KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Ko Kostenträger : P 62 110 T Titel der Sendung : So tragisch, so literarisch wie bei Anne Frank Die Aufzeichnungen junger jüdischer Tagebuchschreiber in Amsterdam, Prag und Paris Autor/in : Renate Maurer Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 08.08.2014 Besetzung : Sprecherin (Kommentar), Zitat-Sprecherin (ev. aufgeteilt auf zwei: älter (OV, Mies Gies Etty), jünger (Anne, Edith, Hélène)), Zitat-Sprecher (diverse) Regie : Beate Ziegs Produktion : O-Töne, Musik (bringt Autorin) Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- Deutschlandradio Kultur Redaktion: Dorothea Westphal So tragisch, so literarisch wie bei Anne Frank Die Aufzeichnungen junger, jüdischer Tagebuchschreiber in Amsterdam, Prag und Paris Manuskript: Renate Maurer Sprecherin Zitat-Sprecher Zitat-Sprecherin, div. Zitate und Voice Over Miep Gies (jung, älter) = ev. auf 2 Stimmen verteilen Musik Sprecherin: 4. August 1944 - ein grausames Datum für die Familie Frank und die mit ihnen untergetauchten Juden im Hinterhaus von Franks Firma an der Prinsengracht. Zwei Jahre hielten sie sich hier verborgen. An diesem Freitag im August werden sie verraten und verhaftet. Musik Sprecherin Der Leiter des Verhaftungskommandos vom Sicherheitsdienst ist mit dem Fahrrad gekommen, in Begleitung von drei Holländern in Zivil. Mit den acht Versteckten im Hinterhaus der Firma Opecta nehmen sie auch ihre Helfer unten im Kontor fest. Nur die beiden weiblichen Büroangestellten dürfen bleiben, darunter Miep Gies - ausgerechnet sie, die wichtigste Unterstützerin der Untergetauchten. Der glückliche Zufall will es so, dass der verhaftende SS-Mann Österreicher ist, sie erkennt seinen Akzent. 1 O-Ton Miep Gies (holländisch) Zitat-Sprecherin (VO) Er kam zu mir ins Büro, und noch bevor er etwas sagen konnte, stand ich auf, das sind die Deutschen so gewohnt. Ich sagte: (auf deutsch) "Sie sind Wiener - ich auch!" Mit möglichst munterer Stimme. Und der Mann erschrak derart, dass er stocksteif stehen blieb. Er hatte nicht damit gerechnet, eine Österreicherin vorzufinden. Sprecherin So schildert Miep, geboren als Hermine Santrouschitz in Wien und bei Pflegeltern in Holland groß geworden, ihre Begegnung mit dem jungen SS-Oberscharführer Karl Silberbauer 50 Jahre später in einem holländischen Dokumentarfilm. Silberbauer selbst kann sich bei seiner Vernehmung 1963 zwar an Miep erinnern, nicht aber an eine "Wienerin oder Österreicherin". Wie dem auch sei - er ließ sie laufen. Ein Riesenglück. Auch für Anne Franks Tagebücher. Noch am gleichen Tag nimmt Miep das rot-grau-karierte Album sowie die Hefte und losen Blätter an sich, die Silberbauer achtlos aus Franks Aktentasche auf den Boden gekippt hatte. Den Stapel bewahrt sie in ihrem Schreibtisch auf, um ihn im Juli 1945 Otto Frank zu übergeben. Er war als einziger Überlebender der acht Untergetauchten nach Amsterdam zurückgekehrt. 2 O-Ton Miep Gies Zitat-Sprecherin (VO) Ich stand auf, öffnete die Schublade in meinem Schreibtisch, hab alle Tagebücher und Blätter zusammengesammelt und sie Herrn Frank überreicht mit den Worten: "Das ist das Erbe Ihrer Tochter Anne!" Sprecherin 1947 erscheint das Tagebuch im Amsterdamer Contact Verlag unter dem Titel "Het Achterhuis", "Das Hinterhaus", Dagboekbriefen vom 14. Juni 1942 -1. August 1944. Der Erfolg war bescheiden. 4 O-Ton Mirjam Pressler Das war überall so, also in Deutschland war´s ein kleiner Verlag, Lambert- Schneider, der die Tagebücher dann schließlich genommen hat. Auch Fischer hatte sie abgelehnt, gell! Sprecherin sagt die Autorin und Übersetzerin Mirjam Pressler, die Ende der 80er Jahre die erste vollständige Ausgabe von Annes Tagebüchern übersetzte. 4 0-Ton Mirjam Pressler Erst als das Theaterstück so bekannt wurde und so wahnsinnig erfolgreich war, es hat ja überall ganz großes Aufsehen erregt, erst da wurde das Tagebuch mit nach oben geschwemmt. Sprecherin "The Diary of Anne Frank", die Bühnenfassung des Ehepaars Frances Goodrich und Albert Hackett erlebte 1955 am New Yorker Broadway einen sensationellen Theatererfolg. Ein Jahr später wird das Stück auch an deutschen Bühnen aufgeführt, in sieben Städten gleichzeitig, in West-und Ostdeutschland. 5 O-Ton Mirjam Pressler Ich hab Berichte gelesen: Die Leute haben geweint, sie waren begeistert, es gab ewigen Applaus. Es muss sie alle so aufgewühlt haben, besonders die jüngeren Leute, die das nicht mehr so ganz mitgekriegt haben, es muss eine unglaubliche Wirkung gehabt haben. Sprecherin Die Theaterfassung mit ihrem optimistischen Grundton und der ins Zentrum gerückten Liebesgeschichte zwischen Anne und dem 16jährigen Sohn der Familie van Pels, Peter, erlaubte Erschütterung ohne Schuldgefühle. Ebenso wie die Botschaft, die Anne am Schluss aus dem Off verkündet wie aus dem Jenseits: Zitat-Sprecherin (Anne) "Trotz allem glaube ich an das Gute im Menschen." Sprecherin Der Satz stand 1955 auch auf dem Cover des Taschenbuchs, das dann doch noch beim Fischer Verlag erschien, weiß auf signalrot, und gab die Lesart für die nächsten Jahrzehnte vor. Die erste Übersetzerin hatte nicht nur Annes frischen, ironischen Stil in ein gediegenes Deutsch verwandelt, sondern auch ihre politischen Aussagen entschärft. Erst 1986 erschien in den Niederlanden und 1988 in Deutschland das "vollständige" Tagebuch in neuer Übersetzung von Mirjam Pressler. In dieser und in weiteren Ausgaben führte sie die deutschen Leser wieder an Annes Originalsprache und ihre Originalfassungen heran, nahm die Streichungen und Korrekturen wieder zurück. Das "Tagebuch der Anne Frank" war, dank seiner unmittelbaren Rettung und seines Theatererfolgs, das erste anschauliche Buch über ein jüdisches Teenagerschicksal im "Dritten Reich". Und es blieb außer Konkurrenz - jahrzehntelang. Natürlich hatten auch zahlreiche andere jüdische Mädchen und Jungen in den Jahren der Verfolgung und Vernichtung Tagebuch geführt. Aber ihre Aufzeichnungen wurden entweder zerstört, nie gefunden oder erst nach Jahrzehnten auf Dachböden entdeckt. Manche überlebten zusammen mit ihren Verfassern, mussten aber trotzdem lange auf ihre Veröffentlichung warten. Musik Sprecherin Edith Velmans-van Hessen zum Beispiel, geboren 1925 in Den Haag, lernte bei der Geburt ihrer Zwillinge 1950 in einem Amsterdamer Krankenhaus Miep Gies kennen, die ebenfalls ein Baby im Arm hielt. Miep erzählte ihr von Anne Franks Tagebuch. Aber erst 1997 brachte Edith ihr eigenes heraus. Nachdem sie bereits ein halbes Leben in den USA verbracht hatte. 9 O-Ton Mirjam Pressler Die überlebt hatten, die waren in der Regel relativ junge Leute, der große Durchschnitt zwischen 20 und 30, die wollten nach der Befreiung, sie haben geheiratet, haben Kinder gekriegt, sie haben Berufe erlernt, sie haben versucht, irgendwie Fuß zu fassen, egal in welchem Land. Die wollten das neue Leben. Die haben auch nicht darüber geredet. Deswegen sind sowohl in Israel als auch in Deutschland Berichte über den Holocaust erst nach 1970, 80 erschienen, in beiden Ländern zu gleicher Zeit. Die einen hatten Schuld, die wollten nicht an Schuld denken oder an die Schuld der Eltern oder Großeltern. Die andern wollten nicht an ihre Erniedrigung denken und nicht darüber reden. Und die Umgebung wollte auch nichts davon hören - das ist die andere Sache. Sprecherin "Het verhaal van Edith", Edith's Geschichte, erschien 1997 in Amsterdam und zwei Jahre später auch in Wien. Eine Kombination aus Tagebuchauszügen, Erinnerungen und Briefen. Auf dem Titelbild: ein freches kleines Ding im Karokleid mit in die Taille gestemmten Fäusten. Edith van Hessen wird 1925 in Den Haag in ein liberales, gutbürgerliches Milieu mit Sinn für Kunst, Musik und Literatur hineingeboren. Edith ist mindestens so lebhaft und extrovertiert wie Anne Frank. Sie platzt geradezu vor Lebensfreude. Zitat-Sprecherin (Edith) Auf dem Fahrrad gesungen. War bei dem Essen bei Miep. Als ich bei ihr vor der Tür stand, merke ich, dass ich im Dunkeln (der Mond schien nicht) vor mich hin kicherte. Lachend kam ich bei ihr rein. Sprecherin schreibt sie am 12. Februar 1941. Da ist Holland schon seit neun Monaten von den Deutschen besetzt. Aber die Besatzer benehmen sich erstaunlich anständig, halten sich auch mit der Judenverfolgung erst einmal zurück. Edith ist 15, geht aufs Gymnasium, hat Freundinnen und Freunde, rudert, segelt, tanzt, läuft Schlittschuh über die vereisten Grachten. Musik Zitat-Sprecherin (Edith) Zwei Jungen spielten Gitarre, und wir summten oder pfiffen die Melodien mit. Es war gar nicht kalt. Wenn man sich umschaute, sah man die Eisbahn, den Mond, der durch die Zweige schien, und junge Leute auf Schlittschuhen, die sich umeinander drehten. Manchmal konnte man in der Dunkelheit glühende Zigarettenstummel erkennen. (...) Es war so schön. Wir hatten soviel Spaß. Sprecherin Wie Anne nimmt sie den Krieg und die deutsche Okkupation lange Zeit als Abenteuer wahr. Aber ganz anders als diese, kann Edith direkt von der Außenwelt berichten, vom schleichenden Prozess des Ausgeschlossen-Werdens und den Demütigungen durch immer neue Verordnungen und Verbote, vom Schulausschluss, den Kino-, Schwimmbad- Ruder -und Radfahrverboten. Auch wenn sie beschlossen hat, sich nicht unterkriegen zu lassen. Zitat-Sprecher (Edith) 3. Mai 1942 Wir tragen alle unsere Sterne. Es bringt mich dauernd zum Lachen. Man hört die ulkigsten Dinge darüber, und die Witze machen noch schneller die Runde, als die Gerüchte. Die Leute, die Sterne tragen, werden auf der Straße gegrüßt. Die Herren ziehen den Hut und man bekommt allerlei aufmunternde Bemerkungen zu hören. Es ist toll. Sprecherin Dass die Niederländer Solidarität mit "ihren Juden" zeigen, dass sich in Amsterdam am Tag der Sterneverordnung viele Nichtjuden selbst den gelben Stern oder gelbe Blumen an die Brust heften oder ihrem Pudel anstecken, macht es leichter, die Erniedrigungen zu ertragen. Schon im Februar 1941 traten die Amsterdamer nach der ersten Verhaftung von 400 jungen Männern im Judenviertel in den Generalstreik. 10 O-Ton Pressler Ja, das ist tatsächlich so, in Holland gab's den einzigen Streik zugunsten der Juden, nicht vergessen. Und diesen wunderschönen Satz haben diese Streikenden gesagt: "Die Scheiss-Moffen, sollen ihre Finger von unseren Scheiss-Juden lassen." Die waren schon unglaublich. Musik Sprecherin In Prag mussten die Juden wie im "Deutschen Reich" schon ab September 1941 den gelben Stern tragen. Und niemand zog den Hut vor ihnen, wie man aus dem Tagebuch des 13jährigen Petr Ginz erfahren kann. Zitat-Sprecher (Petr) 19. September 1941, Freitag Es ist neblig. Die Juden müssen ein Abzeichen tragen, das ungefähr so aussieht: Sprecherin Es folgt, gelb mit schwarzen Konturen, die Zeichnung des Sterns. Zitat-Sprecher (Petr) Auf dem Weg zur Schule habe ich 69 "Sheriffs" gezählt, Mama hat dann über Hundert gesehen. Die Dlouhá trida nennt man jetzt die "Milchstraße". Nachmittags mit Eva in Troja, dort auf einem angeketteten Boot gespielt. Sprecherin Zwei selbstgebastelte Heftchen hat Petr Ginz zwischen September 1941 und August 1942 mit seinen nüchternen, lakonischen Eintragungen gefüllt. Ein Zeitdokument, das gerade durch das kühle Nebeneinander von Alltäglichem und Schrecklichem, Banalem und Ungeheuerlichem seine besondere Wucht entfaltet. Zitat-Sprecher (Petr) 14. 4. 1942 (Dienstag) Man darf Würstchen aus Hundefleisch machen, Bekannte von Bloch hatten als Braten - eine Krähe! Zum ersten Mal, seit er krank war, hat Papa Oma besucht. Seit gestern geht das Gas wieder normal. 11. 6. 1942 (Montag) Insgesamt 18 Menschen erschossen, meist wegen Beherbergung unangemeldeter Personen. Vormittags in der Schule, nachmittags draußen. Sprecherin Auf Fotos blickt einem ein aufgeweckter, fröhlich lachender Junge entgegen. Nach den Rassegesetzen ist er "Halbjude", sein jüdischer Vater leitete früher die Exportabteilung einer Prager Textilfirma. Petr schreibt Romane im Stil Jules Vernes, zeichnet, fertigt Linolschnitte an, treibt sich nach der Schule mit seinem Freund Popper draußen in der Prager Vorstadt herum. In seinem Tagebuch fängt er im Tonfall maximaler Beiläufigkeit den alltäglichen Horror der Prager Juden ein, im Wechsel mit seinen Schulerlebnissen und Jungenabenteuern: die schneeschaufelnden Alten, die abzuliefernden Musikinstrumente, Thermometer, Pullover und das Verbot mit der "Elektrischen" zu fahren, die Übergriffe der Deutschen und der tschechischen "Braunen". Knapp und pointiert berichtet der 14 jährige auch über das Attentat auf "Herrn Heydrich" Ende Mai 1942 und all die Racheaktionen danach. Und listet zwischendurch immer wieder die Namen von Bekannten und Verwandten auf, die "auf Transport" nach Terezín, Theresienstadt, gehen. Im Oktober 1942 steht auch er auf der Liste. Musik Sprecherin Zu dieser Zeit hat sich auch Edith van Hessens munter-optimistischer Ton schon längst verändert. Die Judenverfolgung kommt jetzt in Holland zügig voran. Die Aufrufe zum "Arbeitsdienst nach Deutschland", Razzien und Transporte häufen sich. Ediths 19jähriger Bruder Jules, aktiv im Widerstand, will mit dem Boot nach England flüchten. Die Mutter liegt mit einem Beckenbruch im Krankenhaus, ihr Vater hat eine Kieferoperation vor sich. Edith taucht bei einer Familie in Breda unter, getarnt als Haushaltshilfe. 11 O-Ton Mirjam Pressler Und Anne Frank, soll man nicht vergessen, sie war privilegiert untergetaucht, sie war mit ihrer Familie, sie war zwei Jahre am selben Ort, sie war wirklich in einem festen Rahmen und wurde versorgt. Während die anderen, die untergetaucht sind, sie kamen allerdings auch nicht zum Tagebuchschreiben, sie wurden von einer Adresse zur anderen gebracht. Sprecherin Auch Edith van Hessen hört, während sie in Breda untergetaucht ist, mit dem Tagebuchschreiben auf - viel zu gefährlich. Die Briefe mit den in Den Haag zurückgebliebenen Eltern ersetzen ihr Journal im zweiten Teil des Buches, kombiniert mit ihren Erinnerungen. Es sind bewegende Briefe voller Liebe, Sehnsucht und dem verzweifelten Willen, auch das Schlimmste zu überstehen. Es hat nichts genützt. Ediths Mutter und ihre Großmutter werden nach Polen deportiert. Ihrem Vater bleibt das gleiche Schicksal durch seinen Krebstod erspart. Ihr Bruder Jules wird verraten. Nur Edith und ihr Bruder Guus, der rechtzeitig nach Amerika geschickt wurde, überleben. Musik Sprecherin Petr Ginz bleibt zwei Jahre im Ghetto Theresienstadt, malt und schreibt auch dort, gibt mit anderen Jungen heimlich eine Zeitschrift heraus. Seine hinterlassenen Aquarelle und Erzählungen verraten ein außerordentliches Talent. Im Oktober 1944 wird er nach Auschwitz deportiert und sofort in die Gaskammer geschickt. Weshalb aber ist sein Tagebuch erst 50 Jahre nach dem Krieg veröffentlicht worden? Dazu gibt es eine wundersame Geschichte. Sprecherin Im Januar 2003 nahm der erste israelische Astronaut Ilan Ramon eine Kopie der Zeichnung "Mondlandschaft" von Petr Ginz mit an Bord der Raumfähre Columbia. Mit dem Absturz der Columbia am 1. Februar 2003 wurden der Zeichner und sein Bild weltbekannt. Ein Tscheche, der Petrs Hefte Jahre zuvor auf seinem Dachboden gefunden hatte, meldete sich daraufhin bei Yad Vashem. Und Petrs jüngere Schwester, Chava Pressburger, erwarb sie und gab sie 2004 in Buchform in Prag heraus. 2006 folgte die deutsche Übersetzung. Musik Zitat-Sprecherin (Etty) Wenn ich nachts auf meiner Pritsche lag, mitten zwischen leise schnarchenden, laut träumenden , still vor sich hin weinenden Mädchen, die tagsüber so oft sagten: Wir wollen nicht denken, wir wollen nichts fühlen, sonst werden wir verrückt , dann war ich oft unendlich bewegt, ich lag wach (...) und dachte: "Lass mich dann das denkende Herz dieser Baracke sein. (...) Ich möchte das denkende Herz des ganzen Konzentrationslagers sein." Sprecherin Das Denken und Mitfühlen ist Etty Hillesums große Stärke, und sie ist auch sonst eine bemerkenswerte junge Frau. Untertauchen kommt für sie nicht in Frage. Sie will das Schicksal der Amsterdamer Juden teilen und lässt sich im August 1942 ins holländische Transitlager Westerbork versetzen. Sie führt einen Dialog mit Gott, aber sie gehört keiner Kirche oder Synagoge an, ihr Glaube ist ganz individuell. Sie ist ein kluges, modernes, leidenschaftliches Mädchen - keine Mutter Theresa der Baracken. Auch wenn der letzte Satz in ihrem Tagebuch lautet: Zitat-Sprecherin (Etty) Man möchte ein Pflaster auf vielen Wunden sein. Sprecherin Aber zwanzig Zeilen davor steht auch: Zitat-Sprecherin (Etty) Ich habe meinen Körper wie Brot gebrochen und unter den Männern ausgeteilt. Warum auch nicht, sie waren ja so hungrig und hatten schon so lange darben müssen? Sprecherin Esther Hillesum, die alle Etty nennen, 1914 in Middleburg geboren, wird in Deventer groß, wo ihr Vater, Latein- und Griechischlehrer, das Gymnasium leitet. In Amsterdam macht sie ihr juristisches Examen, studiert Slawistik und Psychologie, kann aber wegen der Rassegesetze nicht Lehrerin werden. Ihr jüngerer Bruder Mischa ist ein herausragender Pianist. Musik (dazu passend) Sprecherin In Amsterdam begegnet sie Anfang 1941 dem aus Berlin geflohenen jüdischen Psycho-Chirologen Julius Spier, nimmt bei ihm Sitzungen, wird die Geliebte des 27 Jahre Älteren. Von Spier kommt die Anregung, ein Tagebuch als Mittel der Selbstanalyse zu führen Zitat-Sprecherin (Etty) Samstag, 9. März Also dann los! Dies ist ein peinlicher und kaum zu überwindender Augenblick für mich: mein gehemmtes Inneres auf einem unschuldigen Blatt linierten Papiers preiszugeben. Sprecherin Neun Schreibhefte hat sie von März 1941 bis September 1942 in winziger Schrift vollgeschrieben. Sie entfesselt darin wahre Schreiborgien, sich selbst beobachtend, sowie das Leben im besetzten Amsterdam, literarisch anspruchsvoll, selbstironisch, philosophisch. Sie hat sich eine erstaunliche innere Freiheit bewahrt. Zitat-Sprecherin (Etty) Ich radelte heute morgen über den Stadionkade, genoß den weiten Himmel über dem Stadtrand und atmete die frische, nicht rationierte Luft. Und in der freien Natur überall Tafeln auf den Wegen, die für Juden gesperrt sind. Aber auch über dem einzigen Weg, der uns noch verblieben ist, wölbt sich der gesamte Himmel. Man kann uns nichts anhaben, man kann uns wirklich nichts anhaben. Man kann es uns recht ungemütlich machen, man kann uns der materiellen Güter berauben, auch der äußeren Bewegungsfreiheit, aber letzten Endes berauben wir uns selbst unserer besten Kräfte durch die falsche Einstellung. Weil wir uns verfolgt, erniedrigt und unterdrückt fühlen. Sprecherin Sie blickt dem Leiden und dem Tod fest ins Auge. Anfang Oktober 42 schreibt sie: Zitat-Sprecherin (Etty) Natürlich, es ist die vollständige Vernichtung! Aber lasst sie uns doch mit Würde ertragen. Sprecherin 1942 hat Etty eine Stellung beim "Joodse Raad" angenommen, beim Jüdischen Rat, der die Listen für die Judentransporte erstellt. Aber sie kündigt schon nach zwei Wochen, weil sie bei der Organisation der Vernichtung nicht mitwirken will. Von August 1942 bis September 1943 arbeitet sie im Krankenhaus in Westerbork, um den Inhaftierten und auf Transport Gehenden beizustehen. Am 7. September 1943 wird sie selbst nach Polen geschickt, zusammen mit ihren Eltern und Brüdern. Sie stirbt am 30. November 1943 in der Gaskammer von Auschwitz. Auch für dieses Tagebuch fand sich lange kein Verleger. Erst 1981 erschien es in Holland. Die deutsche Taschenbuchausgabe von 1985 legt auf dem Cover den Lesern Etty Hillesum immer noch vor allem als Gläubige ans Herz. Jetzt gibt es eine schöne, neue gebundene Ausgabe und einen Band mit kommentierten Illustrationen von Roman Kroke, der sich fabelhaft als Schullektüre eignet. Musik Sprecherin Paris, 8. Juni 1942. Ein klarer, frischer Morgen, der Hélène Berr an einen Satz von Paul Valéry denken lässt, den er ihr vor zwei Monaten in ihr Buch schrieb: Zitat-Sprecherin (Hél-ène) "Beim Erwachen, so milde das Licht, und so schön das lebendige Blau." Sprecherin Sie ist schon um halb neun zur Metro-Station Gare Saint-Lazare gegangen. Die Straßen sind noch menschenleer. An diesen Tag wird sie den gelben Stern tragen. Und schreibt am Abend in ihr Tagebuch: Zitat-Sprecherin (Hélène) Mein Gott, ich habe nicht geglaubt, dass es so hart sein würde. Den ganzen Tag hatte ich großen Mut. Ich ging mit hocherhobenem Kopf und habe den Leuten fest ins Gesicht geblickt, dass sie die Augen abwandten. Aber es ist hart. Sprecherin Sie notiert alles: das Fingerzeigen der Kinder und das Zulächeln der "Frauen aus dem Volk", das ermutigende "Kopf hoch, so sind Sie noch hübscher!" eines Postangestellten und die Anweisung des Metro-Schaffners "Letzter Wagen!", die ihr die Tränen der Wut in die Augen treibt. Und dann wieder ein paar Wochen später ein Herr auf der Avenue de La Bourdonnais, der ihr die Hand hinstreckt: "Ein französischer Katholik drückt Ihnen die Hand ..." Hélène Berr ist im Sommer 42 einundzwanzig und studiert englische und russische Literatur. Ein schönes dunkelhaariges Mädchen mit feinen Zügen, das aus einer alt eingesessenen jüdischen Familie kommt, Geige spielt und Shakespeare und Keats im Kopf hat. Seit Mai auch einen Jungen "mit grauen Augen", Jean Morawiecki, Nichtjude und Jurastudent, den sie für seine "Energie und Geradheit" bewundert. Ihr Tagebuch, begonnen am 7. April 1942, ist ein außergewöhnlich klarsichtiges wie feinfühliges Dokument über die hereinbrechende Katastrophe der Judenverfolgung im besetzten Paris, im Wechsel mit kleinen leuchtenden Szenen der Verzauberung durch die erste Liebe. Zitat-Sprecherin (Hélène) Donnerstag, 15. Oktober Wir sind losmarschiert, die untergehende Sonne tauchte das ganze alte Paris in Gold. Es war ein sehr schöner Oktoberabend. Wir haben uns beim Pont des Arts auf die Quaimauern gelehnt. Alles bebte, die Blätter der Pappeln und sogar die Luft. Als ich allein nach Hause ging, lag der Cours la Reine im Dunkeln, die Nacht hatte sich hier bereits eingeschlichen, während der Himmel noch ganz rosarot war. Sprecherin Für Jean, der bald darauf Paris verlässt, um sich der "Forces Francaises Libres" in Spanien anzuschließen, schreibt sie ab Herbst 42 ihr Tagebuch. Zitat-Sprecherin (Hélène) Ich weiß, ich will, dass man es Jean gibt, falls ich nicht mehr da bin, wenn er zurückkommt. Sprecherin Im Juni 42 ist Hélènes Vater im Lager Drancy interniert worden, weil sein Judenstern nur mit Druckknöpfen befestigt war; nach drei Monaten kommt er gegen eine hohe Kaution wieder frei. In die freie Zone flüchten? Das wäre Feigheit. Hélène meldet sich bei der jüdischen Hilfsorganisation, kümmert sich um die Familien der Deportierten, um die zurückgelassenen Kinder, hilft heimlich, die Kleinen in Pflegefamilien unterzubringen. Sie wird Zeugin des ganzen alltäglichen Grauens, der Razzien, der Räumungen der Krankenabteilungen, der Transporte. Zitat- Sprecherin (Hélène) Wenn sie die Leute zum Arbeiten deportieren, wozu dann die Kleinen? Stimmt es, dass sie der deutschen Fürsorge übergeben werden? Die grauenvolle Unbegreiflichkeit, die entsetzliche Unlogik von all dem, zermartert einem das Hirn. Musik Sprecherin Am 8. März 1944 wird Hélène zusammen mit ihren Eltern verhaftet. Sie stirbt ein Jahr später in Bergen-Belsen, an Typhus erkrankt, wie Anne Frank und brutal geschlagen, weil sie zum Appell nicht aufstehen kann - fünf Tage vor der Befreiung des Lagers. Ihr Tagebuch erscheint 2008 in Frankreich und wirkt, wie eine französische Rezensentin schreibt, "wie ein Donnerschlag aus der Vergangenheit", 100 000 Exemplare werden verkauft. Die deutsche Übersetzung folgt 2009. Sprecherin "Alles ist eine Frage des Begreifens", hat Hélène Berr geschrieben. Darauf kommt sie immer wieder zurück: auf die Unfähigkeit ihrer Pariser Mitbürger, zu verstehen, was anderen angetan wird, das Ungeheuerliche zu begreifen, das vor ihren Augen passiert. Zitat-Sprecherin (Hélène) Nicht wissen, nicht verstehen, selbst wenn man Bescheid weiß, weil eine Tür in einem selbst geschlossen bleibt, jene Tür, die, wenn sie aufgeht, endlich den Teil begreifen lässt, den man bloß wusste. Das ist das ungeheure Drama dieser Epoche, niemand weiß etwas von den Leuten, die leiden. Zitat-Sprecher (Moshe) Was sollte ich tun. Was kann man tun? Ich sah die Nicht-Juden auf der Straße herumalbern, es berührt sie nicht! Sprecherin notiert auch der 16 jährige Moshe Flinker in Brüssel am 22. Januar 1943 in sein Tagebuch, in dem der tief gläubige Junge eine scharfsinnige Auseinandersetzung mit Gott und der Welt über den Sinn des Leidens der Juden führt. An diesem Tag steht er in fassungslos vor den mit Hakenkreuzstempeln versiegelten Wohnungstüren des Synagogendieners, der mit seiner ganzen Familie abtransportiert worden war, das jüngste Kind, ein vierjähriges Mädchen. Musik Zitat-Sprecher (Moshe) Es ist, als wäre man in einem großen Saal, in dem viele Menschen fröhlich sind und tanzen, während eine kleine Gruppe Menschen still in der Ecke sitzt. Ab und an holen sie aus diesem Grüppchen ein paar Leute, schleppen sie in ein Nebenzimmer und drücken ihnen die Kehle zu. Die anderen feiern gelassen weiter. Es berührt sie nicht. Vielleicht haben sie ja dadurch nur noch mehr Spaß. Musik Literaturangaben online ( mit weiteren Empfehlungen) Anne Frank Tagebuch Fassung von Otto H. Frank und Mirjam Pressler, Fischer Taschenbuch 2013 Edith Velmans-van Hessen, Ich wollte immer glücklich sein, Zsolnay, 1999 Etty Hillesum, Das denkende Herz der Baracke, Die Tagebücher 1941 - 1943, Herder, 2014 Die Spinne und ihr Netz - Einblicke in das denkende Herz der holländischen Jüdin Etty Hillesum (1914-1943) Kommentierte Illustrationen von Roman Kroke, Mediel 2012 Auch wenn ich hoffe, Das Tagebuch des Moshe Flinker, Berlin Univerity Press, 2008 Petr Ginz, Prager Tagebuch, 1941-1942, Berlin Verlag 2006 Hélène Berr, Pariser Tagebuch, 1942-1944, Deutscher Taschenbuch Verlag, 2011 Mirjam Bolle: Ich weiß, dieser Brief wird dich nie erreichen. Tagebuchbriefe aus Amsterdam, Westerbork und Bergen-Belsen. Eichborn Verlag, 2006 Helga Deen, Wenn mein Wille stirbt, sterbe ich auch, Tagebuch und Briefe, Rowohlt, 2007 Ágnes Zsolt, Das rote Fahrrad, Nischen Verlag, 2012 1