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O-Ton 3 (Mirko Bonné) Das ist aber nen Ablösungsprozess von diesem sturen Bild, ich will sie unbedingt zurückhaben. Zitatorin (über Musik legen) Aber man kommt nicht zurück; von dort ist noch keiner zurückgekommen. Zitator Weil nur Tote hingegangen sind. O-Ton 4 (Marion Poschmann) Wenn jemand stirbt, existiert diese Person ja auch nur noch in der Einbildung, und das ist ja auch total rätselhaft. Zitatorin (über Musik legen) Und, wie willst du gehen? Zitator Ich gehe lebendig nach dort. O-Ton 5 (Terézia Mora) Eigentlich ist Trauer ein Reparaturvorgang. Zitatorin (über Musik legen) Und kommst nicht mehr zurück. Zitator Vielleicht wartet er, dass wir zu ihm kommen. (...). (David Grossman, Aus der Zeit fallen. Übers. von Anne Birkenhauer. Hanser Verlag, S. 5f.) O-Ton 6 (Aris Fioretos) Ich meine, Literatur ist in gewisser Weise ohne Trauer undenkbar. Musik Sprecherin Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen, so steht es auf Grabsteinen. Der Tod ist der Endpunkt des Lebens - und zugleich dessen größte Kränkung. Daher versuchen wir, ihn zu verdrängen, ihn in eine abgeschottete Unterwelt zu verbannen. Sprecher Bis er uns im Leben erwischt. Am eigenen Leib mit seinen Vorboten Alter und Krankheit. Oder durch den Tod eines geliebten Menschen. Der Tod lässt den Liebenden in grenzenloser Einsamkeit zurück. Er wird aus der entleerten Gegenwart ins Reich der Erinnerungen geworfen, ins Reich des Todes. Von hier nach dort, von dort nach hier. Musik Zitator (dissonante Musik oder Ton unterlegen. Ovid-Zitate immer so unterlegen) Durch die Gefilde Schweifte die jüngst Vermählte, vom Schwarm der Najaden begleitet, Ach, und starb, an der Ferse verletzt von dem Bisse der Natter. Musik Sprecherin Im Englischen gibt es, anders als im Deutschen, zwei Begriffe für Trauer: "Grief" ist die emotionale Seite der Trauer, der Schmerz. "Mourning" bezeichnet dagegen die Sphäre der Trauerrituale und -bräuche. Beide sind, darauf weist der Kulturwissenschaftler Reiner Sörries hin, starken Veränderungen unterworfen. O-Ton 7 (Reiner Sörries) Seit dem 19. Jahrhundert wandelt sich zum einen "grief", das innere Gefühl, weil plötzlich der Tod eines Menschen zu einer intimen, individuellen Erfahrung wird. Der Mensch war vor dem 19. Jahrhundert schwerpunktmäßig Teil einer Gesellschaft, und wenn er starb, war es ein Problem für die Gesellschaft, und die Rituale dienten dazu, dass die Gesellschaft intakt blieb. Seit der zweiten Hälfte 19. Jahrhundert kommt die emotionale Seite. Seit dieser Zeit ist die Ehe zum Beispiel eine Liebesgemeinschaft, und wenn da ein Mensch stirbt, dann ist es plötzlich eine hochemotionale, persönliche Tragödie. Und das spielt natürlich heute eine Rolle, dass der Tod eines Menschen heute nicht so sehr ein gesellschaftliches, aber ein individuelles Problem ist. Und insofern hat sich natürlich dann auch dieses "mourning" geändert, was früher gebunden war an gesellschaftliche Konventionen, und die Menschen haben sich in ihrem individuellen Trauerbedürfnis allmählich aus diesen Konventionen befreit. Sprecher Heute liegt die Trauer - Freiheit und Aufgabe zugleich - in der Hand des Einzelnen. Trauer ist zu einer schöpferischen Herausforderung geworden - Erkundungsraum für die Literatur. Musik Zitatorin Dies ist ein Fall, in dem ich mehr als Worte brauche, um den Sinn zu finden. Dies ist ein Fall, in dem ich alles brauche, was die Fassade durchdringt oder durchdringen könnte, wenigstens für mich. (Joan Didion, Das Jahr magischen Denkens. Übersetzt von Antje Ravic Strubel. Ullstein. S. 12) Sprecherin 2005 veröffentlichte die amerikanische Schriftstellerin Joan Didion Das Jahr magischen Denkens. Das Buch erregte großes Aufsehen: Neuartig erschienen die Direktheit und Sensibilität, mit denen Didion ihre Trauer über den Tod ihres Ehemannes John Dunne analysierte und Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken aufzeichnete. Um Sterben und Tod kreisen belletristische Werke schon seit einigen Jahren vermehrt, gegenwärtig beschäftigen sich auffällig viele Titel mit der Trauer über den Tod eines geliebten Menschen. Der Fokus hat sich vom Lebensende auf das Danach der Hinterbliebenen verschoben. Musik Sprecher Connie Palmen setzt sich im Logbuch eines unbarmherzigen Jahres mit dem Tod ihres geliebten Mannes auseinander. David Grossman literarisiert in Aus der Zeit fallen den Verlust seines im Libanonkrieg gefallenen Sohnes. Aris Fioretos rekonstruiert seinen verstorbenen Vater in Die halbe Sonne. Und gleich drei Romane, die 2013 auf der Shortlist des Frankfurter Buchpreises standen, handeln von der Trauer um einen geliebten Menschen: Mirko Bonnés Nie mehr Nacht, Marion Poschmanns Die Sonnenposition und Das Ungeheuer, der mit dem Buchpreis ausgezeichnete Roman von Terézia Mora. Musik Zitator (dissonante Musik oder Ton unterlegen) Als zu dem Himmel empor der rhodopeïsche Sänger Lange die Gattin beweint, jetzt auch zu versuchen die Schatten, Wagt er hinab zur Styx durch des Tänarus Pforte zu steigen. Und durch luftige Scharen bestatteter Totengebilde Naht er Persephonen nun, und des anmutlosen Bezirkes Könige drunten in Nacht; und sanft zum Getöne der Saiten Singet er: O ihr Gewalten des unterirdischen Weltraums, Welcher uns all aufnimmt, so viel wir sterblich erwuchsen! Musik O-Ton 8 (Connie Palmen) Die Wirklichkeit lässt dich im Stich, bedeutet nichts mehr, ohne dieses zweite Paar Augen, mit dem du so lange gelebt hast. Zitatorin Neununddreißig Kilo, Kiefersperre, Mund in Fetzen, Rachen in Brand. Magen greint, Darm jammert laut vor Leere, Herz rast, klopft, pumpt wie verrückt. Innen durch und durch kalt, außen perlt Schweiß an den Körperseiten hinunter wie Tränen. Nachts ist es klamm im Bett von der abkühlenden durchtränkten Wäsche. So sinnlich der Schmerz ist, der mich krank macht, die Organe scheinen nicht zu mir zu gehören, scheinen von mir losgelöst aufzuschreien. (Connie Palmen, Logbuch eines unbarmherzigen Jahres. Übers. von Hanni Ehlers. Diogenes, S. 9) Sprecherin Am 11. März 2010 stirbt Hans van Mierlo, der zweite Ehemann der niederländischen Schriftstellerin Connie Palmen, mit dem sie eine symbiotische Liebe verband. Sein Tod reißt einen gewaltigen Krater in ihr Leben. Sie leidet wie ein Tier. O-Ton 9 (Connie Palmen) Trauer ist sehr körperlich. Aber der Körper ist ein sehr einfaches Ding, er hat nur ein kleines Arsenal von Organen, die schmerzen können: Magen, Darm, Haut, Kopf. Und das tut er auf der gleichen Weise, ich hab das auch geschrieben als Verliebtheit. Es ist eine unerträgliche Unruhe, den anderen zu sehen, wie als ob man verliebt ist, und die Organe benehmen sich auch wie verliebt. Das ist eigentlich das Einzige, dass der Körper will zu dem anderen. Sprecher Der Körper will das Unmögliche, er verlangt nach dem Geliebten. "Verliebtheit ohne Erlösung" nennt Connie Palmen die Trauer. Zitatorin Falling apart, dieser englische Ausdruck für das Zusammenbrechen, für einen Zustand des Wahnsinns, trifft den Kern dessen, was geschieht, wenn ein geliebter Mensch stirbt: Es ist ein Sturz ins Abgespaltensein. Weil etwas auseinandergerissen wird, das zusammengehört. (...) Für Liebende gilt das harte Gesetz: Sobald das Wir nicht mehr da ist, bricht das Ich zusammen, zerfällt in Bruchstücke, zertrümmert, kaputt, durch nichts anderes zusammenzuhalten und zu definieren. Nicht nur er ist tot, mein liebstes Ich ist es auch. (CP, 28) O-Ton 10 (Connie Palmen) Was so schrecklich an Trauer ist, und das ist auch, warum man sich so tierisch fühlt, ist, dass es so passiv ist, deshalb ist es auch eine Passion, diese Geschichte, eine Passionengeschichte. Und man hört schon im Wort, dass das Passive im Wort ist. Leiden ist deshalb Leiden, weil es einen überkommt, weil es einen auch passiv macht. Man hat nicht mehr das Glück, etwas draus machen zu können. Sprecherin 48 Tage nach dem Tod ihres Geliebten beginnt Connie Palmen, sich Notizen zu machen, das Märtyrium der ersten Wochen festzuhalten. Es ist ein Stemmen gegen die Passivität. Und es ist ein Stemmen gegen das Vergessen. Palmen weiß noch von der Trauer um ihren ersten Ehemann fünfzehn Jahre zuvor, dass man vergisst, um zu überleben. Zitatorin Nach einem Monat schon fängt es an, zeigen sich die ersten feinen Risse in den Erinnerungen an die sechs Wochen und drei Tage Krankenbett, die seinem Tod vorangingen, an die erste Woche mit einem toten Mann, an die Wochen danach. Das Verblassen der Erinnerungen hat etwas von einem zusätzlichen Tod, von einem Verrat an der Liebe. Ich muss gegen das Vergessen anschreiben. Egal wie. (CP, 16f.) O-Ton 11 (Connie Palmen) Das war eigentlich der erste Impuls gegen das Vergessen an. Der zweite war literarischer. Ich hatte zum Beispiel auf der Suche nach Hilfe so viel Bücher gelesen, auch das Buch von Simone de Beauvoir Der Abschied. Das ist über die letzte Jahre, Monate, Wochen und Tagen des Lebens Jean-Paul Sartres, mit dem sie mehr als 50 Jahre gelebt hat und diesem Buch lässt sie ein Vorwort vorangehen, und da schreibt sie, dass Freunde ihr besuchen und ihr fragen, wie geht es dir, wie ist es, jeden Tag ohne Jean-Paul Sartre leben zu müssen. Und dann sagt Simone de Beauvoir, man kann es nicht beschreiben, man kann das nur untergehen. Und das hat mich auch wütend gemacht, und ich hab gedacht, wenn die Literatur das nicht kann, so ein elementares Gefühl wie Trauer, so ein elementares großes Erlebnis wie den Verlust eines Geliebten, wenn die Literatur das nicht kann, dann darf sie sich gar keine Kunst nennen. Zitatorin Die Macht des Todes, seines Für immer vorbei muss sich der Macht der Sprache beugen, dem Für immer, das die Literatur schaffen kann. (CP, 94) Musik Sprecher Dem Überlebensdrang zum Vergessen trotzt Connie Palmen ein beeindruckendes Buch ab - ein Logbuch. Kein Tagebuch, das Palmen für zu subjektiv hält. Und keine Fiktion. Die "übermächtige Faktizität des Todes" widersetzt sich dem Erfinden. Palmen lässt ein Log hinab in ein Meer aus Schmerz und Verzweiflung. Sie will registrieren und ihre Position bestimmen. Diese verändert sich, so, wie sich auch die Trauer verändert. Mit ihr wandelt sich das Logbuch eines unbarmherzigen Jahres. Zu den Notizen gesellen sich Erinnerungen an den geliebten Mann, Berichte aus dem Alltag, Begegnungen mit Freunden, auch mit Krankheit und Tod anderer naher Menschen, Lektüren von Trauerbüchern, E-Mails und Briefe, Reflektionen über die Liebe, den Tod, die Versuchungen des Alkohols und des Selbstmords. Am Ende des Jahres und dem des Buches durchlebt Connie Palmen noch einmal die dramatischen letzten Wochen ihres Ehemanns. Das Log sinkt auf den Grund. O-Ton 12 (Connie Palmen) Man lebt eigentlich, wenn man trauert, nach die letzte Wochen zu von seinem Leben. Man lebt nur, um das vergangene Jahr noch einmal zu herleben, sagt man das auf Deutsch auch so? Also man lebt nach diesem Tod zu. Ich hab auch mich wirklich täglich gedacht, oh, jetzt bin ich in diesem Monat und ist das noch so viele Monate und dann geht er tot, geht er wieder tot. Sprecherin Mit dem nochmaligen Tod des Geliebten endet Connie Palmens Logbuch und macht damit das Trauerjahr sinnfällig, mit dessen Ende in vielen Kulturen die Trauer zum Abschluss kommt. Für Joan Didion ist dieses erste Jahr durch magisches Denken bestimmt. Sie räumt die Kleidung ihres Mannes nicht weg, weil er ja zurückkehren könnte, sie ist verzweifelt, als sie ein Buch von ihm zuschlägt - auf der offenen Seite hätte eine geheime Botschaft von ihm versteckt sein können. Von der ständigen Anwesenheit des Toten berichtet auch Connie Palmen. Sie spricht mit ihm, halluziniert ihn herbei, sieht ihn vor sich, als sei er noch am Leben. "Ein-Bildung" nennt Palmen dieses Denken und Fühlen zwischen Ober- und Unterwelt. Musik Zitator (dissonante Musik oder Ton unterlegen) Dulden wollt' ich als Mann, und strengte mich; aber es siegte Amor. Man kennet den Gott sehr wohl in der oberen Gegend. Ob ihr unten ihn kennt? Nicht weiß ich es, aber ich glaube. Wenn nicht täuscht das Gerücht des altbesungenen Raubes, Hat euch Amor gefügt. Bei den Orten des Grauns und Entsetzens, Bei der verstummenden Öd' und diesem unendlichen Chaos, Löst der Eurydice, fleh' ich, o löst das beschleunigte Schicksal! Musik O-Ton 13 (David Grossman) It's hard for me to explain ... (Overvoice) Es ist schwer für mich, das zu erklären, und ich kann Ihnen höchstens eine nachträgliche Erklärung dafür geben. Ich wusste es einfach, ich fühlte es geradezu körperlich während des Schreibens: Das alles sollte in Gedichtform geschrieben werden. Erstmal fing ich mit einer Erzählform an, aber das reichte irgendwie nicht, irgendetwas in der Prosa war nicht feinfühlig, nicht sensibel genug, und ich brauchte etwas anderes. Es war fast ein körperlicher Zwang. Meine Frau sagte, und ich liebe diese Erklärung, dass Lyrik der Stille am nächsten kommt. Das Buch ist tatsächlich das Ergebnis eines inneren Konflikts. Da gibt es einerseits den sehr starken Drang, die Dinge auszusprechen und über sie zu schreiben und andererseits den tiefen Schock darüber, dass man dazu in der Lage ist. Das Buch handelt von genau dieser Spannung. Ich musste es schreiben, ich fühlte, dass ich mit meinem Leben nicht weitermachen konnte, bevor ich dieses Buch geschrieben hatte. Musik Zitatorin Mit einem Schlag schickte man uns in die Verbannung. Sie kamen nachts, klopften an unsere Tür, sagten: Um die und die Uhrzeit an dem und dem Ort, wurde Ihr Sohn auf die und die Art ... (DG, 15) Sprecher 2006 verlieren der israelische Schriftsteller David Grossman und seine Frau ihren Sohn Uri im Libanonkrieg, in dem er als Soldat kämpfte. Fünf Jahre braucht Grossman, um dem Schweigen nach diesem Tod Worte abzuringen. Sein vielstimmiger, eindringlicher Klagegesang erklingt aus dem "Exil" heraus, in das der Tod die Trauernden verbannt, aus dem "Leben im Negativ", ohne Worte und Farbe. Aus der Zeit fallen heißt Grossmans Buch. Musik Zitator Komm, es ist ganz leicht, denk ohne abzuwägen und zu überlegen: Seine Mutter und sein Vater stehn auf und gehen zu ihm - Zitatorin In wessen Augen sollten wir schauen, um ihn zu sehn, eingerollt im Schwarz der Pupille, seiend nicht seiend? In wessen Finger sollten wir unsre verschränken, um ihn für einen Augenblick in unsern Händen zu formen? Geh nicht. Zitator Die Augen, ein Funke seiner Augen - Undenkbar, es nicht zu versuchen, unvorstellbar, es nicht zu tun. (DG, 19/20) Musik Sprecherin Eine namenlose Frau und ein namenloser Mann fallen aus der Zeit, nachdem sie vom Tod ihres Sohnes erfahren haben. Seitdem baumeln sie am "Galgen der Sehnsucht". Gegen den Willen der Frau verlässt der Mann das gemeinsame Haus, er macht sich, der Sehnsucht folgend, auf den Weg nach dort, zu seinem toten Sohn. Immer größere Kreise zieht er um sein Haus, stößt immer weiter in unbekannte Gefilde vor. Unterwegs schließen sich ihm andere Trauernde an, auch sie namenlos, auch sie haben ein Kind verloren: Ein Schuster, eine Hebamme, ein Herzog, eine Frau in einem Netz, ein greiser Rechenlehrer - allesamt mythische Figuren in einem überzeitlichen Geschehen. Auch ein Chronist der Stadt ist unter ihnen, der ihre Stimmen aufzeichnet, und ein Zentaur, dessen menschlicher Oberkörper mit dem Schreibtisch verwachsen ist, ein Mischwesen aus Vater und Schriftsteller - wie Grossman selbst. Zitator Um mich selbst, allein um meine Seele kämpf ich hier, gegen das Ausgelöschtwerden, gegen das Abstumpfen und die Verringerung. Mein Leben hängt jetzt ganz Am dünnen Faden der Feder. (DG, 107f.) O-Ton 14 (Grossmann) The book is about the attempt ... (Overvoice) Im Buch geht es um den Versuch, um das Bedürfnis oder gar die Notwendigkeit, dieses Dort zu erkunden, sich an den Ort zu versetzen, wo das Leben so nah wie möglich an den Tod herankommt, den Tod berührt, wo man auf eine gewisse Weise vielleicht noch einmal in Kontakt kommt mit einem geliebten Menschen, der tot ist. Einfach da sein, wo noch etwas von der Wärme zu spüren ist und das in Worte zu fassen. Und dann wieder zurückzugehen. Für mich ist das genauso wichtig, das Wieder-ins-Leben-Zurückfinden. (Grossman) ... to bring there, to come back to life. Zitator, Zitatorin, Sprecher, Sprecherin (alle zusammen) Wenn wir sie treffen ... für den Fall, dass wir sie überhaupt sehen ... (nur eine Stimme) was sage ich ihm dann * (andere einzelne Stimme) Was werde ich ihr sagen * (zwei Stimmen) Meint ihr, sie wissen * (zwei andere Stimmen) Was * (alle zusammen) Sie wissen, dass sie tot sind? (DG, 89) Sprecher Von dem Toten angezogen wie von einem Geliebten, der zu einem Treffen ruft, schreiten die Trauernden in Aus der Zeit fallen den Raum ihres Schmerzes und ihrer Erinnerungen ab. Sie bewegen sich in einem Zwischenreich, in dem Leben und Tod, Wirklichkeit und Traum, Klarsicht und Wahn ungeschieden sind. Denn sie können und wollen vom Toten nicht getrennt sein, seine Abwesenheit, sein Nicht-Sein nicht zulassen. Und so geraten sie an die letzte Grenze zum Dort, wo die toten Kinder sind. Eine Felswand türmt sich vor ihnen auf, weiter kommt ein Lebender nicht. Doch auf dieser Wand aus Stein, herausgemeißelt durch die Sehnsucht der Trauernden, erscheinen schließlich die Gesichter der Toten. Musik Zitatorin Ich habe nicht gewusst, dass Leben in seiner ganzen Fülle nur dort, an dieser Grenzlinie besteht. Es ist, als hätte ich noch nie gelebt, als sei nichts, was mir je geschah, wirklich geschehn, bis du, mein Kind, bis du starbst - (DG, 114) Musik Sprecherin In David Grossmans Heimat Israel, das sich seit Jahrzehnten im Kriegszustand mit seinen Nachbarn befindet, ist der Tod an der Tagesordnung, Die gefallenen Soldaten werden zu nationalen Helden idealisiert und entindividualisiert. Grossman holt den Toten zurück in die Familie und entreißt ihn der Vereinnahmung. Er erkundet den Ort, an dem das private, persönliche Leben eines Menschen mit dem privaten, persönlichen Tod eines geliebten Anderen in Berührung kommt. Erst durch diese Grenzerfahrung können die Trauernden ins Leben zurückkehren. Das nun allerdings völlig verändert ist. Es ist durch den Tod angereichert. Der Tote ist als lebendiges inneres Bild Teil ihres Lebens geworden. So bewahren sie ihn in sich - und lassen ihn zugleich dort, hinter der Felswand. Musik Zitator (dissonante Musik oder Ton unterlegen) Hierher müssen wir all; hier ist die letzte Behausung; Ihr beherrscht am längsten die elenden Menschengeschlechter. Jen' auch, wenn sie gereift die beschiedenen Jahre gelebet, Kommt zu euch; nur kurzen Genuss verlang' ich zur Wohltat. Wenn mir das Schicksal versagt das Geschenk der Vermähleten, niemals Kehr' ich von hinnen zurück! Dann freut euch des doppelten Todes! Musik O-Ton 15 (Aris Fioretos) Das mit der Trauer ist so eine Sache. Ich meine, hast du jemanden, den du sehr, sehr gerne hast in deinem Leben, der aber so lange Zeit krank ist, dann weißt du schon Jahre im Voraus, dass er irgendwann nicht mehr da sein wird. Mit anderen Worten findet der Trauerprozess eigentlich schon während der Endphase des Lebens statt. Und trotzdem kommt natürlich der Tod überraschend. Und wenn es um die Beziehung zwischen Vater und Sohn geht und der Sohn zufälligerweise auch das älteste Kind ist, dann findet eben dieses Gefühl besonders ausgeprägt statt, nämlich: Ach, jetzt bist du an der Reihe. Jetzt schützt dich niemand mehr gegen die Sonne und gegen die schlimmen Strahlungen der Sonne. Musik Zitator Ich würde dich gerne auseinandernehmen und wieder zusammensetzen. Ein Paparat. Gemacht aus allem, was du bist, wenn du nicht bist wie hier. (Aris Fioretos, Die halbe Sonne. Buch über einen Vater. Übers. von Paul Berf. Hanser, S. 13) Sprecher Der Vater ist tot nach 15 Jahren Krankheit. Der Sohn sitzt in der Kapelle neben dem kalten, stummen Körper und beschließt, den Vater neu zu machen, einen "Paparat" zu schaffen. So beginnt ein ungewöhnliches Erinnerungs- und Trauerbuch, dessen Ziel und Inhalt eben dieser "Paparat" ist: Aris Fioretos' Die halbe Sonne. Buch über einen Vater. Sprecherin Der "eine Vater" ist unverkennbar der des Schriftstellers Aris Fioretos: Ein Mann, der als Jugendlicher aus Griechenland nach Schweden auswanderte und Arzt wurde, ein Berserker, der gern im Mittelpunkt stand, voller Energie und mit einer Begeisterungsfähigkeit, die sich von finanziellen oder anderen Grenzen nie schrecken ließ, ein liebender Ehemann mit einer Frau aus Österreich und bald ein "ausländischer Vater" von vier Kindern. Ein machtvoller, beschützender Familienmensch. O-Ton 16 (Aris Fioretos) Du baust deinen Vater um, du machst ihn neu, in gewisser Weise, aber du machst ihn neu aus dem, was vorhanden ist, und das ist nach dem Tod eines Menschen nicht sehr viel, das sind die Erinnerungen und Missverständnisse und Kurzschlüsse und Gefühle usw. Aus all dem kannst du dann einen neuen Menschen basteln. Und ich dachte mir, wenn du das tust, machst du den Vater auf der einen Seite neu und auf der anderen Seite aber baust du ihn um, du lässt also das, was ihn in seinen letzten Jahren wenigstens charakterisierte, dieses Kaputtsein und dieses Kranksein, als ein integraler Teil seines neuen Ichs werden. Das ist das, was ich "Repaparatur" nenne. Du repaparierst ihn, und da spricht sozusagen das Bedürfnis schon mit: Ich brauche deine Hilfe, neu zu werden, also aus Sicht jetzt des Vaters. Das ist eine Wiederherstellung in 'ner sehr realistischen Art, weder idealisierend noch vernichtend. Sprecher Kein Vatermord und keine Vaterapotheose, sondern eine "Repaparatur" mit dem Ziel eines Vaterbildes, das Krankheit und Tod integriert. Als "Paparat" lebt der Vater in der Erinnerung fort, eine Art Herzschrittmacher für den hinterbliebenen Sohn. Fioretos' Erzählersohn erzählt das Leben des Vaters in vielen Szenen rückwärts bis zu dem Zeitpunkt, als der Sohn geboren und der Vater Vater wurde. Musik Sprecherin In der Kapelle, in der der tote Vater aufgebahrt ist, entdeckt der Sohn eine Streichholzschachtel. Darauf das allen Schweden vertraute Bild eines kleinen Jungen, der nackt, mit erhobenen Händen einer halben Sonne entgegenmarschiert. Als Allegorie begleitet dieses Bild den Erzählersohn bei seiner "Repaparatur". Ein Junge und die Sonne, das sind, sagt sich der Erzählersohn, dem der Vater Sonne wie Sonnenschutz zugleich war, Sohn und Vater. Von der metaphorischen Lesart des Bildes ist es dann nicht weit zum Mythos. Nicht nur, weil der Vater Grieche war. O-Ton 17 (Aris Fioretos) Ein solcher Mythos, der mir sehr entgegenkam, ist der Mythos der Beziehung zwischen Daidalos und Ikarus. Dieser kleine Mensch auf der Streichholzschachtel, das fiel mir gerade damals auch schon direkt auf, er könnte ja sogar Ikarus sein. Er läuft sozusagen gegen die Sonne, zwar ohne etwas in den Händen und auch ohne Flügel auf dem Rücken, aber er hatte eine Beziehung zur Sonne. Und auf der anderen Seite war dieser Daidalos in der griechischen Mythologie nicht nur derjenige, der das Labyrinth baut, er war ja auch Dichter, er war Architekt, er war Bauherr, er war Ingenieur, er war alles Mögliche. Er war Erzeuger in gewisser Weise, der Übererzeuger, er hat immer wieder neue Projekte in Gang gesetzt, und so kannte ich meinen Vater. Also wir zogen damals, als ich Kind war, jedes zweite Jahr um und das Leben müsste neu erstellt werden, neu gebaut werden. Zitator Der Vater enthält vieles, was den Sohn beschäftigt. Wenn er ihn in die Zeit vor dem Anbeginn der Welt zurückerzählen will, kann dies keinesfalls ohne die Mythen geschehen. Auch nicht ohne die Dinge, über die sich der Vater lieber in Schweigen hüllte, wodurch immer wieder eine Leere entstand, die durch Vermutungen gefüllt werden musste. Als der Sohn nach der Klinke greift, denkt er, dass auch so etwas dazugehört. Und dass deshalb sowohl Fakten als auch Phantasie erforderlich sein werden, um den Vater noch einmal zu machen. (AF, 14) Sprecher Fakten, Mythen und Fiktionen, dazu die Erzählung in der dritten Person - Aris Fioretos verschafft sich in Die halbe Sonne. Buch über einen Vater mit erzählerischen Mitteln Luft und Distanz. Die Trauer lässt ihn nicht erstarren, dazu war der Vater zu lange krank. Er begibt sich auf eine Reise in die Zeit, erinnert sich an den verlorenen Vater und überführt ihn durch die Kraft der Literatur in einen anderen Zustand. Der Sohn wird zum Erzeuger seines Erzeugers. Als "Paparat" gehört der Vater seinem Schöpfer, dem Erzähler. O-Ton 18 (Aris Fioretos) Rauschen kurz ab "wenn man so will" Natürlich könnte man, wenn man so will, eine kleine Portion magisches Denken sich vorstellen. Ich meine: Man erzählt zu dem Vater zurück, bis zu dem Moment, wo er nicht mehr Vater ist, kann er auch nicht als Vater sterben, das ist eine Art von Wiederauferstehung, wenn man so will. Aber natürlich nicht in Form von Fleisch und Blut, sondern Papier und Tinte. Musik Zitator (dissonante Musik oder Ton unterlegen) Also rief der Sänger und schlug zum Gesange die Saiten; Blutlos horchten die Seelen und weineten. (...) Damals ist, wie man sagt, den gerühreten Eumeniden Bei dem Gesange zuerst die Trän' auf die Wange geflossen. Nicht die Königin kann, nicht kann der untere König Weigern das Flehn; und sie rufen Eurydice. Musik O-Ton 19 (Terézia Mora) Ich hatte mal so ein schönes Wort dazu gefunden, wozu Romane unter anderem gut sind: Also im Grunde, die Möglichkeiten durchzuspielen, ja. Dieses kontrafaktische Denken, also nicht das, was da ist, sondern was es sein könnte. Ich denke auch, dass ist halt auch ein Grund in meinem Alter, das ich langsam erreiche: Also mit 22 hätte ich darüber nicht geschrieben, mit 32 auch nicht, jetzt bin ich 42. Ich habe die Hälfte hinter mir, auf jeden Fall hinter mir, und das ist so das Alter, wo erstens schon Leute unseres Alters schon tot sind aus verschiedenen Gründen, wo der Tod der Eltern droht, und wo der Tod immer mehr zunehmen wird. Das ist so der Zeitpunkt, wo wir anfangen müssen zu üben für den richtigen Ernstfall. Sprecherin Nicht nur Terézia Moras eigenes Buch, auch das von Mirko Bonné und Marion Poschmann sind womöglich solche Katastrophenübungen. Sie sind fiktiv, jedenfalls als Romane gekennzeichnet, und es existiert in ihnen eine Außenwelt, die den Trauernden herausfordert. Zitatorin Darius Kopp hatte ein System entwickelt, das es ihm erlaubte, niemals hinaus gehen zu müssen. Das System war von genialer Einfachheit, es umfasste nur einen einzigen Punkt, nämlich: etwas zu Essen und zu Trinken zu besorgen. (...) Er bestellte immer nur Pizza, immer von demselben Lieferanten, und immer stur die Speisekarte herunter. Von Margherita bis Speciale, (...) 24 Pizzasorten, 4 Pizzaboten für diesen Lieferbereich. Wenn die Gefahr, einer könnte ihm zu vertraut werden, zu groß wurde, legte Darius Kopp das Geld mitunter auch einfach auf den Fußabtreter (...). (Terézia Mora, Das Ungeheuer. Luchterhand, S. 14) Sprecher Darius Kopp, die Hauptfigur in Terézia Moras mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman Das Ungeheuer", hat seine Frau Flora verloren. Sie hat sich nach zehn, wie er glaubte, glücklichen Ehejahren umgebracht. Kopp setzt keinen Fuß mehr vor die Wohnungstür. Nach elf Monaten ist die letzte Kaffeepackung aus dem Großeinkauf von damals aufgebraucht, die Terrasse voller leerer Pizzakartons, und durch ein Loch im Dach tropft es. Juri, der einzige Freund Kopps, der immer wieder auftaucht, um den einstigen IT-Fachmann ins Leben zurückzurütteln, schmeißt ihn aus der Wohnung. Widerwillig bricht Darius Kopp auf aus der Depression, aus der Starre, die er für Trauer hält, zu einer langen, traurigen und komischen Reise durch Südosteuropa. O-Ton 20 (Terézia Mora) Wir schicken ihn ja los, damit er fremd sein kann, weil in seiner Wohnung ist er es nicht. Da ist er in seiner Komfortzone, wenn man so will, so blöd dieser Komfort auch aussieht. Es ist ja nicht ganz abwegig, eine Technik zu wählen, zu sagen: der innere Vorgang durch einen äußeren Vorgang a. abbilden und b. in Gang setzen. Warum reist der Mensch, ja? Weil er hofft, dass es anderswo irgendwie anders ist und dass du durch die Differenz etwas erkennen kannst. Sprecherin Kopp nimmt einen Laptop mit Floras Aufzeichnungen mit. Als er sie zu lesen beginnt, füllen sich die bis dahin halbleeren Seiten des Buches unter dem Strich in der Mitte mit ihren Notizen, Erinnerungen, Träumen, Selbstbeobachtungen, Reflektionen und immer wieder Exzerpten von Medikamentenbeipackzetteln und aus psychiatrischer Literatur zur Depression. Flora war depressiv, das erkennt Kopp nun, und ihre Aufzeichnungen drohen, seine Erinnerungen an eine glückliche Ehe zu vernichten. Immer wieder muss er die desillusionierende Lektüre abbrechen. Die Aufzeichnungen zu ignorieren geht allerdings ebenso wenig, wie die Urne mit Floras Asche in ihrem ungarischen Heimatdorf zu bestatten, wie er es eigentlich vorhatte. Zitatorin Eine saudumme Idee, das alles, was hast du dir davon versprochen? - Dir nahe kommen, durch deine Orte. Aber du bist so unvorstellbar: hier. - (...) Als würde ich dich in die Verbannung bringen und dort lassen. Kopp setzte sich ins Auto und fuhr einfach weiter. (TM, 145f.) Musik Sprecher Kopp fährt nach Kroatien, Albanien, Bulgarien, in die Türkei, nach Georgien, Armenien, bis an den Kaukaus, Europas Grenze zu Asien. Weiter wäre auch Orpheus nicht gekommen auf der Suche nach Eurydike, meint Terézia Mora. O-Ton 21 (Terézia Mora) Es wird ja mehrfach erwähnt im Text, dass er den Durchgang sucht. Also, er sucht eigentlich den Eingang zur Unterwelt im Grunde also, beziehungsweise er ist hin- und hergerissen. Er will diese Frau quasi wiederfinden, deswegen imaginiert er sie auch häufiger, also dieses: Jetzt habe ich den Durchgang, da ist sie!, und zum anderen muss sein Weg natürlich in die andere Richtung führen, also ins Leben zurück. Sprecherin Nachts träumt Kopp nicht selten von Flora, auf der Reise, am Tag, begegnet er immer wieder Fremden, die ihn eine Zeitlang begleiten. Sie sitzen neben ihm im Auto, zeigen ihm ihre Heimat, erzählen ihm von ihrem Leben. O-Ton 22 (Terézia Mora) Na ja, und ich mag ja so total gerne diese Episodenfiguren. Ich schicke ihn dann weiter, damit er immer jemand Neuen treffen kann, der ihm etwas erklärt über seinen Zustand. Doiv ist so eine total überirdische Figur, er wird ihm etwas davon erzählen, wie man durchkommen kann, im Leben, während jemand wie Christina, die auch einen depressiven Ehemann hatte, der sich umgebracht hat, natürlich etwas über die Unterwelt weiß. Und also, ich glaube, letztendlich ist es sie, die ihn nach unten führt. Zitator Ich hätte eine Frage, sagt Darius Kopp, als das wieder möglich ist. Als er tot war: hast du ihn mehr oder weniger geliebt als vorher? Weniger. Natürlich weniger. Warum natürlich. Weil ich am Leben war und drei Kinder hatte, und er war tot. Da verläuft eine Grenze. Zwischen den Lebenden und den Toten verläuft eine Grenze. Ich habe unten auf der Straße auf die Rettung gewartet. Er lag oben. Ihm konnte nichts mehr passieren. ... [so im Original; kurze Pause] Man kann es sich nicht vorstellen, aber mit der Zeit nimmt die Trauer ab und auch alle anderen Gefühle. Ein Lebendiger kann nicht mit einem Toten leben, so ist es einfach. (TM, 649) Sprecher Terézia Moras Hauptfigur ist am Ende beinah nackt, auch das Auto ist Darius Kopp abhanden gekommen. Nur die Urne mit der Asche Floras ist ihm geblieben. Er beschließt, sie in den Ätna zu werfen, in den sich einst der Melancholiker Empedokles gestürzt hatte. Kopp glaubt, den richtigen Platz für Flora gefunden zu haben, jenen, an dem sie tot sein darf. Und jenen, an dem sich ihre Wege trennen können. Befreit von der Urnenlast, der Last des Todes, wird Darius Kopp noch einmal aufbrechen: ins Leben zurück. Musik Zitator (dissonante Musik oder Ton unterlegen) Unter den Schatten War sie, die frisch ankamen, und wandelte schwer von der Wunde. Jetzt empfing sie der Held von Rhodope samt der Bedingung, Dass er die Augen zurück nicht wendete, bis er entflohen Aus dem avernischen Tal; sonst wär die Gab' ihm vereitelt. Musik O-Ton 23 (Mirko Bonné) Ich wollte von Anfang an eine äußere Bewegung haben und zwar eine so rasante wie dann sich stark verlangsamende, das war mir ganz klar. Sprecherin Mit einer langen Autofahrt beginnt Mirko Bonnés Roman Nie mehr Nacht. Der Zeichner Markus Lee trauert um seine geliebte Schwester, die wie Terézia Moras Flora depressiv war und sich umgebracht hat. Er fährt mit ihrem Sohn Jesse in die Normandie. Während der pubertierende Junge einen Schulfreund besuchen möchte, dessen Eltern ein leerstehendes Hotel an der Atlantikküste bewachen und Zugvögel beobachten, soll Lee für ein Hamburger Kunstmagazin Brücken zeichnen, die bei der Landung der Alliierten in der Normandie im Sommer 1944 eine entscheidende Rolle spielten. O-Ton 24 (Mirko Bonné) Es ist ja letztendlich 'nen Zufall, der ihn ausgerechnet in dieser Zeit, ausgerechnet in den Herbstferien mit seinem Neffen zusammen nach Frankreich führt. Es ist 'nen willkommener Zufall, also letztendlich auch der Versuch, dem Ganzen zu entgehen. Sprecher In Hamburg hatte Markus Lee, der jahrelang die Ängste seiner Schwester Ira zu mildern versuchte, immer wieder gelähmt in der Garage gesessen, in der sie sich das Leben nahm. Er kann nicht über Iras Tod hinwegkommen und will es auch gar nicht. Zur Reise nach Frankreich musste ihn ein Freund, der Herausgeber des Kunstmagazins, überreden. Die Normandie und das verlassene, für einige Wochen von der fünfköpfigen Familie des Ornithologen Juhl bewohnte Hotel sind Orte der Toten: der schmerzhaft gegenwärtigen Einen und der historischen Vielen des Zweiten Weltkrieges, die der Anlass der Reise sind. O-Ton 25 (Mirko Bonné) Die Unterwelt beginnt dort. Und auch die Juhls, die Kinder, alle, die er dort kennenlernt in der Normandie, das sind alles letztendlich Bewohner der Unterwelt. Natürlich sollen das auch lebendige Menschen sein, aber auf der mythologischen Ebene ist das schon die Unterwelt. Diese gezeichnete Landschaft und diese Helferfiguren, die es dann gibt. Dann der Hund natürlich, der Zerberus. Sprecherin Schon vor der Ankunft im Hotel beginnt Markus Lee, sich von seinen Sachen zu trennen. Einen Schal lässt er in Belgien, CDs steckt er in das Handschuhfach eines Unfallwagens, Schuhe und Kleidung stellt er an einer Bushaltestelle ab, Iras Lieblings-CD von Fleetwood Mac erhält eine Tochter der Juhls. Zitator Ich wusste selber nicht, was mit mir los war. Weder ging ich nach einem bestimmten Plan vor, noch wollte ich mich oder jemanden sonst für irgendetwas bestrafen. Ich mochte das Gefühl, immer leichter zu werden, an immer weniger denken zu müssen, das war eigentlich schon alles. (Mirko Bonné, Nie mehr Nacht. Schoeffling, S. 215) Sprecher Markus Lee wirft Lebensballast ab, um zu verschwinden, um der toten Schwester zu folgen. Parallel dazu stellt er auch seinen Beruf als Zeichner infrage. Ihm wird klar, dass er seinen Auftrag, die Brücken zu zeichnen, nicht erfüllen kann, und sagt ihn ab. Zitator Jede Zeichnung erzählt eine komplizierte Geschichte, indem sie extrem vereinfacht. Aber die Vereinfachung ist nur ein Durchgangsstadium. Sie muss viel weiter gehen, immer weiter. Nicht nur was und wie ich zeichne, auch ich selber muss immer einfacher werden. Zeichne auf immer weniger Blättern immer weniger Linien. Werde unscheinbarer, Strich für Strich. Ja genau: Zeichne dich ins Verschwinden hinein. (MB, 165f.) O-Ton 26 (Mirko Bonné) Letztendlich ist es diese Bewegung, die ins Weiße hineinführt, eigentlich nicht ins Dunkle. Ein Verschwinden im Licht, ein Sichverbergen im Licht, wie es bei Camus heißt. Aber das ist schon ein Folgen auch der toten Schwester. Sprecherin Doch Markus Lee gelingt der Übertritt ins Totenreich nicht. Menschen, die Mirko Bonné Helferfiguren nennt, halten ihn durch ihre eigene Lebendigkeit im Leben. O-Ton 27 (Mirko Bonné) Ich wollte ja sozusagen eine Umkehr in dieser Bewegung haben - deswegen sage ich Helferfiguren, die ihn sozusagen dazu bringen, tatsächlich den Weg nach oben wieder anzutreten. Sie verlangen letztendlich von Markus Lee die Bereitschaft, sich zu öffnen gegenüber jedem Einzelnen. Musik Sprecher Lee verdankt es auch der Familie Juhl, dass er, fast gänzlich entblößt von seinem vorigen Leben, ein Medienkaufhaus in Bayeux besucht und an einer Fotowand hinter der Kasse das Bild zweier Frauen sieht. Zitator Eine der beiden Frauen sah aus wie Ira. (MB, 200) Sprecherin Lee sieht die geliebte tote Schwester, allerdings lachend und glücklich, nicht depressiv, wie er sie kannte. Orpheus sieht ein Foto, ein - so heißt der dritte Teil des Romans - "Ebenbild" von Eurydike. Wo aber sie finden? Auf der Suche nach der Frau auf dem Foto gerät Markus Lee unmerklich wieder ins Leben: Die Doppelgängerin seiner Schwester heißt Lilith. Lees Trauer berührt sie, und so schlägt sie ihm vor, sie auf einer beruflichen Reise mit einem Schiff nach Bremerhaven zu begleiten: Die Fähre soll abgewrackt werden, es ist ihre letzte Reise. Für ihn ist es die Überfahrt zurück ins Leben. O-Ton 28 (Mirko Bonné) Ich hab' anderthalb Jahre lang die Arbeit an dem Roman unterbrochen, um mir über diese Volte am Ende Gedanken zu machen und mich zu fragen, wie kann ich diesen Orpheus-und- Eurydike-Mythos tatsächlich zum einen aufleben lassen und zum anderen umbewerten. Weil ja letztendlich Eurydike es ist, die Orpheus rettet in dem Moment, indem sie die Gestalt wechselt und eine Doppelgängerin wird. Aber mir war klar, dass das so nicht funktionieren kann. Der Fehler der Betrachtung liegt bei Markus Lee, bei Orpheus, in dem Moment. Das heißt, er kann nicht in einer Frau, die ähnlich aussieht, die Doppelgängerin sehen, sondern er muss die Lebendigkeit der Doppelgängerin sehen, er muss sehen, dass das eigentlich 'ne andere Frau ist, die nur zufälligerweise ähnlich aussieht. Sprecher Mirko Bonné lässt seine Hauptfigur zwei Reisen unternehmen: eine in die Unterwelt in Frankreich, eine zurück ins Leben, die der Reise der Toten über den Styx mit dem Fährmann Charon nachgebildet ist. Markus Lee folgt der toten Ira fast in die Unterwelt - und lässt sie dann zurück dank einer anderen Frau. Nun erst kann er sich aus der inzestuösen Verstrickung lösen, kann beginnen, die Tote zu betrauern, statt ihre Nähe im Verschwinden zu suchen. Musik Zitator (dissonante Musik oder Ton unterlegen) Schnell entklommen sie nun durch Todesstille den Fußsteig, Jäh empor, und düster, umdrängt von dumpfigem Nachtgraun; Und nicht waren sie ferne dem Rand der oberen Erde. Jetzo besorgt, sie bleibe zurück, und begierig des Anschauns, Wandt' er die Augen voll Lieb'; und sogleich war jene versunken. Streckend die Arm', und ringend, gefasst zu sein und zu fassen, Haschte der Unglückselige nichts, als weichende Lüfte. Musik O-Ton 29 (Marion Poschmann 1, 02:40 ) Insgeheim habe ich den Roman auch aufgebaut wie einen Trauerprozess. Ich habe so eine Aufteilung in vier Teile, die lateinische Überschriften haben: Furor, Patientia, Memoria, Splendor. Und diese Teile mit ihren Überschriften entsprechen mehr oder weniger auch den vier Stufen des Trauerprozesses, die in der Psychologie angesetzt werden. Also da spricht man davon, dass zuerst so ein Zustand der Verleugnung vorherrscht, dass man, wenn ein Todesfall eintritt, erst mal so tut, als wär' nichts gewesen, und es vor sich selbst nicht wahrhaben will. Dann kommt eine Phase, bei mir heißt dass dann Furor, in der Emotionen aufsteigen, Wut vor allem, auch Schuldgefühle. In der dritten Stufe, das ist eine Erinnerungsphase, bei mir ist das Kapitel Memoria. In dieser Phase erinnert man sich an die gemeinsame Zeit mit dem Verstorbenen, man imaginiert Situationen, man sucht gemeinsame Orte wieder auf, versucht diesen Verstorbenen wieder heraufzubeschwören, bis man dann in Stufe vier den Verstorbenen zu einem sogenannten inneren Objekt gemacht hat, man hat ihn als Person verinnerlicht und seinen Frieden damit geschlossen und ist irgendwie dann durch diesen Trauerprozess erfolgreich hindurchgegangen. Und wenn das nicht klappt, dann wird man depressiv. Sprecherin Der Depressive hat seinen Verlust verdrängt, hat den geliebten Toten nicht betrauert und in die Unterwelt ziehen lassen. Wie schon bei Terézia Mora und Mirko Bonné grundiert in Marion Poschmanns Die Sonnenposition der Zusammenhang zwischen Trauer und Depression, wie Sigmund Freud ihn in seinem Aufsatz Trauer und Melancholie herausgearbeitet hat, die Romanhandlung. Auch Poschmann beschreibt die Trauer als einen Prozess der Bewusstseinsöffnung, die allerdings, weitergehend als bei Mora und Bonné, in die Transzendenz führt. Musik Zitatorin Odilo war mein erster Toter, nicht der erste Verstorbene, den ich gekannt hatte, aber der erste Verstorbene in meinem Alter, erst jetzt, sagte ich mir, war in meinem Leben ein Einschnitt gemacht, der erste Tote aus meiner Generation, es musste mich daher betreffen, mir Mahnung sein oder Stimulans. (Marion Poschmann, Die Sonnenposition. Suhrkamp, S. 29f.) Sprecher Der Ich-Erzähler Altfried Janich, ein dicklicher, zu Grübelei und Traurigkeit neigender Rheinländer Mitte vierzig, arbeitet als Psychiater in einer Klinik, die in einem maroden ostdeutschen Barockschloss untergebracht ist. Er hat "die Sonnenposition" inne, ist der allwissende Arzt, der die Psyche seiner Patienten erhellt, allesamt Wendeopfer, die nach dem Verlust ihrer vertrauten Welt verrückt wurden. Altfried Janich interessiert sich für das Abwesende, Dunkle, Verborgene. In seiner Freizeit macht er Jagd auf Erlkönige. Sei lassen an naturmagische Todesgestalten denken, gemeint sind aber getarnte Prototypen neuer Automodelle, die auf abgelegenen Geländen getestet werden. Sprecherin Der Blick des am Unsichtbaren Interessierten aber bleibt an Wänden und Tapeten hängen. Erst als sein Freund Odilo bei einem nächtlichen Autounfall - er fuhr ohne Licht - ums Leben kommt, werden die Grenzen durchlässig. Altfried verliert die Sonnenposition, er gerät auf die Nachtseite. O-Ton 30 (Marion Poschmann) Odilo wird auch ein bisschen als Gegenspieler, dann auch wieder als Doppelgänger zu Altfried aufgebaut. Odilo ist dann tot und entfernt sich praktisch aus dem Gesichtskreis von Altfried immer weiter, während Altfried versucht, sich ihm immer mehr anzunähern. Also er übernimmt dann sogar Eigenschaften von Odilo. Also es ist auch ein Prozess, in dem die Persönlichkeitsgrenzen ein bisschen diffus sind und eigentlich immer diffuser werden. Sprecher Odilo - ein Anagramm von Idolo, Idol - war unnahbar, ein geheimnisvoller, charismatischer Einzelgänger. Den Biologen, der bei seiner Mutter lebte und über leuchtende Fischen forschte, interessierte im Unterschied zu Altfried das Licht, der Glanz. Der tote Odilo wird zum dunkelleuchtenden Seelenführer Altfrieds: Der Ich-Erzähler kommt von dem Freund nicht los. Er erinnert sich an die gemeinsame Erlkönigjagd, an Gespräche über Licht und Schatten, Tod und Schönheit. Die Leerstellen füllt Altfried durch Imagination. Zitatorin Ich sehe Odilo vor mir, von hinten, wie er am Meer steht, immer sehe ich ihn von hinten, als hätte ich mich stets hinter ihm anstellen müssen. (...) Ich sehe die Szenerie mit seinen Augen, graues Meer, das ihm aufsaugt, Unorte eines grauen Strandes, Leere eines Windes, gegen den ihn nichts schützt, keine Gebäude, kein vernünftiges Kleidungsstück; er wappnete sich nicht, das war seine Methode, alles Bedrängende zu leugnen. (MP, 196) Musik O-Ton 31 (Marion Poschmann) Wenn man jetzt an diesen Trauerprozess denkt, dann führt das ja auch dazu, dass man sich fragt, wie fest ist so eine Person, die einen anderen wirklich ganz in sich hineinnehmen kann und ihn zum inneren Objekt machen kann und ... Also, deswegen ist das Ganze auch so, dass man oft nicht weiß, was ist Traum, was ist Wahn, was ist jetzt diese Wirklichkeit auf der Erzählebene. Ich wollte gerne, dass das ununterscheidbar wird und man fragt sich natürlich, wie ist das bei dem Verhältnis der Figuren: Ist die eine nicht nur eine Erfindung des andern? Sprecherin Altfrieds Trauerprozess ist eine dichte, über Motive und Symbole eng verflochtene Selbst- und Weltreflektion, die philosophisch, psychologisch und hochgradig poetisch zugleich ist. Das Bewusstsein wird durchlässig auch für bisher Verdrängtes wie die traumatische Familiengeschichte im Zweiten Weltkrieg. Altfried erkennt, dass er nicht länger die Sonnenposition einnehmen kann, weil dann vieles im Dunkeln bliebe. Die Sonne muss ihren Platz vielmehr außerhalb, in der transzendenten Ferne haben. Ihm obliegt es, das Beschienene, das Lebendige und das Tote, in sich aufzunehmen. Es zu erinnern. Zitatorin Ich habe die Sonne im Rücken, so dass ich alles in ihrem Licht sehe. Ich spüre ihre Strahlen, sie haken sich in meinem Mantel fest, und ich weiß, ich werde die Sonne hinter mir herziehen, die angeschlagene Sonne mit jedem Schritt weiterziehen, wie ich auch Odilo, als wäre er der Sonnenwagen, jeden Tag einmal um die Welt ziehe, ihn so weiterexistieren lassen, schwere, mühsame Aufgabe des Erinnerns. (MP, 337) Musik Sprecher Nicht als Lebende vermag Orpheus Eurydike zurückzuerlangen, nur als Erinnerung lebt sie fort. Und die Erinnerung ist seit jeher vornehmster Anlass wie Gegenstand der Literatur. Literatur entsteht aus der Erfahrung von Verlust, sie sorgt dafür, dass der Verlust nicht verloren geht. Zitator (dissonante Musik oder Ton unterlegen) Wieder starb sie den Tod; doch nicht ein Laut um den Gatten Klagete. Konnte sie wohl, so geliebt zu sein, sich beklagen? Fernher rief sie zuletzt, und kaum den Ohren vernehmlich: Lebe wohl! Und gerafft zu der vorigen Wohnung entflog sie. 1