Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 23. August 2014, 11.05 - 12.00 Uhr Sieg in der Niederlage Polen im Ersten Weltkrieg: Die Wiedergeburt eines Staates Eine Sendung von Robert Baag Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - "Dieser Friedhof ist nichts Abstraktes. Hier liegen nämlich auch Polen. Polen, die auf beiden Seiten gekämpft haben, als Untertanen des russischen Staates und als Untertanen des deutschen Staates. Aber: Dank dieses Krieges hat Polen seine Freiheit wiedererlangt." Ein pensionierter Oberförster aus Masuren, der schon seit über drei Jahrzehnten viele Soldatengräber aus dem Ersten Weltkrieg in seiner Nachbarschaft betreut und vor dem Vergessen bewahrt hat. - Und: Ein junger Heimat-Historiker aus dem südostpolnischen Przemysl, der von dem für Polen glücklichen Ausgang des Ersten Weltkriegs und der Wiedergeburt als Staat den Bogen schlägt zum Zweiten Weltkrieg: "Das ist ein Paradox in der Geschichte Polens! 1945 waren wir de facto die vierte Sieger-Armee über die Deutschen. - In Wirklichkeit aber gehörten wir dann zu den Verlierern, denn schließlich fanden wir uns im sowjetisch unterdrückten Ostblock wieder: Zwei Kriege - zwei unterschiedliche Resultate!" Sieg in der Niederlage - Polen im Ersten Weltkrieg: Die Wiedergeburt eines Staates - Eine Sendung von Robert Baag. Jetzt, in diesen Tagen, Ende August, vor genau einhundert Jahren: Noch tobt die so genannte "Schlacht von Tannenberg" nahe Allenstein in Ostpreußen, dem heutigen Olsztyn. Sie wird enden mit einer vernichtenden Niederlage von zwei Invasions-Armeen des russischen Zaren Nikolaus II. gegen die Truppen des deutschen Kaisers. - Ein knappes Jahr später, nach der Schlacht von Gorlice im Mai 1915 muß sich das russische Heer erneut schwer geschlagen von den verbündeten Heeren Österreich-Ungarns und Deutschlands auch aus dem polnischen k.u.k-Kronland Galizien zurückziehen. Diese militärischen Katastrophen markieren den Anfang vom Ende der Zaren-Herrschaft in Russland - im Jahr 1917. - Doch auch die im Osten zunächst siegreichen deutschen und österreich-ungarischen Streitkräfte können den Zusammenbruch ihrer Monarchien, in Berlin und in Wien, nur ein wenig länger hinausschieben - bis 1918. - Polnische Soldaten haben damals in all diesen Schlachten und in den Reihen jeder dieser drei nationalen Streitkräfte als Untertanen ihrer Teilungsmächte Deutschland, Österreich-Ungarn und Russland sowohl mit- als auch gegeneinander gekämpft. - Und doch können sich am Ende des Ersten Weltkriegs alle Polen als Sieger fühlen... Sanft erheben sich wellige Hügel aus der friedlichen nordostpolnischen Natur. Masurisches Kernland. Fröhlich schwatzend läuft eine Schulklasse den breiten gepflasterten Pfad hinauf, hin zu einer steil in den Sommerhimmel ragenden Stahlröhren-Konstruktion. Eng nebeneinander in den Boden der Kuppe gepflanzt, über zwanzig Meter hoch, trägt jede einzelne dieser zwölf stumpf-silbrigen Stangen an ihrer Spitze ein angeflanschtes Rechteck aus grauem Blech, wohl einem Lanzen-Wimpel nachempfunden... Nur einen Steinwurf links davon: Ein totalitär dräuender, grau-beiger Granitklotz, gut drei Stockwerke hoch. In diesen Stein hineingefräst zwei Golem-gleiche Gesichtspartien. Düstere, vom Schatten verschluckte Augenpartien, breite Nasenflügel, hohe Wangenknochen. Kinn und Stirn fehlen. Wachtposten. Kämpfer. Der eine blickt nach Norden, der andere nach Westen. - Drohend-heroisch konservierte Symbolik. Die 13-, 14-Jährigen scheint das nicht sonderlich zu beeindrucken - nur wenige hören ihrem Lehrer aufmerksam zu. Die leisen Unterhaltungen der anderen Jungen und Mädchen drehen sich offensichtlich um ganz andere Themen. - Und nun setzt auch noch leichter Nieselregen ein... Zwei ältere Männer nähern sich, blicken hinüber zu den Schülern, schmunzeln ein wenig, und schlendern - sich angeregt unterhaltend - hügelabwärts. Bronislaw Lubowiecki aus dem nahe gelegenen Ostroda hat seinen Bekannten hierher begleitet. Jetzt sind sie wieder auf dem Rückweg. Allerdings doch ein wenig ratlos angesichts der monströsen Installation dort hinter ihnen. "Hat sicher was mit ‚Grunwald' zu tun", murmelt Lubowiecki. "Hier, an diesem Ort, gab's ja mal eine Schlacht..." "So genau weiß ich das nicht. Aber hier haben wohl Deutsche gegen Russen gekämpft. Bei Ilawa, nicht weit weg von hier... Da haben die auch miteinander gekämpft. Das war, meine ich, im Zweiten Weltkrieg... Oder? - Doch im Ersten? Tja, von Geschichte hab ich nicht viel Ahnung. Muß ich nachholen. Um den Enkeln nicht irgendwas erzählen zu müssen..." Da aber kommt Lubowieckis Freund Kazimierz Niedzwiecki doch noch ein Gedanke. Die eigene Schulzeit läßt grüßen: "Na, klar", fasst er sich an den Kopf, "die ‚Schlacht bei Grunwald'! Das ist doch dieses Symbol des Polentums. Sehr wichtig für die Polen!" - Aha?! - Weckt dieser Ort, an dem vor über 600 Jahren ein polnisch-litauisches Heer die Ritter des Deutschen Ordens besiegt hat und dessen Name seit dem 19. Jahrhundert gleichgesetzt wird mit dem Nationalmythos Polens, also schon noch patriotische Gefühle bei ihm? "Neiiin", winkt Niedzwiecki ab und lächelt dabei ein wenig spöttisch: "Ich bin hier nur Tourist - so wie er..." Und zeigt auf seinen Freund Bronislaw, schiebt dann aber nach: "Was heißt heutzutage denn schon ‚Patriotismus'?! Ich lebe und arbeite in Schweden. Und so wie ich reden heute doch viele: Dort, wo ich mein Brot finde, da ist mein Vaterland. Nein? Ist das nicht so?! - Na, und ‚Patriotismus...' - Ich spreche polnisch. Und das ist gewissermaßen meine Kultur... Brauche ich dafür das ‚Grunwald'-Denkmal? --- Für die Jugend...? Wenn ich mir das jetzt so ansehe... Das verschwindet doch praktisch schon aus der Erinnerung..." Henk Timmermans, emeritierter Historiker aus Holland, hat neugierig zugehört. Er weiß, dass auf diesem Gelände an etwas erinnert wird, das nicht selten für Begriffs-Verwirrung sorgt. Denn: Die Polen nennen diesen Ort "Grunwald" - in Deutschland dagegen wird diese Niederlage der deutschen Ritter - im Jahr 1410 - als die "Schlacht von Tannenberg" bezeichnet. Doch zunächst verhaspelt sich selbst Timmermans: "Es hat zu tun mit Hindenburg und Ludendorff. Im Ersten Weltkrieg." - "Sind Sie sicher?" - "Ja, Moment mal. Da, 1410, wurden die Deutschen geschlagen von den Polen und den Russen. Und dann, 1914, haben die Deutschen die Russen geschlagen..." - "Hier?!" - "Nein! Da hat Hindenburg dem Kaiser vorgeschlagen, die Schlacht ‚Tannenberg' zu nennen." Hindenburg und Ludendorff - zwei deutsche Generäle, die Sieger über die Zaren-Armee vor genau einhundert Jahren. Aber: Eben nicht exakt hier, nicht auf diesem Feld. Historisch-präzise - das will Timmermans sein. Hier nämlich...: "Also das ist Tannenberg aus dem 15. Jahrhundert. Und morgen suche ich Tannenberg aus dem 20. Jahrhundert." - "Und wissen Sie schon, wo das ist?" - "Nein, nein. Das ist zerstört, nicht...?" Hat es ihn denn beeindruckt, dieses Denkmal hinter ihm auf dem Hügel, errichtet vor inzwischen mehr als 50 Jahren, noch während der so genannten "volks-polnischen", der kommunistischen Zeit? Timmermans zögert kurz - dann: "Zu stolz! - Einfach einen Stein oder sowas..." Das sporadische Tröpfeln aus dunkelgrauen Wolkentürmen hat sich schlagartig zu einem kräftigen Schauer verdichtet. Die Neuntklässler spurten los, vorbei am holländischen Geschichtsprofessor und dessen leicht fröstelnder Gattin. Die Kinder rennen in Richtung Souvenir-Shop am Fuß des Hügels. Zum Schutz vor dem Regen - und zugleich: als interessante Attraktion. - Auch der Verkäufer freut sich sichtlich auf die herantobende Schar potentieller Jung-Kunden. - Das inzwischen vereinsamte Grunwald-Denkmal verschwindet allmählich hinter immer neu heranwehenden Regenschleiern... Piotr Niewiadomski ist kein Held. Jedenfalls nicht im klassischen, kriegerischen Selbstverständnis. Aber auch kein Pazifist. Allein mit diesem Begriff wird der analphabetische Bahnarbeiter aus dem polnischen Galizien nichts anfangen können, als er im August 1914 in die österreich-ungarische Armee eingezogen wird. Dieser Anti-Held ist fiktiv. Seine kurze Geschichte, jene vier Wochen seines Lebens ab Kriegsbeginn und kurz danach, skizziert der 1935 auf Polnisch veröffentlichte Roman "Das Salz der Erde" aus der Feder von Józef Wittlin. - Der Name seines Protagonisten - Piotr Niewiadomski - läßt sich übersetzen als: "Peter Unbekannt". - Ihm hat Wittlin, 1896 bei Radziechów in der heu-tigen Westukraine geboren, und noch 1916 Kriegsfreiwilliger, ein literarisches Denkmal gesetzt: Piotr Niewiadom-ski, dem unbekannten Soldaten an der Ostfront des Ersten Weltkriegs... "Auf der Station kochte es. Die letzten Ratschläge, die letzten Ermahnungen, die letzten Beschwörungen schwebten in einer dichten Wolke aus Unruhe, Angst und Schmerz über den Menschen - und übertönten das Echo der Kanonade. Niemand dachte mehr an die heranziehenden Russen, alle Gedanken liefen weit über den abendlichen, saphirnen Horizont hinaus, auf den die wiedergeborene Sonne sich senkte, mit Erde und Menschen versöhnt. (...) Köpfe unbekannter Wachtmeister, Feldwebel, Hauptleute tauchten immer wieder aus dem Nichts auf, krochen unter der Erde hervor, wuchsen aus dem Schotter, aus den Schienen, sprangen aus den Telegraphenstangen. Der Tod spazierte unbefangen auf der ganzen Station Topory-Tschernjelitza hin und her, ohne Bahnsteigkarte, und blies seinen kalten Atem unter den Kragen bald des einen, bald des anderen. Den von lebendigen Menschen erfüllten Bahnsteig bevölkerten Gespenster." "Uwaga - Vorsicht!" - Bogumil Kuzniewski warnt vor einem heranrasenden Auto auf der Landstrasse von Olsztynek nach Szczytno, von Hohenstein also nach Ortelsburg, so die Namen dieser Städte in deutscher Zeit, bis 1945. - Ein Traktor im Leerlauf hat den Blick versperrt. - Hier, im damaligen Hohenstein, war Ende August 1914, vor genau einhundert Jahren also, das Epizentrum jener Kämpfe, die später als die zweite "Schlacht von Tannenberg" in die Geschichtsbücher eingehen sollte. Und: Auch das riesige deutsche Tannenberg-Nationaldenkmal fand hier seinen Platz, erbaut zwischen 1923 und 1927, zu Zeiten der Weimarer Republik... Ein unscheinbarer Feldweg, dichtes Unterholz, das schüttere Wäldchen schluckt den Verkehrslärm. Dann - eine Lichtung, eine überwucherte Bodensenke zeigt sich. Der Durchmesser - geschätzte 200, 250 Meter. Nichts Besonderes eigentlich, so auf den ersten Blick... Doch Bogumil Kuzniewski zieht bedeutungsvoll die dichten, dunklen Augenbrauen nach oben: "Hier befand sich mal eine Art Symbol des preußischen Revanche-Denkens: Gegen die Niederlage der Deutschordens-Ritter von 1410, für den Durchhaltewillen zugleich und für den Sieg über die Armee des Zaren von Russland - fast am gleichen Ort Tannenberg. Hier ist viel Symbolik miteinander verflochten. Selbst die Architektur des Denkmals verkörperte Symbolik: Sie wollte bewusst an den Stein-Kreis im englischen Stonehenge erinnern, dem übernatürliche Kräfte zugeschrieben werden. - Dieses Denkmal sollte genauso eine Magie ausstrahlen."´ Für den kürzlich pensionierten Geschichtslehrer Kuzniewski - gerade 60 Jahre alt geworden - ist diese überwucherte Brache am Stadtrand von Olsztynek ein Sinnbild ganz eigener Art. Kuzniewski hat eine Mission - und: eine Vision. Er will diesen Flecken Natur aus seiner inzwischen fast sechs Jahrzehnte währenden, einst amtlich angeordneten Geschichtslosigkeit befreien. Auch wenn er dabei immer wieder auf hinhaltenden Widerstand von Ortsbehörden wie von Anwohnern stößt. Ihm ist natürlich klar: "Diese Gedenkstätte aus den zwanziger Jahren hatte sicherlich auch eine anti-polnische Ausrichtung. Dieses preußisch-deutsche Tannenberg-Denkmal, so war das beabsichtigt und so wurde es begriffen, sollte den Beharrungswillen des Germanentums hier im Osten ausdrücken: Ostpreußen als Vorposten des Deutschen Reichs. Also, ja - das Tannenberg-Denkmal hatte leider eine antipolnische Aussage. Doch die kam erst eigentlich so richtig ans Licht, als in Deutschland die Nazis an der Macht waren, nach 1933. Erst dann gab's hier anti-polnische Auftritte." Dieser Aspekt beleuchtet für Kuzniewski allerdings nur die eine Seite der Medaille. Der bisher eher zurückhaltende Heimathistoriker und bekennende Lokalpatriot wird jetzt richtig lebhaft. Er und ein paar Freunde haben nämlich Pläne für dieses Gelände im Gemeindebesitz. Konkrete Pläne. Und schon lange: "Das mit Bauschutt und Müll in den fünfziger Jahren zugeschüttete Gelände wollen wir ausgraben und dann die sogenannte ‚Hindenburg-Krypta' freilegen. Da gibt es so ein paar Ideen, wie man das Andenken nicht nur an die zwanzig unbekannten deutschen Soldaten bewahren könnte, die in dem alten Denkmal beigesetzt waren und dort - wer weiß, wo - immer noch liegen. Man sollte auch der russischen Soldaten gedenken, die rund um das Denkmal beerdigt worden sind. Und natürlich auch die Polen ehren, die sowohl in der einen, der deutschen, wie auch in der anderen, der russischen Armee, gekämpft haben." Ein leichter Wind streicht über das versteppte Areal. - Schon allein aus Kostengründen wäre ein Wiederaufbau niemandem zu vermitteln, ist sich Kuzniewski im Klaren. Allerdings: Die, wie er spontan hinzufügt, generell "feindliche Verweigerungshaltung" so mancher seiner Mitbürger in Olsztynek gegenüber seinem "Hindenburg-Tannenberg"-Projekt, die ärgere ihn schon, um dann rasch einzuschränken: "Na, ja - vielleicht nicht ‚feindlich'... Das ist wohl eher ‚böswillige Unlust'. Da gibt es bestimmte Ängste. Woher die kommt, keine Ahnung... Dass dies dem deutschen Revisionismus dienen könnte, dass dann Neo-Nazis hierher pilgern würden, um Blumen niederzulegen und dass all das für uns gefährlich werden könnte." Wären solche Bedenken denn tatsächlich völlig aus der Luft gegriffen? - Kuzniewski zögert ein wenig: "Schwer zu sagen. - Aber: Was wollen wir denn mit unserem Projekt erreichen? Hier, an dieser Stelle, bündeln sich doch die Erfahrungen aus dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, hier ist das Resultat dieser beiden Kriege zu betrachten - gerade hier! Das sollte doch ausgenutzt und den jungen Leuten weitervermittelt werden, dass kein einziger Krieg etwas Gutes bewirkt hat!" Das Terrain des ehemaligen Tannenberg-Denkmals überhaupt zu finden, ist nicht ganz einfach. Eine Wegweiser-Tafel, etwa von der nahegelegenen Landstraße, fehlt. - Immerhin hat die Gemeinde vor einiger Zeit erlaubt, dass Kuzniewski auf dem Gelände selbst ein großes Hinweisschild aufstellen durfte. Groß darauf die Überschrift in deutscher Sprache: "Tannenberg-Denkmal", darunter sechs historische Schwarzweiß-Aufnahmen des gewaltigen Ensembles: Acht riesige Türme verbunden durch eine hohe, dicke Ziegel-Mauer - durchaus zu sehen als Zitat einer mittelalterlichen Ordensburg. - Die Erläuterungen dazu - dreisprachig: Auf Polnisch, auf Englisch und - auf Deutsch. - Kuzniewski stutzt, tritt näher heran an die deutsche Text-Spalte, kneift die Augen zusammen und muss lesen: "In den Jahren 1925 bis 1927 haben die Deutschen in der Umgebung von..." ...und da hat jemand das Wort... ..."Olsztynek"... .. mit einem schwarzen Filzstift dick durchgestrichen und dafür... ..."Hohenstein"... ...darüber gekritzelt. Und auch am Ende der Text-Legende hat der unbekannte Schmierer noch einmal seine Spuren hinterlassen. Stand dort ursprünglich: "In der Nazi-Zeit (dahinter in Klammern: 'Hitlermacht') errang das Tannenberg-Denkmal den höchsten Rang des nationalen Denkmals und wurde zum Pilgerort..." ... so hat jemand das Wort "Nazi-Zeit" völlig weggekratzt sowie den Begriff "Hitlermacht" mehrfach durchgestrichen. Fett darüber gemalt heißt es nun stattdessen: "In der Großdeutschen Zeit..." "Das hat jemand böswillig draufgeschrieben: ‚Großdeutsche Zeit'! Große Zeiten? Oder was?!" - Kuzniewski schüttelt verständnislos den Kopf. Und außerdem: "Hohenstein" nenne sich heute eben: "Olsztynek". - Schon auf dem Weg zurück zur Hauptstraße fügt er dann noch hinzu: Als willkommene Argumentationshilfe für die örtlichen Gegner seines Tannenberg-Projektes sehe er solche Provokationen nicht. Denn: "An Dummköpfen fehlt es niemals. Auf der einen wie auf der anderen Seite. Schwer zu sagen, wer das geschrieben hat, ob das jemand aus Deutschland war oder einer von hier. Hier muß die Wahrheit erzählt werden. Das muß gezeigt werden, gerade weil unnötige Mythen gar nicht erst aufkommen sollten." Der Traktor am Straßenrand hat sich in der Zwischenzeit keinen Meter weiterbewegt - Leerlauf ohne Pause. Seit über einer Stunde. Kuzniewski lächelt ironisch, schaut betont und ein wenig fragend hin zum Fahrer. Und der legt schließlich den Gang ein... "Schneller! Keine überflüssigen Rührseligkeiten! Näherinnen, hört auf, eure Liebsten zu küssen, drückt ihnen zerknitterte Fotografien in die Hände und - auf Wiedersehen! Köchinnen, trocknet mit den fettbefleckten Schürzen eure Augen und streichelt mit euren ungelenken Fingern, die nach Einbrenne duften, die glattrasierten Nacken eurer Gefreiten. Jeder Mensch hat etwas, wovon er sich trennen muß. Frauen haben Männer. Mütter haben Söhne. Kinder, begeistert vom ungewohnten Aussehen ihrer Väter, trennen sich von ihnen; besonderen Spaß machen den Kindern die Pfeife und der Kompass an dem blauen Schnürchen. Endlich haben die Kinder begriffen, daß die Eltern auch Kinder sind, besonders, wenn sie weinen. (Sicherlich sind sie von jemandem verprügelt worden oder sollen noch verprügelt werden.) Es gibt Kinder, die sich freuen, daß der Vater ins Feld geht. Jetzt wird es niemanden mehr geben, der sie haut. Wo mag bloß dieses Feld sein?" Treffpunkt Gittertür. Neben dem hohen, weißen, blumengeschmückten Holzkreuz. Dort, kurz bevor die schmale Kreisstraße nach rechts abbiegt. - Der stattliche ältere Herr ist pünktlich. Auf die Minute. Freundlich tippt er an den Schirm seiner blauen Baseball-Kappe: "Ich heiße Andrzej Sobotko. Ich wohne in Nidzica. Seit 35 Jahren. Hier war ich mal der zuständige Oberförster. Seit 1946 lebt meine Familie in Ostpreußen. Vier Jahre alt war ich damals. In Olecko bin ich zur Schule gegangen, davor dort in den Kindergarten... - ‚Neidenburg', so hieß Nidzica früher. ‚Olecko', das war mal ‚Treuburg'. Beide Orte gehören zum Ermland, zu Masuren." Nicht erst als Rentner hat ihn dieser Treffpunkt, ein lichtes, hellgrün leuchtendes Lindenwäldchen interessiert. Es hat ihn schon lange fasziniert. Sobotko tritt zur Seite, gibt den Blick frei: Diese so lauschig anmutende Baumgruppe mit ihren üppigen, sacht rauschenden Wipfeln hat eine klare Funktion. Ihre schmalen Stämme stehen schützend um ein Gräberfeld herum. - Eine Hinweistafel - weiße Schrift auf olivgrünem Hintergrund - klärt auf: "Soldatenfriedhof Orlowo (Orlau). Hier liegen 1101 russische und 326 deutsche Soldaten - gefallen am 23.August 1914." - Heute - auf den Tag - vor einhundert Jahren: "Ich weiß noch: Als ich hier öfters auf dem Weg zu meiner Arbeit vorbeigekommen bin, das muß so 1978 gewesen sein, war nichts davon zu sehen. Da lagen nur ein paar Steine herum. Alles war zugewachsen, überwuchert. Na ja: das war ja mehr als 50 Jahre nach der Schlacht von Tannenberg - mit den Gefechten hier bei Orlau. - Irgendwann dann hat mich einer meiner Förster angesprochen: ‚Chef, ich zeig Ihnen mal was Interessantes... Hier ist ein Friedhof. In diesem Wald liegen etwa anderthalbtausend Menschen." In diesen Jahren waren noch die Kommunisten an der Macht, nannte sich das Land offiziell "Volksrepublik Polen" und gehörte zum so genannten Ostblock unter politischer Bevormundung durch die Sowjetunion. Das aber war dem Oberförster Sobotko, tief in den Wäldern Masurens, erst einmal egal: "Ich hab' mir gesagt: Mir wird schon niemand den Kopf abreißen, wenn wir uns ein bisschen um dieses Gräberfeld kümmern. Und dann hab ich einem meiner Förster gesagt: ‚Schnapp Dir ein paar Arbeiter, entfernt das Gestrüpp und legt alles frei. Lasst nur diejenigen Bäume stehen, die offensichtlich mal bewusst angepflanzt worden sind.` - Und dann haben wir diesen deutschen Friedhof eben wiederhergestellt. - Und den Kopf abgerissen hat mir deswegen natürlich kein Mensch. Das gab's so eine Art stillschweigende Übereinkunft... Darüber hat man einfach nicht gesprochen... Der Wald wächst weiter. Und gut!" Und die Kosten? Wer hat das alles denn bezahlt? - Jetzt gerät Andrzej Sobotko ein wenig ins Schlingern: "Wer das war? - Na, am Ende.... Heute sind das die Gemeinden, die für so etwas aufkommen. - Aber, hm, damals, da hatten wir so eine Art ‚Schwarze Kasse'. An der offiziellen Buchführung vorbei. Verdeckt, verschleiert. Bei uns über die Forstverwaltung ist das gegen Ende der siebziger Jahre auch oft so gelaufen: Die Friedhofsmauer hier, die haben wir gesetzt, das Kreuz aufgestellt - aber irgendwelche Spuren, was das gekostet hat, die werden sie in unserer offiziellen Buchhaltung von damals nicht finden." Längst verjährt sind solche kleine Tricksereien aus real-sozialistischen Zeiten. Sobotko schmunzelt kurz und hintergründig. - Die Leidenschaft für die Geschichte seiner Heimat Masuren hat dagegen nicht nachgelassen. Eine Menge solcher Grabstätten seien über Nordostpolen verstreut, seien restauriert und würden gepflegt - übrigens nicht nur von Angehörigen seiner Generation, von Rentnern, oft noch mit Kindheitserinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, sondern auch viele Menschen mit den unterschiedlichsten Berufen, auch die jüngeren Generationen, bis hin zu Schulkindern, engagierten sich, lobt Sobotko. Sie alle fänden es wichtig, jenen speziellen Zeitabschnitt zwischen 1914 und 1918 in ihrer Nachbarschaft nicht dem Vergessen preiszugeben. Ein Motiv dafür lasse sich hier, auf dem Soldaten-Friedhof von Orlowo-Orlau, beispielhaft besichtigen: "Auf der rechten Seite liegen russische Gefallene in Sammelgräbern, in so genannten ‚Bruder-Gräbern'. Unter jedem dieser Quadrate: 150 bis 200 Soldaten. Namenlos. Auf dem Grabstein steht nur: ‚Unbekannt'. - Auf der linken Seite: Soldaten der deutschen Armee, hauptsächlich einfache Mannschafts-Dienstgrade. In der Mitte des Friedhofs sind die deutschen Offiziere und Unteroffiziere bestattet. Eine Menge polnischer oder eingedeutschter polnischer Familiennamen kann man auf den Steintafeln lesen..." "...Dombrowski... - "Musketier Dombrowski..." - "Kra... Krafczyk..., Krawszhyk..." - "Krafzik..." - "Krawczyk - to po polsku bedzie Krawczyk, Wilhelm...Belewicz..., Belewicz, chyba, tak...?" "Dieser Friedhof ist nichts Abstraktes! Dieser Friedhof ist eine konkrete Spur. Und eine konkrete Lektion. Hier liegen nämlich auch Polen. Polen, die auf beiden Seiten gekämpft haben, als Untertanen des russischen Staates und als Untertanen des deutschen Staates. - Nicht wahr? - Sie alle mussten bei diesem Krieg (unserer alten Teilungsmächte) mitmachen. Aber: Dank dieses Krieges hat Polen seine Freiheit wiedererlangt!" Ein wenig nachdenklich rückt Andrzej Sobotko, der pensionierte Oberförster, seine blaue Baseball-Kappe zurecht. Zeit für ihn aufzubrechen. Er muss nach Hause. Seine Frau wartet. Gäste haben sich angesagt. Dann aber hält er nochmal inne. Lächelt verhalten: "Ach, übrigens: Auf einem dieser Soldatenfriedhöfe aus dem Ersten Weltkrieg, hier in der Nähe, gibt's eine Grabinschrift, die meinen Namen trägt: ‚Sobotko' - Natürlich ein bisschen eingedeutscht: ‚Sa..., Sobottkä..."! - Na, wer weiß? Vielleicht war das ja ein Vorfahre von mir...?" Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wird die südostpolnische Stadt Przemysl am Fluss San zu einer der mächtigsten Festungen des österreich-ungarischen Kronlandes Galizien ausgebaut, jener Grenzprovinz zum potentiellen Gegner Russland. Die überwiegend polnischen Einwohner der Stadt Przemysl sowie die ukrainischen Ruthenen, die Dorfbewohner im Umland, waren seit Ende des 18. Jahrhunderts allesamt Untertanen des Habsburger Kaisers in Wien, nachdem Polen in den Jahren zuvor insgesamt dreimal aufgeteilt worden war - in tatkräftiger gemeinsamer Komplizenschaft mit Preußen und auch mit Russland. - Seit 1795 hörte Polen sogar auf als eigener Staat zu existieren: Genau 123 Jahre lang, bis 1918, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs... Dieser Blickfang vor der mit karmesinrotem Stoff bespannten Wand im Hintergrund des Vestibüls: Eine lebensgroße Bronze-Büste des österreichischen Kaisers Franz-Joseph des Ersten! - Allerdings: Fast ein bisschen derangiert wirkt er. Sein Blick verliert sich sonderbar verstört und verwirrt zugleich - zutiefst melancholisch. Die imposanten, buschig aufgebürsteten Koteletten sowie der langgezogene, üppig die Oberlippe verhüllende Schnauzbart vermögen den Eindruck einer gewissen Verlorenheit nicht zu kaschieren. Der naturalistisch geformte Kopf seiner - laut der damals üblichen Anrede - "Kaiserlichen und Königlichen Apostolischen Majestät" ruht auf einem eher zierlichen Jugendstil-Piedestal, wirkt deshalb ein wenig deplatziert zart, anrührend - all das 1906 modelliert von einem gewissen Georg Kolbe. So steht es auf dem Kärtchen unter dem ordensgeschmückten Brustkorb des Monarchen. Strahlt diese Herrscher-Skulptur nur simplen Altersverdruß aus? Oder plagen den greisen Monarchen schon damals düstere Vorahnungen? Kein Jahrzehnt mehr vor dem Beginn des Großen Krieges, den er und seine Armeeführer mitverantworten werden? - Jacek Blonski zuckt mit den Achseln. Mit dieser Frage hat sich der 49jährige Heimathistoriker am Volksmuseum von Przemysl nun wahrlich nicht beschäftigt. - Noch für seine Großeltern habe "Kaiser Franz" die so genannte "gute alte Zeit", eigentlich sogar den "Frieden" symbolisiert. - Was übrigens dahinten fast pausenlos rumore, sei eine Au-dio-Installation, ein multimedialer Bestandteil der von ihm konzipierten Ausstellung "Die Festung Przemysl im Ersten Weltkrieg"... "...und jetzt gehen wir langsam weiter, hinaus aus diesem Saal, aus der ‚Friedenszeit' vor 1914, durch einen nachgebildeten Verbindungsgang der Festung, hinüber in die ‚Kriegszeit'-Räume. Wir hören Kampflärm, nähern uns dem ‚September 1914'. Russische Truppen sind im Anmarsch auf Przemysl. Bleiben dürfen Zivilisten nur, wenn sie Lebensmittelvorräte für mindestens 90 Tage nachweisen können." Zwei Belagerungen müssen Stadt und Festung erdulden, von Ende September 1914 bis zur Kapitulation am 22. März 1915. Weit über 100-tausend Mann der k.u.k.-Streitkräfte treten danach den Weg in die russische Gefangenschaft an. 20-tausend Gefallene beklagt die österreichische Seite. Das Fünffache an toten Soldaten zählt vor Przemysl die Armee des russischen Zaren: Weit mehr als 100-tausend Tote und Verwundete. Rund 40-tausend Russen - knapp die Hälfte also - fallen bereits in den ersten drei Tagen, als General Dmitriew seine Leute rücksichtslos ins konzentrierte Abwehrfeuer der gewaltigen Festung jagt, um sie zu erobern - wenn auch zunächst vergeblich. Monatelang bleibt dieses Bollwerk ein Stachel im Fleisch der russischen Galizien-Offensive, die eigentlich auf das schlesische Industriegebiet zielt: "Für uns, für die Polen, war das eine riesige Tragödie, weil auch hier in der einen wie in der anderen Armee Soldaten polnischer Herkunft dienten. Ich besitze zum Beispiel das Tagebuch eines russischen Offiziers, eines Kompanie-Chefs namens Chopicki. Das war ein direkter Nachkomme des polnischen Generals Chopicki. Politisch erwünschter Hurrapatriotismus - damit hat Jacek Blonski nie etwas anfangen können. Für ihn, einen Vertreter der jüngeren, postsozialistischen Historikerzunft in Polen, steht wie selbstverständlich der europäische, der internationale Ansatz im Vordergrund, als er vor gut zwei Jahren den Auftrag erhält diese Gedenk-Ausstellung vorzubereiten. Bei den Weltkriegs-Kämpfen an seinem Heimatort Przemysl, davon ist er überzeugt, hätten letztlich alle Beteiligten verloren: Österreicher, Russen und Deutsche - und mit ihnen all jene Polen, die in diesen drei Heeren mit- und gegeneinander gekämpft hätten. Dass im Ergebnis nach 1918 die Rzeczpospolita, die polnische Republik, wiederauferstanden sei, nach 123 Jahren aufgezwungener Nicht-Existenz, das schätze er natürlich nicht gering, aber... "Das ist ein Paradox in der Geschichte Polens! Denn da muß ich mal kurz vorgreifen, zum Zweiten Weltkrieg: 1945 waren wir die de facto vierte Sieger-Armee über die Deutschen. - In Wirklichkeit aber gehörten wir dann zu den Verlierern, denn schließlich fanden wir uns im sowjetisch unterdrückten Ostblock wieder: Zwei Kriege - zwei unterschiedliche Resultate!" Wie unter einer Lupe lasse sich hier herausarbeiten, wie - ausgelöst vom Ersten Weltkrieg - eine Zeiten-, eine Epochenwende begonnen habe: "1914/15 waren die österreich-ungarischen Soldaten, die k.u.k-Armee, unsere Soldaten! Wirklich, so hat man sie allgemein wahrgenommen! Das waren keine fremden Soldaten. Viele Männer aus Przemysl, auch viele andere Polen und Einwohner Galiziens dienten doch in dieser Truppe. - Im Jahr 1918 aber, mit dem Kriegsende, hörte diese Armee auf, unsere Armee zu sein. Allerdings: Feindseligkeiten gegen k.u.k-Offiziere, die hat es nicht gegeben. Und dann fing ja gleich der polnisch-ukrainische Krieg an... Die nächste Etappe in der tragischen Geschichte unserer Erde hier! Menschen, die bisher zusammen denselben Boden bewohnt hatten, mussten nun aufeinander schießen!" Innerhalb einer einzigen Generation, im Verlauf von zwanzig Jahren, zwischen 1918 und 1939, sei es gelungen, Traditionen zu verschütten, Mentalitäten negativ zu verändern, weiß Blonski auch aus Erzählungen seiner Eltern und Großeltern: "Im Jahr 1939, als die deutsche Wehrmacht, in Przemysl einmarschierte, da konnten die Bürger gar nicht verstehen, dass das nicht mehr jene Armee war, an die sich damals die meisten doch noch erinnern konnten, dass das inzwischen eine andere Welt war... - Mein eigener Großvater war 1918 ein junger Mann, Jahrgang 1901, noch ganz in diesem österreichisch-galizischen Geist aufgewachsen und erzogen. Er hat fließend deutsch gesprochen... - 1939, da war er Lehrer. Und da stürmten eines Tages - einfach so! - ein paar junge Wehrmachtssoldaten in seine Wohnung. Mein Opa hat sie angeschrien, heruntergeputzt und rausgeworfen. Kurz darauf kam dann aber ein älterer Wehrmachtsoffizier durch die Tür, wohl ein Österreicher. Und der hat meinem Opa ganz ruhig den Rat gegeben, sich beim nächsten Mal besser nicht so zu verhalten. Denn das könnte für ihn sehr schlecht enden. Jetzt sei halt eine andere Zeit. Und: Auch die Armee sei eine andere." Jacek Blonski nimmt seine randlose Brille ab, hält sie prüfend gegen das Deckenlicht, setzt sie behutsam wieder auf. - Der Schlachtenlärm aus dem Saal nebenan macht gerade mal kurz Pause. Für Blonski markiert die eben geschilderte Episode jenen Zeitpunkt, an dem die Geschichte der Festung Przemysl endgültig zu Ende gegangen sei: Ein ziemlich tragischer Epilog, findet er. - Derlei Zusammenhänge und historische Bögen herauszuarbeiten ist ihm wichtig; "Ich gehöre zum Kreis derer, die ein junges Publikum davon überzeugen möchten, dass der Erste Weltkrieg für unser Volk auch eine Tragödie war. - Dabei ringen wir auch ein wenig mit einer bestimmten Sichtweise auf diesen Krieg, wie sie etwa im ‚Braven Soldaten Schwejk', diesem Roman-Klassiker des tschechischen Autors Jaroslaw Hasek vermittelt wird. - Keine Frage, das ist ein wunderbares Anti-Kriegs-Buch. Trotzdem: So humoristisch wie der Krieg dort geschildert wird, so war das alles eben nicht!" "Wie gut wäre es, wenn der Mensch zwei Leben hätte: eines für den Kaiser, das Vaterland, und das zweite für sich selbst. Nachdem man das Leben für den Kaiser, zu Lande, zu Wasser oder in der Luft geopfert, könnte man immer noch mit dem zweiten Leben nach Hause zurückkehren. Und so kann man es weder sich noch dem Kaiser recht machen. Willst du leben, fliehst du - tust du dem Kaiser Unrecht, und der Kaiser spendiert dir dafür eine Kugel in den Kopf. Sein Recht ist es, denn du hast geschworen. Und du wirst in der Erde faulen. Und drängst du dich an die Front, kriechst in das schlimmste Feuer - tust du dir unrecht und liegst auch in der Erde. Es ist so und so schlecht." Für die kurz vor der Grenze zur Slowakei und knapp 150 Kilometer südöstlich von Krakau entfernte Kleinstadt Gorlice markieren die ersten Mai-Tage 1915 Trauma und Triumph zugleich: Gorlice wird in einer heftig tobenden Schlacht durch Artilleriebeschuss und Häuserkampf fast vollständig dem Erdboden gleichgemacht. Der Blut-Zoll nach den tagelangen Kämpfen in und um Gorlice ist erschreckend hoch: 40-tausend Tote und Verwundete, so die Schätzungen, auf Seiten der Mittelmächte "Deutsches Reich" und "Österreich-Ungarn"; für das russische Heer fallen sie noch viel schlimmer aus: Dort zählen Historiker mehr als 100-tausend Tote und Verwundete sowie bis zu einer Viertelmillion gefangene Soldaten... Blütenweiß strahlt die Tischdecke in der Mittagssonne, die durch die weit geöffnete Balkontür ins Wohnzimmer hineinleuchtet. Exakt ausgerichtet scheinen drei Porzellantassen, ebenso viele Kuchenteller und -Gabeln förmlich darauf zu warten, endlich benutzt zu werden. Doch die Hausherrin, Joanna Probulska sowie Teresa, ihre Freundin aus Kindheitstagen, die gerade zu Besuch ist, haben sich in der Küche nebenan inzwischen schon so viel zu erzählen, dass die liebevoll gedeckte Kaffee-Tafel eben noch ein bisschen warten muß... Als ganz junge Mädchen hätten sich die beiden kaum vorstellen können, dass Deutschland, die deutsche Sprache, in ihrem künftigen Leben noch eine wichtige Rolle spielen würde. Während Teresa zu Beginn der 1980-er Jahre in Krakau einen deutschen Austausch-Studenten geheiratet hat und ihm dann in die alte Bundesrepublik gefolgt ist, hatte Joanna Probulska schon Anfang der 70er Jahre in Krakau ein Germanistik-Studium angefangen - Berufsziel: Deutschlehrerin. "Das war ein ziemlich komischer Zufall! Meine erste Liebe, die jetzt mein Mann ist, lernte ich schon in der Schule kennen, in der ersten Klasse der Oberschule. Und ein paar Tage später stellte sich heraus, dass seine Mutter meine Deutschlehrerin ist. Und ich hatte keine andere Möglichkeit: Ich m u s s t e fleißig Deutsch lernen! Ich hatte keinen Ausweg!" Das sei damals vielleicht der wichtigste, freilich nicht der einzige Grund gewesen, weshalb sie, das polnische Nachkriegskind, sich für die deutsche Sprache, die deutsche Kultur entschieden habe - natürlich wissend, dass die Gräuel der deutschen Terror-Herrschaft zwischen 1939 und Anfang Januar 1945 auch Gorlice nicht verschont hatten. - Dennoch: Die deutsche Sprache habe sie schon immer angezogen, sagt sie. Das dann aber schon wieder auf Polnisch. Seit sie nämlich vor vielen Jahren den Lehrerinnenberuf aufgegeben habe und inzwischen eine Apotheke führe, sei ihr Deutsch nun doch ein wenig eingerostet, entschuldigt sie sich ein bisschen verlegen, betont aber: Die Struktur, die "Ordnung", die Logik der deutschen Sprache - all das liebe sie besonders. Denn: Die Sprache forme doch die Art des Denkens. Und in dieser Hinsicht sei Deutsch eben ihre zweite "Muttersprache". Immer noch höchst aufschlussreich findet Joanna Probulska, wie einmal jemand aus der Generation ihrer Großeltern bemerkt hatte, welchen Stellenwert der Klang der deutschen Sprache hier im so genannten Klein-Polen, diesem ehemals k.u.k-österreichisch beherrschten Teil Polens, noch weit über 1918 hinaus gehabt und erst 1939 verloren habe. Zu k.u.k.-Zeiten - so die Wahrnehmung dieses Zeitzeugen - habe man sich hierzulande auf Deutsch unterhalten. Während des Zweiten Weltkriegs hingegen seien die Polen auf Deutsch angeschrien worden... Nun aber ziehen die warme Sommerluft und der strahlend blaue Himmel Joanna Probulska und ihre Freundin Teresa endgültig nach draußen, zu einem - wie beide geheimnisvoll andeuten - "magischen Ort unserer Kindheit"... Kurz darauf. Keine zehn Minuten Autofahrt, dann endlich führt die schmale Straße, überwölbt von dicht belaubten, sattgrün schimmernden Allee-Bäumen, hügelaufwärts und endet vor den Stufen eines hellgrauen Bauwerks. Auf dem First ein quadratisches Steinkreuz. Die Mitte dieses entfernt an eine Kapelle erinnernden Gebäudes dominiert ein hohes, offenes, nach oben halbrundes Eingangstor. - Joanna Probulska ist ein wenig außer Atem geraten: "Hier befinden wir uns auf dem größten Militärfriedhof aus dem Ersten Weltkrieg in unserer Gegend. Von hier aus kann man auf die ganze Stadt hinunterschauen. Jetzt öffnen wir das Eisengitter... und sehen auf den Mauersteinen und Stufen viele Graffitis und auch eingravierte Herzen. Das hier ist längst ein sehr populärer Ort für unsere Liebespaare, inzwischen eher ein Park als eine Begräbnisstätte. - Wer weiß, vielleicht ist hier sogar schon das eine oder andere Kind gezeugt worden?" Teresa Sendecka, Joannas in Deutschland lebende Jugendfreundin, spielt versonnen mit dem quietschenden Gittertor. Ein bisschen lachen musste sie, als Joanna erzählt, wie hier im Lauf der Jahre das Zivile das einst Martialische längst unauffällig abgelöst hat. Aber, meint sie, eigentlich sei das doch schon damals so gewesen, als sie noch Kinder waren... Joanna Probulska nickt. Selbst als Teresa dann doch ein wenig einschränkt: "Also ich würde hier wahrscheinlich nicht in der Nacht raufkommen. Aber das war kein gruseliger Ort. Das war kein belasteter Ort. Das war einfach ein wunderbarer Spielplatz - also auch nicht mit Laufen und Schreien sondern einfach einladend..." Dazu habe die Kinder übrigens niemand ermahnen müssen. Das Besondere dieses Ortes, dieses Krieger-Friedhofs Nr. 91, das hätten sie wahrscheinlich ganz instinktiv gespürt... Ein bisschen Rührung, vielleicht auch einen Anflug von Melancholie, will Teresa Sendecka dann doch zulassen. Denn: All die in dieser Sommer-Idylle jäh wieder auftauchenden Kindheitserinnerungen hätten ihr nämlich deutlich gemacht... "...dass ich alt geworden bin. Das ist einfach die Vergangenheit. Das war schön. Aber das ist nicht mehr da." Und auch hier wieder: Österreichische, deutsche und natürlich viele polnische Namen auf den Grabsteinen. 852 tote Soldaten liegen hier.- Doch fehlen die Namen der russischen Toten: Sie wird man - wie auf so vielen polnischen Militärfriedhöfen aus dem Ersten Weltkrieg - vergebens suchen... "Ich weiß, dass es für die Russen schon damals offenbar nicht sehr wichtig gewesen ist, ihre Gefallenen zu beerdigen. - Heute noch gibt es im Moskauer Umland Wälder, wo man immer wieder auf unbestattete Knochen auch aus dem Zweiten Weltkrieg stößt. Das Leben der einzelnen Menschen hat dort eben nie viel gezählt..." Im kommenden Jahr, in den ersten Mai-Tagen 2015, jährt sich die Schlacht von Gorlice zum hundertsten Mal. - Mindestens dann ließe sich doch vielleicht auch der russischen Toten gedenken - mit einer Delegation aus Moskau womöglich... Joanna Probulska schürzt skeptisch die Lippen... "Ich weiß nicht, ob wir heute schon fähig sind vorherzusagen, wie (wegen der Kämpfe in der Ukraine) die polnischen Beziehungen mit Russland aussehen werden... Noch vor einem Jahr - hier an diesem Ort - wäre meine Antwort klar gewesen: (Positiv)! - Aber zum jetzigen Zeitpunkt? Würde solch eine russische Delegation nicht vielleicht sogar ausgepfiffen werden??! Ich weiß es nicht..." Das waren "Gesichter Europas": "Sieg in der Niederlage" - Polen im Ersten Weltkrieg - Die Wiedergeburt eines Staates" - Eine Sendung von Robert Baag. Mit Ausschnitten aus dem Roman "Das Salz der Erde" von Józef Wittlin, aus dem Polnischen übersetzt von Izydor Berman, gelesen von Axel Gottschick. Musik und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Gunter Rose, Hanna Steger und Jutta Stein. - Redaktion: Anne Raith. ************ 26