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Denn über der Strecke hängt der süßlich würzige Duft von Äthanol, dem Kraftstoff, mit dem die Autos der IndyCar-Serie angetrieben werden. Zigarrenschlanke Einsitzer, die so ähnlich aussehen wie die Rennwagen der Formel 1. Der Vergleich liegt nahe. Doch die Unterschiede sind markant. Nicht nur in der Sprache, die mit dem Kunstwort IndyCar eine Reminiszenz an die bedeutendste Veranstaltung im amerikanischen Automobilsport verbindet - den Indy 500. Einen der Hauptunterschiede erkennt man allerdings nur dann, wenn man sich mit den Piloten beschäftigt, die in ihren engen Cockpits und unter den Vollvisierhelmen anonym und austauschbar wirken. Die IndyCar-Serie, die auf Rennstrecken in den USA, Kanada, Brasilien und Japan ausgetragen wird, ist in den letzten Jahren zum bislang stärksten Magneten für einen neuen Typ von Rennfahrer geworden: Frauen am Steuer. Auf eine von ihnen konzentriert sich das Interesse an diesem Samstag kurz vor dem Qualifying mal wieder ganz besonders. Es ist eine kleine Person im schwarz-grünen Wagen mit der Nummer sieben. Sie heißt Danica Patrick. Jedes Mal, wenn sie aufs Gaspedal tritt und die 650 PS hinter ihrem Sitz abruft, fährt die Neugier der amerikanischen Rennsportgemeinde mit. ATMO Wagen beschleunigt, dann Geräusch von vorbeirasenden Rennwagen, dann abgeblendet als Geräusch im Hintergrund SPRECHER: Ihr Körper - ganze 1,58-Meter groß und keine 50 Kilogramm schwer - ist geradezu zierlich. Aber der erste Eindruck täuscht. Sie hat den Händedruck eines Holzfällers. Und sie ist im Rennsport der USA längst zu einem Schwergewicht geworden. Als die Wirtschaftszeitschrift "Forbes" Ende 2010 eine Tabelle mit den "hundert mächtigsten Frauen der Welt" erstellte, setzte das Magazin die 29-Jährige auf Platz 93. Eine derartige Wertschätzung ist beeindruckend. Vor allem wenn man weiß, wie viele Erfolge Danica Patrick in den bislang hundert IndyCar-Rennen errungen hat, bei denen sie an den Start rollte: Einen einzigen. O-TON RADIO- LIVE-RADIO-REPORTAGE Danica Patrick gewinnt in Japan (Erste Passage - "We saw Danica's mom already celebrating as the white flag came out. They know she can make it on the fuel."- unter den Sprecher-Text) SPRECHER: 2008 in Japan. Auf der Rennstrecke von Montegi. Und das gegen ein nicht besonders starkes Feld, was in der Live-Reportage im amerikanischen Radio unterging. O-TON RADIO-LIVE-REPORTAGE vom Japan Sieg Patrick (Fortsetzung) freistehend: "Here comes Danica Patrick, only a few hundred yards away from making history. Danica Patrick will win at Montegi. Danica is the winner of the Indy Japan 300." SPRECHER: Seit diesem Erfolg allerdings fahren die Erwartungen mit. Und Skepsis rast im Windschatten hinterher. Immerhin: Dreimal war sie danach Zweite. Als Dritte kam sie auch schon ins Ziel. Aber weil diese Resultate eher selten sind, Platzierungen weiter hinten im Feld die Regel, wollen vor allem neugierige Medienmenschen gerne wissen: Woran liegt es eigentlich, dass sie seit jenem Tag in Japan kein einziges Rennen mehr gewonnen hat? Die Antwort, die sie in Long Beach in einer Pressekonferenz über die rauschende Mikrofonanlage gibt, klingt eloquent und ausweichend zugleich: O-TON DANICA PATRICK, Rennfahrerin/ Voiceover: "Das ist die Geschichte vieler Rennfahrer. Du hast Chancen auf den Sieg, aber irgendetwas geht schief. Das ist mir bei den Indy 500 passiert und bei unterschiedlichen Rennen auf Ovalstrecken. Selbst wenn die Strategie stimmt und du im richtigen Moment an die Boxen fährst. Es gehört viel Glück dazu. Ich weiß noch, bei einem Rennen in Michigan, da lag ich gut, aber hatte einen Reifenschaden. Es gibt viele Dinge, die verhindern können, dass du nicht gewinnst." SPRECHER: Dass sie nicht gewinnt, das stört zumindest niemanden ihrer Fans, die in die Millionen gehen. Denn für sie zählt etwas anderes. Dass sie kämpft - Woche für Woche. Und nicht nur das. Sie stellt männliche Konkurrenten, die sie bei den häufig vorkommenden Rempeleien von der engen Strecke geschubst haben, hinterher mutig zur Rede. Weshalb jemand wie Candace Turner aus San Diego soviel Respekt empfindet und in Long Beach im Fahrerlager geduldig in einer Schlange steht, um ein Autogramm zu bekommen. O-TON CANDACE TURNER, Fan/Voiceover: "Mich haben Autos schon immer interessiert. Als ich gehört habe, dass eine Frau in der Serie mitfährt, wurde ich neugierig. Was mich fasziniert, ist der Kampf zwischen Frauen und Männern. Das macht es persönlich. Ich könnte an ihrer Stelle sein. Ich bin eine Frau. Sie ist eine Frau. Danica hat die richtige Einstellung. Wenn jemand in sie hinein fährt, geht sie zu ihm hin und fragt ihn: Hey, warum hast du das gemacht?" SPRECHER: Was Candace Turner sagt, denken in den USA viele Frauen. Es ist nichts anderes als das Credo einer neuen Generation, die im Beruf und im Alltag damit aufgewachsen ist, sich in allen Bereichen zu behaupten, vor allem gegen Männer. Eine Generation, die eine Bastion nach der anderen erobert hat- bis hin zum Job des Soldaten und den des Kampfpiloten. O-TON CANDACE TURNER, Fan/Voiceover: "Sie ist ein Vorbild für junge Frauen. Mit ihrem Sieg hat sie gezeigt, dass Frauen in der Welt, vor allem in der Männerwelt des Automobilsport voran kommen." SPRECHER: Rückenstärkung für Danica und die anderen Frauen, die inzwischen in der IndyCar-Serie fahren und einen Platz in einem der mehr als 20 Teams besetzen, kommt aus allen Richtungen. Auch von Menschen, die keine Vorbilder mehr brauchen, weil sie selbst Vorbilder geworden sind. Wie etwa Mario Andretti, der Grandseigneur des amerikanischen Automobilsports. Einst Formel-1-Weltmeister und Gewinner der Indy 500, inzwischen 71 Jahre alt, aber noch immer gerne am Pistenrand dabei. Zumal sein Sohn Michael einen Rennstall betreibt. Andretti Autosports. Für den fährt Danica Patrick. O-TON MARIO ANDRETTI, ehemaliger Autorennfahrer/ Voiceover: "Es ist fast schon Mode geworden, Frauen zu haben. Ihre Geschlechtsgenossinnen können stolz auf sie sein. Die Medien fühlen sich angezogen, weil es ungewöhnlich ist. Das ist gut für den Sport. Die Sponsoren scheinen das zu mögen. Sie sind gerne mit dabei." SPRECHER: Eine Frau wie Danica Patrick ist tatsächlich ein regelrechter Glücksfall für IndyCar im Kampf um Aufmerksamkeit und Werbegelder. Die Kategorie der Open-Wheel-Cars zerfiel in den USA über ein Jahrzehnt lang in zwei Lager. Ergebnis eines Machtkampfs zwischen dem eigensinnigen Besitzer des Speedways von Indianapolis auf der einen Seite und einer Gruppe von finanzstarken Rennstall-Besitzern auf der anderen Seite, der in einem Patt endete. Der Streit um das Reglement und die Konkurrenzsituation zweier nebeneinander laufender Rennserien verwirrte viele Zuschauer, die sich daraufhin lieber anderen Motorsportwettbewerben zuwandten. Vor allem der populären NASCAR-Serie. Die Gegner von einst fanden erst vor drei Jahren wieder zusammen. ATMO: Anfahrende Wagen in der Boxengasse Danica Patricks Bekanntheitsgrad geht so weit, dass sie die einzige mit einem riesigen Spezialtransporter ist, der zu den Rennterminen der IndyCar-Serie mitfährt und an den Strecken T-Shirts, Jacken, Mützen und andere Souvenirs verkauft. Schätzungen besagen, dass sie 12 Millionen Dollar im Jahr verdient. Einen erheblichen Teil durch Werbeverträge mit internationalen Firmen. Dabei wird nicht ganz klar, an wen sich die Frau aus Illinois bei ihren Bemühungen um Selbstvermarktung eigentlich wendet. Die Waffen, die sie am liebsten einsetzt, sind die einer Frau. Bei ihren Auftritten in Männermagazinen lässt sie sich immer wieder leicht bekleidet fotografieren. Ihre Werbespots für ihren Hauptsponsor grenzen ans Schlüpfrige. Dieser hier wurde sogar vom Fernsehen als nicht jugendfrei eingestuft. Darin macht sie eine plumpe Anspielung auf ihre Schamhaare - mit einem Begriff aus dem amerikanischen Slang. Dem Wort "Beaver". O-TON WERBESPOT "BEAVER" (freistehend): Männliche Stimme: "Where's the beaver?" Danica Patrick: "A name and a website from godaddy.com give me all the exposure I need. So I can keep my beaver safe and out of sight." O-TON MUSIKVIDEO "Show Me What You Got" Die ersten fünf Sekunden freistehend: Motorengeräusche Danach O-Ton unter den Sprecherton legen SPRECHER: Ähnlich zweideutig spielte auch der New Yorker Erfolgsrapper Jay- Z mit ihr. Fortsetzung O-TON MUSIKVIDEO "Show Me What You Got" JAY-Z: "What you got?" SPRECHER: "Zeig mir, was du hast - zieh deine Sachen aus. Ich ziehe meine aus", forderte er Danica Patrick in einem Musikvideo auf, das sie in einem Cabriolet der Edelmarke Pagani Zonda in den Hügeln über Monte Carlo und in den Straßen des Fürstentums zeigt. "Show Me What You Got." Mehr als vier Millionen Menschen haben inzwischen das Video bei YouTube gesehen. O-TON MUSIKVIDEO "Show Me What You Got" ( ATMO Fahrerlager SPRECHER: Am Sonntagmorgen kurz nach sieben, lange vor dem Rennen, kommt jene Frau ins Fahrerlager, die der noch jungen Geschichte der weiblichen Automobilrennfahrer in der IndyCar-Serie ein faszinierendes Kapitel hinzufügen könnte. Sozusagen der Gegenentwurf zu Danica Patrick. Eine Frau ohne Pin-up- und Barbie-Puppen-Ambitionen. Eine, die einfach das macht, was die Jungs da draußen zeigen, die ihre Autos am Limit fahren. Sie heißt Simona de Silvestro, ist 22 Jahre alt und kommt aus der Schweiz. Der Frühnebel vom Ozean her bringt sie in ihrem braunen Polohemd ins Frösteln: O-TON SIMONA DE SILVESTRO, Rennfahrerin: "Hmm. Schön kalt." SPRECHER: Man kann mit Simona de Silvestro in vielen Sprachen plaudern. Denn sie lebte zunächst in der deutschsprachigen Schweiz. Dann zog die Familie in die Romandie um. In die Gegend von Genf, wo sie in der Schule und mit ihren Freunden nur noch Französisch sprach. Am Schnellsten redet sie mittlerweile auf Englisch, nachdem sie schon mit 17 in die USA aufbrach, um hier nach ersten vielversprechenden Erfahrungen mit Go- Karts und dann in der Formel Renault in Italien ihr Talent ernsthaft auf die Probe zu stellen. Es ist die Sprache der IndyCar-Welt, in der es gefährlich zugeht. Und manchmal richtig heiß. Im wahrsten Sinne des Wortes. Das erlebte sie 2010 auf dem Texas Speedway in Arlington am eigenen Leib. Da schrammte sie bei Tempo 300 mit Macht an der Mauer entlang. Ihr Auto fing Feuer. Eine dramatische Szene, die die Reporter im amerikanischen Radio atemlos beschrieben. O-TON RADIO-LIVEREPORTAGE (Anfang unter dem letzten Satz des Sprechertextes, dann freistehend:) Erste Stimme: "As we got a problem in turn number 2, Mark James." Zweite Stimme: "Simona de Silvestro. The car broke loose on her at the entrance to turn number two. And she slammed the car pretty hard at the exit of turn number 2. She continues to roll along the wall. There is fire coming from the car." Erste Stimme: "The safety crew is now on hand. And they have to do a quick job getting that car put out." Dritte Stimme: "They need to get that going. That's not good at all." SPRECHER: Die Situation auf der Piste sah lebensbedrohlich aus. Denn die Mitglieder der Rettungsmannschaft hatten nicht mal einen Feuerlöscher zur Hand, sondern mühten sich erst ohne viel Erfolg an der Gurtsicherung ab, um Simona aus dem brennenden Wrack zu ziehen. Dabei vergingen lähmende Sekunden. Sie spielte die Gefahr anschließend im amerikanischen Fernsehen herunter. Angst habe sie zwar gehabt. Aber nur ein wenig: O-TON SIMONA DE SILVESTRO, Rennfahrerin : "It was pretty crazy. The fire wasn't going away, it was just getting worse and worse. It was a little bit scary. The guys did a pretty good job of taking me out. I burnt my hand a little bit. We should be alright." SPRECHER: Das Bulletin? Leichte Verbrennungen an der Hand. Eine Bandage vom Notarzt. Keine große Affäre. Also dachte sie schon wieder an das nächste Rennen. Obwohl: Wochen später gab sie der "Schweizer Illustrierten" gegenüber zu - diesmal in ihrer Muttersprache: O-TON SIMONA DE SILVESTRO, Rennfahrerin (phonetisch auf Schweizerdeutsch): "Ja. Im Fernsehen habe ich's gesehen. Es sieht viel schlimmer im Fernsehen aus als im Auto. Es hat schon viel Zeit gebraucht. Ich hoffe, dass die einfach gelernt haben und dass es, es wenn es noch mal passiert, schneller geht." SPRECHER: So war es tatsächlich - beim Unfall beim Training zu den Indy 500 vor einer Woche, als sie gegen die Wand prallte, sich überschlug und leichte Brandverletzungen erlitt, waren die Helfer in Sekunden an Ort und Stelle. Abgesehen von der Gefahr: Wie beim jüngsten Crash war der Wagen nach dem Brand in Texas nur noch Schrott. Und in dieser Situation erlebte das junge Team Mitte der ersten Saison seine bisher kritischste Phase. Denn es muss mit weniger als der Hälfte des Budgets einer Danica Patrick haushalten. Es war Vater Pierluigi de Silvestro, der vor einem Jahr seinen Beruf in der Automobilbranche aufgegeben hat und im Umfeld des Teams als wichtiges Bindeglied hinter den Kulissen fungiert, der dank günstiger Umstände eine Lösung fand - und zwar in der Schweiz. O-TON PIERLUIGI DE SILVESTRO, Vater: "Als sie ganz klein angefangen hat, haben wir es ja aus Spaß gemacht. Aus Spaß wird dann ernst. Dann sieht man, dass das Kind Talent hat. Und dann wird es auch immer schneller, aber auch immer sehr viel teurer. Das sind immer sehr große finanzielle Sprünge, die da mitzumachen sind. Das geht natürlich nur, wenn man Freunde hat und Familie, die helfen. Das kann man als normaler Mensch, als normaler Vater gar nicht machen. Einer der schlimmsten Momente war im letzten Jahr nach dem Unfall in Texas. Das Team stand schon auf sehr kleinen finanziellem Feuer. Das war ganz schwierig. Da habe ich in der Schweiz sehr viel Unterstützung gekriegt. Insbesondere von einem Herrn. Das ist der Fredy Lienhard vom "Autobau" in Romanshorn. Der hat relativ spontan gesagt: 'Ich helfe euch' und hat der Simona ein neues Auto gekauft. Und so haben wir dann die Saison zu Ende fahren können." MUSIK: "Podcast Flash" (Komposition und Produktion: Jürgen Kalwa, bisher unveröffentlicht) SPRECHER: Dabei sind IndyCar-Autos im Unterschied zu Formel-1-Wagen noch vergleichsweise preiswert. Das liegt am Reglement, das so gestaltet wurde, dass die Kosten für die Teams nicht ins Uferlose gehen und die Fahrer der entscheidende Faktor für den Ausgang eines Rennens bleiben. Nicht technisches Know-how oder die Intelligenz von Ingenieuren. Die Karosserien werden alle von einem einzigen Hersteller produziert - der amerikanischen Firma Dallara. Die 3,5 Liter V-8-Triebwerke kommen alle aus derselben Werkstatt - vom Motorentuner Ilmor, der ausschließlich Aggregate des japanischen Automobilkonzerns Honda benutzt. Was Simona nach dem Feuer- Unfall brauchte, um weiter mitmachen zu können, kostete rund eine halbe Million Dollar. Aber solche Beträge sind kein Pappenstiel und können im Handumdrehen den Karriereverlauf von jungen Talenten beenden - egal ob weiblich oder männlich. Die besonders verwegenen Mädchen beißen sich trotzdem irgendwie durch. So wie Ana Beatriz Caselato Gomes de Figueiredo aus Sao Paulo. Sie ist 26 Jahre alt und neben der Amerikanerin Danica Patrick und der Schweizerin Simona de Silvestro die dritte im Bund der Fahrerinnen der IndyCar-Serie, in der vor einem Jahr zeitweilig sogar fünf Frauen unterwegs waren. Für den amerikanischen Rennbetrieb hat sie den langen Namen im Stil brasilianischer Fußballspieler einfach modifiziert. In den USA fährt sie nur noch unter Ana Beatriz. Wir treffen uns in ihrem Transportlastwagen im Fahrerlager von Long Beach und sie erzählt, wie es ihr ergangen ist: O-TON ANA BEATRIZ, Rennfahrerin: "Brasilien ist ein Macho-Land. Mit vielen Vorurteilen gegen Frauen in einem Männersport. Dass ich sie schlagen konnte, das wollten sie nicht akzeptieren. Manchmal haben sie mich von der Strecke gerempelt. Am Anfang habe ich immer geweint. Aber ich größer und stärker geworden und sehr viel aggressiver. Vielleicht war ich manchmal sogar zu aggressiv. Aber ich musste das sein, um Respekt zu bekommen. Die Jungen waren oft nicht so schlimm. Aber das Umfeld - die Mechaniker, die Eltern. Die haben sie provoziert: 'Hey, was ist das denn? Du hast dich von einem Mädchen abhängen lassen?'" SPRECHER: Solche Spannungen hat Simona de Silvestro in Europa nicht erlebt. In keiner Altersstufe. O-TON SIMONA DE SILVESTRO, Rennfahrerin: "Ich denke, dass ich immer den Respekt hatte. Weil in jeder Kategorie, wo ich gefahren bin, konnte ich gute Resultate zusammenfahren. Also hatte ich nie wirklich das Problem." SPRECHER: Während Danica Patrick gerne weiblich kokett auftritt und Ana Beatriz mit ihren tiefrot lackierten Fingernägeln zumindest signalisiert - "Ich bin eine Frau" -, fällt bei Simona de Silvestro als erstes das unbekümmerte, offene und unbeschwerte Kumpelhafte auf. Vater Pierluigi hat sie im Laufe ihrer Entwicklung wie kaum einer anderer beobachtet. Mit Sympathie und analytischem Blick. Mit elf ließ er sie auf dem Hockenheimring ans Steuer seines Porsche 911 - mit einem Kissen unter dem Gesäß. Sie fuhr 200, ehe er ihr sagte, sie möge bitte etwas langsamer fahren. Er beschreibt sie als jemanden, den die Geschlechterrolle und das von außen aufgepropfte Thema nie interessiert haben. O-TON PIERLUIGI DE SILVESTRO, Vater: "Sie hat immer gesagt: Zufällig bin ich eine Frau. Und ich will Rennen gewinnen. Das ist das einzige, was ich will. Und wenn es nicht so ist, dann ist die unzufrieden. Sie ist ein richtiger Rennfahrer. Wenn sie das Fahrzeug hat, um in der Front mitzufahren, dann ist sie dabei. Sie hat immer das Messer zwischen den Zähnen." SPRECHER: "Ein Messer zwischen den Zähnen" - das ist ein drastisches Sprachbild aus der Welt der Piraten, die Schiffe entern, aber im Sport ziemlich gebräuchlich. Auch der junge Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel wurde bereits so charakterisiert. Über die Formulierung allerdings hat Simona de Silvestro noch nie nachgedacht. Und so lacht sie, als sie davon hört: O-TON SIMONA DE SILVESTRO, Rennfahrerin: "Vielleicht. Also, ich denke jeder Pilot, wenn wir den Helm anhaben, ist alles, was zählt, eigentlich gewinnen. Das ist auch, was der Rennsport ist. Du willst der Beste sein. So musst du das ganze Rennen pushen, um nach vorne zu kommen." SPRECHER: Sie sagt "pushen". Und das hat seinen Grund. Die schlanken Geschosse der IndyCar-Serie haben keine Servolenkung und verlangen besonders auf den abwechslungsreicheren Strecken in den Straßen von Städten wie Long Beach oder Sao Paulo, wo die unebene Piste über die kaum gedämpfte Radaufhängung bis in die Lenkung durchschlägt, sehr viel körperliche Kraft. Und Ausdauer. Die Rennen dauern mehr als zwei Stunden. So muss eine Frau am Steuer mit Hanteln und Fitnessmaschinen trainieren, um im entscheidenden Moment nicht schlapp zu machen. Um den Wagen aufzufangen, wenn er aus der Bahn bricht. Und um das Extra-Gewicht zu bändigen, das man spürt, wenn während des Rennens neue Reifen aufgezogen werden. O-TON SIMONA DE SILVESTRO, Rennfahrerin: "Während der Off-Season trainiert man am meisten. Wir sind so fünf Stunden im Trainingssaal und machen Cardio und auch Muskeltraining. Ich habe sehr viel daran gearbeitet in dieser Off-Season. Die zwei ersten Rennen war ich gut unterwegs während der Rennen. Ich denke, dass sich das auszahlt." SPRECHER: Wenn sie "wir" sagt, dann deutet sie damit an, dass es da noch eine weitere Person in ihrem Umfeld gibt. Ihren Trainer - Driver Coach Bob Perona, ein ehemaliger IndyCar-Fahrer, der es in seiner aktiven Zeit nie bis in die vorderen Reihen geschafft hatte. Er ist ein Mensch, der mit Frauen am Steuer ganz offensichtlich gut zurecht kommt. Und das sicher nicht nur, weil er Sportpsychologie studiert hat. O-TON BOB PERONA, Coach: "Ich bin ständig mit Simona zusammen. Wir arbeiten im Auto und außerhalb an ihrem Können. Damit sie den Mechanikern gute Informationen gibt, damit sie taktisch gut fährt, damit sie körperlich fit ist. Man muss eine Menge lernen. Wir versuchen diese Lektionen zu komprimieren. Das ist auch der Grund, weshalb sie in so kurzer Zeit schon soviel Erfolg gehabt hat." SPRECHER: Bob Perona gehört zu den wenigen Leuten, die wirklich beurteilen können, ob etwas dran ist an der Vermutung, dass Frauen auf diesem Niveau anders Auto fahren als Männer. Ob sie in der riskanten Auseinandersetzung Rad an Rad wirklich alles mobilisieren, was man braucht, um zu gewinnen. O-TON BOB PERONA, Coach: "Ich habe schon eine Reihe von Mädchen trainiert. Ich würde nicht sagen, sie tun sich leichter oder schwerer. Sie sind anders. Ob Sie's glauben oder nicht. Manche Dinge können sie besser. Sie denken logischer. Eine Lektion, die junge Männer immer wieder und viel zu oft lernen müssen, ist, ihr eigenes Auto vor Schäden zu bewahren, kluge Entscheidungen zu treffen und es nicht zu übertreiben." SPRECHER: Wenn man genau hinschaut, sieht man: Danica Patrick ist eher ein vorsichtiger Typ. Und so war Simona de Silvestro durchaus in der Lage, in den ersten beiden Rennen der laufenden Saison diesen internen Kampf der Frauen gegeneinander zu gewinnen. Sie erzielte mit dem vierten Platz beim Auftakt in St. Petersburg in Florida ihr bisher bestes Ergebnis. In der Saisonwertung lag sie vor den Indy 500 auf dem 11. Platz, vier Positionen vor der berühmten Amerikanerin und 15 vor der Brasilianerin Ana Beatriz. MUSIK: "Simona Modern Drums" (Komposition und Produktion: Jürgen Kalwa, bisher unveröffentlicht) SPRECHER: Wie so oft im Sport profitiert die heutige Generation von anderen, die vor ihnen die Zitadellen gestürmt haben. Weshalb es an dieser Stelle durchaus angebracht ist, einmal zurückblenden und an einen Moment zu erinnern, den John Oreovicz, damals als Zehnjähriger auf den Rängen miterlebt hat. Heute arbeitet er als Motorsport-Kolumnist für die Webseite des Fernsehsenders ESPN. O-TON JOHN OREOVICZ, Motorsportjournalist: "Ich war am letzten Tag der Qualifikation zum ersten Mal im Speedway in Indianapolis. Dieser Tag im Jahr 1977 ist berühmt, weil sich damals Janet Guthrie als erste Frau für die Indy 500 qualifizierte. Eine bemerkenswerte Leistung." SPRECHER: In der Tat. Vor allem, wenn man bedenkt, dass bis 1972 Frauen im amerikanischen Motorsport nicht mal den Garagenbereich betreten durften. Und dass es in der Nähe des Fahrerlagers keine Damentoilette gab. Janet Guthrie war gezwungen, sich jedes Mal in den Zuschauerbereich zu begeben. Ihre ungewöhnliche Karriere bestand aus vielen Stationen. Sie hatte Physik studiert, wurde Luftfahrtingenieur, Pilot und Fluglehrer und nahm in den sechziger Jahren an der ersten Phase der Astronautenausbildung teil. In ihrer AutoBiografie "A Life at Full Throttle" - "Ein Leben mit Vollgas", beschrieb sie den Augenblick, den John Oreovicz von der Tribüne aus erlebte: Sprecherin: "Ich schaute nicht länger auf die Öldruckanzeige. Die dritte Kurve lag vor mir. Halt die Hände ruhig. Ich kam sauber auf die Gerade und Pete hielt die Anzeige mit der Rundengeschwindigkeit hoch: 303 Stundenkilomoter. Noch eine Runde. Mach bloss keine Fehler. In jeder Kurve zeigte der Drehzahlmesser einen etwas höheren Wert an als in der Runde davor." SPRECHER: Sie machte sich Sorgen über den Öldruck, weil der Motor auseinanderzufliegen drohte und ihre gute Zeit zunichte gewesen wäre. Sprecherin: "Ich weiß nicht, ob der Kloß im Hals nicht vielleicht mein Herz war, aber ich bin absolut sicher, dass ich keine Luft geholt habe, bis ich über die Ziegelsteine, die die Ziellinie markieren, gefahren war und die Zielflagge weit oben über mir gewunken wurde. Da nahm ich den Rest der Welt wieder wahr, sah das Gras, die Bäume, die Tribünen, den Himmel und das ganze Universum. Ich war durch. Wir hatten es geschafft." SPRECHER: Von da ab musste die klassische Aufforderung vor dem Start zum Rennen - "Gentlemen, start your engines" - angepasst werden. Janet Guthrie sicherte sich auch ein Jahr danach einen Platz im Feld von Indianapolis und schnitt sehr respektabel ab. Sie wurde Neunte. Als zweite Rennfahrerin in der Geschichte der Indy 500 fuhr Lynn St. James in den neunziger Jahren regelmäßig mit. Ihre beste Platzierung: ein elfter Rang. Motorsportkenner John Oreovicz macht allerdings gerne auf eine Besonderheit aufmerksam: O-TON JOHN OREOVICZ, Motorsportjournalist: "Janet Guthrie und Lynn St. James waren schon relativ alt, als in die IndyCar-Serie kamen. Janet Guthrie war Mitte 40. Lynn St. James 40. Janet Guthrie hat mir gesagt: Was sie am meisten an den Fahrerinnen von heute bewundert, ist, dass sie so jung sind. Danica Patrick war 23 als sie 2005 IndyCar-Fahrerin wurde. Für ihre Vorgängerinnen war es der krönende Abschluss ihrer Laufbahn, sich für die Indy 500 zu qualifizieren. Danica Patrick, Simona de Silvestro und Ana Beatriz sind auf dem Weg nach oben. Sie haben ihr Potenzial noch gar nicht ausgeschöpft. Das ist der größte Unterschied zwischen ihnen und den Pionieren." SPRECHER: Das mit dem nicht ausgeschöpften Potenzial bei den Fahrerinnen ist übrigens nicht die einzige Feststellung, die man im Frühjahr 2011 von einem Ausflug in die amerikanische Rennserie mitnimmt, wo Frauen zu Vorzeigefiguren einer ganzen Automobilsportserie geworden sind. Gleich neben dem Transportlaster von Simona de Silvestro steht an diesem Wochenende in Long Beach der LKW des Panther-Teams. Dort arbeitet Anna Chatten. Auch ein Pionier - die einzige weibliche Mechanikerin im US-Motorsport. Sie fuhr Go-Kart- Rennen und wechselte mit 18 Jahren in ein anderes Fach: Sie machte in Kalifornien eine spezielle Ausbildung mit Schwerpunkt Motorsport und erlebt seit zehn Jahren das Klima in den Boxen, wo es eine qualifizierte Frau noch immer schwer hat, den Respekt zu bekommen, der ihr aufgrund ihrer fachlichen Qualitäten gebührt. O-TON ANNA CHATTEN, Mechanikerin: "Ich würde ja gerne sagen, dass man mich respektiert. Aber das kann ich nicht. Es ist immer wieder dieselbe Geschichte. Das geht nicht weg. Deshalb sind wir vermutlich so wenige. Niemand möchte dauernd mit so etwas zu tun haben. Ich habe noch nicht aufgegeben. Ehrlich gesagt, wäre ich nie so weit gekommen, wenn ich zu sensibel wäre. Sie können jeden der Jungs fragen. Ich kann einstecken, und ich kann austeilen. Das muss man auch." MUSIK: "The Race" (Yello) Info für die GEMA Musikstücke von Jürgen Kalwa (bislang unveröffentlicht, komponiert und produziert 2011) 1. "Podcast Flash" 2. "Simona Modern Drums" "Show Me What You Got" Performer: Jay-Z Roc-A-Fella Records Autoren: S. Carter, J. Smith, J. Boxley, C. Ridenhour, E. Sadler, M. McEwan, J. Pate (Album: "Kingdom Come") Erscheinungsjahr 2006 Kein Label Code vorhanden "The Race" Performer: Yello Label: Fontana Catalog#: 870 330-2 Released: 11 Apr 1988 Composed By- Boris Blank Lyrics By - Dieter Meier ?1988 Phonogram GmbH, Hamburg ?1988 by Warner Bros. Music GmbH, subpublished by BavariaSonor Musikverlag GmbH Labelcode: LC 0211 1