KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR 0.05 Uhr Titel der Sendung: Träumend von den großen Üb schwarzen Schwänen - Die Ästhetik des Widerstands in Alejo Carpentiers Le Sacre du Printemps Autor : : Klaus Emrich Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 28.12.2014 Besetzung : Sprecher : Zitatorin : Zitator Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Klaus Emrich "Träumend von den Großen Schwarzen Schwänen" (*) Die Ästhetik des Widerstands in Alejo Carpentiers "Le Sacre du Printemps" (*) Alejo Carpentier, Le Sacre du Printemps, Frankfurt/Main 1993, S.11 18. März 2o14 MUSIK: Steve Coleman & Dave Holland Phase Space (track 2): Dream of the Elders (nach ca 25' übersprechen) ZITATOR: Menschen von heute, die schon danach trachteten, Menschen von morgen zu sein. (1:529) SPRECHER: Alejo Carpentier. Le Sacre du Printemps. La Consagración de la Primavera: Alejo Carpentier schrieb sein opus magnum 1978 als "Epos der kubanischen Revolution". Er verbindet die Geschichte der russischen Tänzerin Vera und des cubanischen Architekten Enrique mit den historischen Ereignissen während des spanischen Krieges 1936 bis 1939 und dem bewaffneten Widerstand gegen Batista in Cuba Mitte des letzten Jahrhunderts. Sein Roman ist historische Erzählung, Diskurs, Selbstverständigung und schmerzhafte Aneignung des Werks von Igor Strawinsky durch die in der Fremde lebenden Vera und Enrique. MUSIK kurz stehen lassen; dann weiter übersprechen ZITATOR: Eine Nacht mit Häusern ohne Gesicht, ohne Alter, ohne Stil, mit unerwarteten Vorsprüngen, unscharfen Verzierungen, dem einen oder andern Fenstergitter; eine Nacht mit Straßenecken, die sich in ihrer Schwärze zum Verwechseln ähnlich sehen, mit Straßen, die keine Straßen sind, weil sie weder aus dem Sichtbaren kommen noch ins Sichtbare führen. (1:21) SPRECHER: Alejo Carpentier. ZITATOR: Wieder stehe ich in tiefster Nacht. Wäre wenigstens wie vorhin auf dem kleinen Platz, eine Bank da, damit ich warten könnte, bis jemand vorüberkommt - oder vielleicht bis die Morgendämmerung anbricht, auch wenn mir die Zeit lang, allzu lang werden würde. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Das ist die Mutlosigkeit - Mutlosigkeit, die zusammen mit einem plötzlichen Gefühl unüberwindlicher Müdigkeit den Geist schlaff und die Knie weich werden lässt. Die Überzeugung, dass Weitergehen zwecklos ist. In mir verstärkt sich das Gefühl, verirrt und schutzlos in dieser menschenleeren Stadt zu sein, die wie ausgestorben ist, in der man von Schatten nicht mehr sprechen kann, weil alles hier Schatten, ein einziger dichter Schatten ist. (1:22 f) MUSIK ausblenden SPRECHER: Le Sacre du Printemps. Frühlingsopfer. La Consagración de la Primavera. Das Wort ist mehrdeutig: Im vorchristlichen Rom stand consagraciòn allein für die Apotheose des Kaisers. Carpentier beschreibt hier die Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut des Gottessohnes. Consagración ist so mehr als nur Opfer: Consagración meint zugleich Wandel, Veränderung. ZITATOR II: Hier ist nichts als der erbarmungslose Kampf des Wachsens, das panische Entsetzen vor den aufsteigenden Säften. Frühling von innen gesehen, mit all seiner Heftigkeit, seinen Spasmen und Rissen. (6:232) SPRECHER: schrieb der Kritiker Jaques Rivière in der "Nouvelle Revue Francaise" vom November 1913 über Strawinskys verstörendes Werk. Die stampfenden Rhythmen des "Sacre" erschütterten die in Europa herrschenden musikalischen Auffassungen. ZITATOR: Stets beeilten sich gerade diejenigen europäischen Musiker, die sich am revolutionärsten gaben, bei der Darlegung ihrer Konzeption zu beweisen, dass sie Vorläufer in früheren Jahrhunderten gehabt hatten. SPRECHER: schrieb Alejo Carpentier in seinem Essay "Lateinamerika im Schnittpunkt historischer Koordinaten und ihre Auswirkung auf die Musik". Der Roman "La Consagración de la Primavera" gestaltet diesen Schnittpunkt und dessen Auswirkung auch auf die Literatur. MUSIK: Igor Strawinsky Le Sacre du Printemps (track 7): Le Sage (bis o:17) ZITATOR II: Als ich in St. Petersburg die letzten Seiten des Feuervogel niederschrieb, überkam mich eines Tages die Vision einer großen heidnischen Feier: alte weise Männer sitzen im Kreis und schauen dem Todestanz eines jungen Mädchens zu, das geopfert werden soll, um den Gott des Frühlings günstig zu stimmen. (rororo monographie, 36) SPRECHER: Igor Strawinsky. ZITATOR II: Man feiert das Frühlingsfest. Es findet auf den Hügeln statt. Junge Mädchen, die Gesichter bemalt, kommen in einer Reihe vom Fluss her. Sie tanzen den Frühlingstanz. In der Nacht halten die Jungfrauen geheimnisvolle Spiele ab. Herumgehen in Kreisen. Eine ist als Opfer ausersehen. Die Jungfrauen ehren die Auserwählte mit einem stürmischen Tanz. Sie rufen die Vorfahren an. Sie übergeben die Auserwählte den weisen alten Männern. In Gegenwart der Alten opfert sie sich im großen, heiligen Tanz. Es sind Bilder aus dem heidnischen Russland, innerlich zusammengehalten von einer Hauptidee: dem Geheimnis des großen Impulses der schöpferischen Kräfte des Frühlings. (7:68) MUSIK: Steve Coleman The Sign and the Seal (track 5): Secretos del Abacuá übersprechen ZITATOR: Und plötzlich war da ein Kontrapunkt harter Schläge, aussetzend oder wiederholt, verstärkt, synkopierend, symmetrisch in der Intensität, asymmetrisch im Rhythmus und dennoch integriert in eine Einheit, wie die Stimmen einer Fuge eingeordnet in ein kohärentes und, aufgrund eines angeborenen Sinns für Ausgewogenheit, durchstrukturiertes Ganzes. (1:3o7 f.) SPRECHER: Alejo Carpentier. ZITATOR IN: Durch den Rhythmus - und nur durch ihn - identifiziert sich der Tanz mit der Musik. Die schnellen Schritte der jungen Männer entsprechen dem musikalischen Ausdruck der Bewegung wie die schwierigen Rhythmen des Freudentanzes der Erwählten Jungfrau. Am Ende des ersten Tableaus tanzen große Reigen (in Purpur gekleidete Frauen) in wildem Tempo, während drinnen wogende Massen sich unentwegt in winzige, um exzentrische Achsen sich drehende Gruppen aufsplittern. Dies ist die Richtung, in der sich das Ballett endlos entwickeln kann. (5:194) SPRECHER: Romola Nijinsky. In ihrer Biographie "Der Gott des Tanzes" beschreibt sie ihr Leben mit Vaslav Nijinski, der mit den "Ballets Russes" von Serge Diaghilew zu Beginn des letzten Jahrhunderts den Tanz revolutionierte. Er schuf die Choreographie zu Igor Strawinskys "Le Sacre du Printemps". MUSIK kurz hochfahren Alejo Carpentiers Roman offenbart "Die wunderbare Wirklichkeit Amerikas", wie er sie in einem frühen Essay nennt: Der altrussische Mythos wird eins mit den Riten der Afro-Amerikaner. ZITATOR: Bei der Zeremonie der abakuá-Initiation - eine Reminiszenz an uralte afrikanische Traditionen - werde mit den Drei Großen Häuptlingen und einem Zauberer der Gründung der Sekte gedacht, und den Höhepunkt bilde die Opferung einer Frau - "weil sie im Besitz eines Geheimnisses war, das niemandem offenbart werden durfte, und keine Frau fähig ist, ein Geheimnis bei sich zu behalten". Das heidnische Russland wiederauferstanden in den Antillen. (1:31o/447) MUSIK langsam ausblenden ZITATOR II: In der Totenfeier sagten die Alten, dass ich nach Tlalocan reisen werde, den Gärten des ewigen Frühlings im Osten, dem Land des Grüns und der Blumen, die sanfter Regen streichelt. Doch dann lag ich jahrhundertelang allein in einer Höhle aus Erde und Wurzelwerk und sah staunend meinem Körper zu, der langsam zu pflanzlicher Natur wurde. Hunderte von Jahren, in denen ich die Erinnerung an Kürbisrasseln wachhielt, an Pferdegetrappel, Aufruhr, Lanzen, an die Angst zu verlieren und an Yarince und seinen sehnigen Rücken. Und ich sang mit meinem vielstimmigen Mund - ich hätte tanzen wollen - und fand meinen Stamm voller Knospen und in meinen Zweigen den Duft von Orangen. Vielleicht bin ich endlich in jenen tropischen Gefilden angekommen, im Garten von Überfluss und Ruhe, der stillen, unaufhörlichen Freude derjenigen, die im Zeichen von Quiote-Tláloc sterben, des Herrn der Wasser ... (18; 9 f) SPRECHER: Ein alter mittelamerikanischer Mythos. Gioconda Belli hat ihn in ihrem Roman "La Mujer Habitata" - "Bewohnte Frau" überliefert. Aufgehoben ist diese Koinzidenz der Mythen unterschiedlicher, gar einander fremder, prähistorischer Kulturen in den surrealistischen Gedichten der Cubanerin Nancy Morejón. In ihrer Lyrik verschwinden die Grenzen von Zeit und Raum. ZITATOR IN: Die Männer, in ihrem Wassertraum, schauten gen Himmel als ob sie weise Wolken suchten und eine fremde Hoffnung. Zwischen den Sonnenblumen, Rauch und Schrot, schauten sie gen Himmel. Die Frauen, in ihrem Wasserreich, näherten sich lachend als ob sie sonderbare Kreaturen suchten in einer seltenen Stille. In welchem Jahrhundert sind wir geboren? In welchem Jahrhundert sind wir jetzt? In welchem Jahrhundert leben und träumen wir diesen furchtbaren Alptraum wie ein Labyrinth? SPRECHER: Nancy Morejon: Wilde Kohlen. Carbones Silvestres MUSIK: Charlie Haden Liberation Orchestra (track 3): El Quinto Regimiento (einsetzen bei 9:18) übersprechen ZITATOR: Und doch erreichte mich an einem 17. Juli durch das kleine erleuchtete Fenster des Radioapparats die Nachricht vom Aufstand der spanischen Legionen in Marokko unter dem Befehl eines - für mich völlig obskuren - Generals Franco. Dann die Ereignisse in Madrid: der Sturm auf die Kaserne Montana, der Marsch des bewaffneten Volks auf Alcalá und Toledo. Widerstand in Asturien. Und zum Entsetzen der ganzen Welt: die Ermordung von Federico Garcia Lorca. (1:112 f) SPRECHER: Alejo Carpentier. La Consagración de la Primavera. ZITATOR II: Das Haus ist dunkel und leer; Schwarzes Moos an seinen Wänden; Der Brunnensims ohne Eimer; Grüne Eidechsen die Gärten. Über der lockeren Erde Schnecken, die sich fortbewegen, und der rote Juliwind wiegt sich zwischen den Ruinen: Federico! Wo mag der Zigeuner sterben? Wo seine Augen erstarren? Wo wird er sein, dass er nicht kommt? (Guillen 73) SPRECHER: Nicolas Guillén: Spanien 1937. ZITATOR II: Madrid, einsam und erhaben, Juli überraschte dich in deiner Fröhlichkeit einer bescheidenen Bienenwabe; hell war deine Straße, hell dein Traum. Schwarzer Hass von Generälen, eine Woge wütender Soutanen brach ihre Schlammfluten, ihre Flüsse Schleims an deinen Knien. Die versehrten Augen noch voll Traum wehrtest du dich, frisch verwundet, Madrid, mit Flinte und Steinen. (14:443) SPRECHER: Pablo Neruda. Spanien 1936. MUSIK ausblenden SPRECHER: Der cubanische Dichter Nicolás Guillén. Der Chilene Pablo Neruda. Alejo Carpentier. Viele schrieben über die Niederlage der Republik in Spanien und über den Sieg der Revolution in Cuba, den Sieg der Bärtigen. ZITATOR II: Dichtung ist ein Aufstand. Es kränkt den Dichter nicht, dass man ihn subversiv nennt. Der Frühling ist aufständisch. Überall springt das Samenkorn auf, jeden Tag warten wir auf gewaltige Veränderungen, erleben wir begeistert die Umwandlung der menschlichen Ordnung. (14a: 3o6) SPRECHER: Pablo Neruda: Um geboren zu werden. MUSIK: Charlie Haden Liberation Music Orchestra (track 3): El Quinto Regimiento (einsetzen bei 11:2o) übersprechen ZITATOR: Mein Entschluss kam plötzlich, von innen, unumstößlich. Um zehn Uhr nachts setzt sich der Zug unter den riesigen Glasdächern der Gare d'Austerlitz in Bewegung. Und gewaltig, vielstimmig überwältigend ertönt nun auf den dicht mit Menschen besetzten Bahnsteigen und in den Waggons, die schon zu fahren beginnen, die Internationale, feierlich und ergreifend wie ein Magnificat, gesungen nach dem organum der Lokomotive, die mit einem langgezogenen Pfiff in Richtung Pyrenäen abdampft. (1:135; 1:141) SPRECHER: Alejo Carpentier: La Cosagración de la Primavera. ZITATOR II: Seht auf Spanien, das gequälte! Vögel, die über Ruinen fliegen, Die Wurzel meines Baums, so knorrig; die Wurzel meines, deines Baums, aller unsrer Bäume, sie fühl ich, tief ins Innerste meiner Erde gesenkt. Ich, Amerikas Sohn, dein Sohn und Afrikas Sohn, Sklave gestern weißer Sklavenaufseher, Herren zorniger Peitschen. Ich, Amerikas Sohn, ich eile zu dir, sterbe für dich. (13:67 ff) SPRECHER: Nicolás Guillén: Spanien 1937. Es formierten sich die Internationalen Brigaden. Freiwillige aus vielen Ländern eilten nach Spanien, verteidigten die bedrohte Republik. ZITATOR II: Hier bin ich am rechten Platz, hier in der Landschaft des Don Quijote. (16:193) SPRECHER: Peter Weiss. Die Ästhetik des Widerstands. ZITATOR II: Vor einer Woche hatten wir die französischen Grenzwächter hinter uns gelassen, waren durch das Geröll zwischen Céret und Junquera, durch Gesträuch und Olivenwaldungen gekrochen und auf die ersten republikanischen Posten gestoßen. Durch Gerona, Calella hatte der Zug uns nach Barcelona gebracht, in die schwarze, rauchige Bahnhofshalle. (16:193) MUSIK kurz hochfahren Alles war bisher ein Anreisen, ein erstes Aufspüren gewesen, jetzt waren wir tief in einem Land, das wir schon, ohne noch dessen Sprache zu kennen, als unser eignes ansahn, denn wir hatten schon kein andres Land mehr als dieses. (16:2o1) SPRECHER: Peter Weiss. MUSIK ausblenden ZITATOR II: Über den Gebirgsketten sammelten sich die Wolken, ballten sich immer höher zusammen, endlos der Reichtum an Wein, an Oliven, ärmlich aber der Maulesel, angetrieben im schmalen Ackerstreifen durch die kurz ausgestoßnen Rufe des Bauern am Holzpflug, und der Hirt mit dem Stecken, Ledersack auf dem Rücken, in einen Schatten gedrückt, im vertrockneten Gras zwischen den Schafen, die sich den runden Steinen anglichen, kam aus einer andern Zeit als der unsern. (16:199) SPRECHER: Die Ästhetik des Widerstands. MUSIK: Art Ensemble of Chicago Message to our folks (disc 1, track 6): Old Time Religion MUSIK kurz stehen lassen; dann übersprechen ZITATOR: Eine sehr alte Sage, vielleicht aus dem Epos der Narta, die mir zwischen bedächtigem Kauen seiner Pfeife der Gärtner meines Vaters erzählt hat, berichtet, dass einmal Menschen, die das Pferd und das Rad kannten, sich auf einer langen, ziellosen Wanderschaft befanden, die sie von Sonne zu Sonne und von Mond zu Mond über endlose Steppen führte. Und als die Erschöpften eines Tages ein gewaltiges Gebirge vor sich aufragen sahen, nachdem sie so viele Jahre zwischen immer gleichen Horizonten gegangen waren, brachen sie in ein Schluchzen aus und warfen sich nieder. (1:12) SPRECHER: Alejo Carpentier: La Consagración de la Primavera. MUSIK kurz hochfahren; dann weiter übersprechen ZITATOR: Und am Fuß des mit Gesträuch bewachsenen, von Wolken umflorten Gebirges hielten sie die tausend Wagen des durch Jahrhunderte sich erstreckenden Zuges an, und da sie in ihren Adern die Verheißung des Frühlings vernahmen, schritten sie zur rituellen Anrufung der Ahnen, trugen auf ihren Schultern den Weisen, der nur noch durch seine hohlen Knochen zu ihnen sprach, und da sie die Erde mit dem Blut eines jungen Mädchens salben mussten, weinten sie alle, als sie die Auserwählte Jungfrau opferten - alle weinten sie und schrien ihr Mitleid hinaus, zerrissen ihre Kleider und beendeten unter Tränen ihre Fruchtbarkeitstänze, nachdem sie den Blutpreis entrichtet hatten, den sie zahlen mussten, damit ein neuer Jubel von Sprossen und Ähren ausbreche. Alle weinten sie ... (1:13) MUSIK langsam ausblenden ZITATOR II: Und eines Morgens brachen Flammen aus allem, und eines Morgens stiegen lodernde Feuer aus der Erde, verschlangen Leben, und seither Feuer, Pulver seither, und seither Blut. Schakale, widerwärtig für einen Schakal, Steine, auf die die trockenen Distel gespien hätte, Vipern, die Vipern verachten würden! Generäle Verräter: seht mein totes Haus, seht mein zerbrochenes Spanien. (14:444 f) SPRECHER: Pablo Neruda. MUSIK: Art Ensemble of Chicago A Jackson in your house (disc 1; track 1): A Jackson in your house (ab o:16) übersprechen ZITATOR: "Der Tod, so leicht und so schwierig", hat Eluard, glaube ich, einmal gesagt. Am Rand des gewaltigen Lochs, der im Boden aufgerissenen Wunde, hebt ein mit gespreizten Beinen und offenem Bauch daliegendes Pferd im Sterben den Kopf, wiehert schwach und zeigt ein gewaltiges Gebiss, als bäte es verzweifelt um Hilfe bei denen, die es gezähmt und so lange geritten und gespornt haben. Es ist das Pferd von Guernica. MUSIK hochfahren und kurz stehen lassen Hier fange ich an, Picassos Pferd besser zu begreifen, denn nun bin ich selbst da, wo die Menschen in seinem apokalyptischen Kontext leben. Hier lebt man unter seinem Zeichen. (1:19) SPRECHER: Alejo Carpentier. ZITATOR II: Sein ganzes Leben, hatte er bei der Konzeption dieses Gemäldes erklärt, sei nichts andres als ein fortwährender Kampf gegen die Rückständigkeit des Denkens und gegen den Tod der Kunst, und er verstand mit diesen Worten die Übergriffe der Reaktion auf das Volk und die Freiheit in Spanien. Er setzte den Kampf um die Wahrheit in der Kunst der Auflehnung gegen die Demagogie gleich, für ihn war die künstlerische Arbeit untrennbar von der sozialen und politischen Realität. Das Zerstörerische, das sich über Spanien hermachte, wollte nicht nur Menschen und Städte, sondern auch die Ausdrucksfähigkeit vernichten. (16:335) SPRECHER: Peter Weiss. MUSIK ausblenden SPRECHER: Seine "Ästhetik des Widerstands" sucht in den Kunstwerken die verborgenen Zeichen der Auflehnung und des Aufbegehrens gegen Herrschaft und Unterdrückung. Alejo Carpentiers "La Consagraciòn de la Primavera" beschreibt die mühsamen Versuche der Wenigen, der Zerstörung zu widerstehen und das Unerhörte neu entstehen zu lassen. Beide artikulieren in ihren Werken ein Diktum Leo Löwenthals: ZITATOR II: die Stimme der Verlierer im Weltprozess, die hoffentlich einmal die Sieger sein werden. MUSIK: Charlie Haden Liberation Music Orchestra (track 3): El Quinto Regimiento (einsetzen bei 2o:14; spielen bis Schluss) (nach kurzem Intro übersprechen) SPRECHER: Spanien 1938. ZITATOR II: Mit großem Kraftaufwand waren wir in Spanien gegen Bitterkeit und Lethargie angegangen. Doch dann folgte die Auflösung der Front, die uns fieberhaft daran erinnerte, wie früher schon Initiativen der Arbeiterbewegung durch Rückschläge abgebrochen wurden. Wieder war der Kampf gegen die Nutznießer fehlgeschlagen und hatte die Ausgebeuteten in noch größre Abhängigkeit gebracht. Immer noch war die Zahl derer nicht groß genug, die sich zur Wehr setzten, und hunderttausende hatten darum mit ihrem Leben zahlen müssen. Dennoch war in Spanien fortgesetzt worden, was die Insurgenten von Madrid Achtzehnhundert Acht, die französischen Revolutionäre Achtzehnhundert Dreißig, die Kommunarden und die Kämpfer des Oktober begonnen hatten. Dies alles, der mächtige Aufstieg und das Scheitern, das Absinken und die Sammlung zu neuem Vorstoß, war in dem großen Bild von Guernica enthalten. (16:34o) SPRECHER: Peter Weiss. ZITATOR: Die Brigaden aufgelöst, die Leute entlassen im Oktober, aus politischen Gründen. Aber wir mussten die Grenzen passieren, und uns standen die Zornestränen in den Augen. Nein, schlimmer. Ohne zu weinen. In schöner militärischer Ordnung, in Viererreihen. Zerlumpt, aber aufrecht. Entsetzlich traurig, aber ohne Traurigkeit zu zeigen. Kläglich, aber - anscheinend - ungebrochen und stramm ... (1:227 f) SPRECHER: Alejo Carpentier: La Consagración de la Primavera. ZITATOR II: Gleich stand die Trennung bevor, der Krieg ging weiter, hier wurden wir nicht mehr gebraucht, Spanien aber war groß, lag überall, die Sache Spaniens begleitete uns, wohin auch immer wir kommen würden. Doch nicht über die Unsicherheit der Zukunft sprachen wir an diesem Vormittag, auf dem Weg nach Denia und dann oben auf der Berghöhe, sondern über Geschehnisse, die ein paar Jahrtausende früher über diese Küste hingegangen waren. Immer lag vor uns das Meer, blaugrau, diesig mit dem Rand des Himmels verfließend, zwischen Hainen von Eukalyptus, Zypressen Mandelbäumen erstreckten sich die Apfelsinenpflanzungen, hier und dort, aus der Schnittstelle an einem Ast, sprossten Zitronentriebe hervor, violett blühend, mit hellvioletten jungen Früchten. (16:36o/321) SPRECHER: Peter Weiss: MUSIK ausblenden SPRECHER: Der Schauplatz wechselt. Die Kumpanei des alten Europa mit dem aufstrebenden Faschismus besiegelt die Niederlage der Republik in Spanien. Sie zwingt die Gruppe um Vera und Enrique ins Exil. ZITATOR: Dieses Europa - das hiesige - war verratzt. In dieses Europa war ich geeilt auf der Suche nach unendlicher Klugheit, und statt denkender Köpfe hatte es mir leere, wie Xylophone hohl klingende Schädel geliefert. Ein Totentanz, dem Vera und ich nun entflohen an Bord dieser Burgerdyck, von der aus wir bald den Felsen von La Habana sehen würden. (1:237 f.) SPRECHER: Alejo Carpentier. MUSIK: Steve Coleman The Sign and the Seal (track 1): The Diurnal Lord übersprechen ZITATOR: Also durchstreifte ich, ein Verlorener Sohn, meine Straßen und fand, nach langer Irrfahrt, mich selbst: ein neues Ich, das nun in dem mich Umgebenden, dem von mir Wahrgenommenen wiedergeboren/geboren wurde. Und wie ein Besucher, der in einem weitläufigen Museum von Bild zu Bild geht, von diesem Schrank zu jener Vitrine, ging ich durch dieses Havanna, das mir mit einemmal meine Wurzeln offen legte. (1:24o f.) SPRECHER: Alejo Carpentier: La Consagración de la Primavera. MUSIK kurz hochfahren ZITATOR: Unter Palmblattdächern schliefen riesenhafte Trommeln, Trommel-Mütter mit rot angemalten Füßen und Menschengesichtern. Der Regen gehorchte den Beschwörungen der Zauberer, und auf den Festen der Beschneidung, wenn die jungen Männer mit blutgelackten Schenkeln tanzten, wurde auf klingende breite Steine geschlagen, die eine Musik hervorbrachten wie von großen gebändigten Wasserfällen. (2:57) SPRECHER: Alejo Carpentier: Das Reich von dieser Welt. MUSIK ausblenden ZITATOR: Und zum ersten Mal träumte ich von der Möglichkeit, ein Sacre du Printemps auf die Bühne zu bringen, in dem ich mich auf elementare, primitive Tänze stützen würde. Tänze, hervorgegangen aus einem universalen Instinkt, der den Menschen dazu treibt, sich in der Sprache der Gesten auszudrücken. SPRECHER: Alejo Carpentier. La Consagración de la Primavera. MUSIK: ZAPPA Mothers of Invention Burnt Weeny Sandwich (track 2): Igor's Boogie, Phase One ZITATOR: Das Jahr sah nicht gut aus. Nur wenige wurden es gewahr. Aber die Stadt war nicht mehr die gleiche. Es war nicht erwiesen, dass die Gegenstände eine vollwertige Entsprechung an Schatten auf den Boden zeichneten. Ja, die Schatten hatten eine offensichtliche Neigung, sich von den Dingen lösen zu wollen, als ob die Dinge Schatten des Unglücks wären. Ein jähes Gewucher von Moosen schwärzte die Dächer. Unter der Bedrängnis einer neuen Feuchtigkeit blätterten in einer Nacht die Säulen an den Hauseingängen ab. Die Säulengeländer der Balkone hingegen füllten sich durch die Wirkung von Tau und Sonne mit Rissen und Sprüngen und brachten rostige Nägel an den geborstenen Brüstungen zum Vorschein. In der Atmosphäre hatte sich etwas verändert. SPRECHER: Alejo Carpentrier: Finstermette. Seine Erzählung von 1944 bleibt dunkel und surreal. Apokalyptisch. Sie verweist auf die zukünftige Realität: den Bürgerkrieg in Spanien und die beginnenden Kämpfe in Cuba. ZITATOR: Die Schatten waren es müde, Warnungen über Warnungen zu erteilen. Viele schickten sich an die Stadt zu verlassen. (2b:25/31) MUSIK: ZAPPA Mothers of Invention Burnt Weeny Sandwich (track 5): Igor's Boogie, Phase Two ZITATORINI: Und über das Meer von Graphit kommt eine winzige Galeone und ein paar schwarze Menschen geknebelt schreiend und ein Mädchen schön und allein mit weit geöffneten Pupillen und ein hässlicher aber verwegener kleiner Kobold. SPRECHER: Nancy Morejon: Ruhmreiche Landschaft. MUSIK: Steve Coleman The Sign and the Seal (track 2): The Seal übersprechen ZITATOR: Die Hunde bellten ihn nicht an; er konnte seinen Schatten verändern, je nachdem es ihm gefiel. Eines Tages würde er das Signal zum großen Aufstand geben, und die Herrscher des Jenseits, an ihrer Spitze Damballah, der Gebieter der Wege, und Ogún, der Herr der Waffen, würden Donner und Blitz bringen, um den Wirbelsturm zu entfesseln, der das Werk der Menschen vollenden sollte. (2:67) SPRECHER: Alejo Carpentier: Das Reich von dieser Welt. MUSIK kurz hochfahren); dann weiter übersprechen ZITATOR II: Hier sind wir! Feucht von den Wäldern gedeiht uns das Wort, und der Schrei dringt aus uns wie ein Tropfen jungfräulichen Golds. Wir bringen mit uns den Rauch in den Morgen und das Feuer in die Nacht, und das Messer, wie ein hartes Stück Mond, für barbarische Häute geschaffen; wir tragen die Kaimane durch den Schlamm, und den Bogen, der unsere Sehnsüchte schießt, und den Gürtel der Tropen und den klaren Geist. Die uralten Menschen werden uns Milch und Honig reichen, uns mit grünen Blättern krönen. (Guillen 7 f) SPRECHER: Nicolás Guillén: Llegada. Ankunft. ZITATOR: Anarchisch im ständigen Wechsel der Farben, in Minutenschnelle aus marmorner Unbeweglichkeit übergehend in wildes Dahinjagen, waren sie imstande, dichte Güsse von Tropfen, schwer und dick wie Kupfermünzen, herabzuschicken, in groß aufgemachter Bühne eine Trombe niedergehen zu lassen, die Tanz war von Osaín- dem-mit-dem-einen-Fuße, solange sie auf der Spitze stand, dann aber, wenn die Himmelsschmiede angefacht und die zehntausend Rösser Changós mit den ehernen, von Ogún ihnen aufgenagelten Hufbeschlägen zum Galopp angetrieben hatte, einen gewaltigen Orkan, einen von der Sorte: wirble, was wirbeln kann, breche, was brechen kann. (1:248) SPRECHER: Alejo Carpentier: La Consagración de la Primavera. MUSIK ausblenden SPRECHER: Chango. Tapfer und kriegerisch; sein Symbol ist die Doppelaxt. Er ist eine der Gottheiten der Santeria. Wie auch Ogun, ursprünglich orisha / Gott des Schmiedehandwerks, deshalb verbunden mit Jägern und Kriegern. Und Damballah, der die Geheimnisse der Wege kennt. Die Santeria ist ein afro-cubanischer Kult. Sie entstand aus den religiösen Überlieferungen des alten Afrika, die sich mit den christlichen Vorstellungen der kolonialen Unterdrücker verbanden und Volksglaube wurden. MUSIK: Charlie Haden Liberation Music Orchestra (track 5): Song for Ché (ab 5:26) übersprechen: ZITATOR: Ende Juli also kam die Nachricht, dass es in der Provinz Oriente zu schweren Zwischenfällen gekommen sei. In dieser Nacht lauschten wir bis spät den Worten der Ansager und Sprecher - obwohl wir noch nicht ausmachen konnten, was davon übertrieben, wahr, falsch oder tendenziös war. Ein Ereignis aber hob sich deutlich von allen übrigen ab, eines, das sich uns von Anfang an unter der Bezeichnung "Sturm auf die Moncada-Kaserne" einprägte und das, wie ich bald merkte, auf viele Existenzen die größten Auswirkungen haben sollte ... MUSIK kurz hochfahren; dann weiter übersprechen ZITATOR: Gruppen schattenhafter Gestalten waren aus der Finsternis aufgetaucht, hatten sich an den nachtdunklen Fluss geschlichen, ihn schweigend überquert in Booten, bewegt vom langsamen Schwung der Ruder, und dann das Schiff bestiegen, das mit gelöschten Lichtern auf sie wartete. (1:387/458) SPRECHER: Alejo Carpentier La Consagración de la Primavera. ZITATOR: Allerdings hatten sie gehört, dass Stunden zuvor die Hunde etwas lauter als üblich gebellt hatten. Aber es gab Nächte, in denen die Hunde so waren. Offenbar sahen sie Dinge, die andere nicht sahen. Und als man bei Anbruch dieses 25. November wusste, dass tatsächlich, dass die Hunde wirklich Dinge gesehen hatten, sehr reale Dinge, und als die Bootsleute erzählten, dass viele aus der Dunkelheit aufgetauchte Männer sich zu dieser Jacht hätten übersetzen lassen, die da vor Anker gelegen habe, da befand sich diese Jacht nicht mehr da, wo sie geankert hatte. (1:458 f) MUSIK kurz hochfahren; dann weiter übersprechen ZITATOR: Und es kam ein stürmischer Abend, die Lichter wurden angezündet, die Lichter wurden gelöscht, und in dieser Nacht - einer Nacht wie viele andere - bellten die Hunde weniger als in der vergangenen Nacht ... Recht betrachtet, war das alles wunderbar, das sich nach und nach jedem enthüllte, der bereit war, in die Tiefe der lateinamerikanischen Welt zu blicken, wo das Schreckliche bestimmter politischer Kontingenzen, der Horror der Militär- oder Zivildiktaturen, als das Zeitweilige und Vorübergehende einer turbulenten Geschichte erschien, während die Wunder der umgebenden Welt, die Natur, das Ambiente und das authentische Wesen von Menschen das Bleibende waren. (1:459/532 f.) SPRECHER: Alejo Carpentier. MUSIK kurz hochfahren ZITATOR II: Ich feire die plötzlichen Laubhütten, das harte Schlafgemach der Felsen, die Nacht unbestimmter Geräusche mit dem Schwirren der Sterne, das nackte Schweigen der Berge. (14:7o7 f.) SPRECHER: Pablo Neruda: Eine Minute für die Sierra Maestra gesungen. MUSIK ausblenden SPRECHER: Die Sierra Maestra im Osten Cubas. Hier begann 1956 der bewaffnete Aufstand der Bärtigen gegen das Regime Batistas. Er endete mit dem Einzug der Revolutionäre in Habana 1959. ZITATOR: Dort oben, wo die Drachenblutbäume im Wind knarrten, wo fleischige Blätter, schädliche Orchideen, scharfkantige und stachelige Pflanzen sich zu einem einzigen feuchten Gewirr verstrickten, das von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang den Tau bewahrte, pflegten nachts die Wolfshündinnen, Abkömmlinge von Hunden, die sich irgendwann, vielleicht vor Jahrhunderten, von einer sklavenhetzenden Meute abgesondert hatten, die Schnauzen zwischen den Felsenzacken hervorzustrecken. Und der Ruf aus diesen über dem geilen Fleisch aufgerichteten und die Hitze verkündenden Schnauzen war so gewaltig, dass die Hunde im Dorf winselnd die Köpfe hoben, ohne sich doch über die Grenze des Hofs hinauszuwagen. (2b:169 f) SPRECHER: Alejo Carpentier in seiner frühen Erzählung "Die Verfolgung". ZITATOR: Aus Märchen setzt sich die große Geschichte zusammen. Als Märchen erscheint den Hiesigen das Unsere, weil sie den Sinn für das Märchenhafte verloren haben. Märchenhaft nennen sie, was lange zurückliegt, was irrational ist, was gestern war. Sie begreifen nicht, dass das Märchenhafte in der Zukunft liegt. (3:1o58) SPRECHER: Alejo Carpentier: Barockkonzert. ZITATOR: Die Wahrnehmung des Wunderbaren setzt als erstens einen Glauben voraus. Wer nicht an Heilige glaubt, wird an Wundern der Heiligen nicht genesen. Dies wurde mir besonders klar während meines Aufenthaltes in Haiti im täglichen Kontakt mit etwas, was wir das wunderbare Wirkliche nennen könnten. Auf Schritt und Tritt stieß ich auf das wunderbare Wirkliche. Ich dachte aber auch, dass diese Gegenwart und Gültigkeit des wunderbaren Wirklichen nicht das Privileg Haitis, sondern Erbteil von ganz Amerika sei. (2:190 ff) SPRECHER: Alejo Carpentier: "Über die wunderbare Wirklichkeit Amerikas". MUSIK: Igor Strawinsky Le Sacre du Printemps (track 1): L'Adoration de la Terre (bis o:16) ZITATOR II: Eine echte Tradition ist nicht das Zeugnis einer abgelaufenen Vergangenheit; sie ist lebendige, die Gegenwart belebende und gestaltende Kraft. (in 2b:22o) SPRECHER: Igor Strawinsky. In seinem Roman "Doktor Faustus" schreibt Thomas Mann über ZITATOR II: eine vom Kultus abgefallene Kultur, die auch im Religiösen nur eben Kultur sah, nur Humanität, nicht den Exzess, das Paradox, die mystische Leidenschaft, die völlig unbürgerliche Aventüre. (Mann 244) SPRECHER: Und an anderer Stelle: ZITATOR II: Einen Schulmeister des Objektiven und der Organisation brauchten wir, genial genug, das Wiederherstellende, ja das Archaische mit dem Revolutionären zu verbinden. (Mann 19o) SPRECHER: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde. ZITATOR II: Beim "Sacre" wurde ich von keinem System irgendwelcher Art geleitet. Ich hatte nur mein Ohr als Hilfe, und ich schrieb, was ich hörte. Ich war das Gefäß, durch das der "Sacre" hindurchging. (rororo 39) SPRECHER: Igor Strawinsky. MUSIK: Steve Coleman The Sign and the Seal (track 3): Passage of the River (for Oshun) übersprechen ZITATOR II: Eidechse lang und grün. SPRECHER: nannte Nicolás Guillén Cuba - seine Insel der Antillen. ZITATORIN: Die Eidechsen weinten vom Regen erstickt. SPRECHER: Nancy Morejon: Elegie ZITATOR: Und ich dachte, dass der kubanische Bauer, wenn er die Ceiba "die Mutter aller Bäume" nannte, vielleicht einer uralten Weisheit die Vorstellung verdankte, dass die Frau und der Baum identisch sind, und dass er damit an das ursprünglichste Wesen aller Religionen rührte, in denen Erde und Mutter - symbolisiert durch den Stamm und das Reis - die signifikante Gleichung allen Wachstums sind. (1:255) SPRECHER: Alejo Carpentier. La Consagración de la Primavera. ZITATOR IN: Schwarze Frau, wo ich dich kaum benennen kann, meine Großmutter aus Ebenholz, unsere einzige Großmutter, stille Habanera der Melancholie, sitzend, hektisch, lebhaft und stolz, vor dem kalten Käfig der Eidechsen. Niemand sah sie weinen, obwohl sie weinte. Niemand hörte sie seufzen, obwohl sie seufzte. Schwarze Frau, geschliffen wie harter Diamant des Niger-Flusses. Du gingst am Nachmittag mit einem kurzen Lied kaum bekannt. Schwarze Frau mit der einmaligen Haut, die Zeit der Leguane ist endlich gekommen. SPRECHER: Nancy Morejon. MUSIK ausblenden ZITATOR II: So wandern wir durch diese Stadt wie Hunde mitten im Unwetter. Wer kennt die Namen, die wir hatten. Niemand erwähnt sie oder weiß sie auch. Wir sind nur andrer Menschen Schatten. (13:33) SPRECHER: Nicolás Guillén: Gesang von den verlorenen Männern. ZITATOR: Menschen von heute, die schon danach trachteten, Menschen von morgen zu sein. SPRECHER: Alejo Carpentier. MUSIK: Charlie Haden The Ballad of the Fallen (track 7): Silence übersprechen SPRECHER: Im April 1961 landete eine Gruppe von Söldnern an der Playa Girón im Süden Cubas. ZITATOR: Seit Stunden fahre ich mit den Männern meiner Miliz in diesem klapprigen, ratternden Autobus, der sich immer wieder an den Straßenrand quetschen muss, um Lastwagen, vollbesetzt mit jungen, Kampflieder singenden Soldaten, vorbeizulassen, die hupend Vorfahrt verlangen, und überholen und hinter sich zurücklassen. Ich kannte diese Zeichen: sie kündigen Schlachtfelder an, plötzlich eingeschrieben, brutal eingesprengt in Landschaften, die so still sind, dass sie noch an der Grenze zu Blei und Feuer gegen den von Menschen entfesselten Aufruhr besonders gleichgültig zu sein scheinen. (1:663) SPRECHER: Alejo Carpentier: La Consagración de la Primavera. Den historischen Hintergrund dieses Geschehens beschrieb Hans Magnus Enzensberger in seinem "Verhör von Habana": ZITATOR II: Es war das Ziel der Operation Pluto, die Revolutionäre Regierung Cubas mit Waffengewalt zu stürzen und durch ein Regime zu ersetzen, das dem Imperialismus der USA genehm war. Ihr ausführendes Organ war der amerikanische Geheimdienst CIA, in dessen Händen die politische und militärische Leitung der Invasion lag. (hme11) ZITATOR: Hier riecht schon alles nach Krieg - und mir fällt die Straße von Valencia nach Madrid ein, wo dieser Geruch auf einmal da war in einem Dorf, das zufällig auf der ungreifbaren, unsichtbaren, plötzlich zwischen der Welt des Pflugs und der Hacke und der Welt des Feuers gezogenen Grenze lag. (1:665) SPRECHER: Alejo Carpentier. MUSIK zu Ende ZITATOR II: Vierzig Stunden nach dem Beginn der Landoperationen am Strand von Girón versammelten sich im Weißen Haus zu Washington über tausend Gäste. Der Präsident gab einen Empfang für die Kongressabgeordneten und ihre Frauen. Zur gleichen Zeit war der Strand von Girón von versenkten Landefahrzeugen und ausgebrannten Panzern bedeckt. Die Söldner verbluteten in den Sümpfen der Zapata-Halbinsel unter dem konzentrierten Feuer der Revolutionären Streitkräfte und Milizen. (HME 19) SPRECHER: Hans Magnus Enzensberger. Das Verhör von Habana. Ein Selbstbildnis der Konterrevolution. ZITATOR: Und die Musiker spielten ihre Musik für geweihte Hundemeuten. (2b:227) MUSIK: Art Ensemble of Chicago Go Home + Chi Congo (track 7): Chi Congo übersprechen: ZITATOR: Hier werden die Instrumente wieder Holz, Blech, Därme, gespannte Häute, zurückgegeben ihrer ursprünglichen Bestimmung, ihrer Aufgabe in einer Stammesliturgie. (1:222) SPRECHER: Alejo Carpentier: ZITATOR II: der pochende ton der tamtams der lockende ton der tamtams pocht ... lockt lockt...pocht und hitzt dein blut tanz! ein mädchen umhüllt von der nacht kreist leise in den lichtschein kreist langsam ... lockend wie ein rauchflor um die flamme - und das tamtam pocht und das tamtam pocht der lockende ton der tamtams hitzt dein blut. (...) SPRECHER: Der afro-amerikanische Lyriker Langston Hughes. ZITATOR: Angesichts der aufgehenden Sonne eines neuen Jahres sollte die Erde sich unter dem Blut der auserwählten Jungfrau, vergossen in einer schauerlichen Sühnezeremonie, die Eingeweide aus dem Leib reißen, um Nahrung zu schaffen für die Menschen, die, lebend, zeugend und sterbend auf ihr, sie anbeteten. (1:222 f.) SPRECHER: Alejo Carpentier. MUSIK kurz hochfahren ZITATORINI: Die Fackel ist entzündet, niemand wird sie mehr löschen können. Niemand wird den Klang der Trommeln zum Verstummen bringen können. Ich sehe große Menschenmengen den Weg herunterkommen, den Yarince und die Krieger vorbereitet haben, die von damals, die von heute. (18; 445) SPRECHER: Gioconda Belli: La Mujer Habitata. ZITATOR: Hinter einer Bar, die nach Rum von bester Qualität roch, in einem Kreis von Menschen, die bis in den frühen Morgen tanzen würden, erwarteten mich alle Ahnen einer Welt, die ich als eine aus Indios, Negern und Spaniern hervorgegangene Dritte Welt ansah. Und Tatsache war, dass diese Dritte Welt eindeutig präsent war. Aber jetzt offensichtlich hatte sich Osaín-der-mit-dem-einen-Fuße, Herr der Zyklone, Genie des Wirbelnden, des Drehtanzes in einem Umkreis, der von der Mündung des Mississippi bis zu den Mündungen des Orinoco reichte, zu tanzen angeschickt, auch den blues mitreißend in sein verteufeltes Gefolge. (1:1oo f) SPRECHER: Alejo Carpentier: ZITATOR II: Lanze mit knöcherner Spitze, Urwaldtrommel aus Leder und Holz: mein Ahn, der Schwarze. Koller um den kräftigen Hals, Waffenrüstung grau und stolz: mein Ahn, der Weiße. Es seufzen die beiden. Und beide erheben die starken Köpfe; Beide von gleicher Größe unter den hohen Sternen; beide von gleichem Wuchs: schwarze Sehnsucht und weiße Sehnsucht; beide von gleichem Wuchs: rufen sie, träumen sie, weinen sie, singen. Sie träumen, weinen, singen. Weinen, singen. Singen! (Guillen 23 f) SPRECHER: Nicolás Guillén. Ballade von den beiden Ahnen. MUSIK langsam ausblenden ZITATOR: Und nun wurden die Eroberer von einst offensichtlich ihrerseits erobert, entfremdet, unterworfen, eingewickelt, behext vom unwiderstehlichen Wirbel Osaìns-des-mit- dem-einen-Fuße, der seine Tanzschritte, Hüftschwenkungen, Drehungen und Gegendrehungen, seine rhythmischen Schübe, Wellenbewegungen von Schultern, Bauch und Hüften, die gestische Synchronie und Diachronie überall da durchsetzte, wo seine Sänger und Musiker ihre Kalebassen, Hölzer, Trommelfelle, Tonkrüge, Blechzylinder und Ziegenhäute - elementare Materialien - zum Tönen brachten, hinter denen sich nun die müden Darmsaiten der Geigen nach Jahrhunderten herrlicher Arbeit zur Ruhe setzten. (1:1o1 f) SPRECHER: Alejo Carpentier. La Consagración de la Primavera. Die Riten des alten Afrika waren in der synkretistischen Religion der Verschleppten aufgehoben und lebten im Kult der Santeria weiter. Sie revolutionierten das Denken und schufen eine ganz eigene Ästhetik des Widerstands. Oder - wie Karl Marx in seiner "Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" schrieb: ZITATOR II: Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt. (MEW 1, 381) MUSIK: Art Ensemble of Chicago Message to our folks (track 6): Ol' Time Religion ab 6:15 übersprechen ZITATOR II: das leben pulst im jazz-rhythmus die götter lachen uns aus. obertöne untertöne zum rumpeln der straßenbahn zum fegenden regenfall the rhythm of life is a jazz rhythm and the gods are laughing at us. SPRECHER: Langston Hughes. Die "Trennung der Kunst vom liturgischen Ganzen", von der Thomas Mann im "Doktor Faustus" sprach, war aufgehoben. Oder - wie Alejo Carpentier in einem Essay schrieb: ZITATOR: So war auch die Musik einmal Musik vor der Musik und sehr verschieden von dem, was uns heute als eine ästhetischen Genuss vermittelnde Musik gilt. Sie war Gebet, Danksagung, Zaubergesang, Beschwörung, Magie, Liturgie, Poesie-Tanz. (2:226) ZITATOR II: Ich habe das Theater aus dem Leben heraus begriffen. Ich bin keine Erfindung. Ich bin das Leben. Theater ist Leben. Ich bin das Leben. Ich bin ein Philosoph, der nicht denkt. Ich bin ein Philosoph, der fühlt. (4:67) SPRECHER: Vaslav Nijinsky in seinen Tagebuchaufzeichnungen. ZITATOR II: Nijinski ist ein bewunderungswürdiger Künstler. Er ist fähig, die Kunst des Balletts zu revolutionieren. Er ist nicht nur ein wunderbarer Tänzer, er ist auch imstande, Neues zu kreieren. (rororo 4o f.) SPRECHER: Igor Strawinsky. ZITATOR: Und als ich, im Takt die Schritte setzend, auf die heutige auserwählte Jungfrau zutanzte, sah ich in ihr nicht die Frau, die in den Tod geht, sondern die Frau, die ihren Tod im Leben erleidet, die ihren Tod auf sich nimmt, als Klageweib ihren eigenen Tod beweint und über ihn schluchzte, deren Ursache eine Idee war - die Idee, die ewige Idee, die immer, es mag eine religiöse oder eine politische sein, mit der Existenz eines Opfers verknüpft ist, die Idee, der ich selbst mich zum Opfer brachte, ohne sie jemals angenommen zu haben. (1: 223) SPRECHER: Alejo Carpentier. La Consagración de la Primavera. Le Sacre du printemps. MUSIK langsam ausblenden ZITATOR II: Ich sehe dein Stöhnen, dein Blut unter deinem so leichten Lachen. Stöhnen und Blut unter dem leichten Lachen; Stöhnen und Blut, unter deinem so leichten Lachen. Stöhnen und Blut. (Guillen 43) SPRECHER: Nicolás Guillén. MUSIK: Cachao Dos (track 1): Ko-Wo, Ko-Wo übersprechen ZITATOR II: Es gibt Dinge, die kann ich mir im Leben nicht erklären. Alles, was mit der Natur zu tun hat, ist sehr dunkel für mich, und noch dunkler das mit den Göttern: Von denen wird gesagt, sie hätten alle diese Erscheinungen hervorgebracht, die man sieht, die ich gesehen habe, und die es ganz bestimmt gegeben hat. Die Götter sind launenhaft und uneinig. Darum sind hier so viele merkwürdige Dinge passiert. (cimarron 17) SPRECHER: Esteban Montejo. Der Cimarron. Die Lebensgeschichte eines entflohenen Negersklaven aus Cuba, von ihm selbst erzählt. Seine Erinnerungen wurden 1963 von dem cubanischen Schriftsteller Miguel Barnet dokumentiert. Über den damals über hundertjährigen Esteban Montejo schrieb er: ZITATOR II: Sein Leben war interessant. Er erzählte von bestimmten Aspekten der Sklaverei und vom Unabhängigkeitskrieg. Aber was uns am meisten beeindruckte, war seine Erklärung, er habe als entlaufener Sklave, als Cimarrón, in den Wäldern der Provinz Las Villas gelebt. (Cimarron 7) MUSIK kurz hochfahren ZITATOR II: Der Tanz, an den ich mich am besten erinnere, ist die yuka. Bei der yuka wurden drei Trommeln geschlagen. Dahinter schlug man mit Stäben auf zwei ausgehöhlte Zedernstämme. Die Sklaven machten sie selbst. Die yuka wurde paarweise mit kräftigen Bewegungen getanzt. Manchmal drehten sie sich wie Vögel, und es sah sogar aus, als flögen sie. (cimarron 33) SPRECHER: Esteban Montejo. ZITATOR: Und plötzlich begannen sie hochzuspringen, hochzuspringen ohne Eile, einer nach dem andern, fast gemächlich, scheinbar mühelos. Und es kam der wunderbare, unglaubliche Augenblick, in dem die vier Männer buchstäblich schwebten, ohne sichtbaren Kontakt mit dem Boden. (1:3o9) SPRECHER: Alejo Carpentier: La Consagración de la Primavera. Le Sacre du Printemps. ZITATOR II: Ich bin Nijinsky. Ich bin der Gott, der stirbt, wenn er nicht geliebt wird. Ich bin der Tod. Ich bin derjenige, welcher den Tod liebt. (4:188) SPRECHER: Vaslav Nijinsky. ZITATORIN: Die Todesstarre des Winters herrscht. Die Pflanzenwelt geht zugrunde. Der Impuls zur Fruchtbarkeit ist geschwächt. Doch die immerwährende, allmächtige innere Wachstumsmacht bricht durch und der Frühling kommt. Choreographisch ist dieses Ballett das höchste und reinste Werk modernen Tanzes, das bisher geschaffen wurde. Die Bewegungen drücken Furcht, Freude und religiöse Ekstase aus. (5:193) SPRECHER: Romola Nijinsky. ZITATOR: Im Grunde war es eine Rückkehr zu einer sehr alten, aus Zeiten ohne Geschichte, vor der Geschichte uns überlieferten Vorstellung, die auf eine für mich brutale Weise wiedererstanden war in der Geschichte meiner Epoche, aus der ich mich hatte heraushalten wollen und die mich nun da einholte, wo ich mich vor ihr in Sicherheit wähnte ...Ich tanze weiter die Schritte der Danse sacrale, doch als der Schlussakkord erklingt, denke ich, dass hier ein zweites, bisher und vielleicht in alle Zukunft nie geschriebenes Ballett beginnen könnte: Die Götter begnügen sich nicht länger mit dem einen Opfer, sie verlangen mehr. (1:223 f) SPRECHER: Alejo Carpentier. MUSIK kurz hochfahren ZITATOR II: Eine Revolution, in der Poesie, Gesang enthalten war - SPRECHER: hatte Peter Weiss zu den Kämpfen in Spanien 1936 notiert. ZITATOR II: Wie später auch die Revolution in Vietnam, in Cuba. (NB 1971-198o Bd.1, 128) MUSIK lange stehen lassen; dann langsam ausblenden ZITATOR: Doch mit einemmal entstand eine große Stille und der Geist des Tanzes wurde Fleisch und weilte unter uns in einer eigenen, selbsterschaffenen Zeit. SPRECHER: La Consagración de la Primavera. Le Sacre du Printemps. Alejo Carpentier. Und er erinnert visionär an die Verse Stephane Mallarmes: ZITATOR II: Der stolze schwan erliegt. Der so gedenken mag Der herrlichkeit von einst, im hoffnungslosen ringen ... Der nicht verstand das land des lebens zu besingen Als unfruchtbarer glanz des winters auf ihm lag. (1:166) 1