COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Nachspiel vom 09.02.2014 // Autorin: Monika Köpcke ------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ Kasten, Bock und Barren - Wer hat Angst vorm Schulsport? ATMO: Herzklopfen TAKE 1: (Brandl 01'00) Plötzlich wird die Atemfrequenz und die Herzfrequenz erhöht, man kriegt schweißige Finger und wird einfach nervös. TAKE 2: (Ketelhut 20'34) Natürlich ist es eine erhöhte Aufmerksamkeit, eine erhöhte Erregung. Aber die darf nicht zu stark ausgeprägt sein. Dann führt es eher zu Verkrampfung, zu Verspannung, zu eben auch Blockaden. AUTORIN: So fühlt sich Angst an. Angst, bei der das Fluchtprinzip - nur weg hier! - mit dem Schwungprinzip - mit einem kräftigen Anlauf komm ich da schon rüber! - eine unglückliche Liaison eingehen kann. TAKE 3: (Ketelhut 21'30): Man läuft noch zum Bock an und stoppt vorher ab. Das ist typisch. ATMO: Herzklopfen AUTORIN: Angst im Sportunterricht, das ist die Angst zu versagen, sich zu verletzen, ausgelacht zu werden. Lara, Anna und Philip kennen sie gut. Lara und Anna aus ihrer wenige Jahre zurückliegenden Schulzeit, Philip aus seiner Grundschule, von der er vor zwei Jahren aufs Gymnasium gewechselt ist. TAKE 4: (Lara 0'18 / 02'22) Eigentlich hat mir Bewegung und Sport Spaß gemacht. Nur Sportunterricht hat mir meistens keinen Spaß gemacht. Was überhaupt gar nicht ging, war alles, was mit Bällen zu tun hatte. Und das hat mir niemand beigebracht, also ich hab keine Übungen, keine Techniken gelernt, um da rauszukommen und war immer diejenige, die nicht werfen und nicht fangen konnte und es auch nicht wollte. Ich hab dann ziemlich schnell gemerkt, es macht dann für mich keinen Sinn, einfach nur gesagt zu bekommen: Wir spielen jetzt Handball.' Da wurde mir dann schon wieder heiß, weil ich halt gewusst hab: Okay, jetzt geht wieder das los, was ich nicht kann. TAKE 5: (Philip 07'10 /04'05) Die wollten immer, dass wir gute Leistungen vollbringen, haben uns aber nie was richtig beigebracht und das nie erklärt. Und manchmal, wenn jemand irgendwas nicht konnte, haben die gesagt: Zeig das mal vor den anderen, denn so geht es nicht. TAKE 6: (Anna 07'25) Am Schwebebalken haben wir auch gemacht, dass man einen Handstand draufmacht oder ein Rad. Das ist schon krass, da die Hände richtig zu plazieren. Ich meine, den meisten Mädchen macht's ja auch Spaß. Ich war da eher so ne Art Außenseiterin.. Aber ich hatte einfach Angst. Fertig, aus. ATMO: Trillerpfeife TAKE 7: (Brandl 00'53) Sportliche Aktivität ist ja in unserer Gesellschaft durchaus als jugendspezifische Altersnorm zu sehen. Schon seit 20, 25 Jahren gehört zum Jugendlich-Sein auch das Sportlich-Sein dazu. AUTORIN: Und passend dazu ist für viele Kinder Sport das Lieblingsfach Nummer eins. Das ging auch Hans Peter Brandl-Bredenbeck seinerzeit nicht anders. Der Sportpädagoge ist Direktor des Institus für Sportwissenschaft an der Universität Augsburg. TAKE 8: (Brandl 01'37) Sportliche Aktivität, wenn man es an Parametern festmacht wie Vereinszugehörigkeit, dann erreicht der Sport sehr viele Jugendliche. Das heißt, von den 10- jährigen Kindern sind ca. 60 Prozent in Sportvereinen organisiert. Das nimmt im Alter etwas ab, bei den 15- bis 16-jährigen sind es immer noch zwischen 40 und 45 Prozent, die Mitglied in einem Sportverein sind. AUTORIN: Doch seit einigen Jahren zeigen immer wieder Studien: Viele Kinder und Jugendliche bewegen sich zu wenig und sind zu dick. Geschicklichkeit, Kraft und Ausdauer nehmen stetig ab. Wen wundert's, wenn die Playstation allenfalls den flinken Daumen verlangt oder man sich lieber den ganzen Nachmittag bei WhatsApp rumtreibt, anstatt mit den Kumpels im Park zu kicken. Aber - liegt die Sache wirklich so einfach? Professor Brandl-Bredenbeck wollte es genauer wissen. TAKE 9: Und insofern haben wir uns die Frage gestellt: Was sind tatsächlich die Gründe, die die Jugendlichen selbst formulieren für ihre sportliche Inaktivität? AUTORIN: Auf der Suche nach Antworten interviewte ein europäisches Forscherteam unter Professor Brandl-Bredenbecks Leitung zwei Jahre lang Jugendliche von 12 bis 16 Jahren.Neben Deutschland waren noch Schweden, Belgien, England, Italien und Griechenland an der Studie beteiligt. Das Ergebnis: Aus welchem dieser Länder die Jugendlichen auch kamen, als ersten Grund für ihre Enthaltsamkeit nannten sie die schlechten Erfahrungen, die sie im Schulsport gemacht hatten. TAKE 10: (Brandl 10'14 / 12'24) Die Schüler haben uns eben länderübergreifend berichtet, dass es immer wieder Situationen gibt, in denen sie etwas vormachen sollen, um zu zeigen, wie es nicht geht. Sie werden oft aufgrund ihrer mangelnden Kompetenz von Mitschülern und Lehrern beleidigt. Der Lehrer neigt auch gelegentlich dazu, diese Schüler nicht ernst zu nehmen und sie dann für entsprechendes Fehlverhalten auch mit Strafen zu belegen: Extrarunden laufen, Liegestützen machen, so diese klassischen Dinge. Also das ganze Setting, der ganze Rahmen ist für die Schüler emotional negativ besetzt. ATMO: Herzklopfen .... blenden mit ... SPRECHER (ruft aus dem Hintergrund): Und - los geht's! - und pfeift kurz und zackig auf der Trillerpfeife TAKE 11: (Brandl 17'00) Auch das Klassenzimmer ist öffentlich. Auch hier wird das Scheitern öffentlich. Was im Sport das Besondere ist, ist die Manifestierung im Körperlichen. Man steht da als ganze Person in einer exponierten, körperlich sichtbaren Situation, die nicht so günstig ist. Weil gerade Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung sich sehr viel mit ihrer Körperlichkeit auseinandersetzen müssen. Der Körper steht in vielen Dingen im Mittelpunkt, der Körper verändert sich permanent. AUTORIN: Von schlechten Erfahrungen im Schulsport können viele ein Lied singen. 30 bis 40 Prozent aller Schüler, so das Ergebnis der Studie, verbinden den Sportunterricht mit so miesen Gefühlen, dass sie auch in ihrer Freizeit alles meiden, was mit Bewegung zu tun hat. Im Verein, auf dem Bolzplatz oder auf der Skaterbahn sind diese Kinder und Jugendlichen nicht zu finden. Ihnen fehlt es an Vertrauen zum eigenen Körper und zu dessen Leistungsfähigkeit. TAKE 12: (Brandl 33'53/08'23) Es stellt sich erst mal die Grundfrage: Müssen wir 100 Prozent erreichen? Können wir nicht mit 60, 70 ganz gut leben? Das wäre eine Position. Die andere Position ist natürlich auch gesundheitsorientiert und damit auch gesellschaftspolitisch begründet. In den meisten Ländern ist der Schulsport ja dazu angelegt, zu einem lebenslangen Sporttreiben außerhalb der Schule zu animieren. Und diese Aufgabe, so unsere Schlussfolgerung, kann er eben für diese Gruppe nicht erfüllen. ATMO: Trillerpfeife TAKE 13: (Anna 06'42) Solche Sachen haben viel mit dem Kopf zu tun, also mit trauen: Ich trau mich, dann schaff ich das auch. Und bei mir wars bei allen Sachen so: Da kann ich mir wehtun. Ich bin sonst gar nicht so ängstlich, aber bei diesem Bodenturnen und Geräteturnen war immer: Da kann ich mir wehtun. TAKE 14: (Philip 08'24) Da gab es so ne Szene beim Bockspringen. Da sollte ich rüberspringen und dann konnte ich es nicht. und bin da seitwärts runtergefallen und bin erst mal liegengeblieben, weil ich mir total wehgetan hab. Und der Lehrer steht da so, macht nicht mal ne Geste, mir zu helfen, guckt mich einfach nur an und sagt dann nach ner langen Zeit: Was war das denn? Nennst Du das nen Bocksprung? TAKE 15: (Lara 08'05) Ich bin hinterhergeschlurft. Da kam ja eins und eins zusammen, weil ich den Ball ja gar nicht haben wollte. Ich wollte ja gar nicht angespielt werden von irgendjemandem. Zum anderen wussten das meine Mitspieler natürlich auch. Die haben gewusst, wenn sie mir den Ball entgegenwerfen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich ihn nicht fange, relativ groß. Und da war ich dementsprechend auch immer so ein blinder Fleck in diesen Teams, was natürlich die Übung nicht verbessert hat. ATMO 1: (SU 38'35): Kinderrufen - Pfiff - Hallenantmo AUTORIN: 90 Minuten Sportunterricht stehen an diesem Vormittag für die 3b der Berliner Gustav-Falke-Schule auf dem Stundenplan. Die Schule liegt in einem sogenannten Problemviertel. Viele Kinder kommen aus sozial schwachen Familien. Bewegungsmangel und Übergewicht sind keine Ausnahmen. TAKE 16: (SU 00'37 / Schülerin): Sport ist ja auch gut für unseren Körper. Aber das Rennen mag ich nicht so, das ist halt richtig anstrengend, obwohl es gut ist für unseren Körper. TAKE 17: (SU 08'36 / Schüler) Ich mag eigentlich jede einzelne Sportart. TAKE 18: (SU 10'00 / Schüler) Ich mag's nicht, wenn man beleidigt wird. TAKE 19: (SU 20'57 / Lehrer): Ich brauch mal nen Klettermax. - klatscht - Alexander, komm, ... AUTORIN: Sportlehrer Oliver Fromm hat die Schüler in zwei Gruppen geteilt. Die einen sind mit einem Ballspiel beschäftigt, mit den anderen trainiert er an den Stangen. Von einem Kasten aus sollen sich die Kinder gut einen Meter über dem Boden von Stange zu Stange hangeln. TAKE 20: (SU 21'55 / Lehrer) Arme rüber, Beine rüber, festkrallen, zack. Wie ein Affe klettert er rüber. Und langsam runter. Perfekt vorgemacht! - Kinder klatschen - TAKE 21: (SU 29'33 / Schülerin): Das ist sehr, sehr schwierig // Ja, für mich war es auch schon schwierig, aber ich hab's ja schon mehrmals probiert und dann ging's ja schon einfacher. TAKE 22: (SU 35'16 / Schülerin) Und Ada in unserer Klasse, der geht immer in irgend so ne Ecke und traut sich nicht, auf der Stange so hin und her zu gehen. Ich trau mich, aber ich schaff es nie immer alles. AUTORIN: Ada ist nicht das einzige dicke Kind in der Klasse, aber er ist der einzige, der von vornherein aufgibt. TAKE 23: (SU 47'27 / 58): Jeder kann alles machen, nur ich nicht. Nur, weil ich ein bißchen dick bin. AUTORIN: Immer wieder geht Oliver Fromm zu Ada und schafft es, ihn zu - wenn auch halbherzigen - Versuchen zu überreden. TAKE 24: (SU 33'00): Ich möchte nicht mehr. Das ist ganz schwer und das tut auch weh. AUTORIN: Es kostet Zeit, Ada immer wieder aus seiner Ecke herauszuholen und zu motivieren. Zeit, in der die anderen Kinder ohne Aufsicht und ohne Hilfestellung weiter an den Stangen klettern. Man wünschte Ada einen Coach, der nur für ihn da ist und die Zeit hat, mit ihm bis zu den ersten Erfolgserlebnissen zu trainieren. Wie soll ein Lehrer, der gleichzeitig für 25 Kinder da sein muss, das schaffen? TAKE 25: (Fromm 09'07): Es gibt, glaube ich, zwei Arten von Kindern. Das sind einmal diese Schüchternen, generell Ängstlichen, das ist die Angst, die sich so im Kopf abspielt. Und das sind die Kinder, die im Sport generell Probleme haben, also die Unsportlichen. Das sind dann eigentlich zwei verschiedene Ängste und das ist auch immer schwierig, mit diesen unterschiedlichen Ängsten umzugehen. 20'38: Man muss versuchen, dem Kind zu zeigen, dass es einerseits wichtig ist, seine Angst zu kennen, damit auch umzugehen und notfalls zu sagen: Okay, wenn Du das nicht machen willst, dann versuchst Du halt ne andere Übung oder machst die Übung reduziert. AUTORIN: Es scheint eine Herkulesaufgabe zu sein, als Sportlehrer alle Schüler unter einen Hut zu bringen, denn die Zusammensetzung der Klassen hat sich stark verändert. Ein stabiles Mittelfeld bricht mehr und mehr weg. Stattdessen gibt es zum einen die sportlich sehr Aktiven, die im Unterricht gute Leistungen bringen und auch in ihrer Freizeit Sport treiben. Die andere Gruppe sind die Schüler mit massiven Bewegungsbeeinträchtigungen. Und die Schere zwischen diesen beiden Gruppen geht immer weiter auseinander. TAKE 26: (Fromm 16'45) Ich versuche dann auch immer, Sportarten auszuwählen, wo auch die etwas kräftigen oder die unsportlichen Kinder Vorteile haben. Zum Beispiel kämpfen und ringen ist so ne Sache, die auch im Lehrplan als Themenfeld ist, wo dann wirklich ein schweres Kind es schafft, ein sportlicheres Kind zu besiegen. Viele Kinder haben auch einfach ein taktisch gutes Verständnis. Die können sich nicht so schnell bewegen, aber begreifen Spiele ganz schnell und begreifen schnell, welche Vorteile es haben kann, sich aufzustellen. Im Turnen ist es möglich, Aktobatik-Figuren einzuüben, wo die Starken unten das Fundament geben. Wo denen klar gemacht wird, ohne euch da unten geht es gar nicht. Wir brauchen zwar den Flinken, Schnellen, der nach oben kraxeln kann, aber wir brauchen auch den unten. Dass jeder da gebraucht wird, das ist wichtig. ATMO: Herzklopfen .... blenden mit ... SPRECHER (ruft wieder aus dem Hintergrund, aber nun etwas näher): Und der nächste! Los! - pfeift mit Trillerpfeife TAKE 27: (Fromm 26'33) Wir haben als Sportstudenten im Turnen Handstand-Überschlag über einen Kasten gemacht. Wir waren damals eine Sportgruppe von 20 Studenten. Von diesen 20 Studenten haben zwei die Zielübung Handstand-Überschlag über den Kasten geschafft. In der Grundschule ist das jenseits von gut und böse und auch in der Oberstufe weiß ich nicht, ob das wirklich so ne Sache ist, nen methodischen Weg für Handstand-Überschlag über nen Kasten zu finden. AUTORIN: Seit sieben Jahren arbeitet Oliver Fromm als Sportlehrer. Das Rüstzeug für den Umgang mit ängstlichen, unsportlichen oder unmotivierten Kindern hat er sich in dieser Zeit selbst erarbeitet. TAKE 28 (Fromm 25'59 / 07'22): Also die Ausbildung, die ich hatte, die geht an der Realität zumindest im Grundschulbereich vollkommen vorbei. Diese Angst der Schüler, dieses Arbeiten mit den Kindern, auch das Überwinden dieser Ängste, das ist meiner Meinung nach im Sportstudium etwas kurz gekommen. ATMO 2: (SU 53'04) Pfiff - Lehrer ruft: Alle mal bitte zu mir, alle mal bitte zu mir ..... AUTORIN: Der Sportunterricht geht langsam zu Ende. Die letzten Minuten nutzt Oliver Fromm, um sich mit den Schülern auf dem Hallenboden zusammenzusetzen und die Doppelstunde noch mal durchzusprechern. TAKE 29: (SU 58'32) ... Ramadan hat sich am Anfang gar nicht an die Stange herangetraut und Karshim auch nicht. Aber ihr habt versucht, das zu machen und ihr habt's dann wirklich geschafft, teilweise bis zum Ende. Ich find das toll, wie ihr euch überwunden und das probiert habt. Und Ada, Du hast auch eine Stange komplett .... unterlegen und ausblenden AUTORIN: Oliver Fromm als Sportlehrer zu bekommen, bedeutet: Glück gehabt. Bei ihm wird niemand beschämt. Die Regel ist das leider nicht. ATMO: Trillerpfeife TAKE 30: (Anna 02'00) Wir hatten so ne kleine ehemalige Balletttänzerin und die hat mich rausgepickt, um auf dem Schwebebalken eine Übung vorzumachen, eine Rolle vorwärts. Und da hab ich mich dann so verkranpft, - und sie hat mich dann auch noch angeschrien, ich soll mich nicht so verkrampfen - und ich bin dann von dem Schwebebalken runtergeknallt und auf den Rücken und dann war ich auch noch Schuld, weil ich das nicht gut gemacht hatte. TAKE 31: (Lara 03'30): In der 7. Klasse oder so, da haben wir Hochsprung gemacht. Da musstern wir uns schön in der Reihe aufstellen und dann immer nacheinander rüber, und dann wurde die Latte immer ein bißchen höher gehängt. Und da habe ich dann, ohne jetzt doll gefallen zu sein, gesagt: Die nächste Runde möchte ich nicht mitmachen, da habe ich Angst vor, das ist mir zu hoch. Und da hat mein Sportlehrer gesagt: Ja, das ist ne Arbeitsverweigerung, das heißt, für den Rest des Unterrichts würde dann da ne 6 stehen. Ich glaube, das sollte an meinen Ehrgeiz appellieren, hat nicht funktioniert, sondern hat mir einfach nur Angst gemacht. Und mir klar gemacht: Ich hab keine Wahl, ich muss das jetzt machen. Ich bin da rüber gesprungen, bin doof gefallen und hab mir nen Bänderriss am Fuß geholt. TAKE 32: (Philip 10'46) Man kann ja auch über sich selber mal ein bißchen lachen. Aber in meiner alten Schule war es so, dass die ganze Klasse manchmal über einen gelacht hat und auch noch drei Wochen später nachgehakt haben: 'Oh, wisst Ihr noch, der Bocksprung von dem, wie der aussah? Ich lach mich darüber immer noch kaputt'. ATMO 3: Kinder zählen ab: Piss-Pott, Piss-Pott .... TAKE 33: (Hanke 02'49) Zu Beginn des Semesters habe ich hier im Hörsaal die 120 Studenten gefragt: Wer durfte denn von Ihnen immer die Mannschaften wählen? Und dann gehen begeistert alle Hände hoch. ATMO 3: ... Piss-Pott - Gewonnen! TAKE 34: Und dann kommt meine zweite Frage: Wer von Ihnen hat denn den beiden Letzten mal intensiv in die Augen geschaut? Dann meldet sich niemand. AUTORIN: Das gnadenlose Mannschaftswählen, bei dem die guten Sportler sich darüber streiten, wer von den beiden Letzten die größere Flasche ist, das Vorturnen lassen, das Tolerieren von Hänseleien oder das Abfordern von Übungen, die nur nach dem Alles oder Nichts-Prinzip funktionieren - gelingen oder scheitern -, all diese Kardinalfehler kennt Professor Udo Hanke zur Genüge. Seit 40 Jahren bildet er an verschiedenen Unis Sportlehrer aus, zuletzt an der Universität Koblenz-Landau. Dass sich mit der Verjüngung des Kollegiums die Methoden quasi von selbst ändern, daran glaubt der Sportpädagoge schon lange nicht mehr. TAKE 35: Hanke 01'31 / 45'07): Das scheint fast genetisch verankert zu sein, dass bestimmte Situationen, - diese Isolierung und Ausgrenzung oder Bloßstellung - bei den jungen Lehrern einfach wiederholt werden, als ob sie es direkt übernommen hätten von ihren eigenen Sportlehrern. Man denkt immer, das sind nur die alten, aber man erlebt es auch bei den jungen. AUTORIN: Wer Sport studiert, stand als Schüler gewiss nicht mit dem Sportunterricht auf Kriegsfuß. Die zukünftigen Sportlehrer waren vielmehr die Besten ihrer Klasse, diejenigen, die als erste in eine Mannschaft gewählt wurden, und die nicht andauernd ihr Sportzeug 'vergaßen', um nicht mitmachen zu müssen. Es verlangt einen grundlegenden Perspektivwechsel, vom sportbegeisterten Schüler auf die Lehrerseite zu wechseln. TAKE 36: (Hanke 26'40 / 16'50) Viele kommen nur mit dem Aspekt Wettkampf / Leistung hierher und dann verlange ich von denen immer, sich einen Nichtsportler zu suchen, jemand, der sagt: Sport ist nicht mein Ding, und dann zu interviewen, warum sie keinen Sport treiben. Und dann kommen sie mit einem 3, 4-seitigem Interviewtext, wo häufig Schilderungen von beschämenden Situationen drin sind. Ich denke, dass dann bei Vielen zum ersten Mal der Blick gewechselt wird auf: Warum gibt es denn überhaupt bewegungsferne Kinder und Jugendliche? AUTORIN: In den Lehrplänen der meisten Bundesländer ist dieser Perspektivwechsel bereits formuliert. Nicht die normierte Bewegungs-Ausführung ist das Lernziel, sondern die Vermittlung von Bewegungs-Erfahrung. So spricht man heute nicht mehr einfach nur von Sportarten, sondern von Bewegungsfeldern: 'Laufen, Springen, Werfen' heißt so ein Bewegungsfeld, oder 'Gleiten, Fahren, Rollen'. Jedes Bewegungsfeld soll den Schülern aus verschiedenen Perspektiven nähergebracht werden. Das können sein: Gesundheit, Ausdruck, Gemeinschaft oder Wagnis. So soll auch der dicke, langsame und schwache Schüler den zu ihm passenden Zugang zum Sport finden. Der theoretische Boden für einen angstfreien Sportunterricht ist also durchaus bereitet. TAKE 37: (Hanke 43'42) Die Frage ist natürlich: In den 3, 4 Jahren, wo man die Sportstudenten vielleicht formen kann an der Universität im Rahmen der Ausbildung, wie erfolgreich ist man da im Umdenken, im Anregen zu Reflexionen über das eigene Sportverständnis, im Sichhineinversetzenkönnen in schwächere Schüler. Und das ist ne spannende Aufgabe und die hab ich jetzt ein Leben lang gemacht. Und es hat mich immer wieder gefreut, dann zu sehen, wenn man sie im Referendariat oder in den Praktika erlebt, dann zu sehen, es hat vielleicht doch etwas gefruchtet. ATMO: Trillerpfeife TAKE 38: (Philip 04'27) Da sollten wir uns mal zu zweit zusammenfinden und sollten alles, was zu Bodenturnen gehört, Rad, Kopfstand, Handstand, sollten wir üben und nach 10 Minuten haben die Lehrer gesagt, dass jeder mal was vorzeigen sollte außer Vorwärts- und Rückwärts-Rolle. Und da sind ganz viele gescheitert. Bei denen sah das nicht so gut aus oder sie konnten's nicht. Und am Ende haben die Lehrer, die hatten sich Notizen gemacht, ganz viele Namen hatten die sich aufgeschrieben, und haben vor der ganzen Klasse gesagt: Die Namen, die wir gerade genannt haben, das ist alles von Schülern, die das nicht können. TAKE 39: (Lara 29'00 / 25'02) Ich hab nie in Sport einen Test gemacht, der mit Wissen zu tun hat. Fände ich auch mal ne Idee. Es gibt ja durchaus viel Sportwissenschaft und Theorie und Dinge, die man wissen kann. Dass man selber versteht, wie der Körper funktioniert, und dementsprechend auch verschiedene Stellschrauben gesagt bekommt, an denen man so ein bißchen drehen kann. TAKE 40: (Anna 09'08) Handstand abrollen, das konnten die Mädchen dann nachher ohne Hilfe. Dann gabs welche, die konnten das mit einer Hilfe. Und bei mir, wie Oma, mit zwei Hilfen, wo Du praktisch nur festgehalten wirst. Da hast du nur 6, 7 Punkte gekriegt und die anderen hatten 15. Also das hat sich ja dann auch auf die Note ausgewirkt. ATMO: Trillerpfeife TAKE 41: (Ketelhut 00'50) Schüler empfinden einfach die Situation, beispielseise wenn sie als Letztes ins Ziel kommen, als enorme Blamage vor den anderen. Das hat doch enorme Effekte auf das Selbstwertgefühl. AUTORIN: Kerstin Ketelhut, Sportlehrerin am Berliner John-F.-Kennedy-Gymnasium. TAKE 42: (Ketelhut 02'12) Man hat natürlich als Lehrer gelernt, man muss, einfach um solche Mißerfolgserlebnisse zu reduzieren, binnendifferenziert arbeiten. Es können eben nicht alle in gleicher Weise über nen langen Kasten springen. Man muss dann eben nen kleinen Bock und nen Kasten quer und nen Kasten längs aufstellen und dann kann jeder sich das suchen, was er kann. Klar wird das natürlich letzten Endes anders benotet. AUTORIN: Natürlich schwingt der große Schlacksige nicht so elegant am Reck wie der kleine Drahtige, höchstwahrscheinlich wird die Bohnenstange mit weniger Anstrengung die 50 Meter sprinten als der kurzbeinige Moppel - wenn die körperlichen Voraussetzungen so unterschiedlich sind, sind Noten dann nicht einfach nur ungerecht? TAKE 43: (Ketelhut 36'23) Da gibt's auch ne Karrikatur, wo ein Spatz, eine Maus, ein Elefant und eine Giraffe vor einer Hürde stehen und sie sollen alle da rüber. Und das zeigt: Es ist eben so ungleich, und warum bewertet man dann alle nach der gleichen Tabelle? AUTORIN: Sportunterricht ohne Noten? Einfach nur, weil es Spaß macht? Könnte das ein Weg sein, das übergeordnete Lernziel des Schulsports zu erreichen? Könnte das die Kinder zu einem Sporttreiben auch außerhalb der Schule motivieren? Kerstin Ketelhut ist skeptisch. Sie befürchtet, dass mit dem Wegfall des Notendrucks genau jene Schüler wegblieben, die Sport am meisten nötig hätten. Vielmehr sollten die Lehrer ihren Spielraum für die Notenvergabe besser nutzen. TAKE 44: (Ketelhut ( 05'16 //30'51) Inzwischen ist es so, dass das Curriculum so aufgebaut ist, dass es nicht nur um Leistung geht, sondern auch um andere Kompetenzen. Also 50 Prozent macht die Leistungsnote aus, aber 50 Prozent ist der allgemeine Teil, wo das Sozialverhalten ne Rolle spielt, die Mitarbeit, und, und, und. Und es wird eben nicht nur die absolute Leistung gezählt, sondern auch die Leistungsentwicklung. Und es gibt natürlich auch Kinder, die ernten ne Menge Erfolgserlebnisse durch den Sportunterricht, die darf man ja auch nicht vergessen. Es ist ja nicht nur so, dass es angstbesetzt ist, sondern es gibt viele, die sagen: Okay, ich bin zwar in Mathe schlecht, aber ich hab in Sport ne eins. Und da holen sich viele Kinder ne enorme soziale Anerkennung. ATMO: Herzklopfen ... blenden mit ... SPRECHER: (nicht mehr aus dem Hintergrund, sondern nun ganz nah): Und jetzt Du! Und los! - Pfiff auf Trillerpfeife AUTORIN: Jenseits aller Bemühungen, die Lehrpläne dem bewegungsfernen Alltag vieler Kinder anzupassen, bleibt es doch zu einem großen Teil reine Glückssache, ob die Beziehung zum Sportunterricht eine harmonische wird oder eben nicht. Professor Hans Peter Brandl-Bredenbeck: TAKE 45: (Brandl 41'10) Es gibt eine relativ aktuelle Metastudie des Kollegen Hattie, der sich mit der Frage beschäftigt hat: Was ist der wichtigste Faktor für den Lernerfolg von Schülern? Und er hat etliche Hunderte von Studien - und die beziehen sich wiederum auf Tausende, Zehntausende befragte Kinder und Jugendliche - da hat er als den wichtigsten Faktor für Lernerfolg von Schülern die Lehrperson identifiziert. AUTORIN: Auf den Lehrer kommt es also an. Keine überraschende Erkenntnis. Sicherlich. Aber nicht überall ist sie anzutreffen. Möge das Beispiel Oliver Fromm weiter Schule machen - im wahrsten Sinne des Wortes. Dann müssten weiniger Kinder die Erfahrungen von Philip, Anna und Lara wiederholen. Anna zumindest hat ihren Frieden gemacht mit dem Sportunterricht. Im zweiten Anlauf sozusagen. Mehr noch: Sie hat sich Erfolgserlebnisse organisiert - mit Hilfe ihres Lehrers. TAKE 46: (Anna 12'37) Nachher, als man die Kurse wählen konnte auf dem Gymnasium, habe ich mir Basketball ausgesucht. Und das war ein Paradies, ein Sportparadies, das war so schön. Das war einfach Sport so mit der Freude, die es eigentlich sein muss. Und der Lehrer war toll. Musikzitate: Interpret: Eels, Titel: Fresh Blood von der CD "Hombre Lobo" 12