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OT "Es geht alles in die Höhe. Wir sind auf immer dichterem Raum zusammen, die Mobilität in den Städten wird ein Riesenproblem, die Logistik, auch das Wasser, die Energiezufuhr, die Straßen. Alles wird sich rapide ändern, und das setzt für die Menschen neue Maßstäbe hinsichtlich Anpassung." Sprecher 1 Willkommen im Jahrhundert der Städte! Sprecherin Nach Definition der UN gilt eine Großstadt als "Megacity", wenn sie eine Einwohnerzahl von mindestens zehn Millionen hat. Megacities sind ein relativ junges Phänomen. 1975 lebten lediglich in New York, Tokyo und Mexiko-Stadt mehr als zehn Millionen Menschen. Inzwischen gibt es über dreißig solcher Riesenstädte. Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Urbanisierung zu den größten Veränderungen zählt, die die Menschheit je durchgemacht hat - das hat auch Einfluss auf ihre Psyche. Sprecherin Zum Beispiel Lagos in Nigeria. 1931 zählte die Stadt gerade mal 126.000 Einwohner. Die Hafenstadt vergrößerte sich so schnell, wie kaum eine andere Metropole weltweit. Über elf Millionen Menschen leben heute im Großraum Lagos, fast jeder zehnte Nigerianer. Ganz ähnlich Kinshasa. Der belgische Schriftsteller David van Reybrouck besuchte die Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo zum ersten Mal 2003. OT Reybrouck "So eine Stadt wie Kinshasa hatte ich noch nie gesehen: Es ist ein riesiger Fleck, die unsichtbare Stadt, wie sie ein großer belgischer Anthropologe nennt. Kinshasa ist ohne Strukturen, ein Riesendorf, das wächst und wächst. Als ich 2003 zum ersten Mal da war, hatte die Stadt sechs Millionen Einwohner, jetzt sind es ungefähr zehn Millionen." Sprecherin Die bevölkerungsreichste Megacity der Welt ist die Region Tokio-Yokohama mit 37 Millionen Einwohnern. Und, sagt Florian Holsboer, Direktor des Max Planck Instituts für Psychiatrie, diese leben relativ friedlich zusammen. OT "Das ist sehr schwer zu verstehen, wieso die Asiaten mehr Toleranz gegenüber dieser Dichte haben, sich in U-Bahnen hineinzwängen, quasi koordiniert über die Straße gehen müssen, um nicht übereinander zu trampeln. Alle diese Phänomene könnte ich mir in Amerika oder Europa schlecht vorstellen. Möglicherweise spielt die andere Religion eine Rolle. Es kann sein, dass eine andere Grundveranlagung, die sowohl aus der soziokulturellen Entwicklung, aber auch aus der genetischen Blaupause kommt, hierfür verantwortlich sind." Musik Sprecherin In Sao Paulo wohnten vor hundert Jahren ungefähr 200.000 Menschen. Heute ist es die bevölkerungsreichste Stadt Brasiliens und die sechstgrößte der Welt. Für das nächste Jahr prognostiziert die UN dort 20,5 Millionen Einwohner. In Indien ist nach dem Moloch Mumbai die Hauptstadt Delhi die zweitgrößte Agglomeration des Subkontinents. Dort war Thomas Matussek an der deutschen Botschaft tätig. Seit 1 1/2 Jahren ist er Geschäftsführer der Alfred Herrhausen Gesellschaft. OT Matussek "Ich habe zweimal in Delhi gelebt, einmal Anfang der 80er Jahre, als Delhi vier Millionen hatte und dann von 2009 - 2012, als Delhi 20 Mill. Einwohner hatte. Daran sehen Sie einfach schon, dass man überhaupt nicht mitkommt bei dem chaotischen Ausufern dieser Städte. Sind des noch Städte oder ist es eine nicht beherrschbare Wildnis? Diese Riesenstädte haben ja auch die Eigenart, dass sie immer weniger menschlich werden, in dem Sinne, dass ein normaler Menschen, der sich in einen sozialen Umfeld bewegt, was vielleicht - Wissenschaftler haben es rausgefunden - irgendwo zwischen 5- und 7000 Menschen umfasst, einfach jeglichen Anker, jegliche Orientierung verliert." Musik Zitator "Er schob das Fenster in die Höhe und lehnte sich hinaus. Am entfernten Ende der Straße ratterte ein Hochbahnzug vorbei. Puffender Kohlenrauch stach ihm in die Nase. Ziemlich lange lehnte er sich aus dem Fenster, blickte nach links und nach rechts die Straße entlang. Die zweite Metropole der Welt ... In den Ziegelhäusern im fleckigen Laternenlicht und in den Stimmen der Jungen, die sich auf den Stufen eines Nachbarhauses balgten und zankten, in dem regelmäßig festen Schritt eines Schutzmannes fühlte er den Marschrhythmus, Soldaten, Soldaten. Raddampfer, die an den Palisaden den Hudson stromaufwärts stampften, Wahlparade durch lange Straßen auf ein hohes weißes Gebäude zu, das stattlich ist und voller Kolonnaden. Metropole..." Dos Passos, Manhattan Transfer Musik OT Holsboer "Wenn es so ist, dass der Anpassungsbedarf von uns mit einer riesengroßen Schnelligkeit gefordert wird, dann kommen wir nicht mehr mit." Sprecherin sagt Florian Holsboer vom Münchner Max Planck Institut.. OT Holsboer "Dann erleben wir das als gefährdend, dann entstehen diese chronischen Stresssituationen mit entsprechenden Konsequenzen, vor allem bei denen, die eine Veranlagung dazu haben." Atmo sehr belebte Straße Sprecherin So wie Anja Richter, die ihren richtigen Namen nicht nennen möchte. Die Stadt, unter der sie leidet, ist im internationalen Vergleich fast noch ein Dorf. Eben noch saß sie in einem ruhigen kleinen Café nicht weit von der turbulenten Berliner Friedrichstraße. Jetzt, gegen 17.30 Uhr, macht sie sich auf den Weg zum Bahnhof. OT Anja "Wir gehen langsam in Richtung Friedrichstraße, und man sieht schon, es wird voller, man sieht den Verkehr. Es ist etwas dreckig und riecht unangenehm nach altem Bier. Und es ist recht laut. (Atmo Musik hängt kurz hinten dran)" Sprecherin Anja Richter zwängt sich an den Menschen vorbei, um die Straße zu überqueren. Sie ist Anfang vierzig und vor zwei Jahren der Arbeit wegen vom Münchener Stadtrand in Berlins Mitte gezogen. Das ist ihr nicht gut bekommen. OT Anja "Die Anonymität, die hier herrscht, ist der Wahnsinn. Jeder lebt für sich allein, ich ja auch. Ab und zu kennt man die Leute vom Sehen, wenn man die gleiche Bahn nimmt, aber nicht mit Namen. Auch die Nachbarn, ich wohne über ein halbes Jahr in meiner Wohnung und die aus der Nachbarwohnung habe ich ein einziges Mal auf dem Flur gesehen. Man lebt hier sehr, sehr anonym." Atmo Menschenansammlung, Stimmen Musik OT Adli "Ich denke, dass die soziale Vereinsamung in der Stadt eine ganz große Rolle spielt." Sprecherin So Mazda Adli, Chefarzt der Berliner Fliedner Klinik für psychologische Medizin. OT Adli "Wir wissen, dass insgesamt die Qualität der sozialen Verbindungen auf dem Land besser ist. Die Bande sind haltbarer zwischen den Menschen, auch wenn sie vielleicht weiter auseinander leben. Darum ist das einer der wesentlichen Stressoren in der Stadt, die Vereinsamung. Hinzu kommt die soziale Dichte, die Enge, die es manchmal in großen Städten gibt, die durch Lärm noch manchmal überhöht wird, die eine weitere Art von typischem Stadtstress ist. Wenn beides zusammenkommt, die Dichte und Einsamkeit, dann gibt es wahrscheinlich ein Gesundheitsproblem." Sprecherin Der Depressions- und Stressforscher fragt, wie sich der Stadtstress auf die Psyche auswirkt. Er hat den Begriff des "Neurourbanismus" geprägt und möchte Architekten, Stadtplaner, Sozialpolitiker, Psychologen und Neurowissenschaftler an einen Tisch bringen. Denn, so Mazda Adli, Probleme, die mit der zunehmenden Verstädterung einhergehen, lassen sich nur gemeinsam lösen. OT Adli "Ich halte es für dringend erforderlich, dass wir auf dem Weg des Neurourbanismus vorankommen, weil Urbanisierung ein so rasant sich entwickelnder Prozess ist. 2050 werden 2 / 3 der Menschheit in Großstädten leben, darauf müssen wir uns vorbereiten. Und wir müssen auch heute verstehen, welche Faktoren es sind, die dazu führen, dass Depressionen oder Schizophrenien in der Stadt häufiger sind als auf dem Land. Das müssen wir wissen in einer Welt, in der Urbanisierung eine größere Bedeutung haben wird als die Folgen des Klimawandels." Sprecherin Wie soll die ideale oder auch ein Straßenzug aussehen, in dem die Menschen sich wohlfühlen und möglichst wenig Stress ausgesetzt sind? Das hofft Mazda Adli dank der Erkenntnisse des Neurourbanismus herauszu finden. Diese Wissenschaft steckt allerdings noch in den Kinderschuhen. Aber Mazda Adli hat bereits zwei große Konferenzen organisiert und verschiedene Disziplinen zusammengebracht. Die konkrete Idee: Neurowissenschaftler empfehlen zum Beispiel einem Stadtplaner, stressmindernde Elemente wie Grünanlagen oder verkehrsberuhigte Zonen einzubeziehen. Ein Psychiater hingegen kann anders auf seine Patienten reagieren, wenn er weiß, welche Erkrankungen sich möglicherweise aus der Stadtplanung ergeben. Das Ziel dabei: Stadtbewohner vor Stress zu schützen. OT Matussek "Ich glaube, dass der Mensch, so wie wir gebaut sind, nicht fürs Leben in diesen riesigen Städten geeignet ist." OT Weiland "Ich glaube, dass mittlerweile alle aufgewacht sind bei den Zahlen, die veröffentlich sind rund um die psychische Gesundheit." OT Adli "Wir wissen von Tieren und Insekten, dass, wenn die auf sehr engem Raum zusammenleben, dass das die Gesundheit der Tiere beeinflusst, und so wird es bei uns Menschen auch sein." OT Holsboer "Das sich anpassen Können ist das Wichtigste, was ein Mensch tun kann, damit er den Stress nicht als etwas für sich gesundheitsschädliches empfindet." OT Stimpel "Eine dichtbebaute und enge Stadt und Autos sind zwei Sachen, die schlicht nicht zueinander passen. Das Auto passt gut aufs Land und in die Vorstädte mit Eigenheim, aber in der dichtbebauten Stadt ist es der schlimmste Faktor für Stress." Musik Sprecher 1 1950 lebten 30 Prozent der Weltbevölkerung in Städten. Heute sind es 50 Prozent. 2050 werden es 70 Prozent sein. OT Stimpel "Es kommen ja Leute vom Land in die Städte, weil sie den denkbar größten Stress haben, nämlich Existenznot. Das Land reicht nicht, um die Leute zu ernähren, die ziehen lieber in der dritten Welt in einen städtischen Slum, als da buchstäblich dahinzuvegetieren irgendwo auf dem Land. Natürlich kommen sie dann in Situationen der Enge, der Dichte, der großen Konkurrenz zwischen Menschen. All das kann krank machen." Sprecherin Roland Stimpel, Stadtplaner, Architekt und Chefredakteur der Fachzeitschrift "Deutsches Architektenblatt" interessiert sich besonders für die Veränderung des städtischen Raums. Studien belegen, dass das Leben in der Großstadt die seelische Gesundheit belastet - etliche psychische Erkrankungen treten hier verstärkt auf. Aber Roland Stimpel gibt zu bedenken: OT Stimpel "Ich finde es aber etwas schwierig, den direkten Zusammenhang zwischen dem Leben in der Stadt und einer bestimmten psychischen Krankheit herzustellen. Ich vermute etwas lästerlich, dass die Tatsache, dass bei Städtern mehr psychische Krankheiten festgestellt werden auch damit zu tun hat, dass es in Städten mehr Ärzte für psychische Krankheiten gibt und dass der Dörfler mit psychischen Problemen sich doch eher an der Kegelbahn austobt oder zur Kornflasche greift, wogegen der mittelständische Städter schon eher dazu neigt, den Facharzt aufzusuchen." Musik Zitator "Vom Flugzeug aus ähnelt Kinshasa einer Termitenkönigin, aufgebläht bis zur Unförmigkeit und zitternd vor Emsigkeit, immer beschäftigt, immer weiter anschwellend. In der flirrenden Hitze erstreckt sich die Stadt am linken Flussufer. Gegenüber liegt ihre Zwillingsschwester Brazzaville, kleiner, frischer, glänzender. Die Bürotürme dort haben verspiegelte Fensterscheiben. Es ist der einzige Ort auf der Welt, wo zwei Hauptstädte einander ansehen können; in Brazzaville sieht Kinshasa freilich sein eigenes armseliges Bildnis widergespiegelt." David van Reybrouck, Kongo Musik Sprecherin Europas Städte haben in den letzten 150 Jahren schon zahlreiche Veränderungen durchlebt: Während der Industrialisierung erhöhte sich beispielsweise in London innerhalb kurzer Zeit die Einwohnerzahl von 500.000 Menschen um auf das Sechsfache. Berlin war mit knapp vier Millionen Einwohnern um 1920 nach London und New York die drittgrößte Stadt der Welt. Zu wenig Wohnraum, dunkle Hinterhöfe, schlechte Luft, soziales Elend, chaotische Verkehrsverhältnisse waren damals charakteristisch für das Großstadtleben. Die Menschen nahmen die negativen Begleiterscheinungen des Stadtlebens in Kauf. Sie hatten keine andere Wahl. Paris, London, Berlin - die Städte von heute sind das Ergebnis eines langen Prozesses, der vielen der neuen Megacities noch bevorsteht. Könnte die europäische Stadt Vorbild sein? OT Matussek "In Deutschland gibt es eine mehr oder weniger vernünftige Strukturpolitik, das ist in aller Munde." Sprecherin Sagt Thomas Matussek von der Alfred Herrhausen Stiftung. OT Matussek "In Asien ist das zum Teil sehr rudimentär. Diese großen Städte haben neben all den Defiziten, die Sie im täglichen Leben sehen, vor allem das Defizit an governance. Es reicht eben nicht, dass man Häuser baut, sondern man muss sich sehr genau Gedanken machen, wie kommen die Menschen von A nach B. Was bieten wir den Menschen in ihrem Viertel, was ist mit der Grundversorgung an Ärzten, an Wasser, an Sanitär? Das sind alles Dinge, die nicht von selber sich entwickeln und wo auch viele Fehler gemacht werden und das ist einer der Gründe, warum wir unsere Konferenzen machen." Musik Sprecherin Konferenzen, die die Alfred Herrhausen Stiftung gemeinsam mit der London School of Economics organisiert. Vor zehn Jahren riefen sie das Projekt "urban age" ins Leben - ein Netzwerk, dass sich mit dem Trend zur Verstädterung auseinandersetzt, internationale Foren für Stadtentwickler, Wissenschaftler und Politiker schafft, Analysen erstellt und über Megacities nachdenkt. Zum Beispiel über Hochhaussiedlungen in chinesischen Riesenstädten. Auf Europäer wirken sie abschreckend, für Chinesen, die bisher ohne Strom und Sanitär auf dem Land gelebt haben, sind sie jedoch ein großer Fortschritt. Oder über Gesundheit in knapp 130 Städten weltweit. Ute Weiland, die bei "urban age" arbeitet hat diese Untersuchung betreut. OT Weiland "Merkwürdig war die Tatsache bei diesem Survey, dass Hongkong zwar die gesündeste Stadt ist, aber nichts destotrotz die höchste Selbstmordrate weltweit aufweist. Die Gründe liegen darin, dass Hongkong so eine Leistungsgesellschaft ist, dass man, wenn man in Hongkong in der Stadt selbst lebt, alles auf die Arbeit konzentriert ist, dass das Leben sich in einer kleinen Wohnung abspielt, weil man sich die Mieten dort kaum leisten kann und sobald man keine Arbeit mehr hat, ist man gezwungen, aus der Stadt auszuziehen, es sei denn man hat wirklich gut verdient und sich in die Randgebiete von Hongkong zu begeben. Dort gibt es nur noch Hochhäuser, kaum Grünflächen, Ablenkungen und die Menschen fühlen sich überflüssig. Dadurch entsteht diese hohe Selbstmordrate." Musik Atmo Zitator "Das ist der Krankheit Sitz; das Gerolle der Wagen in engen winkligen Straßen, der Zank bei steckengebliebenen Herden rauben sogar einem Drusus den Schlaf. Der eine stößt mit dem Arm, ein andrer mit hartem Brett, wieder ein andrer trifft dir den Kopf mit dem Balken und noch einer mit der Tonne. Schmutz hängt klebrig am Fuß; bald treten gewaltige Sohlen auf mir herum, bald sitzt mir im Zeh ein Nagel eines Landsers." Sprecherin Der römische Satiriker Juvenal beschreibt, was man im antiken Rom unter Stadtstress verstand. Denn auch früher war das Leben in den Städten anstrengender als auf dem Land, vor allem wenn sie schnell wuchsen und die Menschen sich in ihnen drängten. Zum Beispiel in Rom, der ersten Millionenstadt. Dort sollen zwischen einer und eineinhalb Millionen Menschen gelebt haben - im zweiten Jahrhundert nach Christus, als Juvenal seine Zeilen schrieb. Atmo OT Maischberger "Die Straßen in Rom waren klein und verwinkelt, sie waren eng und krumm." Sprecherin Erzählt Martin Maischberger, stellvertretender Direktor der Antikensammlung der Staatlichen Museen zu Berlin. OT Maischberger "In diesen engen, krummen Straßen blieben die Fahrzeuge, die von Ochsen gezogen wurden, stecken. Das war ein Faktor, der zum Stress führte. Ein anderer war der Lärm, der durch die Gewerbetreibenden in erster Linie verursacht wurde. Ein dritter Stressfaktor waren die beengten wohnlichen Verhältnisse, unter denen man zu leiden hatte, sowohl auf den Straßen als auch in den Behausungen, also die Mietskasernen in den insulae. Nicht zu vergessen die ständige Bedrohung durch Feuersbrünste. Es sind mehrere Dutzend Brände überliefert, das war der Spitzenstress." Sprecherin Um den zu vermeiden, versuchten die Römer planerisch Einfluss zu nehmen. Die Idee: die Stadt mit ihren engen Gassen zu verändern und einen großzügigeren Grundriss zu ermöglichen. OT Maischberger "In populärer Hinsicht am bekanntesten ist die Überlegung Neros, die altgewachsene Stadt niederzubrennen und auf den Aschetrümmern eine bessere, lebenswerte Stadt zu errichten." Musik Sprecherin Zu einer lebenswerten Stadt gehören für die Neu-Berlinerin Anja Richter breitere Aufgänge zu den Bahnhöfen, mehr nachbarschaftliches Miteinander, Grünflächen und andere Erholungsinseln. Sie wuchs in einem kleinen Dorf in Thüringen auf. OT Anja "Stress gab's da wirklich nicht. Ich bin aufgewachsen, wenn da 100 Autos am Tag entlanggefahren sind, war das viel. Man konnte auf der Straße Fußball spielen. Es war ruhig, es gab keinen Dreck, der Gestank kam höchstens von den Kühen, aber das hat man irgendwann nicht mehr gerochen. Also, es war sehr, sehr ruhig dort." Atmo Vögel, Land OT Holsboer "Es ist doch so, dass wir überall Chancen haben und diese Chancen nutzen soll, und wenn einem das Chancen-Risikoverhältnis in der Stadt zu groß ist, soll man aufs Land." Sprecherin Empfiehlt Florian Holsboer vom Max Planck Institut. Er findet die Diskussion über die schädlichen Einflüsse des Stadtlebens auf die Psyche überbewertet. OT Holsboer "Die Menschen sind jeder für sich ein anderer, und dieses Anderssein führt auch dazu, dass wir den Stress auch anders empfinden, in der Stadt die einen, auf dem Land die anderen." Sprecherin Aber Anja Richter möchte auf keinen Fall zurück ins Dorf. Obwohl - volle U-Bahnen, müde Gesichter, lange Schlangen, Lärm und Gestank, Einsamkeit - all das tagtäglich zu bewältigen, hat sie an den Rand ihrer Kräfte gebracht. OT Anja "Du willst es einfach nicht, dass es so schlimm wird, dass es dir die Füße wegzieht. Davor hatte ich die meiste Angst. Es war für mich ein tiefes Loch, vor dem ich stand und wollte nicht runtergucken und hatte Angst, reinzufallen. Und das ist dann so, wenn man niemanden kennt, sich mit niemandem austauschen kann, niemanden kennt, mit dem man mal weg gehen kann, alles ist sehr anstrengend. Da ich allein bin, habe ich zuhause auch niemanden mit dem ich mich austauschen kann." Sprecherin Bis eine Kollegin ihr empfahl, sich in Behandlung zu begeben. OT Anja "Wir haben angefangen mit Tabletten, um mir Antrieb zu geben, weil ich sehr ausgelaugt war. Ich bin jetzt nicht himmelhochjauchzend, aber es ist etwas besser. Jetzt hab ich auch ne Gesprächstherapie. Jetzt überlegen wir, was wir machen könnten, so Sachen, die ich mir mal vorgenommen habe. Jetzt ist da irgendjemand, der einen ein bisschen führt. Das finde ich da." Atmo Stadtgeräusche geht über in Musikakzent Sprecherin Immer mehr Menschen erkranken an Schizophrenie, Psychosen, Depressionen. Forscher stellten fest, dass die Großstadt unser Gehirn verändert, dass die Psyche unter dem Stress leidet. Wer in einer Metropole geboren wird und mit ihr verwachsen ist, hat gute Chancen, zum Großstadtneurotiker zu werden. OT Meyer "Je größer die Stadt, in der man momentan wohnt, desto größer das Risiko für bestimmte psychische Erkrankungen, insbesondere für Depressionen und Angsterkrankungen. Und es gibt noch mal einen speziellen Effekt für die Erkrankung Schizophrenie und das Geborenwerden in der Stadt. Das ist eigentlich ein sehr solider Befund, der überall auf der Welt gefunden worden ist. Was neu ist, ist die Frage: Woran liegt das? Was sind die zugrunde liegenden Mechanismen für diesen Effekt?" Sprecherin fragt Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim. Städter, so haben er und sein Team vor wenigen Jahren herausgefunden, verarbeiten Stress anders als Menschen auf dem Land. Und: die Stadt selbst könnte die Ursache für psychische Erkrankungen sein. OT Meyer "Wir haben ins Gehirn reingeguckt, dafür gibt's Methoden, die sogenannte funktionelle Bildgebung, bei denen wir Leute eine Aufgabe aufsetzen können und dann im Gehirn sehen, welche Hirnareale verändern ihre Aktivität. Wir haben sie dann sozial unter Druck gesetzt, also 'ne Stresssituation. Und wir haben dann gefunden, dass die Leute, die in der Stadt wohnen, während dieser Stresssituation gerade die Hirnareale vermehrt aktivieren, von denen wir wissen, dass sie etwas mit Depressionen und Angsterkrankung zu tun haben, und dass die Leute, die in der Stadt geboren wurden und dort aufgewachsen sind, ein Hirnareal besonders aktivieren, von dem wir wissen, dass es für die Schizophrenie wichtig ist." Sprecherin In Zahlen ausgedrückt: Stadtbewohner haben gut 20 Prozent mehr Angsterkrankungen und fast 40 Prozent mehr Depressionen als Menschen auf dem Land. Auch mit Schizophrenien sieht es nicht besser aus. OT Meyer "Da ist es so, dass man momentan in der Stadt keinen besonderen Anstieg der Schizophrenie sieht, aber Leute, die in der Stadt geboren worden sind, dort aufgewachsen sind die ersten Lebensjahre, die haben eine verdreifachtes Risiko, eine 300 prozentige Steigerung ihres Risikos. Es ist also ein erheblicher und relativ solider Befund." Atmo Stadt Sprecherin Welche Faktoren am städtischen Leben Stress im Gehirn verursachen, ist allerdings noch unklar. Andreas Meyer-Lindenberg ist dabei, die bereits durchgeführte Studie zu vertiefen. 4000 Probanden aus allen sozialen Schichten hat er im Ballungsraum um Mannheim eine Woche lang mit einem Smartphone ausgestattet, das über ein zusätzliches elektronisches Gerät verfügt. Jeder Schritt wird kartographiert und dann registriert, welche Aspekte der Stadt sich wie auswirken: Grünflächen? Soziale Faktoren? Sozialer Stress? Lärm? Verkehr? OT Meyer "Was wir gern machen wollen hier mit diesem Pilotprojekt ist, dann einen Baukasten zu haben, mit dem wir dann beispielsweise Sao Paolo oder China - das sind zwei Bereiche, Länder, die sehr großes Interesse für diese Arbeit haben, weil da diese Megacities sehr stark wachsen -, anbieten können: okay, hier können wir so ein Experiment machen und dann mal gucken, welche Aspekte in eurer Stadt oder Stadtteil sehr stark sind, die am stärksten Stress auslösen und die man auch verändern können sollte." Sprecherin Berlin mit seinen 3,5 Millionen Einwohnern wirkt neben den urbanen Ballungsräumen beinahe wie eine gemütliche Kleinstadt. Aber auch in Deutschland hat der Zuzug vom Land in die Stadt zugenommen - jedoch ohne dass diese Städte nur annähernd die Probleme haben, die man in vielen Megacities antrifft. Im Gegenteil, sagt Roland Stimpel. OT Stimpel "Berlin hat eine Vorbildfunktion gewonnen nach dem Mauerfall, weil die Stadt sich gesagt hat, wir werden jetzt keine Ansammlung wilder Hochhäuser, sondern man hat einen klaren Rahmen gesetzt, mit einfachen Regeln: Häuser stehen an der Straße, unten sollen möglichst Läden sein, oben sollten ein paar Wohnungen sein und die Häuser sollten alle eine bestimmte maximale Höhe. Das, was die Kultur der alten europäischen Stadt ausmacht, dass man einen klaren, öffentlichen Straßenraum hat, der buchstäblich allen gehört, wo jeder sein kann, wo man auch anderen Menschen begegnet als man selber einer ist und die Vielfalt der Stadt erlebt, das ist in Berlin nach der Wende gelungen." Sprecherin Es gibt noch weitere Eigenschaften, wie eine Stadt beschaffen sein muss, damit sie nicht krank macht. Berlin, so Thomas Matussek von der Alfred Herrhausen Gesellschaft, könnte dabei richtungsweisend sein. OT Matussek "Was man von Berlin lernen kann: wie unerhört wichtig es ist, Grün in einer Stadt anzulegen, nicht alles zuzubauen, sondern Plätze, Gärten Freiräume frei zu halten. Das zweite, was man von Berlin lernen kann: dem Trend zu widerstehen, dass man bestimmte Viertel hat, wo nur ganz reiche Leute wohnen, wo Sie die sogenannten gated communities überall haben, sondern dass es beiden gut tut, wenn es eine gewissen Durchlässigkeit gibt. Was man weiter von Berlin lernen kann: wie unerhört wichtig es ist, ein funktionierendes öffentliches breites Nahverkehrssystem zu haben. Weil das Auto ist nicht die Lösung. Die autogerechte Stadt ist Quatsch. Es sprachen: Regina Lemnitz und Max Volkert Martens Ton: Andreas Narr Regie: Klaus Michael Klingsporn