COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 07. Juli 2014, 19 Uhr 30 Das Geschäft mit der Angst Wie Versicherungen und Banken uns das Fürchten lehren Von Johannes Zuber Musik 1 One Round in the Chamber Sprecher 2: Ich hab' Angst! Sprecherin 2 Jeder Mensch hat Angst. Sie gehört zu den menschlichen Grundgefühlen, genau wie Ekel, Freude oder Wut. Sprecher 2 Überall Gefahren! Sprecherin 2 Wir fürchten uns vor Unfällen, Armut, der Zukunft - dem Tod. Sprecher 2 Nirgendwo ist man noch sicher! Sprecherin 2 Angst entsteht durch Bedrohung von außen. Auch, wenn wir uns die Gefahr nur einbilden. Sprecher 2 Kann mir denn niemand Sicherheit bieten? Sprecherin 2 Es gibt unzählige Versicherungen und Finanzprodukte, die vor Alltagsgefahren, Geldentwertung und Altersarmut schützen sollen. Atmo 2 Scratch Sprecherin 1 Aber: Brauchen wir das alles überhaupt? Sprecherin 2: [Mit Filter Telefon] Die ganze Welt ist voll armer Teufel, denen mehr oder weniger angst ist. Johann Wolfgang von Goethe. Musik 2 LOOP Sunrise Sprecher 1 Darf ich mich vorstellen? Ich bin mittleren Alters, verdien' durchschnittlich und bin weder dumm noch übermäßig schlau. Ich hab' kein Gesicht und keinen Namen. Ansonsten geht's mir aber eigentlich ganz gut. Ich radle nur mit Helm, geh' regelmäßig zur Vorsorgeuntersuchung und hab' ein Konto bei der Sparkasse. Und trotzdem: Sicher kann ich mich nie fühlen. Es kann ja immer irgendwas passieren. So ein bisschen Angst kann da ja eigentlich nicht schaden. Oder? O-Ton Alm 2 Angst hat ja eine Doppelfunktion. Sprecherin 1 Barbara Alm, Psychiaterin und Oberärztin am Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim. O-Ton 3 Alm Angst hat was sehr Positives, sehr Aktivierendes. Angst schützt mich vor Gefahr, ich bin wachsam. Aber auch: indem ich mich damit auseinander setze, mache ich eine Weiterentwicklung. Das ist der eine Aspekt. Sprecherin 1 Angst ist unverzichtbar für den menschlichen Selbsterhaltungstrieb. Die Furcht vor wilden Tieren oder großen Höhen hat schon in der Steinzeit das Überleben erleichtert. Sprecher 1 Sag' ich doch: Wer vor nix Angst hat, lebt auch nicht lang. O-Ton Alm 5 Der andere Aspekt ist der hemmende Aspekt. Also wenn ich Angst habe, dann vermeide ich, dann gehe ich dieser Situation aus dem Weg und mir fehlt es, dass ich Entwicklungsschritte mache - also ich ziehe mich zurück, ich setze mich nicht damit auseinander. Sprecherin 1 Wird dieser hemmende Aspekt zu stark, kann die Angst zu einem ernsthaften psychischen Problem werden. O-Ton Alm 1 Allen Angststörungen gemeinsam ist, dass sie eine inadäquate Angst als Voraussetzung haben. Es kommt eine vegetative Begleitsymptomatik dazu: Also da kann man im Kopf anfangen mit Schwindel, Sehstörungen, Mundtrockenheit, Herzklopfen, Zittern, Kribbeln, Magendruck, Harndrang - all das. Sprecherin 1 Und Angst kann das gesamte Leben umkrempeln. O-Ton 4 Alm Also Angst kann, wenn sie lange besteht, gravierende Folgen auf die berufliche Entwicklung, den Alltag, die Beziehung haben. Manche Patienten, die lange bestehende Angststörungen haben, die sind schon jahrelang nicht mehr aus dem Haus gegangen. Weitere Folgen können natürlich sein, dass oft Menschen mit einer längeren Angststörung eine depressive Störung entwickeln; oder aber dann, was auch viel besteht, sind Suchterkrankungen. Sprecherin 1 Aber selbst wenn Ängste nicht krankhaft werden: Sie haben doch enormen Einfluss auf unser Verhalten. Atmo 3 (Nobelpreisverleihung) Dear Professor Kahneman. Your important insights from cognitive psychology ... [Im Hintergrund weiter laufen lassen] Sprecherin 1 2002 erhielt der israelisch-US-amerikanische Psychologe Daniel Kahneman den Wirtschafts-Nobelpreis für die Entwicklung der Prospect Theory. Atmo 3 weiter ... from the hands of his majesty, the king. (Fanfaren, Applaus) [ausblenden] Sprecherin 1 Kahneman erweiterte die Wirtschaftswissenschaft um psychologische Aspekte. Bis dahin basierten die meisten Theorien auf der Annahme, eines rational handelnden Menschen. Demnach wäre jede Entscheidung eine kühl kalkulierte Abwägung zwischen Nutzen und Risiken. Die Fragen wären: Welche möglichen Folgen hat eine Entscheidung? Und: Wie wahrscheinlich ist es, dass diese Folgen auch eintreten? Nur: leider handeln wir nicht so rational, wie wir glauben. Vor allem, wenn wir Angst haben. Sprecherin 1: [Mit Filter Telefon] Wer den Kopf einzieht, verliert den Überblick. Anke Maggauer-Kirsche. Sprecherin 1 Das Wort Angst kommt vom lateinischen Angustia, Enge. Wenn wir uns fürchten, fühlen wir uns beengt, unsere Handlungsspielräume sind eingeschränkt. Und Angst haben die meisten Menschen laut Daniel Kahneman und seiner Prospect Theory vor allem vor Verlusten. Verluste bewerten wir viel größer als Gewinne in der gleichen Höhe. Eine Gehaltskürzung um 100 Euro schmerzt mehr, als eine Erhöhung um 100 Euro uns freut. Und dazu kommt, dass wir Wahrscheinlichkeiten falsch einschätzen. Sehr geringe Risiken werden oft viel höher eingeschätzt, als sie in Wirklichkeit sind. Die Kombination aus diesen beiden Erkenntnissen - Angst vor Verlusten und falsche Einschätzung von Risiken - ist Teil des Geschäftsmodells einer ganzen Branche. Musik Sprecherin 2 Nur eine Haftpflicht-Versicherung schützt Sie und Ihre Familie vor ruinösen Schadensersatzansprüchen. Sprecher 2 Es kann jeden treffen - jeden Tag, in jedem Moment! Sprecherin 2 Eine Berufsunfähigkeitsversicherung war nie wichtiger als heute! Sprecher 2 Oder wollen Sie, dass Ihre Familie verarmt, wenn Ihnen etwas passiert? Sprecherin 2 Jeder Mensch sollte sein Haus und seinen Besitz absichern. Sprecher 2 Sonst haben Sie bald nichts mehr. Gar nichts! Sprecherin 2: [Mit Filter Telefon] Ein großer Teil der Sorgen besteht aus unbegründeter Furcht. Jean Paul Sartre. Sprecherin 1 Fast jeder zweite Deutsche fürchtet, schwer zu erkranken. Mehr als die Hälfte hat große Angst vor Naturkatastrophen. Das ist das Ergebnis einer alljährlichen Umfrage der R+V Versicherung. Es ist wohl kein Zufall, dass es eine Versicherung ist, die eine solche Umfrage finanziert. Schließlich lebt die Branche davon, Ängste zu erkennen - und vermeintliche Hilfe anzubieten. O-Ton Benda 1 Die größte Gefahr, die der Verbraucher hat, ist, dass ihm ein Bedarf aufgeschwatzt wird. Das heißt, dass man Szenarien kreiert, die zwar real existent sind, aber nicht ansatzweise so bedrohlich, wie man das denen versucht zu verkaufen. Die Gefahr ist halt, dass man entweder zu viele und oder zu teure Produkte mit nach Hause nimmt. Sprecherin 1 Walter Benda, 31 Jahre, unabhängiger Versicherungsmakler aus Köln. O-Ton Benda 4 Es ist relativ schwer, sich gegen jemanden zu wehren, der geschult ist, die Knöpfe zu drücken, wo man emotional steuerbar ist. Und das ist eben Freude und Angst. Vor allem eben Angst, weil die meistens noch das rationale Denken außer Kraft setzt. Musik 2 LOOP Sunrise Sprecher 1 Ne, im Ernst: Ich bin eigentlich gar nicht der ängstliche Typ. Ich bin eher so rational. Also Vorteile und Nachteile abwägen und so. Aber natürlich mach' ich mir auch mal Sorgen - vor allem natürlich um meine Liebsten. [Musik abrupt aus] O-Ton Benda 2 Beispiel ist generell Haustiere. Der Deutsche hat ein hohes Verhältnis zu diesen Tieren. Deswegen geben viele Hundebesitzer mehr für ihren Hund aus, als für sich selbst. Das spiegelt sich auch darin wieder, dass sie zum Beispiel Hunde-OP-Kosten versichern. Oder Tier-Krankheits-Kosten-Versicherung. Das sind alles Produkte, die mögen im Einzelfall mal sinnig sein, in der Masse ist es aber vermutlich rausgeworfenes Geld. Und da wird halt ein Geschäft mit der Angst gemacht: Was ist, wenn Fiffi nicht mehr kann, möchtest du, dass er stirbt? Da wird einfach ein Horror-Szenario aufgemalt, was in der Praxis oft nicht so extrem ist wie dargestellt. Sprecherin 1 Und was für Haustiere gilt, das zählt bei den eigenen Kindern schon längst. O-Ton Benda 3 Naja, kein Elternteil würde sein Kind verrohen lassen oder nicht dafür vorsorgen wollen. Wenn man sagt: Pass auf, dein Kind braucht das und das, es kostet nur ein paar Euro; da werden die Wenigsten sagen: Nee! Das ist mir mein Kind nicht wert! So läuft das Geschäft nicht. Menschen lassen sich durch Angst gut steuern. Und die Menschen haben nun mal Angst um ihre Kinder. Sprecherin 1 Walter Benda kennt die Tricks der Branche - immerhin hat er vor zehn Jahren selbst als "Drücker" angefangen, wie er es nennt. Heute betreibt er einen Blog, in dem er vor eben solchen Drückern warnt und die Tricks der Branche kritisiert. Plumpes Bashing ist trotzdem nichts für ihn. O-Ton Benda 5 In der Tätigkeit als Profi habe ich irgendwann festgestellt, dass Versicherungen keine Musterknaben sind. Insgesamt machen sie eine gute Arbeit, aber es gibt halt immer wieder Idioten, die ausscheren oder Gesellschaften die eben nicht das halten, was sie versprechen. Und da darf ehrliche Kritik mal angebracht werden. Sprecherin 1 Aber nicht nur die schwarzen Schafe innerhalb der Branche sind ein Problem. Auch die Strukturen sind nicht unbedingt darauf ausgelegt, das Beste für die Kunden zu erreichen. Makler und Agenten werden von den Versicherungs-Unternehmen bezahlt. Je mehr und je teurer sie verkaufen, desto besser. Da bleiben die Interessen der Kunden schon mal auf der Strecke. O-Ton Renn 4 Versicherungen leben ein Stück weit davon, dass sie Prämien auch festsetzen können nach der Risikowahrnehmung und nicht nur nach dem echten Risiko. Sprecherin 1 Ortwin Renn, Risikoforscher an der Uni Stuttgart. O-Ton Renn 12 Und je mehr Risiken überschätzt werden, desto größer dürfen die Prämien sein, weil ich dann den subjektiven Eindruck habe, ich schütze mich. Wir sehen das häufig, dass sie sich gegen Dinge versichern, die extrem selten sind, wo die Versicherung natürlich dann ein bisschen was drauflegen kann. Sprecherin 1 Klar, dass Versicherungen den Eindruck erwecken wollen, das Leben stecke voller Gefahren: In den Werbesports lauern überall tief hängende Äste, offene Heckklappen, bissige Hunde, herunterfallende Dachziegel und Autounfälle. Die Botschaft: Nur die richtige Versicherung kann vor diesen Unfällen schützen - ob durch einen Metall-Schild oder einen geflügelten Schutzengel. O-Ton Renn 1 Man weiß natürlich, wenn ich eine Versicherung abschließe, ich werde ja nicht deshalb den Schaden nicht haben, sondern wenn ich den Schaden habe, kriege ich zumindest eine Kompensation. Also von daher gesehen sind Versicherungslösungen eigentlich nur Kompensationslösungen. Sie geben Geld dafür, dass es zu irgendwelchen Schäden kommen kann. Musik 2 Sprecher 1 Man hört ja ständig so Sachen. Das Jugendliche Steine von der Brücke werfen zum Beispiel. Oder von Opas, die falschrum auf die Autobahn fahren. Und dann noch die übermüdeten LKW-Fahrer. Autofahren wird ja auch immer mehr zum russischen Roulette. [Musik abrupt aus] Musik 3 Closing in O-Ton Autounfall 1 Es sind Bilder, die schockieren... O-Ton Autounfall 2 Tödlicher Verkehrsunfall auf der A 650 ... O-Ton Autounfall 3 ... Fast eine ganze Familie stirbt bei diesem Unfall ... O-Ton Autounfall 4 ... Die Fahrerin verstarb wenig später ... O-Ton Autounfall 5 ... Eine 26 Jahre alte Autofahrerin ums Leben gekommen. Atmo 2: Scratch [Musik aus] Sprecherin 1 Im Jahr 2013 sind zirka 3300 Menschen im Straßenverkehr gestorben. Das sind durchschnittlich neun Tote am Tag. Doch: Vor 20 Jahren waren es noch dreimal so viele. Die Zahl sinkt von Jahr zu Jahr. So wie die der meisten unnatürlichen Todesursachen. Ein heute geborener Junge wird durchschnittlich 83 Jahre alt werden, ein Mädchen sogar 88. Das ist Rekord. Aber kein Wunder: Immerhin ist die Lebenserwartung seit 150 Jahren kontinuierlich gestiegen. Die häufigste Todesursache in Deutschland sind heute Herz- Kreislauf-Erkrankungen - in den meisten Fällen also: Altersschwäche. Musik 3 Closing in O-Ton Kinder 1 Bei einem Wohnhausbrand in Aachen sind am Freitag drei Kinder ums Leben gekommen O-Ton Kinder 2 Trotz des schnellen Einsatzes zweier Rettungshubschrauber starb das Kind am Samstag Morgen ... O-Ton Kinder 3 ...kam in diesem Mehrfamilienhaus ein vier Wochen alter Säugling ums Leben ... O-Ton Kinder 4 selbst der gerufene Rettungsarzt kann nichts mehr für den Sechsjährigen tun. Atmo 2 Scratch [Musik aus] Sprecherin 1 Unfälle sind in den letzten Jahren zur häufigsten Todesursache bei Kindern aufgestiegen. Das liegt aber nicht daran, dass auch die Gefahr gestiegen wäre. Im Gegenteil: Die Zahl der Unfalltode bei Kindern sinkt kontinuierlich. Aber: Die Zahl der Tode durch andere Ursachen, wie zum Beispiel Infektionskrankheiten, ist noch stärker geschrumpft. Musik 3 Closing in O-Ton Kriminalität 1 Die Zahl der Einbrüche stieg bundesweit um 6,6 Prozent ... O-Ton Kriminalität 2 Die Kriminalität im Internet nimmt weiter rasant zu ... O-Ton Kriminalität 3 ... besorgniserregend dabei: Die Täter werden immer brutaler ... O-Ton Kriminalität 4 Unglaublich: Alle vier Minuten steigt hierzulande jemand durch ein Fenster ein oder bricht eine Tür auf ... Atmo 2: Scratch [Musik aus] Sprecherin 1 Jedes Frühjahr veröffentlicht das Bundeskriminalamt die polizeiliche Kriminalstatistik. Und eigentlich gibt es jedes Jahr gute Nachrichten: Die Zahl der registrierten Straftaten ist in den vergangenen 20 Jahren leicht zurückgegangen. Die Zahl der Morde hat sich im selben Zeitraum halbiert. Und auch bei anderen Gewaltdelikten ist die Zahl seit Jahren rückläufig. Aber Medien und Politiker fokussieren sich auf die Bereiche, bei denen es schlechter aussieht, zum Beispiel Einbrüche. Hier ist die Zahl tatsächlich gestiegen. Dass sie immer noch deutlich unter dem Niveau von 1995 liegt, wird dabei aber verschwiegen. Die Folge: In Umfragen schätzen die Befragten die Zahl der Straftaten doppelt so hoch ein, wie sie tatsächlich ist. Sprecherin 1 [Mit Filter Telefon] Man braucht nichts im Leben zu fürchten, man muss nur alles verstehen. Marie Curie [Kassette stoppt] Musik 2 LOOP Sunrise Sprecher 1 Also, meine Oma hat immer gesagt: Früher war alles besser. Und die hat das geglaubt! Ich hab' immer gedacht: Jaja Oma, red du nur. Aber vielleicht hatte sie ja doch Recht. Zumindest ein bisschen ... [Musik abrupt aus] O-Ton Renn 9 Die klassischen Risiken, also Sicherheitsrisiken, technische Unfälle, Risiken durch Umweltverschmutzung, Risiken durch Kriminalität sind in Deutschland immer noch reduzierbar, aber sie sind eigentlich immer geringer geworden. Dagegen steigen die so genannten systemischen Risiken. Das sind Risiken, die das gesamte System bedrohen, wenn etwas schief läuft. Sprecherin 1 Risikoforscher Ortwin Renn zählt zu diesen systemischen Risiken erstens: Umweltprobleme, zum Beispiel den Klimawandel. Zweitens: Steuerungsdefizite in Wirtschaft und Gesellschaft, zum Beispiel die Finanzkrise. Und drittens: Die Risiken der Modernisierung. O-Ton Renn 5 Also es ist so: Der Soziologe Anthony Giddens hat mal gesagt, dass eines der wesentlichen Aspekte, die heute bedroht sind, ist das, was man ontologische Sicherheit nennt. Sprecherin 1 Ontologische Sicherheit heißt in dem Fall: Ich weiß schon heute, wie mein Leben in 50 Jahren aussehen wird. O-Ton Renn 6 Und ich erinnere mich persönlich noch: Ein Vetter von mir, der ungefähr mein Alter ist; als wir so 16, 17 waren, hat der gesagt: Ich gehe zur Post, werde Briefträger. Da weiß ich genau, welches Gehalt ich mit 65 haben werde und mit welcher Pension ich mal in Rente gehen werde. Das klingt heute schon fast absurd, ja, aber das war ontologische Sicherheit. Der wusste, er würde nie aus seinem Heimatdorf wegziehen, er wusste, irgendwann würde er heiraten, wird zwei Kinder kriegen, und dann würde er sozusagen als Postbeamter in Pension gehen - und das Leben war vorgezeichnet. Musik 2 LOOP Sunrise Sprecher 1 Oma ist in ihrem ganzen Leben nur einmal umgezogen, und das war direkt nach der Hochzeit. Na gut, später dann noch ins Heim, aber trotzdem. Heutzutage gibt's sowas nicht mehr. Da ziehen die Leute ständig um. Kein Wunder: Die haben ja andauernd neue Lebensabschnitts-Dings, also ständig andere Partner. Heiraten, lassen sich scheiden, leben allein. Und mit der Arbeit das Gleiche: Mal zwei Jahre in einem Betrieb, dann wieder was anderes, 'ne andere Stadt, 'n neues Projekt. [Musik abrupt aus] O-Ton Renn 7 Wir erleben aber heute durch den schnellen Wandel, dass das Leben immer weniger vorgezeichnet ist, ja - wir sprechen von Patchwork-Biografien - und das schafft natürlich Unsicherheit. Also Unsicherheit darüber, ja, werde ich noch meinen Beruf ausüben können, wenn ich 20 Jahre älter bin, werde ich eine Familie haben, werde ich wieder geschieden sein. Sprecherin 1 Die klassischen symbolischen Sicherheiten - Religion, Familie, Heimat - sind in modernen Gesellschaften schon lange weitgehend weggebrochen. Jetzt suchen sich die Menschen eben neue Sicherheitsanker. Diese Anker reichen von festen Tagesabläufen bis hin zu Lebenszielen: Ein bestimmtes Einkommen erzielen, ein Haus bauen, einen Marathon laufen. Und viele versuchen, Sicherheit zu kaufen - in Form von Versicherungen, Sparguthaben und Altersvorsorge. Musik 3 Closing in O-Ton Rente 2 (Tom Buhrow) Deutschland schrumpft und hat deswegen immer weniger arbeitende Menschen und immer mehr Rentner O-Ton Rente 4 (Tagesschau) Die Bundesregierung geht davon aus, dass das Rentenniveau deutlich sinken wird. O-Ton Rente 8 (Tagesschau) Durch das sinkende Rentenniveau werden in 14 Jahren zwei Millionen Rentner von Armut betroffen sein. O-Ton Rente 10 (Tagesschau) Sozialverbände, Gewerkschaften und Grüne warnen vor zunehmender Altersarmut. O-Ton Rente 12 (Tagesschau) Das Ministerium warb erneut nachträglich dafür, privat vorzusorgen. [Musik endet mit Tusch] Atmo 5 (Kinder spielen auf einem Spielplatz) Sprecherin 1 Die Sonne scheint auf einen kleinen Spielplatz im Kölner Norden. Auf einer Parkbank am Rand sitzen die Mütter, die Kinder tapsen vergnügt durch den Sandkasten. Wenn sie wüssten, was die demografische Entwicklung noch für sie bereithält, wären sie vielleicht nicht so entspannt. [Atmo aus] Musik 2 LOOP Sunrise Sprecher 1 Wenn ich mir vorstell', wie Deutschland in 50 Jahren aussieht ... Also nee! Das kann einem ja richtig Angst machen. Neulich hatte der Spiegel so'n Titelbild. Da musste ein Kind die ganzen Alten allein tragen. Wie soll das denn gehen? [Musik abrupt aus] O-Ton Bosbach 1 Ja dazu könnte man ganze Romane erzählen, weil das Demografie-Thema jetzt mittlerweile 15 Jahre lang mit allen möglichen Mythen durchgekaut wird. Sprecherin 1 Gerd Bosbach, strubbelige graue Haare, die Brille tief auf der Nase, sitzt ein paar Häuser weiter in seinem Wohnzimmer. Sein Beruf: Professor für Statistik und empirische Sozialforschung in Remagen. Seine Berufung: aufräumen mit Mythen über die Bevölkerungsentwicklung. O-Ton Bosbach 2 Der eine Aspekt ist: Demografische Entwicklung ist nicht das, was wir vor uns haben. Sondern demografische Entwicklung ist das, was wir auch im ganzen letzten Jahrhundert gehabt haben. Im letzten Jahrhundert sind wir über 30 Jahr e im Schnitt älter geworden, im letzten Jahrhundert ist der Jugendanteil halbiert worden und der Anteil der über 65- Jährigen ist von knapp fünf auf über 16 Prozent gestiegen. Sprecherin 1 Im Jahr 1900 sah die Bevölkerungspyramide noch genau so aus: wie eine Pyramide. Heute wird die Form eher - ziemlich symbolträchtig - mit einer Urne verglichen. Die größte Gruppe bilden nicht mehr die Neugeborenen - sondern die 50-Jährigen. O-Ton Bosbach 3 Aus der Sicht der heutigen Demografen eine fürchterliche Entwicklung, die nur mit Sozialabbau und allen möglichen Einschränkungen zu bewältigen ist. Und was haben wir stattdessen im letzten Jahrhundert gemacht? Die Wirtschaft ausgebaut, den Sozialstaat ausgebaut. Obwohl wir mit zwei Weltkriegen sehr viel vernichtet haben, konnten wir diese demografische Alterung spielend verdauen. Sprecherin 1 Selbst die gesetzliche Rentenversicherung hat alle Katastrophen des 20. Jahrhunderts überstanden. Der Beitragssatz ist von zehn Prozent nach dem Zweiten Weltkrieg auf rund 19 Prozent gestiegen. Und trotzdem können sich Arbeitnehmer heute mehr leisten als vor 60 Jahren. Und der Wohlstand wächst immer noch. Zumindest im Durchschnitt. Das Problem ist also nicht die Überalterung an sich - sondern die Frage, wer vom Wirtschaftswachstum profitiert. Trotzdem muss die demografische Entwicklung immer wieder als scheinbarer Sachzwang herhalten. Die Prognosen sind ja auch eindeutig. Oder? O-Ton Bosbach 4 Stellen Sie sich bitte mal vor, wir hätten 1960 für 2010 die Bevölkerungszahl prognostiziert. Wir hätten die Anti-Baby-Pille mit ihrer Wirkung übersehen, wir hätten den Zuzug der Migranten - erstmal aus Südeuropa, nachher der Türkei - übersehen. Wir hätten 1970 beginnend, den Trend zur Kleinfamilie übersehen. Wir hätten die Wiedervereinigung mit der DDR und die Öffnung des Ostblocks mit drei Millionen Aussiedlern übersehen. Das heißt: Wir hätten fast alle wichtigen Einflussfaktoren auf die Bevölkerungsentwicklung übersehen. Sprecherin 1 Dazu kommt, dass die heutige Angst vor der Überalterung gar nicht so neu ist. Gerd Bosbach hat dafür Beweise gesammelt, die in einem dicken Ordner vor ihm auf dem Tisch liegen. Darin sind Studien und Zeitungsartikel abgeheftet mit den gesammelten Fehlgriffen von Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten. O-Ton Bosbach 5 (rascheln, umblättern) Hier sind noch ein paar Rechnungen ... [im Hintergrund weiter laufen lassen] Sprecherin 1 Gerd Bosbach hat Zeitungsartikel aus den 50er Jahren, in denen Konrad Adenauer vor dem Aussterben warnt. O-Ton Bosbach 5 ... man wusste eigentlich nichts... Sprecherin 1 Und trotzdem sind die Zeitungen seit Jahren voll von Warnungen vor der Rentenlücke. Forschungsinstitute veröffentlichen immer neue Studien, die das Ende der umlagefinanzierten Rente heraufbeschwören. O-Ton Bosbach 6 Diese Angst wird ständig gepredigt. Die Angst ist auch der beste Nährboden für die Versicherungswirtschaft, denn aus der Angst heraus, versuchen Sie sich abzusichern. Sprecherin 1 Unter Kanzler Gerhard Schröder wurde diese Angst dann in Politik umgesetzt. Die gesetzliche Rente wurde gekürzt. Schließlich - so die Argumentation - sei diese sonst bald nicht mehr finanzierbar. Im Gegenzug wird seitdem die private Altersvorsorge gefördert. Zum Nutzen derer, die an Vorbereitung, Umsetzung und Vermittlung der Reform beteiligt waren. Musik 4 Weather Storm LOOP Sprecher 2 Das "Deutsche Institut für Altersvorsorge" Sprecherin 2 Gegründet und finanziert von der Deutschen Bank. Sprecher 2 Das ehemalige "Institut für Wirtschaft und Gesellschaft" Sprecherin 2 Instituts-Leiter Meinhard Miegel gehörte dem Konzernbeirat der AXA Versicherung an und arbeitet als Lobbyist für die private Versicherungswirtschaft. Sprecher 2 Bert Rürup Sprecherin 2 Wissenschaftler und Chef der Rürup-Kommission. Wechselte später auf einen gut bezahlten Berater-Posten beim Finanzdienstleister AWD. Sprecher 2 Carsten Maschmeyer Sprecherin 2 Hat den AWD aufgebaut und 1998 eine Wahlkampagne für Gerhard Schröder bezahlt. Sprecher 2 Bernd Raffelhüschen Sprecherin 2 Professor aus Freiburg, arbeitet für die Versicherungen Ergo und Victoria. Außerdem Botschafter der Lobby-Organisation "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft". Sprecher 2 Walter Riester Sprecherin 2 Ehemaliger Arbeitsminister, verdiente später über 400.000 Euro für Vorträge vor der Versicherungswirtschaft, zum Beispiel dem AWD von Carsten Maschmeyer. [Musik aus] Sprecherin 1 Die Anti-Korruptions-Organisation Transparency International spricht angesichts der Verbindung von Wissenschaftlern und Politikern mit der Versicherungswirtschaft von "politischer Korruption". O-Ton Bosbach 7 Also Riester- und Rürup-Rente, das ist das Beste, was einer Versicherungswirtschaft passieren kann. Staatlich beworben, staatlich bezuschusst, fast täglich von Politikern empfohlen. Eine bessere Werbung kann Privatversicherung nicht haben. Sprecherin 1 Ist die Angst vor der Rentenlücke also unbegründet? O-Ton Bosbach 8 Doch, Sie müssen sich Sorgen um die Rente machen. Nämlich ganz einfach weil der größer werdende Kuchen, den wir in Deutschland produzieren, immer ungleicher verteilt wird. Bei der Rente ganz konkret: Man hat halt die gesetzliche Rente geschwächt; ganz bewusst, ganz absichtlich; A: um zu sparen und B: um den Arbeitgeberanteil an der gesetzlichen Rente halt nicht mitsteigen zu lassen. Ja und C: ganz einfach, um die Versicherungswirtschaft zu stärken. Sprecherin 1 Die Angst vor Altersarmut aber bleibt. Anders als die umlagefinanzierte gesetzliche Rente, ist eine kapitalgedeckte Altersvorsorge von der Entwicklung am Kapitalmarkt abhängig. Musik 2 LOOP Sunrise Sprecher 1 Also, ich als Sparer werd' ja enteignet. Null Komma irgendwas Prozent Zinsen sind ja der Witz. Da ist bald nix mehr von den Ersparnissen da. Und wenn dann noch die große Inflation kommt ... Davon liest man ja ständig. Also, dann... [Musik abrupt aus] Musik 3 Closing in Sprecher 2 Inflation zehrt Lohnplus auf Sprecherin 2 Lohn-Schock! Inflation frisst Gehaltserhöhungen Sprecher 2 Die Bürger werden schleichend enteignet Sprecherin 2 Inflationsgefahr! Darum explodieren die Preise im Supermarkt Sprecher 2 Schäuble warnt vor Inflation durch Geldflut Sprecherin 2 Die Angst geht um! Schreckgespenst Inflation Sprecher 2 Inflation versetzt Währungshüter in Sorge Sprecherin 2 Inflationsgefahr: Jetzt wird's teuer [schnell gesprochen, ineinander überblenden, mit leichtem Hall] [Musik aus] Sprecherin 1 Seit nach Ausbruch der Krise die Notenbanken weltweit ihre Zinsen gesenkt haben, wurde eine der deutschen Ur-Ängste wiederentdeckt: Die Inflation. Über diese Angst hat der Wirtschaftsjournalist Mark Schieritz von der ZEIT ein Buch geschrieben. In "Die Inflationslüge" rechnet er mit der deutschen Angst vor Preissteigerungen ab, die seiner Meinung nach paranoide Züge angenommen hat. Sprecher 2 "Die größte Gefahr für unseren Wohlstand ist im Moment nicht die Geldentwertung selbst - sondern die Angst vor ihr. Sie verleitet zu Fehlentscheidungen und trübt den Blick auf die wahren Herausforderungen unserer Zeit." Sprecherin 1 Und natürlich lässt sich auch mit dieser Angst Kasse machen. Sprecher 2 "Mit der Angst vor steigenden Preisen lässt sich viel Geld verdienen. Ob Immobilienmakler, Fondsmanager, Bankberater - für viele von ihnen ist die Inflation ein Geschäftsmodell. Die Furcht vor der Geldentwertung soll die Kunden dazu bringen, das Ersparte den Vermögensverwaltern zu überlassen oder in vermeintlich sichere Sachwerte zu stecken. In den großen Frankfurter Finanzhäusern wurde intern die Devise ausgegeben, das Inflationsthema groß zu fahren." Sprecherin 1 Und das hat seinen Grund: Wer sich teuer gegen die scheinbar drohende Inflation absichert, zahlt drauf, wenn sie am Ende einfach nicht kommt. Und im Moment sieht es nicht danach aus. Die Inflationsrate im Euro Raum und auch in Deutschland hat ein historisches Tief erreicht. Trotzdem machen auch Immobilienmakler und Goldhändler in ihren Prospekten und Werbespots immer wieder Angst vor der drohenden Inflation. Atmo 6 (Feuer prasselt) Sprecher 2 Wir raten Ihnen zu bleibenden Werten. Sprecherin 1 Die Botschaft der Degussa-Werbung ist einfach: Geldscheine verbrennen im Feuer der Inflation, nur der Goldbarren, der bleibt. Das leuchtet wohl vielen Anlegern ein. Die Folge: Der Goldpreis hat sich seit Ausbruch der Krise 2008 verdoppelt. Und ähnliches gilt für Immobilien. Vor allem in Großstädten wie Berlin oder Düsseldorf sind Mieten und Kaufpreise in die Höhe geschossen. Und so schließt sich der Kreis: Die enorm gestiegenen Preise für Immobilien werden als erste Anzeichen der kommenden Inflation gesehen. Dabei sind sie - im Gegenteil - nur das Ergebnis irrationaler Inflationsangst. Sprecherin 2 [Mit Filter Telefon] Es ist nichts zu fürchten als die Furcht. Ludwig Börne Musik 1 One Round in the Chamber Sprecherin 1 Irrationale Ängste zu überwinden, ist verdammt schwer. Zumal, wenn Medien, Politiker und Werbung andauernd vor angeblichen Gefahren warnen. So lange das so bleibt, wird das Geschäft mit der Angst weiter blühen. O-Ton Benda 6 Ja, das Leben ist voller Gefahren, überhaupt keine Frage. O-Ton Renn 11 Also es gibt sicherlich Möglichkeiten, mit Ängsten umzugehen. O-Ton Alm 6 Ich muss das Risiko wirklich schauen, dass ich es einschätze und dass ich es nicht jetzt irgendwie ganz groß werden lasse, dass es mich in meiner Alltagsbewältigung beeinträchtigt. O-Ton Renn 13 Das eine ist natürlich, sich tatsächlich schlauer zu machen. O-Ton Benda 7 Die Frage ist: Wie groß ist dieses Risiko? Und: Kann ich mit dem Risiko leben, wenn es eintritt? O-Ton Renn 14 Also: Einsicht kann schon helfen. O-Ton Alm 7 Und sich nicht von jeder Meldung beeinflussen lassen. Das ist meine Meinung (lacht) Sprecher 1: Ja ja, ich weiß. Ganz ohne Risiko werd' ich wohl nie leben können. Aber was spricht denn dagegen, mich wenigstens da abzusichern, wo's geht? Schließlich kann ja immer irgendwas passieren. - Oder? [Musik ausfaden] 1