COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Deutschlandrundfahrt Meißel, Männer, Mittelalter Das oberschwäbische Meßkirch beamt sich ins 9. Jahrhundert von Susanne von Schenck Ton: Bernd Friebel Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Sendung am 10.11.2012, 15.05 Uhr Kennmelodie 1 Hauff ruft 0.11 Kommet Jonathan, Kilian! Autorin Zwei junge, wohlgenährte Ochsen grasen auf einer Wiese: es sind kleine, drahtige Hinterwälder, eine Rasse aus dem Südschwarzwald, die vom Aussterben bedroht ist. Eberhard Hauff lockt und lockt. Aber Kilian und Jonathan lassen sich nicht stören. 2 Erika Brot 0.07 Jetzt holen wir mal Brot und tun sie überlisten. Autorin sagt Erika Scheidemantel. Es ist ihre Weide, auf der die Ochsen grasen. 3 Erika ruft hinten Atmo Kilian! Autorin Und schließlich kommt der Ochse. Eberhard Hauff zieht einen Strick durch Kilians Nasenring, und Erika Scheidemantel atmet auf. 4 Erika, Hauff hat mehr Kraft 0.18 Ich bin ne zarte Frau. Ich ziehe ihn rückwärts, und nachher geht mir die Kraft aus. Er hat mehr Kraft, er hat mehr Geschick, er weiß es. Er ist halt der Ochsenflüsterer. Kennmelodie Sprecher vom Dienst: Meißel, Männer, Mittelalter Das oberschwäbische Meßkirch beamt sich ins 9. Jahrhundert Eine Deutschlandrundfahrt von Susanne von Schenck Autorin Der Ochsenflüsterer - so nennen sie ihn, weil er gut mit den Tieren umgehen kann. Eberhard Hauff ist ein großer, korpulenter Mann, im kräftigen Gesicht blitzen gutmütige Augen. 5 Hauff stellt sich vor 0.10 Bäckermeister bin ich, aus Meßkirch-Schnarkingen. Schnarkingen! Das gehört alles zusammen, das gehört schon lange zu Meßkirch. Autorin Früher betrieb er ein kleines Heimatmuseum und präsentierte damals seine Ochsen auf Festumzügen. Eine Mordsgaudi, sagt er. Zwölf Jahre ist das her. Die Ochsen, die er jetzt trainieren soll, haben eine andere Aufgabe: ab dem nächsten Frühjahr sollen sie als frühmittelalterliches Gespann Ochsenkarren durch Meßkirchs Wälder ziehen. Denn die Stadt möchte in den nächsten vierzig Jahren eine mittelalterliche Klosterstadt originalgetreu nachbauen - mit Methoden des 9. Jahrhunderts. "Campus Galli" nennt sich das großangelegte Projekt. Die Vorlage ist der berühmte St. Galler Klosterplan, den jeder Architekturstudent kennt. Mönche der Insel Reichenau entwarfen ihn um 820, und heute wird er in der Klosterbibliothek von St. Gallen aufbewahrt. 6 Hauff Campus 0.03 Nicht schlecht, ich bin mal gespannt. Autorin sagt der Ochsenflüsterer. Trotzdem legt er die Stirn nachdenklich in Falten. 6 Hauff Campus 0. Das Projekt ist ja gigantisch groß, ob man das so durchgezogen kriegt? Jetzt hat sich die Stadt entschieden, die Stadt sind wir ja selber. Muss man halt mal probieren. Autorin Jeden Dienstag versucht Eberhard Hauff die jungen Ochsen auf ihre zukünftige Aufgabe vorzubereiten: sie sollen sich vom Menschen führen lassen und später Karren ziehen. Bisher sind sie noch wild und ungezähmt. Großzügige Menschen spendeten die Tiere der Stadt - für das Projekt "Campus Galli". Erika Scheidemantel und ihr Mann schauen jetzt zu, wie Kilian brav am Strick neben Eberhardt Hauff hertrottet. Sie: ungefähr siebzig Jahre, in karierter Kittelschürze, er: mit Strohhut und im Blaumann. Über die geplante karolingische Klosterstadt sind sie geteilter Meinung. 9 Mann teuer 0.20 Das ist ja ein Museum, und die Museen sind Drauflegegeschäfte. ...Die Leute kommen schon und gucken mal. Und wenn sie es gesehen haben, dann reicht es, das ist meine Meinung. 10 Erika neugierig 0.19 Ich bin anderer Meinung. Ich denk, das Bauen geht ja weiter und dann möchte man sehen, wie weit ist man jetzt, nach zwei Jahren, nach fünf Jahren. So stell ich mir das vor. Atmo Muh und Stall Autorin Ortswechsel: Ochsenflüsterer Hauff im Kuhstall von Christian Fecht. Dort steht noch ein Ochsenpaar, mit dem er demnächst trainieren soll: Karl und Korbinian. Sie sind zu fett, findet Eberhard Hauff - wenn man den oberschwäbischen Dialog zwischen ihm und dem Bauern richtig interpretiert. 11 im Stall Fecht und Hauff in Mundart (kaum zu verstehen) Autorin Und da eilt Bert Geurten in den Stall: spiritus rector des "Campus Galli". Er stammt aus Aachen, führt seinen Stammbaum bis auf Karl den Großen zurück, hat die Stadt Meßkirch von dem Mittelalter-Projekt überzeugt und die vier Ochsen bereits fest verplant. 12 Geur Stall Ochsen Die sollen nicht geschlachtet werden, das habe ich versprochen. Auf Dauer werden die ne Doppelschicht fahren, ein Paar vormittags, eins nachmittags und die werden den Ochsenkarrenziehen, der wird gerade gebaut. Wie im frühen Mittelalter. Musik Interpret: Absinto Orkestra Titel: Gadje, Track 8: komme, was da wolle (unterlegen bis ca. 0.40) Komponist Hans Bender LC-Nr.: 23226 Verlag: Dadjo records Atmo Markt Autorin Meßkirch in Oberschwaben hat gut 8000 Einwohner. Die Kreisstadt Sigmaringen liegt zehn Kilometer entfernt, und bis zum Bodensee sind es ungefähr zwanzig Kilometer. Eine barocke Kirche und ein vierflügeliges Renaissanceschloss sind die Schmuckstücke der Stadt. "Willkommen im Geniewinkel" - damit wirbt Meßkirch und weist auf seinen berühmtesten Sohn hin: Martin Heidegger. Im Schloss ist dem Verfasser von "Sein und Zeit" eine kleine Ausstellung gewidmet, in der eifrig aus den Schriften des Philosophen zitiert wird. evt. Musik nn oder Echo Zitator "Denken ist die Einschränkung auf einen Gedanken, der einst wie ein Stern am Himmel der Welt stehen bleibt." Autorin Dieser eine Gedanke heißt in Meßkirch jetzt: "Campus Galli", die karolingische Klosterstadt. Sie soll Touristen in die strukturschwache Region locken. Eine fabelhafte Idee, findet Konditormeister Hermann Brecht, den alle im Ort nur "Sahne" nennen. Er vermietet Zimmer, und wenn Bert Geurten aus Aachen nach Meßkirch kommt, wohnt er bei "Sahne". Seitdem ist der Konditor in alle Geheimnisse eingeweiht. 13 Brecht Projekt 0.52 Der Herr Geurten, der Initiator der Sache, war beim uns zum Übernachten das erste Mal in Meßkirch. Und als ich beim Frühstück ihn gefragt habe: Was machen Sie hier in Meßkirch, - man spricht immer ein bisschen mit den Leuten - sagte er: Herr Brecht, ich habe im Koffer was, das wäre für die Region sensationell und würde Aufschwung bringen. Ich sagte: Solche Leute suchen wir. Ich war immer schon frühzeitig an eingeweiht, durfte aber nichts sagen, war aber von der ersten Minute an begeistert, weil ich gesagt habe: in unserer Region, wo das Donautal ist mit Burgen und Ruinen, Schloss Sigmaringen, das Renaissanceschloss würde so etwas reinpassen. Wenn Sie so etwas planen in der Lüneburger Heide, wäre es am falschen Platz. Und ich sag mir auch: es kann nur aufwärts gehen Autorin Bis der Aachener die Meßkircher von seiner Idee überzeugen konnte, ging viel Zeit ins oberschwäbische Land. Und auch heute noch, wo die Weichen für "Campus Galli" gestellt sind, sind die kritischen Stimmen nicht verstummt. 14 Brecht geteilte Meinung 0.32 Der Trend ist, dass der Großteil der älteren Bevölkerung sagt: das hat kein Wert. Ich sag immer spaßeshalber zu den älteren Leuten: Wenn die ersten Busse am Startgelände stehen, dann laufe ich mit einem Gummihammer durch die Grabreihen, schlag jedes dreimal an den Grabstein, dann merken sie, es geht los. Während die Jüngeren wieder aufgeschlossen sind. Das Problem ist nur: wir haben jetzt eine dreijährige Aufbauphase, die wird entscheiden, ob es funktioniert oder nicht. Autorin Die Konditorei von Hermann Brecht - "alles handgemacht" - liegt am Meßkircher Marktplatz, nur wenige Meter vom "Löwen". Das ehemalige Hotel hat schon bessere Zeiten gesehen. Sechs Jahre stand es leer, jetzt hat es die Stadt dem Verein karolingische Klosterstadt zur Verfügung gestellt. Atmo Werkstatt Autorin Draußen vor der Eingangstür ist Schafwolle zum Trocknen aufgehängt, drinnen in der ehemaligen Gaststube wird gehobelt, geflochten, genäht und gekämmt. An der Wand gleich neben dem Eingang hängt ein großes Faksimile des Klosterplans von St. Gallen, gedruckt auf Pergamentpapier. Er ist der älteste erhaltene mittelalterliche Bauplan Europas: mit Gebäuden zum Wohnen, Wirtschaften und Beten - eine ideale Anlage, die nie gebaut wurde, erzählt Bert Geurten. evt. Musikakzent unter Erklärung legen Interpret: Jun Miyake u.a. Titel: Glam Exotica Track 8, Brazil (bis 0.48, dann Gesang) Komponist Jun Miyake LC-Nr.: 8879 Verlag: Nektar 15 a Geur. Plan 0.05 Ja das ist der Klosterplan von St. Gallen, nicht nur ein Klösterchen, sondern eine ganze Stadt. Autorin Die erstreckt sich laut Plan über ein Terrain von 3,7 Hektar. 15 b Geur. Plan ff 0.16 Wir haben im unteren Teil die Stallungen für Pferde, Ochsen, wir haben rechts ist die Handwerkerstraße: wo die Schmiede, die Schildmacher Schreiner etc ihre Werkstätten haben. Autorin Und, und, und. Außerdem: 15 cGeur. Plan ff 0.19 Und dann die große Kirche, die, ganz ausgebaut, 2000 Plätze umfasst. Also das ist kein Kirchlein, das ist eine Kirche. Neben der Kirche noch das Haus des Abtes, die Schule, das Gästehaus für den Kaiser. Also das ist eine richtige kleine Stadt in sich. Autorin Bert Geurtens Augen leuchten. Er ist nicht zu bremsen. "Campus Galli" ist sein Baby. Und wenn er davon schwärmt, erinnert er an einen Jungen, der von einem späteren Leben als Lokführer oder Zirkusdirektor träumt. Der 63jährige allerdings ist Vater von drei Töchtern, stammt aus einfachen Verhältnissen, hat Tuchkaufmann gelernt, arbeitete bei der Kirche und in der Politik und moderierte im Aachener Stadtradio. Vielleicht ist er nicht ausgelastet. Auf jeden Fall ein bisschen verrückt, wie er selbst sagt. Atmo joggen im Wald (Archiv) Autorin Jeden Morgen joggt Bert Geurten im nahegelegenen Wald. Um abzunehmen, um Klarheit zu gewinnen und um sich vorzustellen, wie genau in diesem Wald ab dem nächsten Jahr die Klosterstadt gebaut wird. Aber heute kommt Bert Geurten nicht richtig zum Joggen. Heute erklärt er sein Vorhaben. 16 Geur 9. Jh 0.12 Wenn Sie hier sind, haben Sie oft den Eindruck, Sie sind im 9. Jahrhundert. Wenn da Mönch mit seinem Ochsenkarren um die Ecke kommt, glauben Sie das. Nur wenn ein Flugzeug drüberfliegt, merken Sie, dass Sie im 21. Jahrhundert sind. Autorin 28 Hektar groß ist der Wald, den die Stadt Meßkirch für "Campus Galli" zur Verfügung gestellt hat, auf acht Hektar wird in den kommenden Jahren die Klosterstadt entstehen. evt. Musikakzent s.o. unter Erklärung legen Interpret: Jun Miyake u.a. Titel: Glam Exotica Stones bearing Flowers Komponist Jun Miyake LC-Nr.: 8879 Verlag: Nektar Autorin Vor einigen Jahren sah Bert Geurten einen Film über die französische Burg Guédelon. Die entsteht seit fünfzehn Jahren in mittelalterlicher Bauweise. Für den Aachener war das die Initialzündung. Aber er wollte nicht nur eine Burg, sondern eine ganze Klosterstadt nachbauen. Natürlich haben sie ihn am Anfang alle ausgelacht. Auf der Suche nach Mistreitern tingelte Bert Geurten mit seiner ehrgeizigen Idee quer durch Deutschland, von Aachen über den Westerwald bis in die Bodenseeregion - wo er schließlich Erfolg hatte und wo die Klosterstadt auch am besten hinpasst. Schließlich stammt der Plan zu ihr auch aus dieser Gegend. Zum Projekt "Campus Galli" gehört inzwischen ein umfangreicher wissenschaftlicher Beirat, darunter Mittelalterspezialisten, Architekten, Kirchenhistoriker und auch der Stiftsbibliothekar von St. Gallen. Außerdem sind schon Schreiner, Schmiede, Steinmetze, Töpfer und Wagner rekrutiert worden. In Zusammenarbeit mit Fachleuten brüten sie zur Zeit darüber, welche Werkzeuge damals benutzt wurden, wie der Alltag ausgesehen haben könnte, wie gebaut wurde. Ein Projekt, das vielen nutzt und keinem schadet, findet Bert Geurten, der sich inzwischen vor Bewerbungen kaum retten kann. Denn das Mittelalter ist attraktiv, Mittelalterfestivals und Mittelaltermärkte boomen. 18 Geur heile Welt 0.20 Weil man da natürlich auch ein bisschen die heile Welt sucht, die heile Welt, die es nicht gab. Da bin ich kein Tagträumer, der sagt, im Mittelalter war alles gut. Aber das ist so ohne Maschinen. Da scheint ein großes Bedürfnis bei den Handwerkern zu sein, so zu arbeiten wie früher, weil sie ihre Qualitäten voll ausspielen können. Autorin Ab dem 2. April 2013, dem 1265. oder 1266. Geburtstag Karls des Großen - sein Geburtsjahr ist nicht ganz sicher - soll die Klosterstadt für Besucher zugänglich sein - als authentische Baustelle, für mindestens vierzig Jahre. Minimusikakzent kurz hoch Interpret: Jun Miyake u.a. Titel: Glam Exotica Stones bearing Flowers Komponist Jun Miyake LC-Nr.: 8879 LC-Nr.: Verlag: Nektar Verlag: Atmo Wald (Archiv) 20 Geur mitten drin 0.23 Wir sind jetzt mitten im Gelände. Wir sind jetzt da, wo später die Kirche entsteht. Und hier werden verschiedene Inseln sein. Wir werden den Wald nicht ganz roden, sondern wir werden einzelne Inseln machen, so dass die Menschen auch ein bisschen Spannung haben und sagen: Ach, da hör ich dahinten die Steinmetze, ich sehe sie nicht, aber ich höre sie, da sind die Schmiede. Wir machen alles mit der Hand, wir fällen's mit der Hand, nicht mit der Kreissäge. Autorin Gelder für das Projekt kommen aus dem europäischen Leaderprogramm für strukturschwache Regionen sowie von Stadt und Land. Nach vier Jahren muss der Verein sich selbst tragen. Wenn nur 120.000 Besucher pro Jahr kämen, würde es sich schon rechnen, sinniert Bert Geurten. 21 Geur Besucher Umfrage 0.21 Die Leute in Guédelon kommen wieder. Die haben eine Untersuchung dort gemacht, dass jeder Besucher durchschnittlich alle drei Jahre wiederkommt, weil er sehen will, wie das Ganze weiterläuft. Und das hoffen wir auch. Wir müssen nicht immer wieder neue Besucher haben, sondern viele Besucher werden wieder kommen. Das Schönste ist, sie kommen als junge Leute hin und am Schluss bringen sie ihre Enkel mit. Das wäre unser Traum. Musik Interpret: Charles Trenet Titel: En avant la Musique, CD 1 Track 3 Le jardin extraordinaire Oder CD 3 Track 7 Chacun son rêve Komponist Charles Trenet LC-Nr.: 0542 Verlag: Emi Atmo Wald mit Stimmen (Archiv) Autorin Guédelon, das große Vorbild für den "Campus Galli". Es liegt gut 600 Kilometer westlich von Meßkirch zwischen Auxerre und Bourges - mitten im Wald. Der Name klingt nach Mittelalter, so als habe der Zauberer Merlin aus der Artussage sich dort niedergelassen. Guédelon ist aber keine Erfindung, der Wald mit einem Steinbruch heißt tatsächlich so: la forêt de Guédelon! Schon morgens um 10 Uhr ist der große Parkplatz voller Autos, und auch die ersten Reisebusse warten an der Einfahrt. Dicke Staubwolken werden aufgewirbelt. Menschen mit Rucksäcken und soliden Laufschuhen stehen bereits am Kassenhäuschen Schlange. Atmo Guédelon Autorin 10 Euro kostet der Eintritt, mit Führung 2,50 Euro mehr. Von der mittelalterlichen Baustelle, 1997 eingerichtet, ist bisher noch nichts zu sehen. Kassenhaus, Eingangshalle und Shop verdecken die Sicht. OT 22a Clement synchronisieren 0.17 Ich heiße Clement Guerard. Ich bin seit dreizehn Jahren hier in Guédelon angestellt. Von Beruf bin ich eigentlich Steinmetz, aber inzwischen helfe ich hier und dort aus. Und ich bin auch in der Kommunikation tätig. Autorin Clement, im leicht zerrissenen Leinenhemd, heller Hose, die an den Waden mit Lederbändern umwickelt ist und in Wanderstiefeln, ist an der Ticketkontrolle vorbeigegangen. Und schwups ist die Zeit zurückgedreht. Atmo Pferdefuhrwerk, dann Atmo Guédelon Autorin Willkommen im 13. Jahrhundert. Der Blick öffnet sich auf ein großes Areal: im Zentrum eine trapezförmige Burganlage mit zwei hohen halbfertigen Wehrtürmen. Überall wird gearbeitet, aber ohne Hektik, ohne Bagger, LKW, ohne Bohrmaschine. Aus einer Hütte steigt Rauch in den Herbsthimmel auf, ein kräftiges Ardennerpferd zieht einen Karren vorbei, der mit Steinen beladen ist. Menschen in weiten, grob gewebten Leinengewändern hämmern, klopfen, schmieden und schnitzen in ihren Werkstätten. 23a Cle erklärt Baustelle, synchronisieren 0.21 Wir sehen von hier aus die ganze Baustelle. Da vorne liegt das Schloss, dass gerade gebaut wird. Es ist ein kleines Schloss, 2500 m2. Es gehört einem Herrn aus der Puisaye, das ist die Gegend, in der wir uns befinden. Um uns herum überall Werkstätten, Hütten, Häuser und Menschen, die arbeiten und mit den Besuchern reden. 23b Cle erklärt Baustelle, synchronisieren zwischendurch auf frz. frei stehen lassen, Hier ist der Seiler, der aus Pflanzenfasern Seile herstellt, da vorn ist der Schmied. Er hat gerade das Feuer entfacht und steht am Amboss, Dort hinter den Bäumen sieht man den Brennofen der Töpfer, die Kacheln, Ziegel und auch Töpferwaren herstellen. Atmo Guédelon, geht über in Musikakzent Interpret: André Popp et son orchstre Titel: Track 4 La Java des bombes atomiques Komponist Boris Vian LC-Nr.: LC 00305 Verlag: Universal Autorin Burgund war einst das geistige Zentrum des mittelalterlichen Europas. Daher ist die Gegend für ein solches historisches Projekt die passende Umgebung. Und die stille Region der Puisaye mit ihren Wäldern, Teichen und Kühen profitiert davon. 24 Flo Pioniere synchronisieren 0.43 Ich würde die Stimmung des Anfangs - das ist ja schon fünfzehn Jahre her - mit einem Wort umschreiben: es waren Pioniere. Die Gründer stießen eine Tür auf zu etwas, was so noch nie gemacht worden war. Alles schien möglich. Die ersten Jahre auf der Baustelle waren total faszinierend, aber auch sehr stressig. Würde es klappen? Wir wollten vor allem nicht, dass das Schloss ein Patchwork, ein Stilmix aus mehreren Jahrhunderten ist. Autorin Durch Bauen verstehen! - das ist die Idee von Guédelon. Jeder weiß, wie eine mittelalterliche Burg aussieht, erklärt Bauleiter Florian Renucci. Aber wie sie gebaut wurde, das ist in Vergessenheit geraten. evt. Musikakzent s.o. noch mal hoch Autorin Initiator für das spektakuläre Projekt war ein Mann namens Michel Guyot. Der restaurierte sein Schloss im wenige Kilometer von der Baustelle entfernten Ort St. Fargeau und stellte sich dabei allerhand Fragen über das Mittelalter. Verrückte Ideen, fand er, seien die einzigen Dinge im Leben, die man nicht bereue. Warum nicht heute eine mittelalterliche Burg bauen - mit Methoden von damals? Keine Attrappe, sondern ein eigenständiges Bauwerk mit einer eigenen Geschichte, fest verankert in der Zeit des französischen Königs Philippe Auguste! Gebraucht wird sie zwar von niemandem. Aber man erhofft sich Aufschluss darüber, wie im Mittelalter gebaut wurde. Florian Renucci, als Archäologe, Steinmetz und Denkmalpfleger für Guédelon prädestiniert, sagt, sie seien hier wohl weltweit die einzigen, die zum Beispiel noch richtige Kreuzrippengewölbe herstellen würden. Er ist davon überzeugt, dass aus der Zusammenarbeit von Handwerkern und Fachleuten ein neues Wissen für unsere Zeit entsteht. 25 Flo keine Kopie synchronisieren 0.42 Wir wollten kein Schloss kopieren, sondern eins entwerfen. Und haben uns konkrete Vorgaben gegeben: Die Bauzeit sollte ungefähr 25 Jahre betragen, und der Baubeginn nach dem Tod des Königs Philippe Auguste um 1229 liegen. Es sollte ein Schloss aus dieser Gegend sein. Wir haben uns hier mehrere Bauwerke, auch Ruinen aus dieser Zeit angeschaut - das Schloss sollte ja glaubwürdig sein. Und wir wollten es genauso bauen wie vor 800 Jahren gebaut wurde. Autorin Un projet fou - ein verrücktes Projekt, fanden viele und hielten die Initiatoren für komplette Spinner. Aber ein Verein wurde gegründet, eine Anschubfinanzierung gefunden, die ersten Handwerker trafen ein. Seit 1998 ist die Baustelle für Besucher geöffnet. Guédelon schreibt längst schwarze Zahlen und ist inzwischen zur größten Touristenattraktion im nördlichen Burgund geworden. Viele Besucher kehren regelmäßig zurück, um die Fortschritte zu verfolgen. 26a Mar Gegend synchronisieren 0.11 Als ich dieses Projekt mit aus der Taufe hob, dachte ich, das ist auch eine Gelegenheit, diese Gegend, aus der ich stamme, bekannt zu machen. Wir sind ja weit ab von großen Städten, viele Menschen hier haben keine Arbeit. Autorin sagt Marylène Martin, Mitinitiatorin und Chefin von Guédelon. 26b Mar Gegend ff synchronisieren 0.26 Jetzt, nach 15 Jahren haben wir 320 000 Besucher pro Jahr. Die schaffen Arbeitsplätze für 71 Menschen, außerdem Restaurants, Hotels und weitere touristische Attraktivitäten. Und die Leute hier sagen nicht mehr, ich lebe in der Puisaye, sie sagen: ich lebe in der Nähe von Guédelon. Musik Interpret: Joan Armatrading Titel: What's inside, Track 4 Shapes and Sizes Komponist Joan Armatrading LC-Nr.: 0316 Verlag: BMG 27 Geur Guédelon 0.07 Das ist das Positive an Guédelon: wir haben gesehen: es geht. Und Guédelon liegt sehr einsam. Ich sag immer: dagegen ist Meßkirch der Mittelpunkt des Universums. Autorin Bert Geurten weiß, dass man mit der Idee zur Klosterstadt in Meßkirch weit von Guédelons Erfolg entfernt ist. Der "Campus Galli" steckt noch in den Kinderschuhen. Das deutsche Projekt ähnelt im Kern zwar dem französischen, ist aber viel ambitionierter. Denn hier entsteht nicht nur eine Burg, sondern eine ganze Stadt aus dem 9. Jahrhundert: mit fünfzig Gebäuden, einer Kirche für 2000 Menschen - alles auf gut acht Hektar. Eins möchte Bert Geurten auf keinen Fall: ein mittelalterliches Disneyland. Geplant ist "Campus Galli" als wissenschaftliches Experiment und als Besucherattraktion gleichermaßen - ein Spagat, der in Guédelon geglückt ist. Vielleicht verhilft der Europäer Karl der Große auch den Meßkirchern zum Erfolg. Denn sowohl Deutsche als auch Franzosen führen die Anfänge ihrer Nationalgeschichte auf ihn zurück. 28 Geur Frankr und Karl 0.27 Nun ist das Projekt in Guédelon mehr 13. Jahrhundert, diese Burg, das ist nun nicht gerade die karolingische Zeit. Aber ich habe immer festgestellt, dass Karl der Große in Frankreich einen hohen Stellenwert hat. Wenn ich in Frankreich bin, sage ich nie, ich komme aus Aachen, sondern aus Aix-la-Chapelle. Dann, von zehnmal strahlt mich der Franzose neunmal an und sagt: Ah, Charlemagne. Es ist auch ihr Kaiser und unser Kaiser, ich glaube, das ist sehr wichtiger Bezugspunkt auch heute noch. Atmo Werkstatt Autorin Im "Hotel zum Löwen" laufen die Vorbereitungen für den "Campus Galli" auf Hochtouren. An einem Tisch sitzen zwei Frauen vor einem Berg frisch gewaschener Schafwolle. Die eine kämmt sie, die andere versucht, sie mit einer Spindel zu verarbeiten, und Daniela Kiene erklärt, wie es geht. 29 Kiene Spindel mit Atmo 0.19 Einsetzen in die Spindel. Richtig, Genau hier, dass die Wolle übereinanderlappt. Jetzt einfach drehen.... Autorin Am Nachbartisch näht eine Frau mit einer großen Nadel eine Hose aus grobem Leinenstoff zusammen. In der ehemaligen Hotelküche weicht frisch geschorene Schafwolle in einer Lauge aus Seifenkraut, daneben liegen in einer großen Wanne Weidenzweige, die später zu Körben verarbeitet werden. An einer Schnitzbank entstehen Dachschindeln und an dem großen Tisch in der Mitte des Raums bastelt Jochen Israel gerade an einer Schaufel. Wie die anderen im "Werkstättle" ist auch er ein Langzeitarbeitsloser, der nun im Projekt "Campus Galli" unter fachkundiger Anleitung mitarbeitet. 30 Isr. in die Zeit reindenken 0.29 Ich kann mich da reindenken in die Zeit. Was haben sie gedacht, wie haben die gedacht, was hatten sie für Möglichkeiten vom Werkzeug her, was ist machbar? Machbar ist fast alles, aber braucht die drei oder vierfache Zeit, die wir jetzt brauchen. Wenn man sieht, wie der die Schindeln schnitzt, da ist er ja eine Zeitlang dran. Heute steckt man das in die Hobelmaschine, hinten kommt es fertig raus. Autorin Der Ton ist rau, die Stimmung gut. Von dreizehn Langzeitarbeitslosen kommen sieben regelmäßig. Um 8 Uhr beginnt der Arbeitstag, und wer dreimal unentschuldigt fehlt, hat seine Chance, mitzuwirken, vertan. Fachleute, ein Handwerkerteam und eine Sozialarbeiterin helfen mit. Zum Beispiel Antonia Glöckler. Sie kümmert sich um die, die mit Wolle und Stoff arbeiten. In ihrem Büro im ehemaligen Hotel blättert sie in einem Ordner, in dem genau beschrieben ist, welche Materialien um 900 wann und wie benutzt wurden. 31 Antonia lernen 0.24 Wenn ich hier nähe, denke ich, eigentlich könnte ich hinten dran die Nähmaschine auspacken und da aber wieder zurückzufinden. Man kommt da schon runter. Man merkt, es geht langsamer, aber es geht auch. Das wäre so was, was uns gut tun würde, das wir mal einen Gang zurückschalten und alles mal ein bisschen langsamer angehen. Aber das muss man lernen. Ich bin aktiv dabei. Musikzäsur Autorin Die Arbeit im "Werkstättle" ist die Fingerübung für das nächste Frühjahr, ein Schutzraum, in dem man sich ausprobieren kann. Wer sich zuverlässig engagiert, kann ab dem kommenden April auf der Baustelle mitarbeiten. Viele, meint Antonia Glöckler, könnten sich überhaupt nicht vorstellen, was es bedeuten würde, dann im Wald bei Wind und Wetter in mittelalterlicher Kleidung vor Publikum zu hämmern, klopfen oder zu kämmen. Aber Jochen Israel freut sich darauf, auch auf seine grobe Leinenhose. 32 Isr. Hose 0.19 Die ist kratzig, das haben wir schon festgestellt. Aber mit der Zeit, nach ein paar Mal waschen wird sie weicher, und wenn man die fettigen Hände ein paar Mal abputzt, dann ist es wie eine Lederhose. Die stellt man ins Eck und morgens springt man rein. Atmo Werkstatt 33 Mario schwer 0.07 Ha, am Anfang wird's bestimmt schwer, 100%ig. Allgemein, der Job ist ja auch schwer, körperlich. Autorin Mario ist ein paar Tische weiter mit Korbflechten beschäftigt. Mit seiner kräftigen Gestalt, den zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haaren und dem gutmütigen Gesichtsausdruck passt er gut ins frühe Mittelalter. Nur die Tätowierung auf dem Arm wird er wahrscheinlich bedecken. 34 Mario Korbflechten 0.14 Das ist das Kreuz, dann werden die im Flechtverfahren auseinandergedrückt mit den Händen, dass sie so einen Kreis bilden.... Autorin Mario ist auch ein Hartz IV Empfänger. Aus gesundheitlichen Gründen verlor er seine Arbeit. Jetzt ist er froh, beim "Campus Galli" mitzumachen. 35 Mario kein Stress 0.24 Das ist ja das Gute. Wir haben keinen Zeitdruck, man kann es gemütlich angehen, ohne Stress oder sonst was, was heutzutage jeden kaputt macht, der Stress. Früher hat man zwei Jahre für ein ganzes Haus gebraucht zum bauen, heute macht man es in sechs Wochen, komplett. Das macht die Leute kaputt. Und zu allem ja und Amen zu sagen, weil man Angst hat, man verliert den nächsten Job. Wenn du Familie hast sowieso. Musik Interpret: Francoise Hardy Titel: Vol 1, Track 2 Je suis d'accord Komponist Hardy-Samyn LC-Nr.: 0390 Verlag: BMG Atmo Guédelon 36 Tourist 0.11 Wie kommt man auf die Idee, so eine Burg nachzubauen, genau wie im Mittelalter und keine anderen Hilfsmittel? Autorin will ein junger Österreicher wissen, der mit seiner Familie nach Guédelon gekommen ist. Und er fragt Thierry, den Führer, wer später in der Burg wohnen wird. 40 Thierry unbewohnt 0.35 Da wird keiner drin wohnen. Es ist total unbequem. Da gibt's keine Heizung drin. Wir sind nicht mehr vom Mittelalter. Wir wollten einfach zeigen, wie man eine Burg baut damals. Vielleicht werden wir auch zeigen am Tag lang, wie man in einer Burg lebt, das heißt, es wird immer was kochen in der Küche, es wird immer eine Decke sein auf einem Bett, ein paar Äpfel in einem Korb, auf einem Tisch ein Schachspiel, eine Feder in einem kleinem Topf, um etwas zu schreiben auf einer Seite, aber sonst wird keiner darin leben. Um 19 Uhr gehen wir wieder in die moderne Zeit. Autorin Thierry stammt aus Straßburg und arbeitet seit einigen Jahren in Guédelon. Mit seinen österreichischen Gästen steht er jetzt an der Außenmauer der Burg. Hinter ihm hämmern und meißeln die Steinmetze den Sand- und Kalkstein für Fenster, Türrahmen oder Gewölberippen. Gebrochen wird der Stein in mühsamer Arbeit gut hundert Meter weiter - der Zeit entsprechend mit Hammer und Keil. Jetzt zeigt Thierry auf einen kleinen Anbau, der direkt neben dem inzwischen 16 Meter hohen Bergfried, Tour Maitresse genannt, entstanden ist: die Burgtoilette. 41 Thierry Klo 0.27 Im 13. Jahrhundert - es ist neu für diese Leute, damals sitzt man endlich allein. Ein Jahrhundert vorher war es ein bisschen wie die Römer, die sind immer zu zweit in diese Orte gegangen oder zu sechst oder zu acht. Jetzt endlich sitzt man alleine, noch kein Papier, aber es kommt bald. Und keine Wasserspülung: was raus soll geht direkt in den Graben unten. Autorin Alles so zeitgemäß wie möglich! Das stellt man auch fest, wenn man über das große Gelände spaziert und die einzelnen Werkstätten besucht. Überall geben die Handwerker bereitwillig, ja enthusiastisch Auskunft - das gehört zum Konzept von Guédelon. Atmo Gänse geht über in Atmo schnitzen 43 Thomas archaisch 0.17 Ich finde, wenn man weiß, wie man früher auf dem Lande gelebt hat, bringt einen das zurück zur Natur, weg vom Verkehr, vom Internet, vom Lärm. Hier gibt's keine Autos, keinen Strom, man erzählt, man trifft Leute, man schläft gut, weil man sich körperlich angestrengt hat, und fett wird man auch nicht. Autorin Thomas aus Mecklenburg-Vorpommern ist allerdings nur für eine Woche in Guédelon. Er ist einer von 700 Freiwilligen, die alljährlich auf der Baustelle mitarbeiten können und für eine kurze Zeit ins Mittelalter abtauchen. Jetzt versucht er sein Glück an der Drechselbank. Gary aus England leitet die kleine Holzwerkstatt und achtet darauf, dass Thomas die Holzschalen richtig ansetzt. Atmo Gänse geht über in Atmo schnitzen 44 Gary der einzige, der es kann, synchronisieren 0.32 Normalerweise arbeite ich hier allein. Ich bin der einzige, der noch weiß, wie man diese Holzschalen schnitzt. Die Werkzeuge gibt es nicht mehr, und der letzte Handwerker, der das in England noch beherrschte, starb 1957. Also musste man es wieder lernen, und im Moment bin ich eben der einzige, der es kann. Atmo Gänse Autorin Zahlreiche Besucher schauen zu. Ein paar Gänse watscheln umher. Neben Schweinen, Rindern, Schafen, und den Zugpferden gehören die Tiere zum Inventar der mittelalterlichen Anlage - vermutlich ein Zugeständnis vor allem an die jugendlichen Besucher, 45a Thom. Ablauf Ich hab hierher geschrieben und gefragt, ich habe großes Interesse daran, hier mal ne Woche zu arbeiten, was muss ich tun, um hier anzufangen. Autorin erzählt Thomas. 45b Thom. Ablauf 0.32 Es wurde sofort freundlich zurückgeschrieben, ja, es ist was auszufüllen und sollte was zum Hintergrund erzählen. Dann war's relativ einfach. So, dann kommt man Montagmorgens hier an, dann wird man vorgestellt, dann Florian, der Architekt, der das Projekt leitet, der teilt dann ein, wo man gebraucht wird. Es gibt drei Gewerke: natürlich Stein, dann Erde, wo die ganzen Teile für die Dächer hergestellt werden. Und dann Holzgewerbe. Atmo Gänse geht über in Atmo Guédelon 46 Ralf Fliesen 0.25 Ich bin jetzt hier eine Woche als freiwilliger Mitarbeiter auf Baustelle, im Moment in der Abteilung, die die Bodenfliesen herstellt. Hier geht's drum, Lehm, den man vor Ort findet, aufzubereiten, mit Wasser zu versetzen, in Form zu drücken, aus der Form wieder rauszuholen, trocknen zu lassen, zu markieren, zu brennen. Diese Fliesen werden dann in der Burg verlegt, im großen Saal. Autorin Die Tonwerksatt ist nur wenige Meter von der Holzwerkstatt entfernt: ein offenes Gebäude, in dem sechs Mitarbeiter Fliesen herstellen. Ralf, Berufsschullehrer aus Karlsruhe, verbringt auch eine Ferienwoche in Guédelon. Er hat seine Französischkenntnisse aktiviert und presst mit Hingabe den Lehm in eine Form. 47 Ralf Kostüm Zeit 0.45 Mit Zusage, hier mitarbeiten zu können, bekam ich auch ein Schnittmuster geschickt, um die Kutte selbst zu nähen. Es gibt klare Vorgaben, wie man hier auftreten soll, eben mit dem Hinweis, das die Leute, die zu Besuch kommen, erwarten, Mittelalter zu sehen, also entsprechend Sonnenbrillen sind verboten, Basecup sind Verboten. Es gibt ein paar Zugeständnisse an die Arbeitssicherheit: Sicherheitsschuhe, lange Hosen, je nachdem, was zu tun ist, Schutzbrille, Atemmaske, das auf jeden Fall. Aber ansonsten wird wirklich gearbeitet wie im Mittelalter. Und es ist für mich persönlich faszinierend, dass Zeit eine völlig andere Bedeutung hat. Hier arbeitet man ohne Armbanduhr. Man arbeitet in einem ganz anderen Rhythmus. Irgendwann tutet das große Horn in der Schmiede und man weiß, es ist Zeit für die Mittagspause. Musikakzent kurz Interpret: André Popp et son orchestre Titel: Track 11 La Java Martienne Komponist Boris Vian LC-Nr.: LC 00305 Verlag: Universal Autorin Das Zentrum des Ganzen ist natürlich die Burg. Das Quergebäude, als Wohnhaus gedacht, ist fast fertig. Flankiert wird es von zwei Wehrtürmen, dem kleineren Kapellenturm und der größeren Tour Maitresse, die später rund 28 Meter hoch sein wird. Und da ist auch Clement, der Steinmetz. Auf der Baustelle läuft man sich immer wieder über den Weg 48 Cle Im Tour Wir sind hier im Erdgeschoss der Tour Maitresse. Es ist ähnlich wie im anderen Turm, aber wesentlich imposanter: Hier sind 8 Meter Durchmesser, die Mauern sind 3,5 Meter dick und über uns haben wir ein großes Kreuzrippengewölbe ganz aus Sandstein. In der nächsten Etage haben wir das gleiche noch mal, dann aber in weißem Stein. Atmo Treppe Autorin Und schnurstracks geht er durch das bereits fertig gestellte Erdgeschoss die gewundene Treppe nach oben in die nächste Etage und dann hinauf aufs Dach. Atmo Dach Autorin Dort steht es, das große "Hamsterrad", eigens für Guédelon konstruiert. Der ganze Stolz der Mitarbeiter! Vier Meter hoch und schon von weitem sichtbar. Es hat etwas von einem Folterwerkzeug. Aber mit seiner Hilfe werden die Steinquader von unten nach oben transportiert. 50 Fabrice Eichhörnchen 0.06 Pascale! Atmo Hamsterrad Autorin Fabrice, der oben steht, hat gerade seinem Kollegen nach unten zugerufen, die Holzkiste mit Steinen zu beladen. 50 Fabrice Eichhörnchen synchronisieren ff 0.18 Man braucht zwischen fünf und zehn Minuten. Man muss runter, aufladen, wieder hoch und dann die Kiste hochziehen. Im Durchschnitt bringen wir bei einer Ladung 500 kg nach oben. Dieses Tretrad hat zwei Räder, in jedem muss einer laufen, dann dreht sich das Seil um die Achse, und es geht nach oben. Autorin Es staubt, knirscht, quietscht. Der Vorgang ist arbeitsintensiv. Neben den zwei Männern im Tretrad überwacht einer den Aufstieg. Er übernimmt zusammen mit einem anderen die schwere Kiste. Ungefähr fünf bis zehn Mal am Tag wird eine Ladung Steine nach oben gebracht. evt. 50 Fabr. ruft manu Manu, komm' mal rauf, dann Atmo Autorin Alles ist authentisch. Jedenfalls tagsüber und während der Saison, die von April bis November dauert. Aber wenn keiner zusieht, wird auch mal geschummelt - mit Mitteln des 21. Jahrhunderts. Ein Alugerüst in einem der Räume wird zur Deckenbemalung hin- und hergeschoben, in den Anfangsjahren kam außerhalb der Saison auch mal eine Planierraupe. Guédelon, sagt Clément, ist wohl die ungewöhnlichste Baustelle in Europa - bisher. 51 Cle Besonders 0.40 Wir sind schon besonders. Wir machen keine historische Rekonstruktion. Wir passen in kein Raster. Einerseits sind wir ein Touristenpark, andererseits ein archäologisches Experiment. Vielleicht funktioniert es wegen dieser speziellen Form. Vielleicht mögen uns die Leute deshalb und kommen immer wieder. Musik Interpret: Trini Lopez Titel: If I had a hammer Komponist Pete Seeger LC-Nr.: 00149 Verlag: Ludlow Music (aus Speicher) 53 Ute Geurt. 0.18 Hallihallo- - Frau Klingenstein. Wie geht's? - Ah ja - das sieht ja sportlich aus - ja Wunderbar, hab ich letzte Woche eingetauscht gegenüber meinen Krücken. - Dann fahren wir jetzt? Autorin Vor dem Hotel zum Löwen in Meßkirch hat Bert Geurten sein Auto geparkt. Ute Klingenstein wartet schon am Eingang. Humpelnd hat sie einen Berg Schafwolle zum Verarbeiten gebracht. Eines ihrer vier Merinoschafe hat sie beim Klauenschneiden so getreten, dass sie nur mit Krücken gehen kann. Ute Klingenstein ist Steinmetzin. 54 Ute Steinmetz 0.18 Ich habe früher viel in der Restauration gearbeitet, hab dann, wie es halt so ist, einen Mann kennengelernt, Kinder, und jetzt will ich eigentlich in den Beruf zurück, und da kommt mir das doch schon ganz gleich super. Atmo Auto Autorin Und deshalb fährt sie jetzt mit Bert Geurten zu einem Natursteinlager in der Nähe, um passende Steine für eine historische Handgetreidemühle und einen Mörser zu suchen. Die Pläne, wie sie aussehen sollen, wurden ihr aus Aachen zugeschickt. Dort sitzt einer der Berater für die karolingische Klosterstadt. 55 kurz Szene beim Steinmetz 0.13 Guten Tag - guten Tag - das ist mein Mann - wir haben uns schon mal gesehen - ja, ich glaube. Da werden wir mal gucken, um was es geht. Atmo Steinmetz Autorin Alexandra Gössel führt Ute Klingenstein über das Gelände. Überall liegen große Steinbrocken: Basalt, Granit, Kalkstein, Serpentin. Die Steinmetzin klopft hier an, schlägt dort dagegen und ist ein wenig unsicher, welches Material sie für das frühe Mittelalter auswählen soll. 56 Ute Muschelkalk 0.27 Die Mörser, das ist ja wo man mahlt. - Was denken sie, was es für Material sein soll? - Muschelkalk, ich weiß nicht, stand drin, Kalkstein stand drin, das kann ich mir nicht richtig vorstellen, dass das behaubar ist, es soll halt alles mit geschmiedetem Eisen bearbeitbar sein. Das ist das Problem, das wir haben. Atmo Auto geht über in Atmo Garten (Archiv) Autorin Auf dem Rückweg ins Stadtzentrum von Meßkirch fahren sie noch schnell zum Garten von Mareike Punzel. Die Agrarbiologin hat, gemeinsam mit einem Landwirt, einem Tierarzt und einer Agrarwirtschaftlerin, eine Arbeitsgruppe gegründet, die sich mit Pflanzen und Ackerbau um 900 beschäftigt. 91 Mar faszinierend 0.36 Ich find' s unglaublich faszinierend, sich vorzustellen, wie vor so langer Zeit, vor über tausend Jahren, wie die Menschen gelebt haben, was sie angebaut haben, wie sie es angebaut haben. Ich finde sowohl die Unterschiede faszinierend, also in unserem Garten wächst hauptsächlich Zucchini, Tomaten, Kartoffeln, Bohne, das gab's damals noch gar nicht. Und die Parallelen sind ja auch so: der Grundstock: Kraut, Rüben, Petersilie - die haben wir heute noch ganz genauso Autorin Im Plan, den die Mönche der Insel Reichenau um 820 anfertigten, sind drei verschiedene Gärten eingezeichnet: der Herbularius, mit Heilkräutern für die Apotheke, der Hortus, ein umschlossener Gemüsegarten und der Obstgarten, der zugleich Friedhof der Mönche sein sollte. In ihrem Garten hat Mareike Punzel im Frühjahr die Pflanzen angebaut, die im Klosterplan verzeichnet sind. Sie hat die wissenschaftliche Literatur dazu gründlich studiert und findet die Idee des "Campus Galli" ganz aktuell. 59 Mar Dürre 9.27 Ich hab die Nachrichten gehört. Und da war ein großes Thema die Dürre in Amerika, die Steigerung der Getreidepreise und dadurch jetzt Angst vor Hunger auf der Welt. Also Spekulation mit Nahrungsmitteln. Und schon Karl der Große hat versucht, gegen die Spekulation mit Nahrungsmitteln anzugehen und hat versucht, Höchstpreise festzusetzen. Und diese Geschichte, dass ist unsere Geschichte, die ist auch heute noch interessant für uns. Autorin Das findet Bert Geurten auch. Er ist ein großer Bewunderer des Karolingers. Schon als Junge hat er sich für den Kaiser begeistert, der in einer Zeit lebte, die gar nicht so dunkel war, wie sie landläufig immer betrachtet wird. 17 Geur Karl der Große 0.34 Karl der Große - ich würde ihn gern mal treffen. Er würde vielleicht sagen: Hör mal, du kommst aus dem 20. Jahrhundert, bist 1949 geboren, war euer Jahrhundert denn so hell mit zwei Weltkriegen und Millionen von Toten? Ich glaube, da sollten wir uns nicht so aufs hohe Ross setzen. Das Mittelalter war anders, es war anstrengender als unsere Zeit, es war nicht nur finster. Es gab sehr viele helle Epochen, und die karolingische Epoche ist eine hoch spannende, die Europa, Karl den Großen nennt man ja auch den Vater Europas, sehr entscheidend geprägt hat. Denken Sie nur an die karolingische Minuskel. Wir schreiben heute noch so wie zur Zeit Karls des Großen. Autorin Der 63jährige Bert Geurten selbst wird die Vollendung des Campus Galli, die voraussichtlich 2053 sein wird, nicht mehr erleben. Er fühle sich wie Moses, der das gelobte Land zwar sehe, es aber nicht betreten werde, sagt er. Das Ziel des Unternehmens sei aber auch das Bauen selbst. Das ist sowohl im französischen Guédelon als auch im oberschwäbischen Meßkirch der Fall. Sprecher über Kennmusik Meißel, Männer, Mittelalter Das oberschwäbische Meßkirch beamt sich ins 9. Jahrhundert Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Susanne von Schenck Ton: Bernd Friebel Regie: Margarete Wohlan Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2012 Manuskript und Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de