HINTERGRUND KULTUR UND POLITIK Organisationseinheit : 46 Reihe : Zeitfragen Kostenträger : P.3.1.25.0 Titel der Sendung : Der Marathonmann - Der Schriftsteller Günter Herburger Autor : Tobias Lehmkuhl Redakteur : Carsten Hueck Sendetermin : 07.04.2017 Besetzung : Marina Behnke : Alexander Radszun Regie : Klaus-Michael Klingsporn Ton : Martin Eichberg Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- MUSIK O-TON Herburger: "Den habe ich einmal gesehen auf einem riesigen Rappen, der Funken schlug, und mein Vater konnte ihn kaum bewältigen, dann ist der Rappen mit einem was weiß ich abgezogen und vorne raus der Obrist, der Veterinär und dann sah ich ihn nie wieder, dann ist er irgendwo umgekommen, im Osten." ZITATOR: Ich kenne ihn auch wie er befohlen hat praktische Ratschläge gab während die Bauernfamilie im Kreis stand und zusah wie er den Arm ins Wasser hielt und ihn desinfizierte mit dem er vorhin geschnitten hat tief in der Kuh das Kalb das nicht rauskam innen zerteilt hat ich musste die Brille abwischen und sah ihn zittern obwohl er viel Kraft hat aber er mußte sägen innen vorsichtig sägen nun liegen die weißen Teile des Kalbes im Dreck und er steht am Tisch und badet den Arm dampft spritzt und knöpft sich das Hemd auf da lacht er ich kenn ihn jetzt fühlt er sich wohl (aus "Ventile", Kiepenheuer und Wietsch 1966, S. 7) MUSIK SPRECHERIN: Ein paar Schritte entfernt von der Berliner Stadtautobahn wohnt Günter Herburger, in der Blissestraße, weit im Südwesten der Stadt. Seine Frau öffnet, die Tochter läuft durch den Flur; Herburger kommt, die Haare lang wie ein Indianer, führt den Besucher in seiner schmales Arbeitszimmer. An den Wänden: Petersburger Hängung. Fotos über Fotos, rätselhafte Bilder und Karten und sogar ein gerahmter Tragebeutel . O-TON : "Ich war mal ein fanatischer Läufer und bin tatsächlich durch Myanmar gelaufen, und das ist die erste Polyestertüte des ersten Hotels in Myanmar, das war natürlich eine Kostbarkeit." SPRECHERIN: Ein Leben in Bildern: Fotos von Herburger in Laufschuhen, mit Laufstöcken, von seinem Sohn, für den er "Birne" schrieb, diese Geschichten von einer Glühbirne mit Superkräften, in den Siebzigern, sein einziger kommerzieller Erfolg. Bilder auch von Filmsets, denn Herburger liebt den Film und arbeitete selbst eine zeitlang fürs Fernsehen. O-TON : "Und darunter steht in einem Tigermantel, einem falschen, meine damalige Kommandeuse der KPD (lacht). Wie die aussieht, ist einfach großartig." SPRECHERIN: Sonst keine Spuren seiner kommunistischen Vergangenheit, keine Fahnen mit Hammer und Sichel, keine Lenin-Gesamtausgabe, dafür Bücherstapel: Romane, Gedichte, historische Sachbücher, ein paar gefüllte Regale, auf dem Schreibtisch eine Olympia-Schreibmaschine, Relikt des vordigitalen Zeitalters, immer noch in Gebrauch. O-TON: "Das Buch ist eine Form eines neuen Lebens, das ich gerne hätte. So würde ich gerne leben, wie ich das in den Büchern schreibe. Es wird mir nie gelingen, aber es reicht, dass ich darüber schreibe. Zum Beispiel habe ich jetzt ein Buch vor, in dem ich einfach nicht weiter komme. Ich habe gelesen, es gäbe kleine sudanesische Kamele, keine Rennkamele, Lastkamele, mit fast schwarzen Höckern. Und so eines hätte ich gerne." SPRECHERIN: Tiere haben Herburger immer schon fasziniert, ein Erbe vielleicht seines Vaters, der Tierarzt war, das einzige Erbe vielleicht, denn der Vater starb, gefallen oder verunfallt im Krieg, als Herburger ein Kind war. Ein überzeugter Nazi war der Vater, und in Herburgers Stimme liegt immer noch ein Stück Verachtung, wenn er über ihn spricht. Dem Großvater, von dem er sich verstanden fühlte, dem galt seine Liebe. O-TON : "Der Großvater war der Mann meiner Träume, der wusste alles, kannte alles, war sanft, hat mich gefahren als kleiner Junge, und wenn ich die Hosen voll hatte vor Schiss, dann hat er gesagt: Ach, das räumen wir aus." MUSIK ZITATOR: Ruineneidechsen schlecken an Großmutters Händen, in Großvaters Nase legt Eier ein Schwalbenschwanz, ein Wildpferd reibt seine Flanke an den dünnen Stämmen unseres Baums, daß sich die vielen ungeborenen Kinder kaum mehr im gelben Schaum der Blüten halten können. (Aus "Das brennende Haus", Luchterhand 1990, S. 69) MUSIK O-TON: "Meine Mutter gab es kaum. Meine Mutter war die Tochter meines Großvaters, also ein Anhängsel. Außerdem war sie, da ihr Mann Ober-Ober- Faschist gewesen war, Ortsgruppe Isny Land war der gewesen, und dann ging er in den Krieg und dann war er tot, die spielte im Grunde keine Rolle, ich mochte sie nicht sehr. Erst hinterher, als sie sehr krank und sehr alt war und nur noch Asthma hatte, dann holte ich meine Mutter wieder ein, vorher hat sie mich fast angeekelt." ZITATOR: Sie hatte sich aus Todesangst in mein Haar verkrallt, und es dauerte zwei Tage und die letzte Nacht lang, so daß ich beinahe mit ins Grab gezerrt wurde, entsetzlichen Atem ausstoßend, auch, als wir ihr Hemd wechselten, da sie Blut und Kot verlor, Kennern bekannt, die dann einsargen und Mund und Augen schließen, Reste aufzuwischen versuchen. Im Sarg lag sie, als wir noch photographierten, mit einem bösen Lächeln und halb geschlossenen Lidern sagend: bis hierher! Jetzt beginne eine andere Zeit. Sie wolle uns nicht mehr sehen, alle Kämpfe seien umsonst gewesen. (Aus "Im Gebirge", Luchterhand 1998, S. 79) O-TON: "Über das, was ich erlebt habe in der Familie, schreibe ich nie. Dass ist mir zu anekdotisch, das hat immer eine Pointe, das ist keine Dichtung." SPRECHERIN: Und ist es doch. Von der aufgebahrten Mutter Herburgers gibt es in in seinem Buch "Der Tod" sogar eine Fotografie. Fotonovellen nennt der Autor die von ihm erfundene Gattung oder auch Kiosk-Filme. Fürs Filmen nämlich sei er immer zu ungeduldig gewesen, da müsse man immer so lange warten, bis alles eingerichtet sei. Die Knipserei liege ihm viel näher. Und tatsächlich ist er über Jahre und Jahrzehnte immer mit einer kleinen Kamera unterwegs, um abzulichten, was ihm begegnet, auch auf seinen Laufwegen. Selbst auf den schwierigsten Marathons und Ultra-Marathons hat er immer noch einen Blick für seine Umgebung. "Humboldt", "Das Glück" und "Die Liebe" heißen neben "Der Tod" seine Fotonovellen: Pro Seite ein Foto und darunter ein kurzer Text, meist nur ein, zwei Sätze. Wunderschön gesetzte Bücher mit hervorragenden Reproduktionen. ATMO (Vögel) MUSIK SPRECHERIN: Geboren wurde Günter Herburger 1932 in Isny im Allgäu. In den fünfziger Jahren verließ er Deutschland, ging nach Paris, trieb sich in Nordafrika herum, kehrte wieder wieder nach Deutschland zurück, zog nach West-Berlin, in die Nachbarschaft von Günter Grass und Uwe Johnson. O-TON: "Es ist für mich ein absolutes Paradies! Umzäunt von vielem Grün und viel Raum und vielen Leuten, die verschiedene Sprachen sprechen. Was sehr schön ist. Dieses Berlin ist für mich eine Paradiesinsel. Sie hat auch immer mehr Sonne gehabt als sonst die Republik." SPRECHERIN: Herburger politisierte sich wie so viele andere Schriftsteller der Zeit, wurde Mitglied der DKP. Er stieß zur Gruppe 47, wurde zum ersten Mal Vater, zog nach München, gründete 1973 unter anderem mit Tankred Dorst, Michael Krüger und Paul Wühr die erste, genossenschaftlich organisierte Autorenbuchhandlung, bekam nach dem Sohn eine Tochter, und zog schließlich zurück nach Isny. Doch auch als er mit Anfang des neuen Jahrtausends wieder nach Berlin übersiedelte, ließ ihn das heimatliche Voralpenland, die Landschaft der Kindheit und des Krieges nicht los. MUSIK O-TON: "Ich hab ihn mitbekommen in Isny im Allgäu als die ganzen Kämpfer, Generäle usw., die die Alpenfestung machen wollten, was sie nie zustande brachten, die kamen alle bei uns durch, und haben gehandelt: Butter gegen Flammenwerfer oder so ähnlich." MUSIK O-TON: "Dann kamen noch die Franzosen, die waren sehr höflich, die waren nur scheußlich zu den Marokkanern, den Untermenschen ja, und haben die auspeitschen lassen, wenn die jemand vergewaltigten, und dann sind wir eingesprungen und haben denen in die Beine geschossen." MUSIK O-TON: "Mein Großvater hatte eine Peitschenfabrik für Skistöcke und er hat auch Peitschen gemacht, Fuhrmannspeitschen und Gerten, für Offiziere... ja." MUSIK SPRECHERIN: Peitschen also wurden damals nicht nur gegen Tiere, sondern auch gegen Menschen eingesetzt. Heute wirken sie wie Relikte aus vergangener Zeit. Und auch Schweine, Kühe, Hühner sind uns fremd geworden. Die Landschaft, wie Herburger bei seinen Besuchen im Allgäu stets auffällt, ist übersät von Bio-Gas-Anlagen. Ein Gräuel für den Tierarztsohn. ZITATOR: Das Wichtigste, was man von Schweinen lernen kann: kein Mensch zu sein. Sie sind sehr sauber, sehr gefühlvoll, ein wenig zänkisch, kämpferisch, aber dann lieben sie einander wieder und wenn sie weinen, was sie gerne tun, schreien sie kaum und lächeln dabei. Einen Tag, bevor sie geschlachtet werden sollen, sind sie nervös und konfus, rennen umher und beschmutzen sich. Dann beginnen sie zu singen, sehr tief und sehr hoch, wir vermögen es nicht zu hören. (Aus: "Der Kuss", A 1 Verlag 2008.) SPECHERIN: Schweine und Kommunismus, Kino und Krieg: Herburgers Interessen und Themen wechseln, sind vielgestaltig, wie seine Gedichte und Prosa, immer wieder überraschend, mitunter geradezu anarchistisch. Die stärkste Konstante in seinem Leben: Die Literatur selbst, Schreiben und Lesen. O-TON: "Ich habe zuerst Gedichte gelesen im evangelischen Internat, Rilke und Hesse und was man so las. Weinheber. Oh Weinheber! Das war schon eine tolle Schule, ein Internat. Und dann haben wir gemerkt, dass es eine ganze andere Sprache und vor allem ganz andere Gefühlsebenen gibt, vor denen man sich nicht scheuen soll - Mut! Es waren Mutfragen. Und das hat mich sehr begeistert. Und dann fing ich selber an zu schreiben." SPRECHERIN: Bei Gedichten blieb es nicht. Herburger schrieb Drehbücher, Hörspiele, lange und immer längere Erzählungen. Romane schließlich. Erst Kurzstrecke, dann Langstrecke. O-TON: "Zentral für mich ist, dass ich gewagt habe, tatsächlich einen Zweitausendseitenroman zu schreiben, die Thuja-Trilogie. Ich wollte diese ganzen Kerle, die so angaben, sie könnten soviel schreiben, Musil zum Beispiel, da dachte ich, das kann ich auch." SPRECHERIN: "Thuja" hieß es in der Wochenzeitung "Die Zeit" bei Erscheinen des letzten Bandes der Trilogie 1992, "das ist der Lebensbaum, ein Symbol menschlicher Existenz, das vor allem auf Friedhöfen steht. Günter Herburgers Trilogie erzählt vom Leben. Und ebenso wuchernd und weitverzweigt wie die Thujastaude hat der Autor sein Romanwerk angelegt: als anarchisches Durcheinander, ungeschliffenes Chaos, als nur scheinbar zu ordnendes und ortendes Gesamtgebilde. Wie in den anderen Büchern geht es auch hier um ein buntes Kaleidoskop ineinander verschränkter Motive und Themen, um rasche Ortswechsel, jähe Aufbrüche, um eine Reise vom Allgäu über unwegsame Alpenpässe bis nach Oberitalien - die unablässige Bewegung, das eigentliche Element Herburgerscher Prosa, kommt auch hier zu ihrem Recht." SPRECHERIN: Die Thuja-Trilogie ist auch eine märchenhafte Reise durch die Wirklichkeiten und Unwirklichkeiten der BRD und der DDR, ein Zukunftsroman zudem, der 1992 in gewisser Weise von der eigenen Gegenwart überholt worden war. Herburger blieb ein Außenseiter des Literaturbetriebs, bis heute ist er ein Autor für Eingeweihte. SPRECHERIN: Spätestens in den siebziger Jahren begann Günter Herburger die Zerstörung der Natur, die Industrialisierung der Landschaft zu beschäftigen. Was wie ein Modethema der Zeit anmutet, ist als Thema freilich heute noch aktuell - und von Herburger auch nie pamphlethaft oder moralisierend verhandelt worden. Noch sein jüngstes Buch, "Wildnis, singend", ist ein hochkomischer, absonderlich-fantastischer Allgäu-Roman, voller Tiere und verrückter Menschen, voller Liebe und Verzweiflung. MUSIK SPRECHERIN: Wenn Herburger auch behauptet, nicht über die eigene Familie zu schreiben, so ist sie, ist sein ganzes äußeres Leben in seinem Werk doch stets präsent, als eine Art Gefühlsreservoir. Auch in den Gedichten, in "Wildnis, singend" und in den sogenannten "kleinen wilden Romanen", die der Band "Haitata" versammelt. O-TON: "Ich habe früher anders geschrieben als heute, vorsichtiger (es klopft an der Tür - Katrin: Wollt ihr was trinken - Herburger: Wir haben schon, danke. )Vorsichtiger habe ich geschrieben, mehr zum Beispiel über dieses Kind, es ist gehirnbehindert, ein ganzes Buch: "Haitata". Kein Mensch, weiß was das ist. Haitata heißt einfach auf Finnisch "behindert". Und das ist meine Tochter, im Gehirn." ZITATOR: Unsere Tochter, die Riesin, schwimmt mit anderen von der Michaelisbrücke bis zur Oberbaumbrücke und wieder zurück in die Spree. Sie erhält Stöße, geht unter, kommt wieder hoch, legt sich flach auf den Fäkalienteppich und peitscht ihn mit ihren langen Flossen. Mit den Armen grabend, die Füße wirbelnd, gelangt sie zur Wechselzone, zieht Helm und Hakenschuhe an, wirft sich aufs Rennrad und fährt davon, kaum zu glauben, dass sie noch so viel Kraft hat. Erlaubt ist, was nicht gefällt, nicht gesehen wird, Rempeleien mit Schwedinnen. Die Tochter zischt svin, svin. Zu Hause bereitet ihr die Mama ein Salzbad aus dem Toten Meer. Die Beine, den Kopf hoch in der kurzen Wanne, singt das abnorme Kind ein Lied vom Gethsemane. (Aus: "Schatz. Liebesgedichte", Kugelberg Verlag 2015) O-TON: "Und drum muss ich auch so alt werden, ich muss sie beschützen natürlich. Wer küsst denn unser Kind?" SPRECHERIN: Mit über Fünfzig begann Günter Herburger Marathon zu laufen, als Kompensation zum Langstreckenschreiben an der Thuja-Trilogie. Dann wurde daraus eine Existenzfrage. ATMO Vögel ZITATOR: "Ich denke jeden Tag an den Tod. Es ist eine Besessenheit, der ich nicht entrinne. Nur schreibend und jeden Morgen viele Kilometer flüchtend, kann ich wieder zurückkehren in mein Gesicht. Ich kenne meinen Platz, der ein letzter sein wird inmitten Schachtelhalmen, zusammen mit Kindern, Kindeskindern, Ahnen, ätherischen Ölen aus Thujanadeln und Lehrerinnen für Englisch und Arabisch, die um Zigaretten betteln." weiter ZITATOR "Links klopfte der große Zehennagel gegen die Wölbung des Schuhs. Während Etappen durch den Atlas bis zur Sahara und zurück war rechts der Große blau, dann perforiert worden, so dass Blut aus ihm sickerte und nach Wochen er sich aus seinem Bett verabschiedete. Dasselbe würde wieder geschehen. Die gebrechliche Physiologie haderte mit der durchlöcherten Psychologie." ATMO weiter ZITATOR "Hatte das Alter begonnen, vor dem ich seit Jahren davonlaufen wollte? Das Gleichgewicht zwischen Leben und Schreiben war verloren gegangen. Ein Gefühl der Nichtigkeit und Trauer vereinigte sich mit Selbstverachtung. Ich griff daneben, schritt umsonst aus, schrieb vergebens." (Aus "Schlaf und Strecke") SPRECHERIN: Aber immer wieder verwandelte sich das Laufen auch in Worte. Günter Herburger verfasste drei große Laufbücher: "Lauf und Wahn", "Traum und Bahn", "Schlaf und Strecke". Darin Berichte von seinen Marathon- und Ultramaratonreisen, nach Prag, Husum, La Réunion, nach Russland, Kanada und Bad Füssing. Wenn er selbst auch von Besessenheit spricht, aus seinen Aufzeichnungen spricht vor allem eine Welt-, keine Laufgier. Herburger ist neugierig, unersättlich neugierig, und scheint zuweilen kaum zu blinzeln, so sehr muss er aufsaugen, was um ihn herum passiert, was für Landschaften er sieht, was für Menschen seinen Weg kreuzen. So ist es noch heute, wenn er Besuch empfängt, mit größter Freund- und Fröhlichkeit, wenn er die wildesten Anekdoten auspackt und gerne auch einmal kräftig übertreibt, weil es so eine Gaudi ist, mit anderen Menschen zusammenzutreffen. O-TON: "Es ist dieses Laufen, dieses verfluchte Laufen, dass mich kaputt gemacht hat. Ich bin ja ingesamt, meiner Messung nach, zumindest zweimal um den Erdball gelaufen." SPRECHERIN: In dem Buch "Humboldt" aus dem Jahr 2001 findet sich ein Herburgerischer Laufbericht, der Bericht eines 320 Kilometer langen Hitzelaufs durch die marokkanische Wüste, der extremste aller Extremläufe, die Herburger unternommen hat. Auch wenn er das anschaulichste Beispiel dafür ist, welchen Raubbau Herburger am eigenen Körper betrieben hat, ist er doch nicht nur einer seiner großartigsten Laufberichte, sondern eine der der schönsten Reiseerzählungen überhaupt. ZITATOR: "Als wir frühmorgens in der Kälte am Ende des Flugplatzes standen, zögerten einige, denn die Maschine besaß weder einen Namen noch eine Nummer oder gar eine Nationalität. Ich ging zum Copiloten, fragte. Der Besitzer wohne in Moldawien, war die Antwort. "Oh, was für ein schönes, kleines, geniehaftes Land, viersprachig!" Dann ging ich noch zu einem der beruhigend oval altertümlich aussehenden Düsenmotoren, schaute hinein und las: Rolls-Royce. Alle Renner und Rennerinnen stiegen beruhigt ein. Nach Stunden, wir hatten Marokko längst verlassen, sahen wir hinunter und sagten, dass es wahrscheinlich schwierig werden würde, denn, o Gott, dort war nichts, kein Strauch, keine Hütte. Nur Geäder, als habe es einstmals geregnet, verzweigte sich von Dünen und Gebirgen abwärts. Ich sagte zu meinem Freund Helio Bechterew, nun müssten wir zusammenhalten, sonst kämen wir nicht durch. Er bestätigte." (Aus: "Humboldt", A1 Verlag 2001) O-TON: "Dass dieser Saukerl, mein Freund, als ich später ankam, mir keinen Platz gab für meine silberne Decke, ich wusste nicht, wohin ich mich legen sollte, alles war belegt, ich hätte ihn beinahe erschlagen. Aber es ging, es geht alles!" SPRECHERIN: Es ist, als hätte Herburger, dieser Wunderläufer, sich selbst zum Vorbild genommen für die Tausendsassa-Birne seiner Kinderbücher, diese Glühbirne, die neugierig auf die Welt sich immer wieder aus ihrer Fassung schraubt und schaut, wie es in den Fabriken aussieht, in den Kanälen, bei den Chinesen, die auch wie Robin Hood mal armen Einbrechern hilft und der Polizei leuchtend gelbe Birnen-Kacke auf den Kopf fallen lässt. Birne will, und damit traf Herburger in den Siebzigern den Nerv der Zeit, eine bessere Welt. Keine friedensbewegte WG, Kita oder Schulklasse, in der seine Geschichten nicht den Kindern vorgelesen wurden. ZITATOR: "Birne besitzt den Mut eines Weltraumfahrers, den Gerechtigkeitssinn Jesu, die Robustheit und Langlebigkeit einer Schildkröte, die Begeisterungsfähigkeit Lenins und die Schönheit von Computerteilen. Wahrhaftig, ich möchte BIRNE sein!" (Aus: "Birne kann alles", Luchterhand 1971) SPRECHERIN: Doch nur zu gut weiß Herburger, wissen Herburgers Gedichte und Romane um die Endlichkeit und das Elend des menschlichen Lebens. Und dass man diesen nicht anders als mit Spott begegnen kann, wenn es bitter ernst ist. Das liegt wohl in der Familie: O-TON: "Als mein Großvater nur noch Schnaps trank und Residorm, das war ein Schlafmittel, haben wir ihn ins nasse Bad gelegt, und haben seine Scheiße so auftauen lassen, und sagten: Opa, jetzt musst du nur wieder aufstehen! Und dann trocknen wir dich wieder ab, und dann gehst du ins Bett und kriegst a Zeitung, und dann hat er Zeitung gelesen, und seine Frau lag neben ihm und sagte: Du hast ja die Zeitung verkehrt herum. Da sagte er: ,Saudummes Geschwätz!'" ZITATOR: "Denken und Fühlen sind eins, dazwischen sitzen Arbeit und Belustigungen, ein unablässiger Strom mit Untiefen, jähen Gefällen, aus denen es donnert und gischt, dazu gibt es stille Löcher und sonnenbeschienene Ränder. Was immer wir erleben wird sortiert, vergessen, um bald oder in Zukunft, die dann auch wieder wegrutscht, benutzt zu werden. Ich liebe es zu spielen, ob an einem Hang, im Bett zwischen aufgehäuften Büchern oder eingeschlossen in die Horde, das Kampfrudel meiner Familie, deren hysterisches, zugleich diszipliniertes Mitglied ich gerne bin. Es wäre gleichgültig, ob ich einen finnischen oder einen italienischen Pass hätte, zuhause fühle ich mit in meiner Muttersprache wohl, auch in deutschen Konjunktiven. Es sind deren sieben Stück, eine verlässliche Quelle der Inszenierungen. Mein Beruf ist voll märchenhafter Neigungen, da ich ihn fortführe bis zum Sarge, wird Heimat bleiben." 1