COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Bevor ich stürze, bin ich weiter Ein Besuch bei Sarah Kirsch VonAndrea Marggraf Mitwirkende: Sprecherin 1: Autorin Sprecherin 2: Zitatorin Musik: Violine/Improvisation Atmo: Wind/Meer Sprecherin 2: Ich sah einen Vogel seinen Schatten anschaun, der war größer als er. Ich sah den Vogel am Himmel ohne seinen Schatten. Und meinen Schatten sah ich, ein Ungeheuer von Schatten. Atmo: Meer / Violine setzt leise ein O-Ton Sarah Kirsch: Mimi (ruft ihre Katze) Atmo: Meer/ Violine Sprecherin 2: Einen Ball sah ich springen samt seinem Schatten. O-Ton Sarah Kirsch: Mimi. (ruft ihre Katze) Das senden wir alles mit. Sprecherin 1: Sarah Kirsch in ihrem Haus am Deich. O-TON Sarah Kirsch: Wie viele Jahre wohnen wir hier? Sohn Moritz: 22 Jahre. Und ich schreibe über denselben Scheiß eigentlich, und jedes Mal wird es ein bisschen anders. Sprecherin 1: Seit 1983 lebt Sarah Kirsch in Tielenhemme, einem kleinen abgeschiedenen Ort hoch im Norden Schleswig Holsteins. Es ist nicht so leicht, sie zu finden. Durch die flache nordische Landschaft führt ein breiter Sandweg zum Deich. Hier geht es nicht mehr weiter. Nur links steht noch ein Haus, dessen rote Backsteinfassade hinter wilden Rosensträuchern und anderen rankenden Pflanzen allmählich verschwindet. Sprecherin 2. Glücklicher ohne den Ball saß das Kind als Vogel verborgen in den Baumkronen drin, um hinter geschlossenen Lidern Feuerrädchen kreisen zu lassen, ... Sprecherin 1: Aus diesem Haus kommt sie mir entgegen. Sarah Kirsch, wie ich sie von zahlreichen Fotos kenne. Sie hat sich Zeit für mich genommen, und ich weiß, dass sie die lieber für sich und ihr Schreiben nutzen würde. Wir stehen drei Meter vom Deich entfernt. Um uns herum nur noch der Wind. Sarah Kirsch lebt am Weltrand, wie sie ihren Wohnort in dem 2005 erschienenen Prosaband Kommt der Schnee im Sturm geflogen beschreibt. O-Ton Sarah Kirsch: Ja an den Ecken und Enden ist der Teppich ganz dünn und abgelatscht. Aber man erkennt das Muster viel besser. Und so ist das auch. Man darf dann natürlich nicht super eitel sein und muss nicht vermissen, dass man dauernd irgendwo genannt ist. Man muss mit der Ruhe und der Stille etwas anfangen können. Das kann ich schon, und deshalb geht es mir hier außerordentlich gut. ... Atmo: Wind Mit Schritten Sprecherin 1: Eine kleine Treppe führt uns auf den Deich. Sarah Kirsch zeigt mir die Wiese, auf der sie bis vor wenigen Jahren noch ihre Schafe und den Esel weiden ließ. Unvorstellbar, dass diese Frau den Schafen hier das Fell über die Ohren geschoren hat. Was trieb Sarah Kirsch an den Weltrand? In diese Stille, mit genügend Abstand zu den Menschen. O-TON Sarah Kirsch: Es gab bei meinen Eltern ein Doppelpack im Bücherschrank, und das eine war "Menschen aus Moor und Heide", und eins war "Bergwelt". Zwischen diesen beiden habe ich mich als Kind lange bewegt. Das waren große Sammlungen, und eigentlich hat mich der Engadin und so etwas doch sehr beeindruckt. Und als es letztendlich darauf ankam, da habe ich gedacht, ich gehe lieber nach Moor und Heide. Und das war richtig so. Atmo Wind Sprecherin 2: Mir träumte, ich sei auf meinem Esel ins Moor geritten, die Füße schwebten dicht über den Wasserlöchern, doch blieben sie trocken. Aus seinen Hufabdrücken, die sich mit schwarzem Wasser füllten, wuchs gleich der Blutwurz. Ein schöner Anblick, wenn ich nach rückwärts mich wandte. Vor uns unbestimmbare Dämmerung?...? Atmo: Wind, Violine O-TON Sarah Kirsch: Das ist hier so platt auf Meeresspiegelhöhe angeordnet, dass das Licht einen hier vollkommen überwältigen kann. Die ganze Regenbogenskala kann einem morgens und abends und fortwährend und immer wieder begegnen. Und jede kleinste Luftspiegelung. Alle Äste haben eine sehr schöne schwarze Bestimmung. Also das macht mich völlig verrückt. Man kann nicht deprimiert hier werden und überhaupt nicht melancholisch. Es ist so viel Wind. Und es verändert sich alles fortwährend, dass man eigentlich ganz froh ist, als ein Stück Natur hier angestammt zu sein. Sprecherin 1: Sarah Kirsch schreibt sich, wie sie selbst sagt, in die Landschaften hinein. Sie betritt grün funkelnde Moorlandschaften, ohne zu versinken. Lässt sich vom Rückenwind treiben, ohne abzuheben. Bereits ihren ersten Lyrikband, der 1967 in der DDR erschienen ist, nennt sie Landaufenthalt. Darin prophezeit sie: Sprecherin 2: Eines Tages werde ich gewissenlos glücklich sein. Sprecherin 1: Als Sarah Kirsch 1983 an den Weltrand zieht, ist sie bereits eine anerkannte Lyrikerin. Der Weg dahin führte über Umwege, denn zunächst studierte Sarah Kirsch in der DDR Forstwirtschaft und später Biologie. O-TON Sarah Kirsch: Ja das war eigentlich ein Irrtum mit der Forstwirtschaft. Weil ich nämlich sehr viel Stifter gelesen hatte. Und dachte, das was da mit dem Hochwald passiert, das muss ich erst einmal in einer Art Studium der Forstwissenschaft vielleicht machen. Und als das aber fehl schlug, weil es nur um Festmeter Holz ging und ich dachte, jetzt muss es eigentlich Biologie sein . Eigentlich war immer das Schreiben gemeint, aber darauf muss man erst einmal kommen. Sprecherin 1: Für ihre ersten Veröffentlichungen benutzt die Dichterin das Pseudonym Sarah. Ihr Mädchenname ist Ingrid Bernstein. Zwar wird sie von ihren Freunden schon lange Sarah genannt, doch der eigentliche Grund für die Namensänderung ist ein Protest gegen den Vater. O-Ton Sarah: Ja, der hat während des Krieges immer Kommentare von Herrn Fritsche gehört, und dann durfte ich da nicht dazwischen reden, und nach dem Krieg war es dann Karl Eduard von Schnitzler und da dürfte ich auch nicht dazwischen reden, und da hatte ich so eine kleine Wut. Und da die Bernstein Familie das nicht gerne hatte , dass ich mich Sarah nannte, fand ich das gerade richtig genug. Sprecherin 1: Von 1963 bis 1965 studiert Sarah Kirsch am Leipziger Literaturinstitut. In dieser Zeit gibt sie zusammen mit ihrem damaligen Mann Rainer Kirsch den Lyrikband Gespräch mit dem Saurier heraus. Dafür erhalten beide 1965 den Erich? Weinert Preis, einen DDR-Kunstpreis der Jugendorganisation FDJ, den auch Heiner Müller und Volker Braun 1964 bekamen. O-TON Sarah Kirsch Oh ja, den mussten wir später zurückzahlen. Das heißt, Rainer Kirsch musste ihn zurückgeben, weil er sich nicht der FDJ entsprechend benommen hatte. Ich hab dann noch den Heinrich Heine Preis bekommen. Den musste ich nicht zurückgeben. Aber das war ein sehr niederer. Hätte ich jedoch einen Nationalpreis bekommen, hätte ich mich umbringen müssen, denn wer den Nationalpreis hatte, der war eigentlich gleich geschaltet. Sprecherin 1: Seit 1965 ist Sarah Kirsch freischaffende Autorin. Sie wird Vorstandsmitglied im Schriftstellerverband der DDR und lässt sich in die sozialistische Einheitspartei aufnehmen. O-TON Sarah Kirsch: Ja man lebte ja da. Man war da ja rein geboren. Man wusste, hier kann ich so schnell nicht raus. Hier muss ich leben. Das war natürlich auch deprimierend. Man konnte nur sehen, dass man alles durchschaute und auch einige Mechanismen bedienen konnte, dann ging es einem auch immer etwas besser. Außerdem sagten wir uns, die Geschichte geht in Zick-Zack-Bewegungen, und bei Zack muss man den Kopf wegnehmen. So haben wir das gesehen, und manchmal war Zick, manchmal war Zack. Und wir haben alle einen großen Zusammenhalt gehabt und haben uns gegenseitig gestützt. Und so ging das manchmal weiter. Sprecherin 1: In den sechziger Jahren arbeitet Sarah Kirsch neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit als Übersetzerin und Journalistin. Sie übersetzt unter anderem Texte aus dem Russischen. Ein Ergebnis ihrer journalistischen Arbeit ist 1973 die Veröffentlichung des Buches Die Pantherfrau. Hier fasst sie Interviews mit fünf Frauen zusammen. An erster Stelle steht die Geschichte einer Frau, die Panther in der Manege bändigt. O-TON Sarah Kirsch: Der ganze Band hieß ja auch Die Pantherfrau. Das war ja eigentlich auch ein Programm, das ich auftun wollte. Frauen können alles, wenn sie wollen, wenn es ihnen Spaß macht. Ein kleiner Druckfehler in der DDR war dann Die Panzerfrau. So wurde es angekündigt. Sprecherin 1: 1969, nach ihrer Scheidung von Rainer Kirsch, wird ihr Sohn Moritz geboren. Vater ist der Lyriker Karl Mickel. Noch vor der Geburt verlässt er sie. Auch eine spätere Beziehung zu dem Westberliner Lyriker Christoph Meckel wird nicht von Dauer sein. Sarah Kirsch spiegelt diese Erfahrungen Ende der 70er-Jahre in ihrem Gedichtband Rückenwind. Vor der Liebe treibt das Begehren. Das verpackt sie in Zaubersprüche, wie sie einen ihrer Gedichtbände nennt. Hier stehen erotische Zauberspiele neben politischen Anspielungen. Atmo: Wind /Meer Violine Sprecherin 2: Ich Meine Haarspitzen schwimmen im Rotwein, mein Herz Sprang ? ein Ei im kochenden Wasser ? urplötzlich Auf und es fiel, sprang wieder, ich dachte Wo du nun wärest, da flogen die Schwäne dieses Und auch des anderen Spreearms schnell übern Himmel. Das Morgenrot, das dezemberliche, Bote Vielleicht frühen Schnees, hüllte sie ein und die Hälse Verlockung, sich zu verknoten, sie stießen Fast mit der Kirche zusammen. Ich stand Auf eigenen Füßen, Proleten unter den Gliedern, ich hätte Mir gern einen Bären aufgebunden Ein Pulverfass aufm Feuer gehabt. O-TON Sarah Kirsch: Das war mein erster eigener Gedichtband, da habe ich auf einmal zu stehen ICH. Und das ist eigentlich schon sehr frevelhaft gewesen zu DDR-Zeiten gewesen. Da sollte man eigentlich über das WIR schreiben. Und auf einmal kommt es mir in den Kopf und ich schreibe ICH. Und dann fange ich noch an, meine Haare schwimmen in Rotwein und so etwas. Dass das da damals so durchgerutscht ist, da hatte ich schon Glück. Sprecherin 1: Dieses ICH will sich nicht nur in der Liebe finden oder sich vom staatlich verordneten Wir abgrenzen. Es sucht sich im Schreiben. So formuliert sie: Sprecherin 2: Der Droste würde ich gerne Wasser reichen. O-TON Sarah Kirsch: Worüber mein Sohn sich immer noch tot lacht. Bist Du die ältere Schwester oder bist du die jüngere Schwester? Aber die Droste ist für mich wirklich eine bewunderungswürdige Persönlichkeit immer gewesen. Sie ist als adliges Fräulein und als Frühgeburt etwas schlecht entwickelt aufgewachsen und war dafür ausersehen, für die älteren Verwandten die Pflegekraft zu machen. Sie hat aber durch ihren Vater, den sie begleiten dürfte, ein sehr grundlegendes Wissen. Ein Wissen über Biologie, Chemie usw. erfahren. Und mit diesem Blick, der ganz wissenschaftlich immer ist, hat sie die Sachen betrachtet und das hat mir immer sehr imponiert. Dazu kommt etwas, dass sie eine große Lügnerin gewesen ist. Sie hat alles dermaßen übertrieben. Und, ja da würde ich schon gerne sagen, mit der Annette da wäre ich schon gerne mal irgendwo lang gegangen. Sprecherin 1: In ihrem 1987 erschienen Buch Die ungeheuren Bergehohen Wellen auf See mit dem Untertitel Erzählungen aus der Hälfte meines Lebens, schreibt Sarah Kirsch: Sprecherin 2: Man muss im guten Sinne undefinierbar sein. Sprecherin 1: Das gelingt ihr in all ihren Texten. Kaum dass man glaubt, das Geschilderte im Realen entdeckt zu haben, befindet man sich bereits wieder inmitten lyrischer Überhöhung. In ihrer Chronik Allerlei-Rauh betont sie: Sprecherin 2: Alles ist frei Erfunden und jeder Name wurde verwechselt Sprecherin 1: So sind Namen wie Christa Wolf in dem Text Allerlei-Rauh kein Garant für die Wiedergabe wahrer Begebenheiten. Sprecherin 2: Solches Erleben hat angebahnt, dass ich bis heute Gedichte als Halbzeug erachte. Gleichgültig, ob es sich um fremde oder eigene handelt. Höchstens zu neunzig Prozent ist eines fertig. Den Rest, das Leben haucht der Leser ihm ein. Sprecherin 1: Sarah Kirsch erhält für ihr Schreiben bereits früh Anerkennung. Insgesamt werden ihr zwölf Preise verliehen, darunter der renommierte Georg-Büchner-Preis und der Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis. 1998 gründen der Förderverein der Deutschen Denkmalsstiftung Bonn und der Denkmalsverein Thüringen die "Dichterstätte Sarah Kirsch e.V.". Sie rekonstruierten das Haus im Südharz, in dem Sarah Kirsch 1935 geboren wurde und wo jetzt Lesungen stattfinden. Die Dichterin hat bereits selbst einige Male dort gelesen. Sprecherin 2. Weshalb ich schreibe, weshalb ich lebe fällt ja zusammen. Weil ich herausfinden will, was ich hier soll. Auf diesem seltsamen Planeten. Sprecherin 1: Es gab aber auch Zeiten, in denen Sarah Kirsch Preise nicht annahm. 1976 unterschreibt sie die Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns und wird anschließend aus der Staatspartei und dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. 1977 siedelt sie nach Westberlin über und lehnt den hoch dotierten Thomas?Dehler- Preis im Westteil der Stadt ab. Sie wolle sich nicht politisch vereinnahmen lassen, so ihre damalige Begründung. Drei Jahre später verfasst sie zusammen mit Günter Grass, Thomas Brasch und Peter Schneider einen offenen Brief an Bundeskanzler Helmut Schmidt, in dem sie zu einem kritischen Umgang mit der Außenpolitik der USA aufruft. Seitdem sie an die Küste gezogen ist, hält sie sich mit öffentlichen politischen Bekenntnissen zurück. Ton: Violine Sprecherin 2: Unstern Rund hängt der Mond über dem öden Haus. So einfach kann man Sein Leben auch nicht Verlieren da heißt es erst Lächeln lernen lächeln. Sprecherin 1: Sarah Kirsch treibt in ihren Prosatexten und Gedichten das lyrische Ich zwischen die Welten des Realen und des Irrealen. Sie nutzt Mythen wie das Igorlied, ein russisches mittelalterliches Epos, das sie für ein Kinderbuch ins Deutsche übersetzt hat, für die Spiegelung gelebten Lebens. In ihrem Buch Die Tatarenhochzeit setzt sie einzelne Auszüge aus diesem Epos neben ihre eigenen Texte. Oder sie verknüpft, wie in Allerlei-Rauh, ihrem Prosastück, das sie eine Chronik nennt, das eigene Leben mit dem Schicksal des zum Inzest gezwungenen Mädchens aus dem gleichnamigen Märchen der Gebrüder Grimm. Sprecherin 2: Erinnere oh erinnere Dich was du Vergessen wolltest. Sprecherin 1: Sarah Kirsch gehört zu einer Generation, die sich noch von Bertolt Brecht inspirieren ließ. Bei Brecht habe sie gelernt, dass man über alles schreiben könne. Auch Johannes Bobrowski und Arno Holz waren neben der Droste?Hülshoff wichtige Inspirationsquellen. O-TON Sarah Kirsch: Man hat immer mit denen, die vor einem gelebt haben, zu tun, aber das sind gar nicht mal nur Dichter oder große Wesen und Menschen. Sondern, ich habe es auch mit den ganz normalen tapsenden Schritten zu tun, die ich hier hören kann, wenn ich hier auf der Straße gehe und dann mache ich eine Kurve und dann klappert etwas hinter mir her. Ach, da denke ich, das könnten jetzt auch irgendwelche Kinder aus der Schule sein, in der ich jetzt wohne. So vermischt sich das alles. Atmo Wind / Musik Violine Sprecherin 1: Inzwischen sind wir ins Haus gegangen. Ein Interview auf dem Deich lehnt Sarah Kirsch ab. Mit zu vielen Journalisten musste sie diesen Gang bereits absolvieren. Wir setzen uns an einen großen Tisch mit Blick auf den Deich. Ihr inzwischen erwachsener Sohn Moritz ist während des Gespräches als stiller Beobachter dabei. In diesem ehemaligen Schulhaus hat sich Sarah Kirsch bis unters Dach Schreibnischen eingerichtet. Sprecherin 2: Seit ich am Weltrand wohne, besitze ich einen herrlichen Schatten. Solch einen habe ich vorher niemals besessen. Sprecherin 1: Sarah Kirschs Schreiben ist stark autobiographisch geprägt. Eigene Erfahrungen fließen teilweise tagebuchartig in die Texte ein. Dabei überrascht sie mit Wendungen, in denen sie vom Realen ins Poetische stürzt und aus dem Poetischen das Reale filtert. O-Ton Sarah Kirsch: 1945 war ich zehn Jahre alt und hab wirklich Bombenangriffe, das Kriegsgeschehen, wie die Leute eingezogen wurden, wie die Freunde meiner Mutter von sonst welchen merkwürdigen Gegenden erzählten, wo die Männer einfach gefallen waren. Das habe ich alles erlebt. Dann habe ich die DDR erlebt und dann das zusammen geschmissene Deutschland. Also das ist geschichtlich gesehen eine ganze Menge. Mehr kann man als Schriftsteller nicht erwarten, was einem etwas geboten wird. Das war das Beste was ich mir hätte denken können, dass ich Zaungast bei all den Deutschlands war. Sprecherin 2: Unser Geist gleitet so leicht aus der Bahn, und es konnte ihr durch einen geringfügigen Anlass geschehen, der jemand anderem nur ein Achselzucken abverlangt hätte, dass die eingesperrte im schönen Gefängnis verpuppte Psyche den Körper zittern und krachen machte, wogegen die Menschin sich dauernd zusammennehmen musste, wie es auch meistens gelang. ?...? Wer wenn nicht sie, die alles so direkt und außerordentlich physisch erlebte, sollte denn überhaupt etwas schreiben, dachte ich damals und lernte viel später, dass ein Phänomen unabhängig vom anderen existiert ... Sprecherin 1: Diese Worte, gerichtet an ihre Freundin Carola in dem Prosastück Allerlei-Rauh, sind Teile eines Selbstgespräches. So erzählt Sarah Kirsch auch immer wieder über das Leben mit ihrem Sohn Moritz. Er taucht unter den verschiedensten Namen auf. In der Tatarenhochzeit tauft sie ihn Max. Die Namen ihrer Männerfiguren buchstabiert sie nach dem Alphabet. Inzwischen ist sie bei Ypsilon gelandet. Mit der Ironie des Schicksals spielt sie in ihren Texten. Sprecherin 2: Ich stand auf dem Fenstersims, hing an drei Fingern zwischen Himmel und Erde und gewann die vollkommene Freiheit in mir selbst. Musik Violine Sprecherin 1: In den siebziger Jahren schreibt Sarah Kirsch das Gedicht Katzenkopfpflaster. Ein Lebensmotto. O-TON Sarah Kirsch: Man sieht es nicht, es liegt unterm Schnee. Der Schnee ist frisch und glänzt in der Sonne. Steinbuckel stoßen gegen die Sohlen. Der Fuß hat Halt, wenn er gleichzeitig auf zwei Steine trifft. Wäre ich auf der Straße mit dem Katzenkopfpflaster, ich begänne zu traben. Mein Haar schlägt die Flügel. Ich trage Schellen Hinter den Ohren. Bevor ich stürze, bin ich weiter. Violine O-TON Sarah Kirsch Das ist das Katzenkopfpflaster. Um nicht auszurutschen, braucht man von diesem berühmten Katzenkopfpflaster gleich zwei Steine unter dem Fuß. Das habe ich schon ziemlich früh geschrieben, aber eine Art Motto ist es schon. Muss man eben ein bisschen schneller gehen, und dann fliegt man nicht auf die Schnauze. Und dann noch Glocken hinter den Ohren. Das ist auch wichtig. Damit es auch Spaß macht, damit man auch lachen kann. Violine O-TON Sarah Kirsch: Eigentlich dauern Gedichte jahrelang, auch wenn sie ganz kurz sind und man sie eines Tages ganz schnell hingeschrieben hat. Das muss man alles schon gelebt haben, das muss man alles schon von seinen Vorfahren gehört haben. Und damit meine ich keine eigenen Vorfahren. Damit meine ich irgendwelche Bücher, die man gerne liest. Also, das ist eigentlich nur ein Vorhandensein in der Welt. Und wenn man die Welt gern hat, wenn man sie ganz furchtbar findet, alles zusammen, dann kann man eines Tages drei Sätze über diese komische Welt machen. Und darauf muss man nicht besonders stolz sein, da hat man Glück, wenn man irgendeine Aussage machen kann, die einigermaßen stimmig, aber auch Spaß machen kann. Man darf gar nicht angestrengt sein. Man ist ein Stückchen Natur in dem Ganzen. So was wie ne Wolke vielleicht. Musik /Violine Sprecherin 1: Die Erfahrung, sich und ihren Sohn mit dem Schreiben durchs Leben bringen zu müssen, findet sich in all ihren Büchern wieder, wie hier in den Zaubersprüchen. Sprecherin 2: Ich hab ein klein Gut Und klein Geld und klein Kind Und keine Suppen aufm herd Möchte wissen was morgen ist O-TON Sarah Kirsch: Ja, weiß nicht, was morgen ist. Ja, ist aber schön, wenn man ein klein bisschen hat und dann noch ein Kind. Das ist eigentlich das Wichtigste. Und auch damit kann man gut schreiben. Aber man muss das haben. Also ich jedenfalls. Sprecherin 1: Die Zaubersprüche erscheinen 1973. Knapp dreißig Jahre später schreibt sie in der Tatarenhochzeit: Sprecherin 2: Max springt Trampolin auf unserem Sofa und erreicht gleich den niederen Plafond und schreit: "Ich hab Glück! Ich hab Glück! Ich hab bis an die Decke Glück und keine hohe Mauer!" Er freut sich, dass er wieder hier ist. "Und weil ein bisschen Salz dran ist!" ruft er noch. Hab ihm nicht gerade was von Mauern und Salz erzählt, aber er hat völlig recht. Ich weiß nicht, wo mir das Messer steckt. Mal im Zwerchfell und mal im Herzen. Die Luft ist weiß und das Haus schwankt. Violine ? anhaltender Ton O-TON Sarah Kirsch: Ja, manchmal muss man lachen und geht es einem auch gerade nicht so gut. Aber mit einem Kind kommt man eigentlich immer ein paar Schritte vorwärts. Musik Sprecherin 1: So spielt die Mutter im Leben von Sarah Kirsch eine entscheidende Rolle. O-TON Sarah Kirsch: Für mich war ganz wichtig meine Mutter, die ein glücklicher Mensch war, obwohl es ihr nicht immer so glänzend gegangen ist. Von der habe ich sämtliche Pflanzennamen gelernt, mit der bin ich immer unterwegs gewesen. Und die hat mit meinem Kind auch ganz viel anfangen können. Das habe ich da auch immer unterbringen können. Diese Mutter hat mir dieses Urvertrauen gegeben, was man als Kind irgendwann mal aufschnappen muss, um alles Mögliche meistern zu können. Dessen bin ich mir schon bewusst. Und alles was ich in meiner Biografie machte, alle Knicke hat sie mitgemacht. Und hat gesagt, na das ist doch prima. Das ist doch interessant und so. Und ich habe ihr wirklich erst wieder etwas gesagt, wenn wieder etwas abgeschritten war. Dann habe ich gesagt, nun lass ich mich scheiden und dann krieg ich auch noch ein Kind. Da hat sie gesagt, das ist ja wunderbar, da brauchst Du ja nichts mehr zu Weihnachten. Lachend hat sie das gesagt. Sie hat auch nie in mir gebohrt, warum ich was und wie und so. Aber sie hat immer auf meiner Seite gestanden. Das ist ein tolles Gefühl. (Pause mit Schlucken) und der verdanken wir das alles. Wie wir leben, wie wir schreiben. Musik/ Violine Sprecherin 1: Sarah Kirsch weiß um die Flüchtigkeit von Glücksmomenten. In ihren Gedichten und in ihren Prosatexten findet sich das Glück meist nicht unter Menschen, eher in der Natur. Von den Menschen hat sie sich weitgehend zurückgezogen. Interviews gibt sie kaum noch. Hat sie alles gesagt? Das Leben der Lyrikerin Sarah Kirsch findet sich in ihren Büchern. In ihrem Reisebericht Islandhoch stehen ihre Texte neben ihren Bildern. O-TON Sarah Kirsch: Ach na ja aber meine Bilder, das ist wirklich nur, das kann man nicht richtig als Kunst rechnen. Also, das möchte ich doch zu bedenken geben. Das ist ganz hübsch, aber das ist so etwas wie Atemübung oder irgendetwas. Da bin ich überhaupt nicht verantwortlich, da mache ich, was mir Spaß macht. Solange die Leute das auch noch sehen wollen, mach ich das, aber mit Kunst hat das nichts zu tun. Sprecherin 1: 2000 hat die Deutsche Verlagsanstalt einen Bildband ihrer Aquarellis, wie sie sie nennt, herausgebracht. Zu den Bildern sind Texte von Sarah Kirsch zu ihrer Malerei abgedruckt. Sprecherin 2: Für mich: liebste Liebhaberei. Zu sehen, wie Farben ineinander kommen. Wie man es auch von der Biologie kennt, so sehe ich, wie Farben zueinander stehen, wie sie dick sind oder dünn, wie sie Ränder kriegen, Oberflächenspannung und sonst was; das ist schon Physik. Und weiter: Im richtigen Moment fällt der richtige Tropfen vom Pinsel, wenn man Glück hat. Sprecherin 1: Sarah Kirschs Bilder zeigen Impressionen von Gedankenräumen - hingetupft in einem zarten Blau, Rot, Gelb oder Ocker. Diese Farben findet man auch in ihrem Garten, in dem die Blumen und Pflanzen inzwischen wild wachsen. Sarah Kirsch lässt der Natur ihren Lauf. O-TON Sarah Kirsch Ja weil, eine gewisse Kontinuität gehört ja auch zum Glück. Dass Du das irgendwo festmachen kannst. Und dann bist du nach 7 Jahren immer noch hier, und es gefällt dir immer noch. Das ist eben Glück, ne. Und soll doch nun die Schwalbe noch vorbeikommen und mir ne Feder vor die Füße fallen lassen, ja auch das kann noch passieren. Sprecherin 1: In ihrem ersten Buch Die Pantherfrau fragte sie Frauen, wofür sie sich den kleinen Finger ihrer linken Hand abhacken lassen würden. Was würde sie selbst auf diese Frage antworten? O-TON Sarah Kirsch: Oh je oh je. (Pause) Für mein Kind und meine Katze. (Pause) Aber vielmehr bleibt einem nicht übrig zu sagen. Sprecherin 1: Wer Sarah Kirsch am Weltrand finden möchte, dem wird es wie dem König gehen, der den Verwandlungen von Allerlei-Rauh ausgeliefert ist. Sie zeigt sich nur kurz. Sarah Kirsch beherrscht das Spiel mit den Verwandlungen. Urs Widmer bemerkte treffend: Sie hat die Scheu einer Schutzlosen, die preisgibt, ohne preiszugeben. Ton: Violine O-Ton Sarah Kirsch: Mimi Sprecherin 1: Mit ein bisschen Glück kann man die Autorin in ihren Texten immer wieder finden. Ton: Violine O-Ton Sarah Kirsch Glück: Das Außerordentliche an dem Pferdetag war, dass in Höhe der Steinorgel ein paar Regentropfen aus heiterem Himmel niedergingen. 1