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O-Ton 1 István Pisont Sprecher 1 "Das war wirklich schwer für mich zu verstehen. Als die Fans erfahren haben, dass ich Roma bin, haben sie mich nur noch als Zigeuner beschimpft. Zigeuner, Zigeuner, Zigeuner, immer wieder. Ich war jung, es hat mich sehr verletzt. Sie haben mich gehasst, egal, wie gut ich gespielt habe, sie wollten mich einfach loswerden. Ständig haben die Fans mich provoziert: ich sollte schlecht spielen, aggressiv reagieren und meine Konzentration verlieren." Atmo 2 Café Autor 2 Ein Restaurant im Südosten von Budapest. István Pisont ist inzwischen 41 Jahre alt, seine Laufbahn als Profikicker ist vorbei. Er ist Stammgast hier. Der Kellner, ebenfalls Roma, begrüßt ihn mit einer Umarmung. Pisont ist ein freundlicher Mann von gedrungener Statur, er trägt einen grauen Anzug. Sein schwarzes Haar ist lichter geworden. Während des Interviews scheint er durch seinen Gesprächspartner hindurch zu schauen, seine Schultern hängen schlaff herunter, er stochert im Teeglas. Pisont spricht nicht über Tore, Siege, raffinierte Freistöße. In seinen Erinnerungen dominiert die Angst: auf Auswärtsreisen zitterte er am ganzen Körper. Gegenspieler haben ihm den Handschlag verweigert. Sie lachten ihm ins Gesicht. O-Ton 2 István Pisont Sprecher 2 "Ich bin der einzige Spieler, der sich in Ungarn zu den Roma bekannt hat - und das in mehr als zwanzig Jahren. Aber natürlich gibt es viel mehr Spieler in den Vereinen, die unserer Minderheit angehören. Sie würden es jedoch nie zugeben. Weil sie dann noch länger und härter trainieren müssten als ihre Mitspieler. Nur, um auch als Mensch akzeptiert zu werden. Niemand wird freiwillig sagen: ich bin Roma. Sie haben einfach Angst." Autor 3 István Pisont wurde als Exot abgestempelt, doch er ist kein Exot. Niemand weiß, wie viele Roma in Ungarn leben, Schätzungen reichen von 500000 bis zu einer Million, also fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung. Atmo 3 Pisont Fernseh-Kommentator Autor 4 Als Fußballer hatte Pisont die Abneigung der Anhänger mit Fleiß zurückgedrängt. Er stieg zum Nationalspieler auf, bestritt 31 Länderspiele. Er kickte im Ausland, in Belgien, Israel, Ende der neunziger Jahre bei Eintracht Frankfurt. Prominenz war sein Schutzschild, gern schaut er sich heute die Videoaufnahmen von damals an. Doch Pisont ist eine Ausnahme. Im Sport oder in der Politik, in der Kultur oder in der Wissenschaft - Roma schaffen es selten an die Spitze. O-Ton 3 István Pisont Sprecher 3 "Was uns fehlt, ist der Respekt in der Gesellschaft. Seit vielen Jahrhunderten werden wir als Aussätzige behandelt. Meine Mutter hat mir einmal gesagt: Egal, was wir leisten und wie erfolgreich wir auch sind - am Ende bleiben wir immer die Zigeuner. Unsere Geschichte ist nicht einfach, wir müssen vieles ändern." Atmo 4 Fußball-Trainingsgelände Autor 5 Auf dem Gelände des Ungarischen Fußballverbandes hat István Pisont seine Berufung als Trainer gefunden. Am Spielfeld beobachtet er die besten Talente des Landes, seine Spieler sind 15 und 16 Jahre alt. Immer wieder unterbricht er das Training, sucht den Dialog, Fußball ist dabei nicht das einzige Gesprächsthema. Es ist nicht lange her, da wollte István Pisont eine Trainingsakademie für Roma gründen, doch die Idee hat er schnell verworfen. Schließlich wären die Roma dann wieder nur unter sich geblieben. Und was es bedeutet, isoliert zu sein, hat Pisont lange selbst erfahren. Musik 1 Roma-Interpret Autor 7 "Roma" ist der Oberbegriff für ethnisch miteinander verwandte Volksgruppen, ins Deutsche übersetzt heißt Roma: Mensch. Seit der Osterweiterung der Europäischen Union stellen Roma die größte Minderheit des Kontinents, rund zehn Millionen. Ihre größte Untergruppe in Mitteleuropa sind die Sinti, daher bezeichnet sich die Minderheit in Deutschland als "Sinti und Roma". Ihre Lebensbedingungen sind in ganz Europa auf niedrigem Niveau, vor allem im Osten und Süden. In Italien ließ Ministerpräsident Berlusconi Roma registrieren, in Frankreich ordnete Staatschef Sarkozy eine Massenabschiebung an. Atmo 5 Proteste Bulgarien Autor 8 In Ungarn, Tschechien und Bulgarien wird gegen Roma Stimmung gemacht, werden sie Opfer von Anschlägen. Laut einer Umfrage von 2008 würden sich die meisten Europäer mit dem Gedanken unwohl fühlen, Nachbarn von Roma zu sein. Seit Jahrhunderten müssen sie als Sündenböcke herhalten, leiden unter Pogromen, Vertreibung, Vernichtung. Seit Jahrhunderten kämpfen sie mit Vorurteilen, die sie als faule und kriminelle Vagabunden beschreiben, im Grunde seit sie ab dem 14. Jahrhundert aus Indien Richtung Westen gezogen sind. Über keine andere Volksgruppe wissen die Gesellschaften so wenig - und glauben so viel Negatives zu kennen. O-Ton 5 Diethelm Blecking "In Osteuropa werden Roma-Kinder im Grunde von vornherein Sonderschulen zugewiesen." Autor 9 Diethelm Blecking ist der einzige Sportsoziologe in Deutschland, der sich intensiv mit Antiziganismus beschäftigt hat. Die rassistische Ablehnung von Roma findet in den Stadien ein Ventil. Atmo 6 Hassgesänge Autor 10 In der Anonymität der Kurve lassen Fans ihrem Frust freien Lauf. Der Begriff "Zigeuner" ist für viele Anhänger ein gängiges Schimpfwort, eine Chiffre für Ausgrenzung. Ein Hassgesang gehört zu ihrem festen Repertoire: "Zick, zack, Zigeunerpack." O-Ton 6 Diethelm Blecking "Da ähnelt es wirklich dem Antisemitismus. Wenn man jemanden wirklich ganz hart treffen will, beschimpft man ihn eben als Juden, auch wenn er gar keiner ist. Das hat sich abgelöst von irgendwelchen historischen oder soziologischen Fakten. Es ist das Unverstandene, das man von sich abspaltet, weil man es nicht versteht und dann stigmatisiert mit pejorativ, mit schlecht. All das Unverstandene geht dann in die Begriffe des Juden und des Zigeuners ein. Und den muss man von sich weg halten, den muss man dann auch bei Zeiten vernichten, wenn es darauf ankommt. Und das ist ja jetzt nicht einfach leer dahergesagt. Die beiden Gruppen sind in den Vernichtungslagern umgebracht worden." Autor 11 Der Freiburger Diethelm Blecking hat in Osteuropa Projekte für und mit Roma auf den Weg gebracht, immer hatte er es schwer, Unterstützung zu finden. Blecking nutzte den Fußball als Brücke zu Bildung und sozialen Vernetzung, er organisierte Turniere, fragte nach kickenden Vorbildern. Doch er weiß auch, dass Fußball Vorurteile bilden und bestärken kann. O-Ton 7 Diethelm Blecking "Und zwar wegen dieser zweiseitigen Struktur: es gibt immer A und B - und die kämpfen. Und wenn es Mannschaften sind, kann man es wunderbar projezieren, das kann man wunderbar national und ethnisch aufladen. Der Sport beschreibt ja wie kein anderes gesellschaftliches Phänomen industriegesellschaftliche Tugenden wie Leistung, Effektivität, Disziplin. Und das alles liegt natürlich völlig quer zum Wertekanon einer klassischen Roma-Existenz. Und deswegen auch das Zerbrechen an dieser Industrie-Gesellschaft, das Abstürzen in Diebstahl, Prostitution, ja in Karikaturen von Existenz." Atmo 7 Ausstellung Tatort Stadion Autor 12 Seit 2010 tourt die Wanderausstellung "Tatort Stadion" durch Deutschland, das Bündnis aktiver Fußballfans hat antiziganistische Vorfälle im europäischen Fußball recherchiert und bildet diese auf Schautafeln ab: Sprecher 5 2003: Fans von Dynamo Bukarest zeigen ein Banner, darauf steht übersetzt: "Eine Million Krähen - Eine Lösung: Antonescu." Krähen ist ein rumänisches Schimpfwort für Roma. Während der Herrschaft des Diktators Ion Antonescu waren während des Zweiten Weltkrieges mehr als 200000 Roma ermordet worden. Autor 13 2005: Ultras des VfB Stuttgart recken ein Banner in die Luft, darauf steht: "Lieber Neuner als Zigeuner". Zuvor war den Ultras vorgehalten worden, mit Kleinbussen zu reisen, die nur neun Sitze haben, da sie angeblich nicht genug Fans für einen Bus mobilisieren können. Sprecher 6 2007: Im Spiel gegen den VfB Oldenburg zeigen Fans des SV Wilhelmshaven ein Banner mit der Aufschrift: "Den Zigeuner aufs Maul". Musik 2 Roma-Interpret Atmo 8 Malteser-Zentrum Autor 14 Das Zentrum des ungarischen Malteser-Hilfsdienstes liegt im Nordosten von Budapest. In der Empfangshalle zeigt eine Ausstellung den schwierigen Alltag der Roma. Atmo 9 Schrank Autor 15 In einem kleinen Büro ordnet Imre Kozma seine Unterlagen. Der Priester ist in Ungarn angesehen, weil er sich immer wieder zu politischen Themen äußert und Projekte anschiebt. Im August 1989 hatte Kozma tausende DDR-Flüchtlinge auf dem Gelände der Malteser in Zelten untergebracht, dafür erhielt er später das Bundesverdienstkreuz. Nach dem Kalten Krieg setzte er sich für die Verlierer des politischen Umbruchs ein: für die Roma. O-Ton 8 Imre Kozma Sprecher 7 "Vor 15 Jahren habe ich begonnen, mich mit Fußball zu beschäftigen. Wir haben eine ungarische Roma-Mannschaft aufgebaut, weil wir wissen, dass Sport Identität stiftend sein kann. Im Fußball können die Jungs Selbstbewusstsein gewinnen. Unsere Spieler wollen arbeiten und erfolgreich sein. Auf dem Spielfeld erhalten sie eine Chance, überall sonst wird ihnen diese Chance verweigert. Leider haben wir so gut wie keine Unterstützung erhalten. Wir sind auf uns allein gestellt." Autor 16 Imre Kozma ist 71 Jahre alt, trägt einen schwarzen Pullover über einem weißen Hemd. Kozma ist der Seelsorger der Roma-Mannschaft, die Worte scheinen ihm nie auszugehen. Die Spieler haben Probleme, rund achtzig Prozent der ungarischen Roma sind arbeitslos. Mehr als die Hälfte der Jugendlichen bleibt ohne Schulabschluss, ein Prozent macht Abitur. Die Mehrheit ist auf Sozialhilfe angewiesen. Viele Roma leiden an Alkoholsucht oder Depressionen. Atmo 10 Fußball Autor 17 Pater Kozma nutzt den Fußball als psychologisches Hilfsmittel. Während einer Trainingseinheit ruft er immer wieder Spieler zu sich, umklammert ihre Schultern, redet ihnen gut zu. Sechzig Kicker gehören zum Kader. Die meisten können sich das Busticket zum Trainingsplatz nicht leisten. Diejenigen, die gekommen sind, sind von körperlicher Arbeit gezeichnet. Falten haben sich in ihre Gesichter gegraben, sie sind unterernährt, haben kaum Zähne, ihre Haare sind brüchig. Doch auf dem Rasen scheinen sie vieles um sich herum zu vergessen. Pater Kozma kümmert sich auch um ihre Familien. O-Ton 9 Imre Kozma Sprecher 8 "Der Ungarische Fußballverband beachtet uns nicht mehr. Der Verband bezeichnet unser Team nebulös als Minderheiten-Mannschaft, von Roma ist dort keine Rede. Das macht uns sehr traurig, weil es die Klischees eher verfestigt. Es ist fast unmöglich, Sponsoren zu finden. Auch Spenden erhalten wir kaum." Autor 18 Vor wenigen Wochen hatte Pater Kozma seine Kontakte spielen lassen. Die gesammelten Spenden reichten aber nur für die Miete eines Busses. So begab sich die Mannschaft in der Nacht auf den Weg nach Rom. Nach dreizehn Stunden Fahrt betraten die Spieler am Nachmittag einen holprigen Rasen. Dort besiegten sie die Mannschaft der päpstlichen Schweizergarde, klopften sich kurz auf die Schultern und stiegen wieder in den Bus nach Budapest. O-Ton 10 Imre Kozma Sprecher 9 "Die Roma-Mannschaft ist ein wichtiges Medium der Kommunikation. Die Spieler, die sonst am Rand der Gesellschaft leben, treten durch den Fußball ins Zentrum der Gesellschaft. Auf diesem Weg werden in der Bevölkerungsmehrheit Vorurteile und Berührungsängste abgebaut. Denn unsere Spieler sehen sich in erster Linie als ungarisches Team und erst dann als Roma-Team." Autor 19 Projekte wie jene von Pater Kozma werden in Ungarn immer wichtiger. Im April 2010 hatte Fidesz, der Ungarische Bürgerbund mit rechtskonservativer Ausrichtung, bei den Parlamentswahlen eine Zweidrittelmehrheit erreicht. Drittstärkste Kraft wurde die rechtsextreme Jobbik. Deren Führer Gábor Vorna hetzt gegen "Zigeuner" und unterstützt paramilitärische Truppen, die durch Roma-Dörfer marschieren. Ähnliche Bilder zeigen sich in Tschechien, Bulgarien oder in Rumänien. Dort hat der Freiburger Sportsoziologe Diethelm Blecking in der Kleinstadt Jasch Roma-Kinder in einem Fußballturnier an die Mittelschicht herangeführt. Mit Unterstützung. O-Ton 11 Diethelm Blecking "Es waren nämlich zwei Professorenkollegen von der Uni Jasch, die sich unter der Hand immer schon um diese sozial sehr schlecht da stehenden Kinder kümmern. Die Roma-Kinder haben das Turnier gewonnen, und zwar mit irgendwie 6:2, mit ungeheurer Spielfreude, ohne jede taktische Einstellung, genau gegen die bereits Konzeptfußball spielenden Vertreter aus den Mittelschichts-Kinder-Fußballschulen. Und das war für mich so ein Signal, was dort auch an Potenzial, wahrscheinlich nicht nur im Sport, auf welches Bildungspotenzial auch verzichtet wird. Und die beiden Kollegen legten Wert darauf, dass ihre Namen nicht bekannt werden und haben mir keine Hoffnung gemacht, dass man das institutionalisieren kann. Sie haben mir gesagt, es wäre Karriere schädigend, was sie tun." Musik 3 Roma-Interpret O-Ton 12 Diethelm Blecking "Es wissen die meisten wohlmeinenden und gut meinenden Menschen nicht, dass 500000 Sinti und Roma in den Konzentrationslagern umgebracht worden sind. Wir haben ja in Deutschland die Geschichte eines großen Sinto-Boxers: Johan Trollmann. Es gibt Möglichkeiten, sich zu erinnern, aber sie sind nicht präsent. Es ist ein Tabu! Und wir hatten in Hannover eine Kripoleitstelle, die die Deportation organisiert hat. Und der Chef war Felix Linnemann, der oberste Chef des Deutschen Fußball-Bundes. Auch das wird ja immer wieder vergessen." Atmo 11 Historisches Material Autor 20 Der Sport war ein wichtiges Werkzeug der Nationalsozialisten. Für Propaganda, aber auch zur Rekrutierung. Schon vor und während Olympia wurden Sinti und Roma in Zigeunerlager nach Sachsenhausen und Marzahn gebracht. Atmo 11 Historisches Material Autor 21 Der Rassenwahn der Nazis. Auch im Fußball? Felix Linnemann wurde 1925 zum vierten Präsidenten in der Geschichte des DFB ernannt. 1940 trat er freiwillig der SS bei und stieg darin zum Obersturmbannführer und später zum Standartenführer auf. Als Regierungs- und Kriminaldirektor in Hannover organisierte er die Verfolgung von Roma, wie der Sportwissenschaftler Hubert Dwertmann in einer Studie belegt, ihr Titel: Sprecher 10 "Sportler - Funktionäre - Beteiligte am Massenmord: das Beispiel des DFB- Präsidenten Felix Linnemann". Autor 22 Dwertmann zeichnet nach, wie Linnemann die sogenannte "Zigeuner-Erfassung" umsetzte, danach durften Roma ihren Aufenthaltsort nicht mehr verlassen. In einer von Linnemann unterzeichneten Anordnung hieß es: Sprecher 11 "Werden Zigeuner (...) angetroffen, die ihren Wohnsitz verlassen haben, so sind sie festzunehmen und der Kriminalpolizeidienststelle zur Überführung in ein Konzentrationslager zuzuführen." Autor 23 Diese Anordnung bildete im März 1943 die Grundlage für die Deportationen nach Auschwitz, schlussfolgert Wissenschaftler Dwertmann. Nach seinen Recherchen sind aus den Gebieten des heutigen Niedersachsen in den ersten beiden Wochen mindestens 700 Roma nach Auschwitz gebracht worden. Atmo 12 Auschwitz Gedenkfeier Autor 24 Fast 70 Jahre später kündet in Auschwitz-Birkenau eine gespenstische Kulisse von der Katastrophe. Es ist der 2. August dieses Jahres, der internationale Gedenktag der Roma. Auf den Tag genau 67 Jahre zuvor hatte die SS die letzten verbliebenen 2900 Auschwitz-Gefangenen dieser Minderheit in die Gaskammern getrieben. Einer der Überlebenden ist der Sinto Hermann Höllenreiner. 1943 war im Alter von neun Jahren nach Auschwitz verschleppt worden, zusammen mit 36 Mitgliedern seiner Familie. Nun feiert er bald seinen 80. Geburtstag, er lebt in Mettenheim, Oberbayern. Aus Respekt vor den Opfern ist er noch einmal nach Auschwitz zurückgekehrt. Atmo 12 Auschwitz Gedenkfeier Autor 25 Die Gedenkfeier in Auschwitz findet im ehemaligen Abschnitt B II statt, dem "Zigeunerlager". Hermann Höllenreiner lässt seinen Blick ins Weite schweifen, vor ihm öffnet sich ein riesiges Feld, hunderte Ruinen, dutzende Baracken, rostiger Stacheldraht, Meter hohes Unkraut und Schornsteine, die einsam in den Himmel ragen. Höllenreiner gehört während der Gedenkfeier zu einer deutschen Delegation von 70 Personen, darunter sind 30 Jugendliche. Am Nachmittag treffen die Generationen im ehemaligen Hauptlager aufeinander. Hermann Höllenreiner schildert seine Erlebnisse: O-Ton 13 Hermann Höllenreiner "Ich bin aber 80 Prozent mit den Nerven fertig..." O-Ton 13 Jugendlicher "Ich wollte gerade fragen. Ich glaube, wir haben alle den größten Respekt vor Ihnen, dass Sie überhaupt noch mal an diesen Ort kommen." O-Ton 13 Hermann Höllenreiner "Der Dr. Mengele war auch hier. Der hat die Kinder angelacht und dann hat er sie operiert und kastriert und noch mehr, das war ein Massenmörder - als Doktor. Wir sind froh, dass wir Sinti sind, wir bilden uns ja was ein auf die Sinti. Aber sie müssen anders werden. Das geht nicht mehr so, wie es lange war. Wir bleiben dann immer die billigen Sinti, immer der primitive Sinti bleiben wir. Die Kinder müssen in der Schule was lernen. Sonst kommt wieder KZ!" Atmo 13 Jugendbegegnungsstätte Autor 26 Am Abend des Gedenktages fährt die Delegation in die Internationale Jugendbegegnungsstätte von Auschwitz. Hermann Höllenreiner sitzt an der Kopfseite eines Tisches, vor ihm hat sich ein Halbkreis gebildet. Plötzlich kommt er auf das Thema Fußball zu sprechen. Während seiner Zeit in Auschwitz hatte er Spiele zwischen Gefangenen verfolgt, zwischen Roma und Juden, oder zwischen Roma und Wärtern der SS. O-Ton 14 Hermann Höllenreiner "Das waren Fußballer, wo die SS beobachtet hat, dass das gute Sportler sind. Und dann haben sie durch den Fußball ein paar Steckrüben mehr gekriegt, auf deutsch gesagt. Nichts zu essen, kein Brot, sondern Steckrüben, verfaulte Steckrüben." Autor 27 Am Tisch neben Hermann Höllenreiner sitzt Ella Braun aus Grünstadt in Rheinland- Pfalz. Zum dritten Mal ist sie nach Auschwitz gereist, es gibt keinen Friedhof, wo sie sonst um ihre Vorfahren trauern könnte. Die 63-Jährige hat ihre schwarzen Haare zu einem Zopf gebunden, sie erzählt den Jugendlichen von ihrem Vater. Der war 1942 nach Auschwitz deportiert worden. Tag für Tag musste er in den Steinbaracken arbeiten oder die Wohnungen von SS-Offizieren reinigen. Seine Kräfte schwanden, seine Zuversicht auch. Bis die Nazis von seinem Talent erfuhren, berichtet Ella Braun: O-Ton 15 Ella Braun "Mein Vater, Otto Alexander Schopper, war in Auschwitz einer der besten Fußballspieler. Er hat sich mit dem Fußballspielen das Leben gerettet." Autor 28 Viele der Jugendlichen, die im August nach Auschwitz gereist sind, spielen selbst Fußball. Sie scheinen nicht glauben zu können, was ihnen Ella Braun erzählt. Tore schießen im größten Vernichtungslager der Geschichte? O-Ton 16 Ella Braun "Das Zigeunerlager gegen das Stammlager. Und dann saßen alle Häftlinge auf der Mauer, die konnten und haben dieses Fußballspiel verfolgt, und das muss für die eine unheimliche Freude gewesen sein." Autor 29 Der Sinto Otto Alexander Schopper war ein athletischer, trickreicher Spieler, durch den Fußball wurde er für andere Gefangene zum Vorbild. Schopper schoss viele Tore und führte das Team des "Zigeunerlagers" von Sieg zu Sieg. Als der Krieg für die Nazis so gut wie verloren war, schickten sie Schopper doch noch an die Front. Doch er überlebte, begann von vorn, arbeitete als Kammerjäger. Und konnte nun endlich ohne Druck Fußball spielen. Oder noch nicht? O-Ton 17 Ella Braun "Es war nicht möglich, denn der Hass unseren Leuten gegenüber, der war nach dem Krieg noch genauso präsent wie während des Krieges. Das kann man heute gar nicht mehr beschreiben. Er wäre in keine Mannschaft mehr aufgenommen worden, weil er Sinto war." Musik Roma-Interpret O-Ton 18 Romani Rose "Dort bekommt Ihr Informationen über den nationalsozialistischen Völkermord." Passage unter Autor laufen lassen Autor 30 Romani Rose ist Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. In Auschwitz spricht er zu den Jugendlichen. O-Ton 18 Romani Rose "Ihr alle wisst, dass es in den Stadien, in Deutschland, aber auch in anderen Ländern zu Vorfällen kommt, wo rassistische, antisemitische Parolen geschrien werden." Autor 31 Romani Rose, Sohn eines Sintos und einer Italienerin, verliert während des Zweiten Weltkrieges 13 Familienmitglieder. Früh engagiert er sich in der Bürgerrechtsbewegung und fordert Akzeptanz gegenüber den Roma. Atmo 14 Hungerstreik Autor 32 1980 tritt eine Gruppe der Roma auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau in den Hungerstreik, weil ihr das bayerische Innenministerium die Einsicht in historische Akten verweigert. Rose ist Sprecher der Gruppe, die in ganz Europa Beachtung findet - auch bei der Politik: Der 17. März 1982 markiert eine Zäsur für die Aktivisten um Romani Rose: Bundeskanzler Helmut Schmidt empfängt eine Delegation des Zentralrats und erkennt die NS-Verbrechen an den Roma als Völkermord aus "rassischen" Gründen an. Auf diesem Fundament setzen sich Rose und seine Mitstreiter für Entschädigungen ein, für Informationskampagnen, politische Initiativen. Und für das Dokumentations- und Kulturzentrum, das 1997 mit einer Ausstellung in Heidelberg eingeweiht wird. Romani Rose: O-Ton 19 Romani Rose "Es gibt in Europa nicht das Bewusstsein für den Holocaust an unserer Minderheit, wie das im Fall der Shoa an den Juden gewesen ist. Man muss wissen, Sinti und Roma leben seit vielen Jahrhunderten in Deutschland. Sie sind Bürger dieses Staates, sie sind Arbeiter, Angestellte, Akademiker und Künstler. Sie leben aber aufgrund der Klischees, die man ihnen anheftet, überwiegend in der Anonymität. Und die Arbeit, die wir machen, ist darauf gerichtet, ein Bewusstsein zu schaffen, dass kulturelle Identität und nationale Zugehörigkeit kein Gegensatz sind." Autor 33 Im Frühling 2006 erweitert Romani Rose seine Bürgerrechtsarbeit auf das Thema Fußball: Atmo 15 Ogungbure Autor 34 Romani Rose informiert sich über die Geschichte von Adebowale Ogungbure. Der Nigerianer hatte mit seinem Verein Sachsen Leipzig in der Oberliga beim Halleschen FC gespielt, dort wurde er von Fans beschimpft, bespuckt, geschlagen. Atmo 16 Hassgesänge Autor 35 Romani Rose kann diesen Vorfall kaum glauben. Er wendet sich an den DFB, bietet seine Unterstützung an. Dessen Präsident Theo Zwanziger ist bekannt für sein Interesse an Politik. Atmo 17 Zwanziger in Jerusalem Autor 36 Zwanziger und der Zentralrat gehen eine Partnerschaft ein: O-Ton 20 Theo Zwanziger "Dann hat er mich eingeladen nach Heidelberg, ich kannte zu diesem Zeitpunkt noch nicht dieses Dokumentationszentrum und habe mich einfach mal mit ihm zusammengesetzt, um zunächst auch mal für mich ein Stück auch mehr zu wissen über diese Minderheitensituation und habe das dann alles auch einmal auf mich wirken lassen. Und das sind dann auch all die Ereignisse, wenn man ein klein bisschen Gefühl hat, die in einem arbeiten können. Und ich habe natürlich gesehen, wie pervers die Nazis sich dort auch mit Menschen - dieser eine Boxer, der dort stand, der also eine hellere Haut haben musste, weil sie ihn benutzen wollten. Er sollte ja boxen, aber er musste aussehen wie ein Arier." Autor 37 Anders als der Zentralrat der Juden ist der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma kaum in Aufsichtsräten, Stiftungen, Gremien vertreten - in Gremien wie den Rundfunkräten zum Beispiel. Romani Rose will das ändern, als Mitglied der DFB- Kulturstiftung knüpft der 65-Jährige ein Netzwerk mit Institutionen aus Politik und Kultur. O-Ton 21 Romani Rose "Wir wollen ja auch zeigen, dass wir heute in der Gegenwart sind. Und dazu gehört, dass man sich austauscht. Man macht die Erfahrung, dass man oftmals die gleichen Hobbys, die gleichen Vorstellungen hat. Und eine Grundlage für die Begegnung ist oftmals der Sport. Und Fußball ist etwas, was Menschen einfach mobilisiert." Autor 38 Im Mai 2010 setzen der Zentralrat und der DFB ein Zeichen, um auf die Sorgen der Roma aufmerksam zu machen. Atmo 18 Länderspiel Autor 39 Das Freundschaftsspiel zwischen Ungarn und Deutschland in Budapest wird vor der WM in Südafrika dem Kampf gegen Antiziganismus gewidmet. Eine Delegation des DFB reist mit ungarischen und deutschen Politikern nach Tatárszentgyörgy, wo zwei Roma bei einem Brandanschlag getötet worden waren. Atmo 19 Tatárszentgyörgy Autor 40 Die Delegation besucht die Ruine am äußerten Rand des Dorfes. Sie sieht einen verkohlten Dachstuhl, poröse Wände, auf deren gelber Oberfläche der orangefarbene Schriftzug zu lesen ist: "Wir lieben euch". Die Gäste überreichen den anwesenden Kindern Trikots, Bälle, Luftpumpen. Atmo 20 Bauarbeiten Autor 41 Während der Vorbereitungen auf das Länderspiel wird das Anwesen für ein Pilotprojekt ausgewählt. Freiwillige aus ganz Europa helfen bei der Sanierung von Häusern, in denen Roma leben. Der Bauorden in Ludwigshafen und der Zentralrat der Sinti und Roma fördern die Helfer. DFB-Präsident Theo Zwanziger bringt das Vorhaben in die Öffentlichkeit. Der Anlass ist ein Spiel, das sportlich kaum von Bedeutung ist, politisch aber sehr wohl. O-Ton 22 Theo Zwanziger "Ich mische mich in Länderspielgegner in aller Regel nicht ein, weil das ist eine sportliche Herausforderung. Wenn der Bundestrainer gesagt hätte: ,Herr Zwanziger, das geht nicht, ich kann nicht Ungarn spielen. Ich brauche einen anderen Gegner', dann hätte ich das akzeptiert. Aber Löw ist in solchen Fällen jemand, der diese gesellschaftlichen Zusammenhänge sehr wohl sieht. Also der schiebt die nicht ganz weg. Weil ich auch merke, dass die Leute dadurch ein bisschen Mut auch bekommen, ihre Position und sich selbst sichtbarer zu machen. Also nicht ängstlich zu sein." Musik Roma-Interpret Autor 42 Der DFB geht mit dem Länderspiel in Ungarn an die Öffentlichkeit, der Zentralrat der Sinti und Roma verschickt dazu eine Pressemitteilung, doch die Medien halten das Thema scheinbar nicht für relevant. Weder Zeitungen noch der Fernsehkommentator während des Spiels lassen dazu auch nur ein Wort fallen. Der Freiburger Sportsoziologe Diethelm Blecking wundert sich nicht, dass noch immer Klischees und Unwissenheit dominieren: O-Ton 23 Diethelm Blecking "Das habe ich gehört von einem Freiburger Trainer, dem wurde ein sogenannter Zigeuner als hochtalentiert beschrieben. Antwort: der kommt mir nicht in die Jugendmannschaft, der kommt ja nie pünktlich zum Training. Sagen wir mal: im Stereotypen besetzten Blick auf die sogenannten Zigeuner spielte ja nun Tanzen und Musik eine große Rolle. Ist natürlich ein Stereotyp. Aber alle Stereotypen haben einen Kern, der ist richtig konstruiert. Und der ist natürlich auch richtig konstruiert. Ein geheures Potenzial, was ästhetische Erziehung angeht, also Musik, Sport, Kunst. Gewaltiges Potenzial, es wird wenig gemacht." Atmo 21 Anti-Nazi-Demo Autor 43 Das 1999 gegründete Netzwerk Fare hat sich einen Namen im Kampf gegen Diskriminierungen im Fußball gemacht. Fare steht für "Football against racism in Europe" und hat aktive Partner in 40 Ländern. 2010 widmete sich das Netzwerk erstmals ausführlich dem Antiziganismus und schrieb Projekte auf Graswurzelebene aus. Das Ziel: Die Verknüpfung von Fußball und Bildung. Claudia Krobitzsch arbeitet hauptamtlich für Fare in London: O-Ton 24 Claudia Krobitzsch "Wir haben bestimmte Kriterien aufgestellt. Für uns war da wichtig, dass Roma an der Organisation von dem Projekt beteiligt sind, dass sie nicht nur irgendein Projekt von irgendeiner NGO vorgesetzt bekommen, sondern dass sie auch mitmachen. Dass auch Frauen eingebunden werden. Und natürlich dass es was mit Fußball zu tun hat. Fußball ist halt ein gutes Mittel, um Menschen einzubinden, um denen eine Möglichkeit zu geben, mitzumachen, an der Mainstream-Gesellschaft." Autor 44 51 Bewerbungen aus ganz Europa gingen bei Fare ein, 17 wurden mit einer Summe von insgesamt 25000 Euro gefördert. Atmo 22 Fußballspielen O-Ton 25 Claudia Krobitzsch "Also wir hatten zum Beispiel in der Slowakei ein Projekt, das hat sich mit Straßenkindern beschäftigt. Und die haben ein Turnier gemacht, mit denen Ausflüge gemacht und die haben mit denen in Workshops Teamarbeit unterrichtet. Haben sich auch besser kennengelernt, weil die leben sonst eigentlich getrennt." Autor 45 Die Offensive von Fare ist einzigartig geblieben. Langsam erkennen Fußballvertreter die Abseitsstellung der Roma. Die meisten von ihnen führen ein Leben, das an die Apartheid erinnert. Nicht auf einem fernen Kontinent, sondern mitten in Europa. 14