetenhaus gab der Regierende Bürgermeister Willy Brandt eine Erklärung ab: O-Ton Brandt (RIAS, Zeit im Funk 7. 1. 1960) Wenn man die Meldungen aneinander reiht, könnte man meinen, eine weit verstreute Brigade des Teufels habe Urlaub bekommen und sei auf uns losgelassen. Wir haben alle miteinander Grund, uns zu schämen. Autor Ein dumpfes Gefühl kam auf: Hatten die Nazis überwintert und wagten sich nun wieder hervor? War die Bonner Republik nur scheinbar stabil, nur eine Demokratie von Gnaden der Alliierten? Rächte sich Adenauers sehr pragmatischer Umgang mit den ehemaligen Nazis? Adenauer wollte nach vorne schauen, nicht zurück. Eine berühmt-berüchtigte Grundgesetz- Änderung ermöglichte 1951 Heerscharen von NS-Belasteten die Wiedereinstellung in den Öffentlichen Dienst. Im Gegenzug signalisierte das Verbot der rechtsradikalen Sozialistischen Reichspartei 1952, dass ehemalige Nazis nur dann wieder ihren Platz in der Gesellschaft haben sollten, wenn sie sich der neuen politischen Ordnung fügten. Heute wissen wir nach jahrzehntelanger historischer Forschung, wie tief und wie breit die deutsche Gesellschaft in das NS-System verstrickt war. War Adenauers Umgang mit den Tätern die einzig mögliche: Ich lass Euch in Ruhe, und Ihr lasst mich in Ruhe? Sein Kalkül ging auf: Wie die Deutschen dem Führer bis in den Untergang gefolgt waren, so folgten die Westdeutschen nach 1949 dem Kanzler - im Vertrauen, dass er das Land wieder aus dem Schlamassel herausführen würde. 1959 unternahm ein junger Nachwuchspolitiker, der noch Journalist war, eine Bestandsaufnahme zum zehnjährigen Bestehen der Bundesrepublik - Egon Bahr. O-Ton Egon Bahr Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit hat die Bundesrepublik so, wie sie heute ist, nicht mit geformt. Besser: sie hat erst spät begonnen. .. Nun wäre es absurd gewesen, hätte man von den Deutschen verlangt, während sie den Schutt räumten und Fundamente gossen, ständig im Chor vor sich hinzumurmeln, wir fühlen uns schuldig, wir fühlen uns schuldig. So etwas geht einfach nicht. Der Versuch, sich von der Geschichte zu beurlauben, war seelischer Selbsterhaltungstrieb und gekoppelt mit dem staatlich geförderten Erfolgsdenken ergab das fast zwangsläufig eine Haltung, ... nur tun zu wollen, was unumgänglich ist, die Verantwortung zu übertragen, der Pflicht zu genügen, um in Ruhe leben zu können. Wird das so bleiben? ... Die Kinder des Wirtschaftswunders sollten die Pubertätsjahre hinter sich gelassen haben. Was wird aus diesem Bundesbürger werden? Autor Für Konrad Adenauer war die Kanzlerdämmerung angebrochen. Ihm ging es wie vielen anderen langgedienten Politikern: Er fand keinen Ausweg aus der Politik. Er war kein Despot, aber ein Mann, der die Kunst der Politik derart gut beherrschte, dass er sich keinen anderen als Nachfolger vorstellen konnte. Plötzlich wollte er Bundespräsident werden, 1959, dann doch nicht, als er erkannte, wie wenig Macht das Staatsoberhaupt hatte. Dann wollte er ein Regierungsfernsehen installieren, aber das Bundesverfassungsgericht legte sein Veto ein. Schließlich die Spiegel-Affäre 1962. O-Ton Adenauer 1962 Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande. Autor Behauptete Adenauer im Bundestag, als der "Spiegel" über Probleme der Bundeswehr berichtete. O-Ton Forts. Adenauer 1962 Je mehr journalistische Macht jemand in Händen hat, desto mehr ist er verpflichtet dazu, die Grenzen zu wahren, die die Liebe zum Volk - jetzt stellen Sie sich ... (Tumult, Glocke) Autor Nach der willkürlichen Verhaftung von Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein zeigte sich, dass in der Bundesrepublik eine kritische Öffentlichkeit herangewachsen war, die sich der Regierung widersetzte - in den Medien und auf der Straße. Ein demokratischer Geist wehte durch die Republik wie seit 1848 nicht mehr in Deutschland. Die NS-Vergangenheit von Politikern wurde nicht mehr so einfach hingenommen wie in den 50er-Jahren. 1963 musste Konrad Adenauer als Bundeskanzler zurücktreten. Die FDP, der kleine Koalitionspartner, hatte darauf bestanden, aber auch in der CDU war man seiner überdrüssig geworden. Als er im Januar 1967 seinen 91. Geburtstag feierte, gab es nicht, wie üblich, einen großen Empfang, sondern nur einen kleinen. O-Ton 1 RIAS-Reporter Jan. 1967 Dieser Stehempfang mit Sekt und Orangensaft war vom 91jährigen kurzfristig genehmigt worden. Die Prominenz eilte herbei. In der Kürze der Zeit nicht alle im schwarzen Anzug, nicht alle mit Geschenk und Blumenstrauß. Aber doch alle darauf bedacht, dem Alten zum 91jährigen die Hand zu schütteln. Autor Der Jubilar regierte nicht mehr, aber er herrschte noch. Dass er die Politik immer noch nicht lassen konnte, wurde ihm gesundheitlich zum Verhängnis. Im Februar 1967 reiste der 91jährige nach Spanien, zu politischen Gesprächen mit der Regierung, sehr zur Freude des weithin isolierten Diktators Franco. Er kehrte gesundheitlich angeschlagen zurück, besuchte trotzdem noch eine CSU-Veranstaltung in München und erkrankte danach lebensgefährlich, sodass ihm die Ärzte nicht mehr helfen konnten. Am 19. April 1967 erklärte Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier: O-Ton Gerstenmaier Ich setze das Haus davon in Kenntnis, dass heute um 13.21 Uhr das älteste Mitglied des Deutschen Bundestages und der langjährige Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer verschieden ist. Musik aufblenden: Rolling Stones 1967 Autor Die Westbindung der Bundesrepublik war Adenauers zentrales politisches Anliegen gewesen. Mit vollem Erfolg. Im März/ April 1967 begeisterten die Rolling Stones in Bremen, Köln, Dortmund und Hamburg ihre Fans. Die Jugend war im Westen angekommen. Etwas anders als Adenauer sich das vorgestellt hatte, war sein politisches Lebenswerk von Erfolg gekrönt. Die bundesdeutsche Gesellschaft öffnete sich, sie war bereit, mehr Demokratie zu wagen. [1] "Was Mann und Frau wissen müssen", S. 34