COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Deutschlandrundfahrt Glühende Landschaften - Der Kampf um das Anhaltische Theater Dessau Von Susanne Arlt Sendung: 17. September 2011, 15.05h Ton: Andreas Krause Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2011 Jingle und Kennmusik O-Ton 1 Jörg Folta: Ich sehe es als Refugium von Zivilisation. Und diese Refugien haben die verlassenen ostdeutschen Gegenden in der Tat bitter nötig. Da sehe ich für mich die Hauptfunktion des Dessauer Theaters drin. Musik hoch O-Ton 2 André Bücker: Ich glaube, dass die städtische Kultur, die das Leben überhaupt als demokratisches Gemeinwesen in einer Stadt gestaltet, dass das nicht einfach so dran gegeben werden kann. Man darf das nicht einfach verrecken lassen. Musik hoch O-Ton 3 Stephan Dorgerloh: Man muss mal einen gedanklichen Bogen um Dessau schlagen und sich fragen, wo komme ich in Dessau hin, wenn ich eine Stunde lang Auto fahre. Dann bin ich in Potsdam, dann bin ich in Berlin, dann bin in Magdeburg, dann bin ich Halle. Und überall habe ich volles Programm und Dessau hat es auch. Musik hoch O-Ton 4 Christa Schönemann: Ohne das anhaltische Theater dann stirbt die Stadt und das ist schon eine sterbende Stadt. Und wenn das so weitergeht dann können wir hier zumachen, dann werden wir die letzten sein, die das Licht ausmachen in Dessau. Musik hoch SpvD: Glühende Landschaften Der Kampf um das Anhaltische Theater Dessau Eine Deutschlandrundfahrt mit Susanne Arlt Atmo Draußen vor dem Theater, die Herren fahren ihre Damen vor, es regnet ... Autorin: Das Theater der Stadt ist nicht zu übersehen. Wuchtig die Architektur, protzig der Bau. In Stahlbeton gegossen. Das Portal steht auf zwölf Steinsäulen, dahinter erhebt sich ein eckiger Bau, darunter die größte Drehbühne Deutschlands. Auf dem Spielplan des Anhaltischen Theaters in Dessau steht an diesem Abend "Der Widerspenstigen Zähmung". Kein schöner Tag. Nieselregen fällt vom Himmel. Ältere Herrschaften kommen in zerbeulten Karossen die imposante Auffahrt hoch gerollt. Die Dame steigt aus, der Herr fährt weiter. Vor dem Eingang steht Tomasz Kajdanski, zieht nervös an einer Zigarette, bläst den Rauch durch Mund und Nase, nickt jedem Besucher freundlich zu. Mit seinem Publikum geht der Ballettdirektor gern auf Tuchfühlung. Nicht nur bei der Premiere, auch noch bei der sechsten Vorstellung. O-Ton Tomasz Kajdanski: Das Haus ist fast voll, deshalb bin ich ein bisschen stolz. Es ist eine Live-Aufführung, die Tänzer sind aufgeregt, wir spielen für die Menschen, für die Seele. Autorin: Euer Theater heißt sein Slogan für Dessau. Der ehemalige Kresnik- Interpret und langjährige Ballettsolist der bayerischen Staatsoper macht selten leere Versprechungen. Seine Tänzer treten auch auf der Bauhaus-Bühne und im Wörlitzer Gartenreich auf. Kajdanski schaut zufrieden. Immer mehr Besucher strömen in das Haus. O-Ton Tomasz Kajdanski: Es ist toll. Finde es genial. Und Sachsen-Anhalt war ich noch nie in meine Leben. Ich bin stolz, hier zu sein. Autorin: Solch innige Beteuerungen bekommen Stadt und Land nur selten zu hören. Die Menschen in Dessau danken es ihm. Auch die sechste Vorstellung "Der Widerspenstigen Zähmung" wird an diesem Abend ausverkauft sein. Atmo Musik Der widerspenstigen Zähmung unterlegen Autorin: Das Repertoire ist breit, bietet Unterhaltsames und schwer Verdauliches. Zum ersten Mal nach über fünfzig Jahren wollen die Dessauer in dieser Spielzeit wieder den Ring aufführen. Mit Nathan der Weise, Woyzeck, Nachtasyl, Così fan tutte, Lohengrin, Die Stumme von Portici haben die Theaterleute in den vergangenen beiden Spielzeiten viele Menschen begeistert. Die Zeitschrift Opernwelt konstatierte jüngst: Das Anhaltische Theater zählt zu den besten Opernhäusern Deutschlands. Dieser Erfolg hat auch viel mit dem Arbeitsstil des noch jungen Leiters zu tun. André Bücker, Anfang 40, ist kein Intendanten-Patriarch. Starke, kreative Persönlichkeiten hält er gut neben sich aus, gibt ihnen Raum, sich zu entfalten. Mit dem Erfolg, dass seine Chefregisseurin Andrea Moses schon jetzt abgeworben wurde und sich sein Generalmusikdirektor Antony Hermus vor internationalen Angeboten kaum retten kann. Atmo Foyer Autorin: Marianne und Udo Brunnhöfer stehen im Foyer. Das grauhaarige Ehepaar aus Thüringen ist nicht zum ersten Mal Gast im Anhaltischen Theater. Auch nicht zum ersten Mal Zuschauer der Widerspenstigen Zähmung. Die Ballettaufführung sehen wir uns heute schon zum dritten Mal an, sagt Marianne Brunnhöfer und lächelt übers ganze Gesicht. Die Brunnhöfers sind Bewunderer von Ballettdirektor Tomasz Kajdanski. Udo Brunnhöfer zählt auf: Dreimal waren wir in Lulu, zweimal in den Nibelungen, in Hermes in der Stadt, in Nachtasyl. Er schaut seine Frau fragend an, ob er eine Inszenierung vergessen hat? Nein. Jede Ballettaufführung sei ihre weite Reise wert, erzählen die Brunnhöfers begeistert. Manchmal fährt das Ehepaar mit der Bahn zur Nachmittagsvorstellung und anschließend wieder zurück. An diesem Wochenende ist bei den Brunnhöfers allerdings jeden Abend Theater. Freitag Woyzeck, Samstag Der Widerspenstigen Zähmung, Sonntag Così fan tutte. Leider kommen in all die Vorstellungen eher ältere Herrschaften wie wir, bedauert Udo Brunnhöfer. O-Ton Udo Brunnhöfer: Sie müssten eigentlich die Jugend mit reinbringen. Wenn Sie sich umschauen, dann sehen Sie, dass es im Theater meist sehr viel Ältere gibt. Sie müssten Jugend reinbringen, man versucht es vielleicht mit modernen Inszenierungen, obwohl ich da meine Zweifel habe. Also wenn ich gestern den Woyzeck gesehen habe, das Haus ist nur zum Drittel gefüllt gewesen. Autorin: Mit den modernen Inszenierungen hadern indes auch die Brunnhöfers ein bisschen. Als Woyzeck seine Freundin erstach, wollte er gar nicht mehr aufhören, zu zustechen. Blut floss in Strömen, entrüstet sich Marianne Brunnhöfer. O-Ton Marianne Brunnhöfer: Ich finde, Gewalt sollte man nicht bringen. Das Theater lebt von Andeutungen, das finde ich viel effektiver und ehrlich gesagt, wenn sie so Gewaltszenen sehen, man ist selbst in einer aggressiven Stimmung, kommt in einer wütenden Stimmung und das finde ich nicht gut. Atmo Klingel, reingehen in den Saal ... dreimal Klingel ... Autorin: Der drastische, dramatische Ausdruck gehört auch zur neuen Handschrift des jungen Intendanten André Bücker. Nicht alle Dessauer lieben diesen Stil. Doch dass das Anhaltische Theater demnächst geschlossen werden könnte, bringt auch sie auf die Barrikaden. Das würde die ohnehin sterbende Stadt Dessau noch trostloser machen. Kampflos wollen darum die Theaterleute, die Bürger der Stadt und auch die Brunnhöfers nicht aufgeben. MUSIK I T: Canned Speaches I: Anhaltische Philharmonie Dessau, Ltg. Golo Berg / L'arc six Verlag: www.larcsix.de, LC 05699 Atmo Menschenmenge O-Ton Bürgerin: Denk ich an Dessau in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht, ich kann nicht mehr die Augen schließen und meine heißen Tränen fließen, die Jahre kommen und vergehen, soll Dessau wirklich untergehen, die Stadt der toten Seelen werden? Autorin: Im vergangenen Jahr ließ der Oberbürgermeister von Dessau die Katze aus dem Sack. Dreizehneinhalb Millionen Euro müsse die Stadt jedes Jahr einsparen, um künftig einen genehmigungsfähigen Haushalt vorzulegen. Die Liste mit den Einspar-Vorschlägen heißt seitdem nur noch Blut-und-Tränen-Liste. Das Anhaltische Theater steht auch darauf, sollen die städtischen Zuwendungen um 3, 7 Millionen reduziert werden. Das würde das Ende des Vier-Sparten- Hauses bedeuten. Dieser Vorschlag ging vielen Dessauern an die Nieren und darum gingen sie auf die Straße. Atmo Menschenmenge Autorin: 500 Dessauer sind an diesem Freitagnachmittag gekommen, um auf dem Platz vor dem Anhaltischen Theater gegen die Sparpläne der Stadt zu protestieren. Auf einer provisorischen Bühne machen sie aus ihrem Ärger und ihren Ängsten keinen Hehl. O-Ton Bürgerin: Noch einmal im Klartext, wir wollen es nicht, dass man von Dessau als Geisterstadt spricht, wir wollen nicht die Stadt der toten Seelen sein, unsere Stadt Dessau darf nicht untergehen. Atmo Klatschen O-Ton Hansjürgen Müller-Hohensee und Christa Schönemann: Ich kann nur mit dem Kopf schütteln und kann eigentlich nur an die Politiker appellieren, sich das wirklich durch ihren Kopf gehen zu lassen, wenn sie noch einen Kopf haben. ... Ohne das anhaltische Theater oder auch kulturelle oder Bildungseinrichtungen dann stirbt die Stadt und das ist schon eine sterbende Stadt. Und wenn das so weitergeht dann können wir zumachen, dann werden wir die letzten sein, die das Licht ausmachen in Dessau. Atmo Menschenmenge mischen mit Steintreppen hochlaufen Autorin: Eine große Steintreppe führt hinauf in den Haupteingang. Fahnen flattern im Wind, flankieren den Weg. Für die Provinzstadt Dessau wirkt das etwas großspurig. Als 1922 der alte Theaterbau abbrannte, ordnete ein paar Jahre später Adolf Hitler höchstpersönlich den monströsen Neubau an. Gegossen in Stahl und Beton sollte er den völkischen Kulturwillen widerspiegeln. Hitler wollte in Dessau ein Bayreuth des Nordens schaffen. Das Anhaltische Theater hat darum die größte Drehbühne Deutschlands und über 1.000 Sitzplätze, die selten alle besetzt sind. Gefühlte kilometerlange Gänge führen kreuz und quer durch die dunklen Flure des riesigen Gebäudes. Zu den Irrungen und Wirrungen in diesem Haus gibt es natürlich auch Anekdoten. O-Ton Joachim Landgraf: Dass ein russischer Pianist der Meinung war, er braucht keinen Begleiter aus der Graderobe zur Bühne zum Konzert. Es war festegelegt, dass immer jemand begleiten muss, und er war der Meinung er braucht das nicht. Und dann hat das Konzert seinen Fortgang nicht finden können, weil der Pianist nicht da war. Da werden Sekunden zu Stunden. Autorin: Joachim Landgraf steht im Foyer des Anhaltischen Theaters. Ein bisschen wehmütig schaut er aus. Fünfzehn Jahre lang hat er als Verwaltungsdirektor die Geschicke des Hauses mitbestimmt. Als er vor drei Monaten in den Ruhestand ging, attestierten ihm die Stadtoberen und der Intendant einstimmig: Trotz Krisen steht das Anhaltische Theater glänzend da. Ja, Krisen gab es zuhauf, erinnert sich Joachim Landgraf und faltet seine Hände über den korpulenten Bauch. Die drohende habe es aber diesmal in sich. Dabei hat sich das Theater in den vergangenen Jahren sehr verändert. Personal wurde abgebaut, der eigene Anspruch überarbeitet. Als elitäres Stadttheater kann man heutzutage nicht mehr überleben, man muss sich allen Schichten öffnen, betont der ehemalige Verwaltungsdirektor. So wie das Land setzt auch das Theater auf den Bildungseffekt. O-Ton Joachim Landgraf: Wir brauchen die Kinder, wir müssen versuchen, dort Publikumsschichten zu gewinnen. Wir haben eine hohe Verantwortung im Bildungs- und Erziehungsprozess mit Einfluss zu nehmen. Wir haben es sogar soweit getrieben, wir haben die kulturelle Bildung mit in die Betriebssatzung zusätzlich mit aufgenommen in das Ziel des Theaters, dort stand sie bisher nicht drinne. Ich denke, dass ist nicht nur eine Legitimation, sondern ich glaube ein unwahrscheinlich wichtiges Feld, was sich noch weiterentwickeln wird. Autorin: Inzwischen gibt es feste Partnerschaften mit den Schulen in der Region. Der neue Generalmusikdirektor zum Beispiel macht abseits seiner Dirigate mit Schülern musikalische Schnitzeljagden durchs ganze Haus. Berührungsängste gibt es keine. Vor fünfzehn Jahren hätte der alte Generalmusikdirektor darüber noch die Nase gerümpft, sagt Landgraf und grinst. Theater muss sich öffnen - in die Stadt, in die Region, in die Schulen und vor allem auch in die anderen Kultureinrichtungen der Stadt. Unter dem alten Generalintendanten Johannes Felsenstein habe es keine Kontakte zur Bauhausstiftung gegeben. Ein Unding, findet Joachim Landgraf. Dessau habe trotz seines industriellen Niedergangs und seiner intellektuellen Ausblutung noch immer ein wahnsinniges Potential an künstlerischen Kräften. O-Ton Joachim Landgraf: Die Hoffnung stirbt zuletzt ist meine Philosophie. Also ich glaube fest daran, dass es sich lohnt, zu ringen. Das Wichtigste ist, dass die Politik die Rahmenbedingungen schafft und dass vor allem erkannt wird, wie wichtig Kultur für unsere gesamte Nation ist. MUSIK II T: Ouvertüre "The Hebrides, op. 26" K: Felix Mendelssohn I: Gewandhausorchester, Ltg. Riccardo Chailly, Roberto Prosseda - piano Verlag: Decca, LC 00171 Atmo Rabengekrächze, dann mischen mit hellem Vogelgezwitscher Autorin: Dessau ist eine Stadt mit vielen Gesichter. Vor über 200 Jahren blühte Dessau auf. Nicht nur wortwörtlich, auch intellektuell. Fürst Leopold der Dritte Friedrich Franz schuf das Gartenreich Dessau- Wörlitz - eine der schönsten Parklandschaften Europas. "Hier ists iezt unendlich schön", schwärmte damals nicht nur Johann Wolfgang Goethe. Auch das einfache Volk durfte den Park betreten. Fürst Franz wollte alle an seinem Glück teilhaben lassen. Er war ein echter Aufklärer. Der Fürst bezahlte Ärzte, damit sie mittellose Kranke behandelten, gründete eine Armenkasse. Er stellte landwirtschaftliche Geräte in seinen Musterwirtschaften aus, damit sie jeder nachbauen konnte. Er reformierte das Schulwesen, setzte dabei vieles um, was dank Pisa heute wieder gefordert wird. Und Fürst Franz gründete ein Hoftheater, das damals eines der modernsten Theater in ganz Deutschland war. Atmo mischen mit Rabengekrächze Autorin: Heute ist Dessau dagegen eine geradezu gesichtslose Stadt. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Innenstadt schwer zerstört. Die Kommunisten bauten sie als sozialistische Großstadt wieder auf. Das Zentrum wirkt zerfasert. Langgestreckte Plattenriegel stehen zwischen zwei monströsen Einkaufzentren, daneben ducken sich ein paar sanierte Altbauten. Dank einer Gemeindegebietsreform ist aus Dessau inzwischen Dessau-Roßlau geworden. Atmo Metalltreppe hoch laufen Autorin: Wer sich einen Eindruck vom heutigen Dessau machen will, der geht am Besten auf den alten Räucherturm. 131 Metallstufen geht es hinauf. In dem roten Backsteingebäude hingen früher die fetten Würste und Schinken einer Fleischerei. Ein laues Lüftchen weht, in der Ferne sieht man die mächtigen Rotoren vieler Windkraftanlagen. Nach acht Stockwerken angekommen beschleicht einen ein seltsames Gefühl. Es scheint, als lasse Dessau hier oben seine Hüllen fallen. Die Stadt zeigt offenherzig ihrem Besucher, wer sie einst war - und heute ist. Linker Hand erkennt man zwischen grünen Baumwipfeln das weiße Bauhausgebäude von Walter Gropius. Etwas weiter seine Meisterhäuser. Moderne Architektur aus Glas und Stahl. Daran schließt sich das Gartenreich. Im Norden das zerklüftete Zentrum mit dem Anhaltischen Theater. Ein monströser Nazi-Bau. Rechter Hand Plattenbauten so weit das Auge reicht. Und am Stadtrand leer stehende Fabrikgebäude. Verschwunden sind die Junkerswerke, Brauerei-Betriebe, der Waggon-Bau. Vor der Wiedervereinigung gab es in Dessau 20.000 Industriearbeitsplätze, heute sind es noch 4.000. O-Ton Thomas Steinberg: Ich denke, das ist für eine ganze Generation, die von ihrer Arbeit, durch diese Betriebe geprägt worden ist, ist das tatsächlich eine ganz tief sitzende Kränkung. Es waren Fachleute, das waren hier auch hoch qualifizierte Arbeitsplätze, die zu besetzen waren und die wurden innerhalb weniger Jahre einfach überflüssig. Daran hat Dessau glaube ich immer noch zu tragen. Atmo Rabengekrächze Autorin: Thomas Steinberg lehnt am Geländer der Aussichtsplattform, schaut in die Tiefe. Das Gebiet um den Räucherturm hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Wo früher mit Kohle gehandelt wurde, wachsen jetzt grünes Gras und junge Eichen. Die schrumpfende Kommune hat sich ihr Gartenreich zurückgeholt. Mitten in die Stadt hinein. Die Weite der Landschaft ist wieder erlebbar. Dessau hat aus seiner Not eine Tugend gemacht. Atmo Räucherturm O-Ton Thomas Steinberg: Bis vor zwei, drei Jahren haben hier ebenfalls Häuser gestanden, und da Dessau in den letzten 20 Jahren massiv Einwohner verloren hat, ungefähr 30.000, wird diese Stadt wie es offiziell heißt, zurückgebaut. Zurückgebaut heißt im Falle von Dessau, dass man versucht, einem Konzept des Bauhauses folgend, einen großen Grünzug durch die Stadt zu legen. Es werden am Stück ganze Häuser aus dieser Stadt heraus gebrochen, um die wieder passend zu machen für die wenigen Einwohner, die es jetzt gibt. Autorin: Thomas Steinberg ist Journalist, entwickelt Websites, betreibt nebenher ein Kiez-Kino. Aufgewachsen ist der 49-jährige in Dessau- Protzendorf. Synonym für ein Viertel im Süden, in dem einst die Besserverdienenden der Stadt gelebt haben, erzählt Steinberg. Schmucke Einfamilienhäuser mit riesigen Grundstücken. Schaut man Richtung Westen, sieht man eine gegensätzliche Welt. Plattenriegel stehen dicht an Plattenriegel, Wohnungen scheinen sich übereinander zu stapeln. Manche Bauten stehen seit Jahren leer, andere sind längst abgerissen. Wohnen möchte Thomas Steinberg hier lieber nicht. O-Ton Thomas Steinberg: Nein (lacht), ich denke, dass ist auch ein Prozess, der hier stattfindet, der sich auch selbst beschleunigt, weil die, die es sich leisten können tatsächlich wegziehen, in andere Viertel ziehen. Und andererseits in diesen Vierteln, in denen abgerissen wird, Leute übrig bleiben, die eben nicht die Möglichkeit haben ohne Weiteres zu gehen, was die soziale Lage in diesen Vierteln verschärft. Die ist jetzt noch nicht wirklich ernstlich problematisch, aber die Gefahr ist nicht so völlig von der Hand zu weisen, dass es an dem einen oder anderen Tag tatsächlich kippt. Autorin: Offiziell mag das zwar keiner sagen. Aber in Dessau gebe es Stadtviertel, die würden einem Ghetto gleichen, sagt Steinberg. Mit dem städtebaulichen Bund-Länder-Pogramm Soziale Stadt versuche man gegenzusteuern, doch das alles sei nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, moniert der Journalist. In Dessau investiere man immer noch allzu gerne in Beton oder in den Abriss von Beton, weniger aber in die Köpfe und Menschen. Ein gutes Beispiel sei da die vierspurige Nordumgehung der Stadt. Obwohl Dessau pleite ist, sparen muss, hält der Stadtrat an der millionenteuren Umgehung fest. Frei nach dem Motto: Na wo gebaut wird, da passiert doch was. Thomas Steinberg schüttelt verzweifelt den Kopf. In einer Stadt wie Dessau, die so massiv unter ihrem Einwohnerschwund leidet, müssen die politisch Verantwortlichen den Menschen neue Freiräume eröffnen. Das Verharren in Vergangenem betäubt doch nur die Dessauer Seele. O-Ton Thomas Steinberg: Viele dieser Traditionen, auf die man sich in dieser Stadt beruft, sind tatsächlich tot. Die existieren nicht mehr. Also einmal Fürst Franz, der hier tatsächlich ein ganz erstaunliches Reformwerk aus dem Boden gestampft hat. Dann war in der weiteren Phase die Industrialisierung. Da sind tatsächlich Impulse von Dessau ausgegangen, da sind Konzerne hier in Dessau entstanden, bekannt Junkers und das Bauhaus. Und das sind immer Dinge, die entstanden sind, indem aktiv Leute von draußen rangeholt wurden. Denen das Gefühl vermittelt wurde, ihr könnt hier was machen. Autorin: Das erinnert an den visionären Elan des ehemaligen Oberbürgermeisters Fritz Hesse. Der gewiefte Sozialdemokrat holte 1925 das Bauhaus von Weimar nach Dessau. Er erkannte schnell die Möglichkeiten für seine Stadt, die sich ihr kaum jemals wieder bieten würden. Sein teures Vorhaben fand damals allerdings auch potente Unterstützer. Zum Beispiel den Flugzeugbauer Hugo Junkers. Solche Großindustriellen fehlen heute in Dessau. Die Stadt ist überschuldet, will einen rigiden Sparkurs fahren. Und wie immer muss als erstes die Kultur dran glauben. O-Ton Thomas Steinberg: Würde das Theater geschlossen werden, das wäre bestimmt nicht der Untergang der Stadt. Aber es wäre wieder so ein kleines, oder doch ein großes Stück in diesem Falle aus dem raus gebrochen worden, was sich die Dessauer noch als Identität bewahrt haben. Autorin: Darum hofft die Stadt, das Anhaltische Theater in ein Staatstheater umwandeln zu können. Die Gemäldegalerie Georgium will sie der Kulturstiftung Dessau-Wörlitz überlassen und die Meisterhäuser der Bauhaus-Stiftung übertragen. Der kulturelle Reichtum hat die Stadt arm gemacht. MUSIK III Titel: Stadt Interpret: Cassandra Stehen & Adel Tawil K+T: A. Tawil/S. Kirchner/M. Pom Verlag: PolyStar, LC 04324 EAN 0600753353004 Autorin: Im Anhaltischen Theater in Dessau sitzt André Bücker hinter einem massiven Schreibtisch. Vor dem noch recht jungen Generalintendanten stapeln sich die Programme der neuen Spielzeit. Glühende Landschaften hat er sie genannt. Es ist Bückers dritte Spielzeit und die 217. des Anhaltischen Theaters. Vom Titelblatt starrt ein menschliches Auge, glühend-rot unterlaufen. Glühende Landschaften - blühende Landschaften, das Wortspiel provoziert. André Bücker grinst von einem Ohr zum anderen. O-Ton André Bücker: Das ist natürlich genau deshalb gewählt, weil man das natürlich in Frage stellt, weil wenn man sich die Realität hier in Dessau anguckt, blüht es ja nicht so tatsächlich. Was das Wirtschaftliche angeht und was das Demographische angeht und den Wohlfühlgedanken bei vielen Menschen, die hier leben, ist das mit den blühenden Landschaften verbesserungsfähig. Und insofern steckt in den glühenden Landschaften natürlich auch, sagen wir mal eine zarte Ironie. Autorin: Ja, in Dessau befindet man sich in einer sehr zwiespältigen Landschaft. André Bücker, Anfang 40, wirkt lieber lässig als staatstragend. Schwarzes Hemd, Jeanshose, ausgelatschte Cowboystiefel. Schwere Silberringe an beiden Mittelfingern. Fällt ihm eine seiner schwarzen Haarsträhnen ins Gesicht, klemmt er sie sich wieder hinters Ohr. Dass die Dessauer jetzt vor seinem Haus stehen und um den Erhalt des Theaters protestieren, freut ihn. Sollte das Theater aber demnächst 3,7 Millionen Euro weniger Zuwendungen von der Stadt erhalten, wäre das der Todesstoß, glaubt Bücker. Das Vier-Sparten-Theater, Oper, Schauspiel, Ballett und Puppentheater, wäre dann nicht mehr zu halten. Dabei können sich unsere Publikumszahlen sehen lassen, sagt Bücker und steckt sich eine lose Strähne hinters Ohr. Wir erreichen knapp 190.000 Besucher im Jahr - und das bei 88.000 Einwohnern. Nur auf die Frage nach der Auslastung der über 1.000 Sitzplätze reagiert André Bücker etwas misslaunig. O-Ton André Bücker: Nee, aber was wollen Sie denn damit? Autorin: Na ja, es sagt doch immerhin etwas über die Auslastung Ihres Theaters aus. Manchmal sitzen nur 125 Besucher im Saal. Der Generalintendant verdreht die Augen. O-Ton André Bücker: Ja aber das ist doch keine Diskussionsgrundlage! Autorin: Für manchen Kulturpolitiker leider schon. O-Ton André Bücker: Sagen Sie mir ne Prozentzahl und dann sage ich Ihnen, ob Sie eine Existenzberechtigung haben oder nicht. Autorin: André Bücker schäumt innerlich, die Diskussion geht ihm unter die Haut. Einige Haarsträhnen haben sich unterdessen selbständig gemacht. Bücker beachtet sie nicht weiter. Nicht bei diesem Thema. O-Ton André Bücker: Und da sind wir doch bei der interessanten Diskussion, wie definieren wir denn Wirklichkeit. Über ne Prozentzahl, die ich Ihnen sage? Nee, es geht doch darum, wie viele Menschen wir erreichen. Und zwar in dem Raum, in dem wir uns befinden. Und da ist unser Wert sensationell. Autorin: Der Generalintendant ärgert sich stattdessen über inkompetente Landespolitiker. Obwohl das Dilemma der Theater in Sachsen-Anhalt längst bekannt ist, habe bislang keiner der Kultusminister Zukunftskonzepte entwickelt. Von Visionen mag Bücker erst gar nicht reden. O-Ton André Bücker: Hier war immer eigentlich immer mehr das Prinzip, wir wurschteln mal weiter angesagt. Das muss man ganz deutlich sagen, weil, an allen Häusern gibt es Haustarifverträge, an allen Häusern gibt es große finanzielle Probleme, in allen Kommunen gibt es riesige Probleme. Man hat eine kulturelle Landschaft, die man behauptet, pflegen zu wollen, aber eigentlich lässt man sie am ausgestreckten Arm verhungern. Autorin: André Bücker redet sich in Rage. Als Politiker könnte man sich doch mal fragen, was für eine Theaterlandschaft will ich überhaupt für Sachsen-Anhalt. Wie groß soll sie sein, was soll sie leisten? Bislang habe er von noch keinem politischen Konzept gehört, das sich ernsthaft mit der Theaterstruktur auseinandersetze. O-Ton André Bücker: Man könnte das ganze Orchester schließen, nur die Philharmonie ist 244 Jahre alt hier in Dessau. Große Tradition, aber natürlich kann man sagen, Tradition interessiert uns nicht die Bohne, wir schaffen das einfach ab, was soll´s, Fürst Franz, ja Orchester war ja schön und gut, aber jetzt reicht´s auch. Das (lacht) kann man natürlich alles sagen, bin ich gespannt, das zu hören und dann kann man darauf ja antworten. Das sagt natürlich keiner. Autorin: Auch Stephan Dorgerloh, neuer Kultusminister, mag dazu im Moment noch nichts sagen. Noch nicht, betont der SPD-Politiker und verweist stattdessen auf den Kulturkonvent, den er im Oktober offiziell einberufen will. Verantwortliche aus Politik und Kultur sollen dann gemeinsam darüber diskutieren, welche kulturpolitischen Ziele sich das Land stecken sollte. Die Zukunft der Theater werde in den Gesprächen eine große Rolle spielen, sagt Stephan Dorgerloh und weicht konkreten Fragen diplomatisch aus. O-Ton Stephan Dorgerloh: Das würde ich gerne dem Kulturkonvent überlassen, solche Fragen zu entscheiden. Je mehr Vorfestlegung ich hier treffe und je mehr Präferenzen, desto stärker arbeitet so ein Konvent schon mit Vorgaben. Entweder in diesem Sinne oder arbeitet sich daran ab. Und da würde ich doch gerne die Fachleute zunächst zu Wort kommen lassen. Autorin: Grenzenloser Großmut - das war einmal. Es wird eine Lösung für Dessau geben, beruhigt der Minister, doch wie genau sie aussieht. Stephan Dorgerloh schweigt - und sagt dann: In und um Dessau gibt es eine großartige Kulturlandschaft. Das Wörlitzer Gartenreich, das Bauhaus, die Anhaltische Gemäldegalerie. Und nicht zu vergessen das Kurt-Weill-Zentrum. Schon jetzt bringt das Land den größten Batzen für die Dessauer Theaterfinanzierung auf. Mehr scheint nicht drin zu sein. Dorgerloh nickt. Ein Staatstheater Dessau rückt da in weite Ferne. O-Ton Stephan Dorgerloh: Ich finde, man muss mal einen gedanklichen Bogen um Dessau schlagen und sich fragen, wo komme ich in Dessau hin, wenn ich eine Stunde lang Auto fahre. Welche Theaterorte kann ich denn besuchen? Dann bin ich Potsdam, dann bin ich in Berlin, dann bin in Magdeburg, dann bin ich Halle, dann bin ich in Leipzig. Und überall habe ich volles Programm und Dessau hat es auch. Autorin: Volles Programm kann sich diese Stadt nicht mehr leisten. Dessau investierte bislang 20 Prozent seines Haushalts in seine kulturellen Schätze. Die Stadtoberen müssen klären, wie sie künftig mit diesem Erbe umgehen wollen. Ein Masterplan muss her, sagt Stephan Dorgerloh. Eine Idee. Eine Vision. Will Dessau eine neue Stadt der Moderne werden, eine Stadt des Aufbruchs, eine Stadt der Aufklärung? O-Ton Stephan Dorgerloh: Da muss man auch mal fragen, was denn in Dessau für Vorstellungen sind, wenn klar ist, dass das Land die Defizite nicht auffangen kann. Und da wird man sich auch fragen müssen, wie viel Theater ist in Dessau machbar. Autorin: Vieles sei machbar, sagt André Bücker und lehnt sich in seinen weichen Ledersessel zurück. Für neue Perspektiven fehlt ihm derzeit aber die Planungssicherheit. Wie hoch sieht die finanzielle Unterstützung künftig aus? Bücker zuckt mit den Schultern. Der Kulturkonvent sei wichtig, für Dessau komme er zu spät. Und die Stadt? Die schweigt sich über den Masterplan bislang aus. Auf der einen Seite gibt es das viel und gern beschworene kulturelle Erbe, zu dem auch das Anhaltische Theater gehört. Das hegt und pflegt man und versucht es ins Hier und Jetzt zu retten. Auf der anderen Seite der katastrophale kommunale Haushalt und das Gefühl vieler Menschen, eben nicht in den Genuss der blühenden Landschaften zu kommen. In diesem Spannungsfeld bewegen wir uns auch in unserer Theaterarbeit, sagt Bücker. In den fast 1.000 Aufführungen im Jahr reflektiert sein Team darum gerne die soziale Gegenwart. O-Ton André Bücker: Ich verstehe Theater eigentlich immer als ein Diskussionsort. Ich bin großer Fan und Verfechter des Prinzips Stadttheater und im besten Sinn Theater für die Stadt, in einer Stadt, mit den Themen der Stadt, ohne dass es provinziell ist, sondern dass man da auch mit ästhetischen Wagnissen umgeht. Und das nicht im Sinne der Gefälligkeit, sondern es darf auch ruhig weh tun, das soll auch ruhig das reflektieren, was man vielleicht lieber auch über den Teppich kehren würde. Autorin: Darüber sind zwar nicht alle Dessauer entzückt. Das nimmt der Generalintendant aber gerne in Kauf. MUSIK IV T: Die Moritat von Mackie Messer I: Lotte Lenya K+T: Kurt Weill, Bert Brecht Verlag: CBS Records, LC 00149 Atmo Stadtpark Dessau mit Vogelgezwitscher Autorin: Der Stadtpark in Dessau. Im Stadtbrunnen planschen Kinder, zwei ältere Herren spielen an einem Tisch Schach, Mütter schieben ihre Babys in Kinderwagen über den Rasen. Das Laub der Bäume beginnt sich langsam zu färben. Nur die Blätter der Blutbuche sind noch immer tiefrot. Vor elf Jahren überfielen im Stadtpark drei Neonazis den Mosambikaner Alberto Adriano. Erst schlugen sie ihn, dann, als er am Boden lag, traten sie so lange gegen seinen Kopf, bis sein Schädel brach. Anschließend schleiften die drei Rechtsextremen den leblosen Körper durch den Park, zogen ihn aus, hängten seine Kleider in die Zweige der Bäume. Alberto Adriano fand man später unter der Blutbuche. Drei Tage später starb er. Ein eckiger Gedenkstein erinnert an ihn. Der Mord war für die Stadt ein Schock. Wie konnte das in unserer Stadt passieren, fragten sich viele Bürger. O-Ton Nina Gühlstorff: Also ich finde, dass der Alltagsrassismus größer ist als ich vermutet habe. Die Blicke, die man hier bekommt, wenn man mit einem Schwarzen durch die Stadt geht sind sehr sprechend und nicht unbedingt angenehm. Autorin: sagt Nina Gühlstorff. Die Regisseurin hat das Theaterstück Schwarzweiss konzipiert. Es greift allerdings einen anderen Fall auf. Am siebten Januar 2005 verbrannte Oury Yalloh in der Gewahrsamzelle eines Dessauer Polizeireviers. Der geduldete Flüchtling aus Sierra Leone war an Händen und Füßen gefesselt. Wie der 36-jährige, der zuvor durchsucht worden war, trotzdem bei lebendigem Leib verbrennen konnte, versucht jetzt in zweiter Instanz das Landgericht Magdeburg herauszubekommen. Die Migranten aus Afrika sind sich heute schon sicher: Das war Mord. Atmo Einlass Stadtpark ... Einmal Pfand für ein Kleidungsstück ... am Besten den Personalausweis ... dann bräuchte ich die Karte mal ganz kurz ... und wünsche viel Spaß ... der Eingang für den Herrn ist da drüben ... Autorin: In die Kompetenz der Justiz möchte sich Regisseurin Nina Gühlstorff nicht einmischen. Ihr geht es um die Lebensumstände der Schwarzafrikaner. Und um das Schweigen. Viele Dessauer ringen sechs Jahre nach Oury Jallohs Tod noch um eine Haltung. Mit ihrem Stück will Nina Gühlstorff eine Art mentales Diagramm der Stadt erstellen. Der ungewöhnliche Theaterabend beginnt im Stadtpark und mit einer Verkleidung. Der Besucher muss in ein auffälliges Kostüm schlüpfen, bevor die Vorstellung beginnt. Das Stadtwappen, ein Feuerzeug, Handschellen und das Konterfei des Verstorbenen zieren die grellgelben Kaften und Mützen. Atmo Hallo, hallo, können wir Ihnen was Kleidsames geben? ... Ja, was haben Sie denn so da? ... Wir haben hier ein sehr weites Modell, wenn Sie das über die Jacke ziehen wollen, wir haben auch etwas Dezenteres, das ist ein Schal. Jetzt noch einen Wickelrock, ein Babydoll, aber ich denke mal ... wenn schon denn schon, das Große. Autorin: Dorrit Marcy entscheidet sich schließlich für einen weites Kleid mit Ärmelrüschen. Die Dessauerin findet das Thema des Theaterstücks spannend. Sie möchte wissen, wie man mit den vielen Widersprüchen künstlerisch umgeht. Atmo Reißverschluss ... das ist ja das Schöne hier, dass sich die Leute hier drauf einlassen unsere Gäste ... so. ... Reißverschluss ... sehr hübsch, (lacht). Autorin: Seit 20 Jahren lebt Dorrit Marcy in Dessau. Sie kennt die Probleme der Schwarzafrikaner, ein Freund von ihr stammt aus Mosambik. Viele Dessauer haben Berührungsängste, glaubt sie. Der Ausländeranteil liegt gerade mal bei zwei Prozent. O-Ton Dorrit Marcy: Ich denke, Dessau ist einfach eine Kleinstadt mit einer ziemlich alten und kleinbürgerlichen Bevölkerung. Also eben auch DDR- Bevölkerung, zu anders Lebenden oder anderen Kulturen hatte und letzten Endes gar nicht weiß, wie viel Freude das machen kann, eben mit anderen Kulturen zusammen zu treffen. Autorin: Auf der anderen Seite, Dorrit Marcy runzelt die Stirn, hält kurz inne, sagt dann: Aber auch die Schwarzen in Dessau spielen nicht immer eine rühmliche Rolle. O-Ton Dorrit Marcy: Also ich habe eine Haltung, das ist völlig klar, und die ist Pro- Integration. Das ist überhaupt keine Frage. Ich kenne aber auch viele, also ich bin Ärztin, und habe auch viele drogenabhängige junge Leute, die sicherlich, ja weiß ich nicht woher die ihren Stoff herkriegen. Aber dass Schwarze da auch eine Rolle spielen ist einfach unbestritten. Und da geht mir natürlich auch das Messer in der Tasche auf. Autorin: Für das Drehbuch zu Schwarzweiss hat Regisseurin Nina Gühlstorff 50 Menschen in Dessau befragt. Schwarzafrikaner, den Oberbürgermeister, Staatsanwälte, Mitarbeiter der Ausländerbehörde, ganz normale Bürger, Mitarbeiter des Landgerichts - natürlich auch Polizisten. Die durften ihr aber nicht viel erzählen. Wegen des laufenden Verfahrens. O-Ton Nina Gühlstorff: Das finde ich schon verrückt, dass alle betonen, dass Transparenz so wichtig ist und eine so sanfte Öffentlichkeit wie Theater, dass selbst mit uns eigentlich nicht gesprochen werden kann. Das ist schon ne Erfahrung, die ich hier machen durfte. Autorin: Nina Gühlstorff schüttelt verständnislos den Kopf. In dieser Stadt wird für meinen Geschmack viel zu viel geschwiegen, sagt sie nachdenklich. Zur Premiere waren 100 Besucher da, bei der zweiten Vorstellung kamen nur noch 20. O-Ton Nina Gühlstorff: Da kann ich einfach nur noch sagen, wir werden Teil eines Schweigens. Wir finden statt und ich glaube, es weiß fast jeder, dass wir stattfinden, aber es kommt niemand, sich damit uns auseinanderzusetzen. Autorin: An diesem leicht verregneten Samstagabend kommen immerhin 40 Theaterbesucher in den Stadtpark. Hinter den Baumwipfeln ragt ein Plattenbau in den diesigen Himmel. Grauer Waschbeton. Vor dieser Kulisse beginnt Schwarzweiss. Zwei Handpuppen aus Holz eröffnen den ersten Akt - die eine weiß, die andere schwarz lackiert. Misstrauen und Angst auf der einen Seite, Wut und Trauer auf der anderen Seite. Gefühle, die den ganzen Abend beherrschen. O-Ton Schwarzweiss: Meine Damen und Herren, die Ortsbegehung beginnt im Landgericht. ... Äh ich denke, da muss ich Sie leider enttäuschen, solange der Prozess am Magdeburger Gericht anhänglich ist ... Ja, ja diesen Satz haben wir sehr häufig gehört diese Aussage, aber ätsch, wir haben Ersatz gefunden, also bitte folgen Sie uns. Herzliche willkommen bei Schwarz-Weiß ... Klatschen ... Atmo Loslaufen Autorin: Die theatrale Stadtbegehung beginnt im Stadtpark und endet vor dem alten Theaterplatz. Dazwischen liegt das migrantische Dessau. Ein Dessau, das die meisten Theaterbesucher nicht kennen. Das Bauhaus wird ignoriert, stattdessen bringt das Theater sein Publikum an Orte jenseits der Hauptstraße. Im Telecafe treffen sich afrikanische Migranten, tauschen Neuigkeiten aus, telefonieren günstig in die Heimat. Im benachbarten Döner erzählt ein Deutscher von seiner Angst vor dem schwarzen Mann. Und immer wieder kommen Polizisten zu Wort. Sie berichten vom Korpsgeist, von den institutionellen Mauern um sie herum. O-Ton Schwarzweiss: Und das ist das Schlimmste, wenn ein Mensch in dem Gewahrsam der Polizei ums Leben kommt. Das macht ja auch die ganze Dynamik von dem Fall aus. Weil nämlich die Polizeizelle ist das Herz des Staates. Allein die Integrität oder Loyalität der Polizei sorgt dafür, dass da niemand verschwindet, gefoltert wird oder sonst irgendwas. Aber für diese Symbolik haben viele überhaupt kein Verständnis dafür gehabt hier, das war ein reiner Betriebsunfall, das war lästig. Autorin: Nach zweieinhalb Stunden ist die theatrale Stadtbegehung zu Ende. Die Mauer des Schweigens ist noch immer da. Vielleicht fängt sie bei einigen Besuchern jetzt an zu bröckeln. MUSIK V T: Gimme hope Jo´anna I+K: Eddy Grant Verlag: EastWest, LC 01557 EAN 0685738859726 Atmo Foyer, runtergehen ins Restaurant Autorin: Im großen Hause des Anhaltischen Theaters in Dessau kommen eingefleischte Theaterbesucher gerne ein, zwei Stündchen früher. Ihr Weg führt sie dann hinab ins Theater-Restaurant. Es liegt im Keller und versprüht den Charme der 70er. Atmo Restaurant Autorin: Von der Decke fällt indirektes Licht auf die grellrot gepolsterten Stühle. Auf den runden Tischen liegen Plastikdecken, in den Vasen stehen Plastikblümchen. Jeder Tisch hat ein Metallkärtchen mit einer Nummer darauf. An Tisch zehn sitzen sich zwei ältere Damen gegenüber, prosten sich zu. O-Ton ältere Dame: Ja, das ist ein Ritual. Wir gehen ein bisschen eher, trinken ein Glas Wein. Genießen dann die Aufführung. Autorin: Um die Pausen zu genießen, können die Theaterbesucher ihre Bestellung schon vor der Aufführung abgeben. Aushilfe Sarah Heinemann erklärt das etwas ungewöhnliche Prinzip Tischlein deck dich. O-Ton Sarah Heimann: Man kann schon vor der Veranstaltung hier herkommen und sich Essen und Trinken für die Pause bestellen und dann reservieren die somit den Tisch und dann steht das in der Pause schon bereit für sie. Damit sie sich dann nicht in der Pause anstellen müssen. Weil, das ist ja auch manchmal ganz schön voll. Autorin: Der kulinarische Renner hier unten ist und bleibt ... O-Ton Sarah Heimann und Gast: Die Bockwurst mit Brötchen und Senf. ... Schmeckt sehr gut, ja. Atmo Küche Autorin: 500 Meter weiter Richtung Innenstadt steht Jörg Folta in seiner neuen Küche im Alten Theater. In der Kavalierstraße stand einst das Hoftheater, das Fürst Franz im 18. Jahrhundert errichten ließ. Das Gebäude brannte zweimal aus. In den 20er-Jahren wurde es wieder errichtet. Die Künstler-Konzerte waren damals legendär. An diese Zeiten möchten Jörg Folta und sein Koch gerne anknüpfen. Statt Bockwurst schmort darum eine Kalbshaxe im Bräter. Osso Bucco, erklärt Thomas Paul. Eine Bockwurst kommt ihm nicht auf den Teller und eine Mikrowelle nicht in die Küche. O-Ton Thomas Paul: Nee wir haben strenges Mikrowellenverbot in der Küche, das gibt es bei uns nicht (lacht). Autorin: Seit einem Monat betreibt Jörg Folta das Restaurant und die Bar Altes Theater. Der geschätzte Mittvierziger wirkt irgendwie wagemutig. In Dessau möchte er Gastronomie und Kultur miteinander verbinden. Das Alte Theater beherbergt heute das Schauspiel und das Puppentheater des Anhaltischen Theaters. Gute Freunde haben ihm von dem Projekt abgeraten. Die Dessauer werden nicht kommen, prophezeien sie. Entweder haben sie dafür nicht das nötige Kleingeld oder sie investieren es lieber in andere Dinge. Jörg Folta schaut störrisch. Er glaubt fest an den Erfolg. Im Foyer sollen Lesungen, Partys und Ska-Konzerte stattfinden. O-Ton Jörg Folta: Zum einen sind wir ein Theater, das wir auch selber bespielen, wir machen Veranstaltung, zum anderen sind wir aber auch als Gastronom hier. Und nur in dieser Doppelfunktion denke ich, funktioniert die ganze Geschichte. Autorin: Gastronomie und Kultur ziehen die Menschen an, glaubt Jörg Folta, der seit vielen Jahren Veranstaltungen jenseits des Massengeschmacks macht. Was er in Leipzig, Halle und Berlin hinbekomme, müsse ihm wohl auch in dieser Stadt gelingen. Dann gibt er zu: Die Koch-Kunst-Bude werden sie ihm wohl nicht gleich einrennen. Aber er habe einen langen Atem. Einen längeren als die Dessauer. O-Ton Jörg Folta: In Italien ist es bis in ärmere Schichten gut, zu essen und dafür auch Geld auszugeben. Diese Tradition fehlt in Deutschland, speziell in Ostdeutschland und wahrscheinlich ist der Hotspot dieser fehlenden Tradition Sachsen-Anhalt. Autorin: Die Stadt brauche dringend Veränderungen, sagt Jörg Folta. Der neue Intendant André Bücker habe seine erste Spielzeit nicht umsonst offenes Land genannt. Ihm sei es zu verdanken, dass sich das Anhaltische Theater der Stadt, den Menschen und den anderen Kultureinrichtungen wieder geöffnet habe. Wer in Dessau kulturell überleben will, der muss sich Verbündete suchen, Synergien nutzen, Ressourcen sparen, oder besser gesagt, einsparen. Auch das Anhaltische Theater. O-Ton Jörg Folta: Ich sehe es als Refugium von Zivilisation. Und diese Refugien haben die verlassenen ostdeutschen Gegenden in der Tat bitter nötig. Da sehe ich für mich die Hauptfunktion des Dessauers Theater drin. MUSIK VI T: Ska Au GoGo I+K: Die Tornados Verlag: Cargo Records, LC 10634 Atmo BMX-Halle Autorin: Zurück zum alten Räucherturm, der neuen Aussichtsplattform in Dessau. Am Fuß des Gebäudes steht die alte Fleischerei. Wurst und Schinken werden dort schon lange nicht mehr produziert. Stattdessen jagen jetzt Jugendliche und junge Männer auf ihren BMX-Rädern eine imposante Rampe hoch, heben ab, drehen sich in der Luft um 180 Grad, landen wieder sicher auf beiden Rädern. Das Kunststück heißt Wall, was übersetzt Mauer bedeutet. Jens Wittmann und seine Mitstreiter mussten auch so einige Mauern überwinden, bis die Dessauer Stadtoberen den Jugendlichen das Gebäude überließen. Inzwischen wird die alte Wurstfabrik ganz offiziell von dem BMX- Verein Von der Rolle verwaltet. Vereinsvorsitzender ist der 23-jährige Jens Wittmann. O-Ton Jens Wittmann: Wir hatten auch hart zu knabbern an dem Brot das hier durchzukriegen. Allein mit den Beamten, mit denen wir Kontakt hatten lief das super. Aber es gab dann gewisse Personen, die Entscheidungsrechte hatten, wo es dann Entscheidungen gab, die für uns nicht logisch waren. Es ist schon in der Stadt so, dass es viele gibt, die sehr viel ausbremsen. Und das ist wahrscheinlich auch ein Grund, warum es hier gerade so ein bisschen stockt. Autorin: Die Zeichen des Aufbruchs haben in Dessau noch nicht alle erkannt. Dabei hat es diese Stadt in Sachsen-Anhalt bitter nötig, sich zu öffnen. Ein Viertel der Bewohner ist schon weg. Die meisten Freunde von Jens Wittmann auch. Niemand, sagt der junge, schmächtige Mann, lebt gerne in einer sterbenden Stadt. O-Ton Jens Wittmann: Das spürt man sehr doll. Wir sind jetzt gerade im Hochsommer, alle haben irgendwie Spaß. Dann kommt ja noch dazu, dass die meisten Studenten Semesterferien haben, ihre Familie besuchen, die Stadt ist wieder vitaler. Ich glaube schon, dass das wieder abschwächt, wenn es kälter wird, dass es hier ein bisschen ruhiger wird. Autorin: Jens Wittmann hat auch schon darüber nachgedacht, Dessau zu verlassen. Zum Glück kam ihm erst sein BMX-Shop dazwischen, dann seine Ausbildung zum Mediengestalter, sagt er heute rückblickend. Denn in Dessau steckt durchaus Bewegung. Wer sich hier wohl fühlen möchte, der muss sich die Stadt formen, sagt der junge Vereinsvorsitzende. O-Ton Jens Wittmann: Ich habe halt immer versucht, das was ich hier wollte, mit anzupacken. Und habe halt dafür gesorgt, das, was es hier nicht gab, das hier zu schaffen irgendwie. Und so habe ich dann quasi mit den anderen mir halt irgendwo so die Stadt geformt wie ich sie halt gerne haben würde. Und das ist auch, was ich mit Dessau verbinde. Autorin: Vielleicht ist ja genau das die Vision für diese Stadt. Will Dessau wieder die Stadt der Moderne werden, eine Stadt des Aufbruchs, der Aufklärung, dann sollte sie ihren Bürgern mehr vertrauen. Und mehr in ihre Köpfe investieren statt in Beton. Dann hätte das Anhaltische Theater in Dessau sicherlich die besten Überlebenschancen. Kennmusik hoch SpvD: Glühende Landschaften Der Kampf um das Anhaltische Theater Dessau Eine Deutschlandrundfahrt mit Susanne Arlt Ton: Andreas Krause Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2011 Manuskript und eine Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de 1