Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 21. März 2015, 11.05 - 12.00 Uhr Eine Stadt zieht um: Kiruna, wie es war und wird Eine Sendung von Simonetta Dibbern Redaktion: Johanna Herzing Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Immer wenn es ein Erdbeben gibt tagsüber, dann wird auf Facebook sofort gepostet: was passiert da gerade? Meine Wände wackeln, als seien sie aus Papier, das ist nicht normal, dass sie so früh sprengen. Ich hoffe nur, mein Bruder arbeitet nicht gerade da unten.. Die Eisenerzmine prägt das Leben der Menschen im nordschwedischen Kiruna: Rohstoffe im Wert von geschätzten 50 Milliarden Euro sollen noch in der Erde lagern. Darum muss die Stadt weichen, bevor sie vom Boden verschlungen wird. Bezahlt wird der Umzug von der Minengesellschaft. Wir müssen diesen städtischen Umwandlungsprozess jetzt durchführen. Denn nur dann sind wir in der Lage, in der Mine weiter zu fördern. Und das ist ein Muss, das können wir nicht ändern. Und das werden wir auch nicht. Der Plan sieht vor, dass die ganze Innenstadt in 10 Jahren verschwunden sein wird. Dass eine neue Stadt entstehen wird, 5 Kilometer weiter östlich. Als erstes wird das prächtige stadshuset von Kiruna abgerissen. Wir wissen, dass unser neues Rathaus noch schöner sein wird. Und schließlich sind wir daran gewöhnt, dass Gebäude verschwinden: Ganz in der Nähe, in Jukkasjärvi, gibt es das berühmte Eishotel. Gesichter Europas: Eine Stadt zieht um. Kiruna - wie es war und wird. Eine Sendung von Simonetta Dibbern. Ein Wintermorgen, viertel nach 6. Am Horizont zeigt sich schon ein hellrosa Streifen , ansonsten ist es dunkel, um die Häuserecken weht ein eisiger Wind. In der Gaststätte am Busbahnhof, gegenüber vom Rathaus, ist schon Betrieb. It's black when I go to work and it's black when I go home. Mikael Carlsson arbeitet jeden Tag von 5 Uhr morgens bis 5 Uhr am Nachmittag. Im Winter sieht er nur sonntags Tageslicht - da hat Svarta Björn, die Schwarze Bärin, geschlossen. Mikael kennt es nicht anders. Und er steht gern in seiner Küche. I love my job, yeah, it's been like this all my live so thats what I know. Ab 9 Uhr gibt es Mittagessen, für manche ist die Frühschicht dann schon vorbei.. Dann kommen auch seine Küchenhilfen. Aber so ganz früh am Morgen ist der Chef ganz gern allein. Rundes freundliches Gesicht, weiße Locken quellen unter der schwarzen Kochkappe hervor, rotes T-Shirt, schwarze Schürze, eine schwere Goldkette um den Hals. Ich bin hier der Chef, genau. Und es ist mein Laden, aber das Haus, das gehört der Minengesellschaft, sie haben es gekauft. Wie fast die ganze Innenstadt. Die Minengesellschaft. LKAB. Luossavaara-Kirunavaara Aktiebolag. Das größte und älteste Bergbauunternehmen Schwedens, gegründet 1890. Und benannt nach den beiden Bergen, in denen, so heißt es, schon vor vielen Jahrhunderten eisenhaltiges Erz gefunden wurde, Luossavaara: Berg des Lachses. Und Kirunavaara: Berg des Schneehuhns. Die Namen sind weder Schwedisch noch Finnisch, sondern: Samisch. Die Stadt Kiruna wurde erst viel später gegründet, auch ihr Name also geht auf die Ureinwohner Nordeuropas zurück, die Samen, die seit ewigen Zeiten durch die karge Landschaft Lapplands ziehen: geiron oder keron ist ihr Wort für Schneehuhn. Auf bis zu 40 Grad Minus können die Temperaturen hier fallen, dieser Winter ist vergleichsweise mild: Minus 9 Grad in Kiruna, sagt der Nachrichtensprecher im Radio. Zwei Männer in derben Arbeitsoveralls sind hereingekommen, haben den Schnee von den Stiefeln abgeschlagen und sich an einen der Holztische gesetzt. Sie ziehen Handschuhe, Schals und Ohrenschützer aus, während sie die Tageskarte studieren, mit schräg gelegten Köpfen. Morgens wollen sie meistens ein Sandwich, und dann normales Mittagessen, das, was wir hier in Schweden so essen: Fleisch. Wurst. Und Nudeln. Dies ist eine Arbeiterkneipe, sagt Mikael: die Leute haben Hunger. Die zwei da drüben, kommen wohl gerade aus der Mine. Aus der Nachtschicht. Toast haben sie bestellt, dick belegt mit Wurst, Gurken, Spiegelei. Viel reden tun sie nicht. Über die Arbeit sprechen wir gar nicht, fragen höchstens mal, wie der Tag war. Oder die Nacht. Sie kommen nach der Schicht hierher, heute abend um Mitternacht geht es für sie wieder los. Es ist sein Traumjob, sagt Mikael: Essen zubereiten und Gastgeber sein. Seit 27 Jahren führt er sein Lokal Svarta Björn, die schwarze Bärin. Den Namen, sagt Mikael Carlsson, während er eine riesige rosa Fleischwurst pellt und in Würfel schneidet: den Namen will er auf jeden Fall behalten. Auch wenn er demnächst umziehen muss mit seinem Restaurant: Yeah, I will lose it, I don't know when but I will lose it. Das Gebäude wird der Grube zum Opfer fallen - so wie viele Häuser in Kirunas Innenstadt. Wann es soweit sein wird, weiß keiner ganz genau. Aber so wie die meisten seiner Nachbarn bleibt der Chef gelassen: We should see, I don't know! Well, I think it's ok, we have to accept it. Schließlich gäbe es ohne Grube auch keine Grubenarbeiter, die bei ihm morgens im Svarta Björn Sandwiches bestellen. Nicht einmal 20.000 Einwohner. Eine Kirche, ein Krankenhaus, ein paar Hotels, ein Flughafen und ein Bahnhof. Kiruna, 140 Kilometer jenseits des Polarkreises gelegen in der Provinz Norrbottens län, ist die nördlichste Stadt Schwedens. Im Sommer geht die Sonne 50 Tage lang nicht unter, im Winter geht sie drei Wochen lang nicht auf. Die Kommune Kiruna ist riesig: über 20.000 Quadratkilometer erstreckt sie sich, bis hin zur norwegischen und zur finnischen Grenze: eine wilde hügelige Landschaft der arktischen Tundra,. Es war seit jeher Sapmi, das Land der Samen. Mit ihren Rentieren zogen sie über diese Weiten, bis hin zum Kebnekaise, dem höchsten Berg Schwedens, dessen Spitze von Kiruna aus zu sehen ist. Die Indianer Skandinaviens sollen, so heißt es, schon lange um die gigantische Platte aus Magnetiterz gewusst haben, die seit 2 Milliarden Jahren in dem Berg ruht. Doch in großem Stil abgebaut werden konnte der wertvolle Rohstoff erst im industriellen Zeitalter: 1903 wurde die Eisenbahnstrecke nach Narvik in Norwegen eingeweiht und einige Jahre später die ins schwedische Luleå gebaut. Neben der Mine, rund um den Bahnhof der Erzbahn, entstand zur gleichen Zeit eine Siedlung - mit Häusern für Ingenieure und Arbeiter. Es war keine gewöhnliche Siedlung - denn Hjalmar Lundbohm, der erste Direktor der Minengesellschaft, hatte nicht nur unternehmerische Visionen. Sondern auch soziale. Kiruna wurde zu einem Zentrum, wo sich Schwedens nationaler Aufbruch manifestierte, Anfang des 20. Jahrhunderts. Architekten, Maler, Schriftsteller reisten nach Lappland, um Lundbohms urbane Utopie mit eigenen Augen zu sehen und ihre Mitarbeit anzubieten. Auch Selma Lagerlöf. 1906, gerade einmal 2 Jahre, nachdem das erste Siedlungshaus entstanden war, erschien ihr Bildungsroman "Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden". Darin gibt es auch ein Kapitel über Kiruna. Anlässlich des 75. Todestags der Literaturnobelpreisträgerin ist das Buch gerade in neuer Übersetzung erschienen - modernisiert wurde Lagerlöfs altmodisches Schwedisch jedoch nicht. Und so heißen die Nomaden des Nordens nicht Samen. Sondern: Lappen. Am westlichen Ufer des Luossajaure, eines kleinen Sees, der viele Meilen nördlich von Malmberget lag, befand sich ein kleines Lappenlager. Am südlichen Ende des Sees erhob sich ein gewaltiger runder Berg, der Kirunavara hieß und von dem man sagte, er bestehe fast nur aus Eisenerz. Auf der nordöstlichen Seite lag ein anderer Berg, der den Namen Luossavara trug, und auch er war ein Berg, der reichlich Eisen enthielt. Man war dabei, eine Eisenbahnstrecke von Gällivare zu diesen Bergen zu bauen, und in der Nähe von Kirunavara wurde ein Bahnhof errichtet, ein Hotel für die Reisenden und viele Wohnungen für all die Arbeiter und Ingenieure, die hier leben sollten, wenn der Abbau von Eisenerz in Gang gekommen war. Es war eine vollständige Kleinstadt mit fröhlichen, angenehmen Häusern, und man errichtete sie in einer Gegend, die so weit im Norden lag, dass die verkrüppelten kleinen Birken, die hier den Boden bedeckten, ihre Blätter nicht vor dem Hochsommer aus den Knospen bekamen. And you see: our fantastic townhall. Schon am Telefon hatte Lennart Lantto von seinem Arbeitsplatz geschwärmt. Und die 30 Meter hohe Halle, von der die Büros der Gemeindeangestellten abgehen, ist wirklich imposant. 1948 bekam Kiruna die Stadtrechte. Und 1962 wurde dieses Rathaus eröffnet. Wir sind sehr stolz darauf, manche Besucher sagen, es sei das schönste Rathaus in ganz Schweden. Die junge Stadt war noch klein damals, aber reich: das begehrte Eisenerz, unverzichtbar unter anderem für den Bau von Bomben und Raketen, hatte gutes Geld gebracht während des zweiten Weltkriegs. Das politisch neutrale Schweden versorgte damals alle kriegsführenden Nationen möglichst gleichmäßig, um selbst Angriffen zu entgehen. Darunter natürlich auch Deutschland. Sehen Sie, alleine die Materialien: die Backsteine kommen aus den Niederlanden, handgemacht. Sämtliche Geländer sind aus nordamerikanischer Pitchpine. Und der edle schwarze Fußboden: Marmor aus Italien. Nur das beste war gut genug für uns. Lennart Lantto. Um die 60 ist er, freundlicher Schnauzbart, die graubraunen Haare fast schulterlang. Er trägt einen blauen Wollpullover, am Handgelenk eine Designeruhr in knalligem Rot. Seit mehr als 30 Jahren ist er Kultursekretär bei der Kiruna Kommun, zuständig unter anderem für die große stadteigene Kunstsammlung. Noch bevor er in Rente geht, wird sein Lebenstraum in Erfüllung gehen: Kiruna bekommt ein eigenes Kunstmuseum. Im neuen Rathaus, das in zwei Jahren eröffnet werden soll. Denn das jetzige - Iglu heißt es, wegen seiner offenen Architektur und der großen Fenster mit Ausblick auf Himmel und den Berg Kirunavaara - dieses Rathaus ist der Grube zu nah. We are going to crash it down. Und wird abgerissen, bereits 2017, so der Plan. Die Entscheidung der Minengesellschaft LKAB, das Eisenerz weiter abzubauen, hat ihren Preis: die Innenstadt von Kiruna muss verlegt werden, 5 Kilometer weiter in Richtung Südosten. Manche denkmalgeschützten Häuser und Gebäude sollen ab- und im neuen Zentrum wieder aufgebaut werden. Andere werden irgendwann in das Loch fallen, das durch das Aushöhlen des Erzberges entsteht. Lennart Lantto muss beinahe unter die große Platte kriechen, die unter der Treppe in der Eingangshalle steht. Ein Modell der Stadt: Oben Straßen und viele kleine Holzhäuschen. Unten drunter: ein massiger Block in dunkelgrau. Das Problem ist, dass der Eisenerzkörper nicht senkrecht in der Erde steckt. Dass die Platte in einem Winkel von 60 Grad verläuft, Das bedeutet, dass die Erde auf der oberen Seite nachsackt, wenn das Erz abtransportiert ist, denn den wachsenden Hohlraum kann man nicht abstützen. Bevor Kiruna also quasi vom Berg verschlungen wird, werden wir umziehen, in Etappen. 10 Prozent in 20 Jahren, 100 Prozent, wenn es so weitergeht: in den nächsten 100 Jahren. Die Eisenbahnstrecke wurde bereits verlegt, sie verläuft nun auf der anderen Seite des Sees. Auch Strom- und Kanalisationsnetze sind längst erneuert. Und nun: der Abriss des Rathauses. Die Baugrube für das neue ist schon ausgehoben, die Pläne und virtuellen Ansichten hängen an großen Stellwänden hier im Rathaus. Das Modell des norwegischen Architekten Henning Larsen hat das Rennen gemacht: Crystal - so hat er seine enorme gläserne Kugel genannt. Das gute ist, dass die Minengesellschaft alle Kosten übernehmen muss. Das ist im schwedischen Recht so vorgesehen: wenn ein Unternehmen für solche Änderungen verantwortlich ist, dann muss es auch bezahlen. An uns, an der Kommune, darf nichts hängenbleiben. Und es gibt noch andere interessante Vereinbarungen: es wurde zum Beispiel eine Kunstkasse eingerichtet. Bei jedem Gebäude, das wir neu bauen müssen, gibt es jetzt zusätzlich 1% der Baukosten als Bonus für die Kunst. Das ist natürlich großartig, wir werden im neuen Kiruna viel Kunst haben. Einige alte Dinge werden sie mitnehmen aus dem Rathaus: die kunstvoll geschnitzten Türknäufe des Eingangs. Die Ledersessel, dänische Designklassiker von Poul Kjaerholm, auf denen, sagt Lennart Lantto, sich mit seinem Chef ganz hervorragend auf Augenhöhe diskutieren lässt. Sammler schätzen sie für ihre klassische Schönheit, 75.000 Kronen hat man ihm schon pro Stück geboten: 7.500 Euro! Und: den Glockenturm. Der wird dann nicht mehr auf, sondern neben dem neuen Rathaus seinen Platz haben. Natürlich sind wir traurig. Aber wir wissen, dass unser neues Rathaus noch schöner sein wird. Und schließlich sind wir daran gewöhnt, dass Gebäude verschwinden: Ganz in der Nähe, in Jukkasjärvi, gibt es das berühmte Eishotel. Das wird jedes Jahr im November neu gebaut - um dann im Mai einfach wegzuschmelzen. Mental sind wir also ganz gut vorbereitet auf solche Veränderungen. Westlich des Sees lag das Land offen und frei da, und dort hatten ein paar Familien aus dem Volk der Lappen ihr Lager aufgeschlagen. Sie waren vor etwa einem Monat angekommen, und sie hatten nicht lange gebraucht, um ihre Wohnungen in Ordnung zu bringen. Sie hatten weder gesprengt noch gemauert, um ein gutes und ebenes Fundament zu erhalten. Nachdem sie sich für einen trockenen und behaglichen Platz in der Nähe des Sees entschieden hatten, mussten sie vielmehr nur ein paar Weidenbüsche wegschlagen und einige Grasbüschel niedertreten, um ihr Grundstück herzurichten. Sie hatten auch nicht tagelang Bäume gefällt und gezimmert, um feste Wände aus Holz hochzuziehen, sie hatten sich nicht um den Dachstuhl und dessen Deckung kümmern müssen, nicht um Rahmen und Fenster, nicht um Türen und Schlösser. Sie mussten nur die Zeltstangen fest in den Boden schlagen und das Zelttuch darüberhängen, und dann war ihre Wohnung so gut wie fertig. Und auch wegen der Einrichtung und der Möblierung brauchten sie keine Umstände zu machen. Das wichtigste war, ein paar Tannenzweige und einige Felle auf den Boden zu legen und den großen Topf, in dem sie ihr Rentierfleisch zu kochen pflegten, an einer Kette aufzuhängen, die oben an der Zeltstange befestigt war. Im Winter sind die vielen Risse, die im Laufe der letzten Jahrzehnte entstanden sind, nicht zu sehen: Straßen und Wege sind bedeckt von Eis und Schnee. Und auch sonst ist die Mine im Zentrum von Kiruna kaum wahrzunehmen. Nur nachts bringt sie sich in Erinnerung: wenn die Erde bebt, jede Nacht um 1.20Uhr. 365 Nächte im Jahr. Dann wird gesprengt, weit unten im Berg, in 1500 Meter Tiefe - damit am nächsten Tag weitergearbeitet werden kann. Die meisten Bewohner von Kiruna spüren es gar nicht mehr, aber für manche ist es ein Albtraum. Und einigen fehlt etwas, wenn sie die Sprengung einmal verpassen: es ist der Herzschlag von Kiruna, sagt das Mädchen im Hotel. Auch hier, in der Stadtmitte, ist das Beben Nacht für Nacht zu spüren. Manchmal sogar mehrmals - immer in der Stunde zwischen eins und zwei. Wir sprengen jede Nacht, etwa 8 mal jede Nacht, insgesamt 80.000 Tonnen Material. Each night? Each night, yeah. Er muss es wissen: der junge Pressesprecher der Minengesellschaft. Im Firmenwagen in Blauweiß ist er vor dem Hotel vorgefahren - LKAB steht in großen Lettern auf der Seitentür. Er holt seine Gäste gerne persönlich ab, um ihnen die Mine zu zeigen. Fredrik Björkenwall heter jag... Seit einem Jahr erst ist der gerade mal 30-Jährige in der Kommunikationsabteilung der LKAB. Die Mine jedoch kennt Fredrik Björkenwall schon sehr viel länger: aus den Erzählungen seines Großvaters. Der, sagt der smarte junge Mann, war sein Leben lang Driller. Bohrmeister also. Und er wäre sicher stolz, dass sein Enkel jetzt auch hier arbeitet. Er habe zwar weniger praktische Erfahrung, dafür aber umso mehr theoretisches Wissen, meint Fredrik und gibt gleich eine Kostprobe: Dynamit zum Beispiel komme bei den Sprengungen nicht zum Einsatz. Sie injizieren eine bestimmte Sorte Flüssigsprengstoff in die Löcher, die zuvor in das Erz gebohrt wurden. Diese explosive Paste heißt Kimulux, wir haben sie entwickelt. Und wir verkaufen sie auch an andere Unternehmen. Wir machen hier alles, wir holen das Erz aus der Erde, wir verarbeiten es und wir übernehmen die komplette Logistik, auch den Transport nach Narvik und nach Luleå mit der Erzbahn. 300 Meter hinter dem Rathaus geht es links ab, die Straße schmutzig weiß und kurvig. This is our tag. Die Schranke zum Minengelände öffnet sich, als Fredrik seine Chipkarte an den Scanner hält. Now we are going underground, it's the biggest underground mine of the world, you can go by car. Kein Aufzug. Kein Schacht. Die Einfahrt in die Mine ähnelt der in einen ganz normalen Straßentunnel. Es ist die größte Mine der Welt, die man mit dem Auto befahren kann. Wir fahren jetzt den Ziehweg hinunter, slope Nr 16. Quasi die Hauptstraße der Mine, eine der längsten Straßen hier unten, das ganze System ist riesig und sehr sehr komplex. Hier fahren die Arbeiter zu ihrer Schicht, im Minenbus oder im Auto. Und zum Schichtwechsel gibt es schon mal so etwas wie eine rush hour, am Nachmittag. Kaum spürbar geht es bergab. Die Straße ist breit genug, den entgegenkommenden LKW bequem passieren zu lassen, ab und zu gibt es nummerierte Abzweigungen. Die Scheinwerfer des Autos werfen große Schatten an den rauen Felswänden. Früher war diese Straße beleuchtet, doch das war zu gefährlich: im Dunkeln ist der Gegenverkehr viel besser zu erkennen. Und jetzt biegen wir ab in slope Nr 22 , hier geht es zu unserem Besucherzentrum. Sicherheit steht im Berg natürlich an erster Stelle: es gibt eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h. Benzin ist verboten, nur Diesel und Elektromotoren sind erlaubt wegen der Feuergefahr. Brände gibt es immer mal wieder im Stollen, auch Fredrik Björkenwall hat es schon erlebt: im Sommer 2014. Damals konnten alle Arbeiter und Besucher gerettet werden. Das letzte schwerere Grubenunglück ist 7 Jahre her: ein junger LKW-Fahrer wurde damals von herabstürzenden Steinmassen erschlagen. 8 Stunden dauerte es damals, bis er gefunden und geborgen werden konnte, seitdem trägt jeder LKAB- Mitarbeiter einen Chip bei sich, mit dem er im Notfall so schnell wie möglich geortet werden kann. Das Ventilationssystem hier unten ist sehr komplex und ausgeklügelt, es transportiert 100.000 Kubikmeter Frischluft pro Minute in den Berg, daher ist es sehr gut belüftet hier. Und angenehm ist auch, dass die Temperatur konstant ist: 18 oder 19 Grad plus. Vor allem im Winter, wenn draußen minus 45 Grad herrschen (lacht), da ist es geradezu eine Wohltat, hier unten zu arbeiten. All right, welcome underground then! 540 Meter unter dem Berg. Es fühlt sich immer noch nicht anders an als in irgendeinem Alpentunnel. Und in der Tat: die Luft ist überraschend gut, dank der dröhnenden Lüftung. Die Gänge sind hoch und hallenartig. In den stillgelegten Trassen wird die Geschichte des Erzbergbaus erzählt, anhand von enormen Maschinenungetümen: Trecker, Transporter, Steinbrecher. Sogar eine alte Lok steht hier unten. Und gigantische Bohrmaschinen. Diese Maschinen hier wurden verwendet, um von unten senkrechte Kanäle in das Eisenerz zu bohren. 55 Meter lange Kanäle, in die der Sprengstoff eingeleitet wird, bei der Sprengung fallen die Gesteinsbrocken nach unten. Die Schwerkraft hilft uns also. Es erinnert mich immer an diese Spielautomaten, wo alle paar Minuten die Münzen runterpurzeln. Excuse me... Es gibt nicht nur ein Telefonnetz hier unten. Die Mine hat sogar Wlan. Fredrik ist, das gibt er sehr gerne zu: ein Technikfreak. Motorsportjournalist war sein Traumberuf. 10 Jahre lang hat er für verschiedene Zeitschriften gearbeitet, bevor ihn dann doch seine Heimatstadt mit diesem lukrativen Angebot lockte: die Minengesellschaft ist ein guter Arbeitgeber, sagt er. Auch, weil sie gut zahlt. Viele junge Männer und inzwischen auch Frauen gehen gleich nach der Schule ins Bergwerk, als ungelernte Arbeiter. Das Problem sei, sagt Fredrik, dass viele von ihnen danach keine ordentliche Ausbildung mehr machen, nachdem sie sich an den hohen Lebensstandard gewöhnt haben: mit eigener Berghütte, Schneemobil und einem Oldtimer in der Garage. Auch Frederik hat einen alten Cadillac. Im Sommer, erzählt er, werden die alten Schätzchen spazierengefahren, mit den vielen amerikanischen Straßenkreuzern hat Kiruna dann fast das Flair von Havanna. Die Arbeitslosenquote in Kiruna ist die niedrigste in ganz Schweden. Und trotzdem, die Zeiten unendlichen Gewinns scheinen erst einmal vorbei zu sein. Yeah, now the iron ore price has dropped. Vor einigen Monaten ist der Preis für Eisenerz auf dem Weltmarkt rapide abgestürzt: ein Grund dafür ist, dass Australien seine Minen ausgebaut und den Markt mit Rohstoffen überschwemmt hat, sagt Fredrik. Natürlich sind das traurige Zeiten. Aber das ist eine der Herausforderungen, denen wir uns jetzt stellen müssen. Preisschwankungen hat es immer gegeben, in den 80ern, in den 90ern, Ende der 90er, und immer ging es dann wieder bergauf. Im Voraus weiß man das jedoch nie. Die Analysten können zwar Prognosen machen, aber die sind meist nicht sehr zuverlässig. Einige Arbeiter hat das aktuelle Tief schon den Arbeitsplatz gekostet. Am Freitag, den 13. Februar 2015, teilte die Geschäftsführung der LKAB mit, dass sie 400 Mitarbeiter entlassen werde. Ein schwarzer Freitag für Kiruna, titelte die regionale Tageszeitung NSD. Unternehmenssprecher Fredrik Björkenwall aber wiegelt ab: es handele sich vor allem um Pensionierungen. Auf die Pläne, Kiruna umzusiedeln und eine neue Stadt zu bauen, habe die jüngste Entwicklung jedenfalls keinerlei Auswirkungen. Wir müssen diesen städtischen Umwandlungsprozess jetzt durchführen. Denn nur dann sind wir in der Lage, in der Mine weiter zu fördern. Und das ist ein Muss, das können wir nicht ändern. Und das werden wir auch nicht. An grauen Wintertagen hat die Innenstadt von Kiruna wenig Charme. Das Zentrum wirkt wie ein zufällig zusammengewürfelter Haufen alter und neuer Gebäude, an Straßen, die kreuz und quer verlaufen, bergauf und bergab. Sie wurden mit Bedacht so chaotisch angelegt, damit der Wind, der von den Bergen kommt, durch Hausecken abgemildert wird. Doch heute hilft das wenig. So kalt und so heftig sind die Böen, dass die Markthändler ihre Stände abgebaut haben. Obwohl es erst später Vormittag ist und der alljährliche Wintermarkt für die Rentierfleisch-Räucherer, Fell- Produzenten und Strick-Künstler ein ökonomischer Höhepunkt des Jahres ist - nur in Jokkmokk zieht der Kunsthandwerkermarkt der Samen noch mehr Besucher an. Auch für die Kirunabos, die Einwohner von Kiruna - und für viele Menschen aus den kleinen Weilern der weiteren Umgebung - ist der Wintermarkt ein Höhepunkt in der dunklen Jahreszeit. Doch der fällt in diesem Jahr leider aus. Ein paar mutige haben alle ihre Planen und Holzkonstruktionen noch einmal festgezurrt. Die drei bärtigen Finnen vor ihrem LKW setzen sich abwechselnd auf ihren Stapel aus Rentierfellen, damit keine der kostbaren Häute davon weht. Vereinzelte Käufer kommen noch: zwei junge Frauen in Daunenjacke haben sich zwei Felle ausgesucht: umgerechnet 200 Euro bezahlen sie dafür. Immerhin. Die drei schauen ihnen nach und reiben sich die Hände warm. Das große Modegeschäft sieht bei dieser Kälte geradezu einladend aus. "Dam, Herr, Junior" - rote altmodische Neonlettern ziehen sich über den Schaufenstern die Fassade entlang. Dazwischen etwas größer in blau: Centrum. Das ockergelb gestrichene Haus ist ein Eckhaus. Und das älteste Geschäft am Platz. Ich heiße Jan Lindgren. Seit 40 Jahren stehe ich im Laden, es ist ein altes Familienunternehmen, 1925 wurde es gegründet, von meinem Großvater. Vor 90 Jahren! Ganz so alt bin ich noch nicht, ich bin die dritte Generation, meine Tochter ist die vierte. Tochter Johanna bedient gerade die Kasse - die junge Frau hat das Sortiment des Ladens ein wenig aufgepeppt. Hier bekommt man alles: von Anoraks bis Seidenblusen, von coolen Jeans bis zum Anzug aus feinem Zwirn. Der Seniorchef trägt ein lachsfarbenes Hemd unter dem beige-karierten Sakko, braune Cordhosen. Solide. Aber mit Stil. Wie sein Laden. Dieses Haus ist hundert Jahre alt, es ist ein Stück Stadtgeschichte. Für mich ist es ein Trauma, dass es verschwinden soll. Und für andere auch. Jeden Tag reden wir darüber, die Kunden fragen mich, wie es weitergeht. Die neueste Information ist, dass wir wohl in 4 oder 5 Jahren umziehen werden. Für mich ist das Wichtigste, dass wir alle zusammen umziehen, alle Läden gleichzeitig. Sonst haben wir keine Chance. Der sanfte ältere Mann ist nicht verbittert. An den Umzugsplänen kann er nichts ändern, das ist ihm klar. Daher versucht er, die beste Lösung zu finden, für sich und für die anderen Ladenbesitzer im Zentrum von Kiruna. Jan Lindgren ist ihr Sprecher. Ich habe diese Rolle übernommen, ich vertrete unsere Position, verhandele mit der LKAB und der Kommune und mit allen, die bei diesem Umzug irgendetwas zu entscheiden haben. Die Verhandlungen laufen. Noch weiß keiner, wann der Umzug genau stattfinden wird. Ob es gelingt, die Geschäfte in der neuen Innenstadt auf einen Schlag zu eröffnen. Und was für Gebäude dann zu welchem Preis zur Verfügung stehen werden. Fest steht: dieses gelbe Haus wird abgerissen, in spätestens 10 Jahren. Nur die blaue Leuchtschrift wird vielleicht wieder leuchten, einige Kilometer weiter östlich. Wir werden den Namen nicht ändern, in 90 Jahren haben wir das nicht getan. Und im neuen Kiruna wird unser Laden natürlich wieder in der City sein. Im Centrum. Das heißt: da wo Sie sind, wird das neue Zentrum sein. Yes. It must be. Nicht weit entfernt von Lindgrens Laden, nur ein paar Schritte den Berg hinauf, hat ein neues Büro eröffnet. Puristisch und von edlem Schick. Das Planungsbüro der Architekten, die für die neue Innenstadt verantwortlich sind: White Arkitekter. Das renommierte Architekturbüro ist das größte Skandinaviens mit mehr als 700 Mitarbeitern. Es hat insgesamt 13 Büros in Schweden, Norwegen, Dänemark und England. Und nun auch: in Kiruna. Anfang Februar wurde die Filiale eröffnet, noch ist sie wohl nur sporadisch besetzt, die Türen sind in dieser Woche jedenfalls geschlossen, kein Mensch drinnen zu sehen. Im Schaufenster trocknet ein Blumenstrauß vor sich hin, den es wohl zur Einweihung gab: Alles Gute wünscht die LKAB, steht auf dem kleinen Anhänger. Nya Kiruna. Oder Kiruna-4-Ever - mit ihrem Masterplan für das neue Kiruna hat White vor zwei Jahren den Wettbewerb um die Stadtplanung gewonnen. Die Entwürfe sind auf der Internetseite von White zu sehen. Unter anderem als Video: eine virtuelle Kamerafahrt von dreieinhalb Minuten durch eine nagelneue Stadt. Mit gläsernen Fassaden rund um das neue Rathaus. Edlen Ladenpassagen. Großen Hotels. Dazwischen ein Relikt aus dem alten Kiruna: der eiserne Glockenturm des alten Rathauses. Alle Möglichkeiten, Nya Kiruna zu einer nachhaltigen und vielfältigen Stadt zu machen, werden wir ausschöpfen. Damit sie noch attraktiver wird, in enger Verbindung zu der arktischen Landschaft hier. Die größte Herausforderung ist für uns der soziale Aspekt. Die Frage, wie wir die Identität von Kiruna transportieren können. Und die ihrer Bewohner. Der Projektleiter von White spricht von Visionen. Neuen Möglichkeiten. Optimalen Lösungen. Der Begriff Umzug fällt in dem kleinen Film nicht ein einziges Mal. Die offizielle Bezeichnung der zukünftigen Veränderungen von Kiruna, auch bei Kommune und Minengesellschaft ist City Transformation. Oder: Stadsomwandlingen. Kjell Törmä. Fotograph und Journalist. Er ist zuhause. Und gerne bereit für ein Interview in seiner Küche. Aber die meisten Leute sagen einfach Umzug. Stadsomwandlingen klingt natürlich positiver, nach Veränderung und Aufbruch. Und nicht wie etwas, zu dem du gezwungen wirst. Nicht nur in sprachlicher Hinsicht ist der Mittfünfziger mit der sonoren Stimme ein aufmerksamer Beobachter des Veränderungsprozesses seiner Heimatstadt. Seit 2009 habe ich ca 6500 Fotos gemacht mit 400 Seiten Text zu den Bildern, 2 Bücher sind fertig, das dritte soll Ende des Jahres erscheinen - und zwei weitere 2018 und 2021, wenn ich dann noch lebe. Mein Ziel sind 1000 Seiten insgesamt. Das wird dann ein ziemlich großes Dokument für die nächste Generation sein. Momentaufnahmen in Kiruna. Kjell Törma ist hier geboren, seine Eltern haben zusammen fast 80 Jahre für das Bergwerk gearbeitet. Er selbst wollte lieber studieren, nach seiner Rückkehr in die Heimatstadt hat er als Freelancer gearbeitet. Hat eine Zeitung gegründet, die Kiruna Tidningen. Und den einzigen Buchladen des Ortes. Dies hier ist sein Lebensprojekt. Ich habe bestimmte Punkte, von denen aus ich immer wieder Fotos mache. Dies ist vom Dach des LKAB Gebäudes, Richtung Stadt, man sieht, wie das Loch in der Erde immer größer wird, schon nach ein paar Wochen. Und es wird größer und größer. Für dieses letzte Bild musste ich eine neue Einstellung wählen, weil der Riss sonst nicht mehr aufs Bild gepasst hätte. Baustellen und Abrißbirnen. Häuser und Menschen. Spielende Kinder im Schnee und singende Alte in einem Pflegeheim. Kjell Törmä versteht sich als Chronist des Alltags. Jedes Bild hat er mit Datum und Uhrzeit versehen: 30. September 2009, 15.11: Ein Bauarbeiter in neongrünem Schutzanzug zieht ein Kabel des neuen Strommastes, um es am Boden zu befestigen. Ein Symbol, wieviel Kraft es braucht, eine Stadt zu bewegen. Kjell Törmä arbeitet im Auftrag der Minengesellschaft. Bei jedem offiziellen Anlass ist er dabei mit seiner Kamera. Bei der entscheidenden Ratsversammlung im Rathaus und bei der Einweihung der neuen Eisenbahnstrecke. Doch das ganze Projekt widmet er den Bewohnern von Kiruna. Sie sollen alle festgehalten werden, im Garten, am Küchentisch - wenn er Zeit hat, geht er von Haus zu Haus und fragt, wann er für ein Foto vorbeikommen kann. Das schöne daran, sagt er, ist, dass er selbst seine Heimatstadt mit neuen Augen sieht. Dies ist eins meiner liebsten Fotos: Tintenfässer. So heißen die alten Holzhäuser in grün, rot, und hellgrün unten im Bolagsområdet. Ich wusste immer, dass ich sie mag, aber erst, als ich sie auf meinem Computer sah, habe ich verstanden, dass es nicht nur die Form ist. Sondern auch die Farbe. Als LKAB die Häuser baute, 1904, haben sie diese Farbkombinationen gewählt. Und es sollte etwas besonderes sein, es ist nicht irgendein Rot, sondern ein ganz spezielles. Auch wenn dies nur eine Minenarbeiterstadt war, hatten sie einen Plan, sie wollten eine schöne Stadt bauen. Stundenlang könnte Kjell Törmä erzählen von den architektonischen Besonderheiten Kirunas. Dass jedes Haus aus der Gründungszeit eine Nummer trägt, in der Chronologie des Entstehens: B1 steht auf dem allerersten, B steht für Byggnar, Gebäude. Dass es sechzig Jahre später die Bewohner selbst waren, die den Häusern ihrer Stadt Namen gaben: Jerusalem. Sibirien. Berliner Mauer. Oder Snujstosen, ausgespuckter Kautabaksaft. Der englische Architekt Ralph Erskine hatte damals im Rahmen des schwedischen Sozialwohnungsbauprogramms die moderne Skyline von Kiruna erschaffen. Auch die wird in 10 Jahren verschwunden sein. Es ist ganz lustig mit dem Häusern, die Ralph Erskine entworfen hat. Sie haben kürzlich die Leute in Kiruna gefragt, was für Häuser sie in der neuen Stadt haben wollen - und fast jeder hat angegeben, dass er die von Erskine zwar sehr hässlich findet. Trotzdem will keiner, dass sie verschwinden. Denn sie sind ein Teil von uns, die gehören hierher. Die scheußlichen braunen Kolosse von Ralph Erskine werden nicht umziehen - das steht fest. Zur Zeit berechnen die Finanzexperten der Minengesellschaft, wie sie die Bewohner möglichst gerecht entschädigen können. Zwölf ausgewählte Tintenfässer dagegen sollen ab- und in der neuen Stadt wieder aufgebaut werden. Ebenso wie die berühmte Holzkirche, Kiruna kyrka: 1912 erbaut und erst vor 15 Jahren zum schönsten Bauwerk Schwedens erklärt. Kjell Törmä kann wohnen bleiben in seinem Haus. Und das, sagt er zum Abschied, ist auch gut so. Und dann geht er raus. Schneeschippen. Die Siedler an der östlichen Seite des Sees, die mit größtem Eifer daran arbeiteten, ihre Häuser fertigzustellen, bevor der strenge Winter begann, staunten über die Lappen, die während vieler, vieler Jahrhunderte im Norden umhergestreift waren, ohne daran zu denken, dass man einen besseren Schutz vor Kälte und Sturm bräuchte als dünne Zeltwände. Und die Lappen wunderten sich über die Siedler, die sich so viel und so schwere Arbeit machten, wo es doch genügte, ein paar Rentiere und ein Zelt zu besitzen, um leben zu können. Als vor 10 Jahren bekanntgegeben wurde, dass die Mine weiter aus- und die Stadt Kiruna deshalb umgebaut werden soll, reagierten die Bewohner gelassen. Und sie sind es bis heute: Widerstand gibt es wenig. Schließlich wissen alle, dass das Ende der LKAB auch das Ende von Kiruna bedeuten würde. Nicht nur wegen der Arbeitsplätze. Auch der Flughafen wäre ohne das mächtige Unternehmen wohl nicht mehr rentabel. Und von dieser schnellen Verbindung nach Stockholm und zum Rest der Welt hängt vieles ab in Schwedens nördlichster Provinz. Etwa der Tourismus. Ein Wochenende im berühmten Eis-Hotel von Jukkasjärvi für betuchte Europäer. Oder eine Woche Warten auf das Nordlicht für chinesische Studenten - viele Polar- Touristen würden ausbleiben, wenn die Anreise lang und mühselig wäre: 17 Stunden dauert die Zugfahrt von Stockholm nach Kiruna. Anders als in anderen Gegenden Nordskandinaviens wehren sich nicht einmal die Samen gegen den Ausbau der Mine. Denn viele von ihnen leben vom authentischen Polar-Tourismus: als Anbieter von Hundeschlittentouren und Rentierkutschfahrten. Keine Bedenken, das jedenfalls ist die offizielle Haltung der Vertretung der Sami in der Gemeinde Kiruna, für ein Interview aber hat man in der Geschäftsstelle leider keine Zeit. Selbst als Privatleute halten sich die Sami lieber bedeckt. Der freundliche Autofahrer etwa, der die deutsche Reporterin auf der Schnellstraße nach Jukkasjärvi in seinem Auto mitnimmt, hat zwar eine dezidierte kritische Meinung zu den Umzugsplänen der Stadt, in ein Mikrophon sprechen darf er jedoch nicht: das sei ihm durch die Ältesten verboten. Die wenig entgegenkommende Haltung der samischen Vetreter ist umso bedauerlicher, als sich der Hauptsitz der kulturellen Minderheit genau hier, in Kiruna, befindet: in dem großen gelben Gebäude - früher ein Gymnasium - tagt heute das Sameting, das samische Parlament der schwedischen Sami. Doch ohne Einladung kommt niemand hinein. Die Häuserzeile auf der anderen Seite der breiten Straße liegt im fahlen Licht der Nachmittagssonne. In einem der klassischen schwedischen Reihenhäuser hat die Künstlerin Liselotte Wajstedt ihr Atelier. Oder besser gesagt: ihren Schneideraum: Liselotte, 41 Jahre alt, ist Filmemacherin. Ende der 80er Jahre bin ich hier weggezogen, habe Malerei und Kunst studiert in Göteborg und Stockholm und dann begonnen, Filme zu machen: Mein erster Film über Kiruna ist von 2013: Kiruna Rymdsvägen. "Kiruna Weltraumstraße". Ein Dokumentarfilm von 52 Minuten mit Fotocollagen, Zeichnungen, Puppenanimationen. Gezeigt wird er auf Festivals und bei Ausstellungen zeitgenössischer Kunst überall in Europa. Das Problem daran, sagt Liselotte, ist dass sie nur mit dem Flugzeug dorthin kommt - und ihr eigentlich graust vor dem Fliegen. Klein ist sie, mit aufmerksamen Augen hinter der runden Brille hockt sie uf dem Sofa und nippt am heißen Kaffee. Auf einem der Bildschirme läuft während des Gesprächs ein anderer, kürzerer Film von ihr: Soul of a City. Die Protagonisten: eine Schar von Schneehühnern, die als animierte Strichfiguren durch die realen Landschaftsaufnahmen flattern. Und ihre knarrenden Rufe ausstoßen. Als ich in Südschweden lebte vor 10 Jahren und hörte, dass Kiruna umziehen soll, bin ich fast in Panik geraten. Meine ganze Kindheit, alle Erinnerungen würden vom Erdboden verschluckt werden. Die wollte ich retten und bin zurückgekommen. Ich wollte einen Film machen über die Seele dieser Stadt. Die Seele von Kiruna - für mich sind das zuallererst Geschichten. Aber auch Straßen, Parks, alle Erinnerungen, die in der Erde vergraben sind. Viele Filmprojekte hat Liselotte Wajstedt seitdem realisiert. Kurzfilme und lange Dokumentationen. Über das Leben auf und unter der Erde. Meine ganze Familie arbeitet in der Mine, mein Vater, meine Brüder. Mein kleiner Bruder ist ganz unten, im gefährlichen Teil. Wir haben immer Angst um ihn - und diese Angst ist auch Teil meines Films. An die Explosionen in der Nacht haben wir uns gewöhnt. Aber wenn es tagsüber ein Erdbeben gibt, wissen wir, dass etwas passiert sein muss. Dann überlege ich schnell , ob mein Bruder vielleicht unten ist. Immer wenn es ein Erdbeben gibt tagsüber, dann wird auf Facebook sofort gepostet: was passiert da gerade? Meine Wände wackeln, als seien sie aus Papier, das ist nicht normal, dass sie so früh sprengen. Ich hoffe nur, mein Bruder arbeitet nicht gerade da unten. Die ganze Stadt wird bald in ein Loch stürzen. Dies alles, sagt Liselotte, ist nicht nur ein Teil von Kiruna, es ist auch Teil ihrer eigenen Identität. Ihre Mutter, eine Samin, war in ihrer eigenen Kindheit von den Schweden so schlecht behandelt worden, dass sie, um die Tochter zu schützen, alles Samische von ihr fernhielt. Inzwischen hat Liselotte die Sprache gelernt und ihre Wurzeln gefunden, nicht zuletzt über ein inzwischen preisgekröntes Filmprojekt: Sami Daughter Joik. Eine Spurensuche ihrer eigenen Familiengeschichte. Das lange Kleid, das sie dafür genäht hat: aus weißem Wollfilz mit roter traditioneller Borte und Aufdrucken experimenteller Fotos in Schwarzweiß, hat sie ihrer Großmutter gewidmet - es hängt als einziger Schmuck an der Wand hinter ihrem Schneideplatz. Im Sommer wird Liselotte wieder mit den Rentieren ihrer samischen Verwandten in die Berge ziehen. Doch beruflich wendet sie sich der Zukunft zu: als nächstes will sie den Bau von Neu-Kiruna dokumentieren. Kontakt zu den Architekten und Stadtplanern von White hat sie schon geknüpft. Die, sagt sie, mochten ihre Filme. Sie dagegen ist sich noch nicht so sicher, was sie von dem extravaganten Masterplan halten soll. Aufregend ist es auf jeden Fall. Was ich allerdings seltsam finde, ist, dass sie die neue Stadt unten im Tal bauen werden. Für mich liegt Kiruna auf einem Berg. Und der Name Schneehuhn ist auch ein Teil seiner Seele. Da unten sind Krähen, weil das neue Rathaus zwischen Friedhof und Mülldeponie gebaut wird. Das ist in meinen Augen fast schon ironisch. Keine Ahnung, was daraus wird. Aufgewachsen ist sie in den 80ern - auch damals gab es eine Krise, weil die Mine keinen Gewinn machte. Viele Menschen zogen weg, viele verarmten. Das, sagt Liselotte Wajstedt, ist noch gar nicht lange her. Danach ging es wieder bergauf, die Grundstückspreise zogen an. Auf Kiruna kannst du dich nicht verlassen. Es kann jederzeit zusammenbrechen. Wenn du heute ein Haus kaufst für 2 Millionen Kronen, ist es nächstes Jahr vielleicht nur noch die Hälfte wert. Jetzt haben wir wieder eine Rezession. Und ich habe gerade ein Haus gekauft, für 2 Mio.... Sie wird auf jeden Fall bleiben. Ihre jüngste Tochter wird im Sommer eingeschult, in der samischen Grundschule gegenüber. Sie selbst ist schon beschäftigt mit dem nächsten Film. Und mit den Reisevorbereitungen nach Dresden, wo ihr Film gezeigt wird, im Kunsthaus: im Rahmen des Projekts "Kirunatopia" des Stockholmer Goetheinstituts. Ein Auftrag, den sie der Mine verdankt - und den Expansionsplänen der Minengesellschaft. They feed us and they kill us. Und wenn sie doch irgendwann schließen würde, die Eisenerzmine von Kirunavaara? Die Leute werden wegziehen. Niemand wird hier mehr leben wollen. Vielleicht gehört der Ort dann wieder den Sami? Das fände ich gut. Eine Stadt zieht um. Das waren Gesichter Europas an diesem Samstag: Kiruna, wie es war und wird. Eine Sendung von Simonetta Dibbern. Mit Ausschnitten aus "Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden" von Selma Lagerlöf, Edda Fischer hat sie gelesen. Ton und Technik: Daniel Dietmann, Lukas Fehling, Levi Rectenwald und Petra Pelloth. Redaktion: Johanna Herzing. 1