“Mit einem einzigen frischen Sprung” Eine Lange Nacht über Manifeste Autor: Stefan Zednik Redaktion: Dr. Monika Künzel Regie: Stefan Hilsbecher SprecherIn: Sendetermin: 4. Mai 2019 Deutschlandfunk Kultur 4./5. Mai 2019 Deutschlandfunk ___________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde Musik 1 Erwin Schulhoff, Das kommunistische Manifest, Chorkantate Sprecher Zitat Kommunistisches Manifest Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten. Erzählerin, über Musik So beginnt einer der berühmtesten politischen Texte der europäischen Neuzeit, das von Karl Marx und Friedrich Engels verfasste „Kommunistische Manifest“. Im Februar 1848 erscheint es, und auch wenn es „Manifeste“ schon vorher gegeben hatte, so wird dieser politische Text doch der Prototyp einer neuen, einer literarisch-künstlerischen Gattung. In den kommenden Stunden unternehmen wir einen Streifzug durch die Geschichte der Manifeste. Er beginnt bei den ersten politischen und ästhetischen Texten, streift den Start der Moderne in der Bewegung des italienischen Futurismus. Es folgt die Hochzeit des Manifestes in den 10er und 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, die Zeit eines regelrechten „Manifestantismus“. Was haben Manifeste der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zu sagen, als in vielen westlichen Ländern eine Stimmung des Aufbruchs zu spüren ist – darum geht es in der dritten Stunde dieser Langen Nacht. Aber was ist das eigentlich, ein Manifest? Musik 1 Erwin Schulhoff, Das kommunistische Manifest Erzählerin 1840, die westliche Welt scheint bequem geworden, hat sich eingerichtet in einer als biedermeierlich verklärten Gewöhnlichkeit. Es herrscht wirtschaftlicher Aufschwung in weiten Teilen Europas, es entstehen Fabriken, ein schnell wachsendes Heer von Industriearbeitern strömt in die Städte. Das Proletariat, eine neue soziale Schicht, eine neue politische Bewegung, wächst heran. Immer noch herrscht der Geist Metternichs, der Geist einer alle Freiheit unterdrückenden Repression. Pressezensur, Polizeispitzel, Versammlungsverbote – Alltag für die Intellektuellen, die, wie Karl Marx, der vorwiegend in Paris lebt, aufzubegehren versuchen. Marx ist Philosoph, Soziologe, Ökonom, Journalist, er beteiligt sich schreibend an den aufkommenden Unruhen, wird mehrfach des Landes verwiesen, verliert seine Staatsbürgerschaft, vor allem in Preußen wird er polizeilich gesucht. Bald agiert er vom traditionell liberaleren England aus, und die Wirkung seiner Schriften ist schnell international. Sprecher Zitat Kommunistisches Manifest Es ist hohe Zeit, dass die Kommunisten ihre Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegen, und den Märchen vom Gespenst des Kommunismus ein Manifest der Partei selbst entgegenstellen. Zu diesem Zweck haben sich Kommunisten der verschiedensten Nationalität in London versammelt und das folgende Manifest entworfen, das in englischer, französischer, deutscher, italienischer, flämischer und dänischer Sprache veröffentlicht wird. Erzählerin Der deutsch-tschechische Komponist Erwin Schulhoff wird später versuchen, diesen Text zu vertonen. Schulhoff, der sich am Ende der 1920er Jahre zu den Idealen des Kommunismus bekennt, unterlegt dem Text einen marschierenden Rhythmus, das Gespenst kommt nicht allein, es kommt als Masse. Musik 1 Schulhoff, Das kommunistische Manifest. Erzählerin Doch was bei Marx und seinem Co-Autor Friedrich Engels folgt, ist nicht ein kämpferischer Aufruf zur Erstürmung der Paläste, sondern, ganz der wissenschaftlichen Herkunft ihrer Autoren gemäß, gewissenhaft „deutsch“ – eine philosophische, ökonomische und soziologische Analyse. Sprecher Zitat Kommunistisches Manifest Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen. // Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigner, Zunftbürger und Gesell, kurz, Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zu einander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedes mal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete, oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen. Erzählerin Es braucht eine Weile, bis die beiden Autoren in ihrer akribischen Pro- und Contra-Schrift alle denkbaren philosophischen, politischen, ökonomischen und religiösen Einwände beiseite geräumt haben. Es dauert, bis sie zu den konkreten Forderungen für eine neu zu strukturierende Gesellschaft gelangen. Sprecher Zitat Kommunistisches Manifest 1) Expropriation des Grundeigentums und Verwendung der Grundrente zu Staatsausgaben. 2) Starke Progressiv-Steuer. 3) Abschaffung des Erbrechts. 4) Konfiskation des Eigentums aller Emigranten und Rebellen. 5) Zentralisation des Kredits in den Händen des Staats durch eine Nationalbank mit Staatskapital und ausschließlichem Monopol. 6) Zentralisation alles Transportwesens in den Händen des Staats. O-Ton 1 Wolfgang Asholt Ein MF ist eine Erklärung, die prägnant und öffentlichkeitswirksam Forderungen erhebt, sei es im politischen Bereich, sei es im Bereich von Kunst und Literatur und dabei kommt es darauf an möglichst direkt und möglichst zielgerichtet zu argumentieren. Erzählerin Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Asholt. Sprecher Zitat Kommunistisches Manifest, Forts. 7) Vermehrung der Nationalfabriken, Produktions-Instrumente, Urbarmachung und Verbesserung der Ländereien nach einem gemeinschaftlichen Plan. 8) Gleicher Arbeitszwang für Alle, Errichtung industrieller Armeen besonders für den Ackerbau. O-Ton 2 Wolfgang Asholt MFe sind zunächst im politischen und parallel im militärischen Bereich aufgetreten also Kriegserklärungen werden häufig als MFe bezeichnet oder in MFen formuliert, dann aber mit dem Höhepunkt des großen kommunistischen MFs Mitte des 19. Jahrhunderts und eigentlich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts tauchen mehr und mehr künstlerisch-literarische Manifeste auf. Sprecher Zitat Kommunistisches Manifest, Forts. 9) Vereinigung des Betriebs von Ackerbau und Industrie, Hinwirken auf die allmähliche Beseitigung des Gegensatzes von Stadt und Land. 10) Öffentliche und unentgeltliche Erziehung aller Kinder. Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer heutigen Form. Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion usw., usw. Erzählerin Erst auf der letzten von 21 eng bedruckten Seiten bekommt der Text endgültig jenen revolutionären Schwung, den wir von einem Manifest, das die Bewegung des Kommunismus begründen soll, erwarten. Sprecher Zitat Kommunistisches Manifest Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer Kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder vereinigt Euch! Erzählerin, evt. über Musik Die Reaktion auf das „Kommunistische Manifest“ bleibt nicht aus, es befeuert revolutionäre Bestrebungen. In Europa gärt es immer mehr. Natürlich wird es verboten, Drucker und Verleger werden verfolgt. Verfolgung trifft auch Künstler, die mit solchen Ideen sympathisieren. In Dresden steht Richard Wagner, 35 Jahre alt und gerade die ersten Erfolge seiner Kompositionskunst genießend, im Dienste des sächsischen Staates. Er ist Kapellmeister an der Oper und man könnte das Leben, das er seit einigen Jahren in der sächsischen Hauptstadt führt, als geregelt bezeichnen. Doch Wagner wird vom Geist der Rebellion angesteckt. Als im Frühjahr 1849 der Aufstand auch an der Elbe ausbricht, ist er dabei. Musik 2 Richard Wagner, Ouvertüre „Fliegender Holländer“ Erzählerin Richard Wagner beteiligt sich, ein Jahr nach Erscheinen des kommunistischen Manifestes, aktiv an den Unruhen, angeblich hat er selbst auf den Barrikaden gestanden. Doch die Revolutionen werden in ganz Europa niedergeschlagen, ihre Protagonisten polizeilich verfolgt. Wagner muss fliehen, und obwohl seine Opern weiter in Dresden, Leipzig und Weimar gespielt werden, wäre es für ihn ein unkalkulierbares Risiko, sich persönlich in Deutschland aufzuhalten. In der Schweiz findet er Asyl. Und nutzt die Zeit zur Entwicklung theoretischer Positionen. Er formuliert eigene Thesen zur Notwendigkeit einer Revolution. Es wirkt – zunächst – wie eine lyrische Fortschreibung des Marx’schen Manifestes. Sprecher Zitat Richard Wagner, aus „Der Mensch und die bestehende Gesellschaft“ (1849) Im Jahre 1848 hat der Kampf des Menschen gegen die bestehende Gesellschaft begonnen. Nicht beirren darf es uns, dass dieser Kampf bis jetzt in den meisten Ländern noch nicht offen zu Tage tritt, dass namentlich die beiden größten deutschen Staaten uns bis jetzt äusserlich nur das alte Schauspiel eines Kampfes der verschiedenen Teile der Gesellschaft um die Oberherrschaft darbieten. Diese letzten Kämpfe der Adelsvorrechte in Preussen und Österreich, dies letzte Aufflackern der unbeschränkten Fürstenmacht, nur gestützt auf eine rohe Gewalt, die vor dem Lichte der Aufklärung täglich mehr dahinschmilzt, sie sind nichts weiter denn die Todeszuckungen eines Körpers, dem der Geist, das Leben bereits entschwunden, sie sind nichts weiter denn die letzten Nebeldünste der Nacht, welche die aufgehende Sonne vor sich hertreibt. (...) Der Kampf des Menschen gegen die bestehende Gesellschaft hat begonnen. Jene Kämpfe, der Überrest einer vergangenen Zeit, wie wir sie in Österreich, in Preussen, zum Teile auch im übrigen Deutschland sehen, sie können uns nicht täuschen, sie dienen ja nur dazu das Schlachtfeld zu räumen für jenen letzten, erhabensten Kampf. Schon hat er offen in Frankreich begonnen, England bereitet sich auf ihn vor und bald, bald auch erfasst er Deutschland. Wir leben in ihm, wir haben ihn durchzukämpfen. Vergebens wollten wir versuchen ihm auszuweichen, uns zu flüchten, um den Strom an uns vorüber rauschen zu lassen, er erfasst uns dennoch ... Erzählerin Wagner lässt sich selbst gern vom rauschenden Strom seiner Rede tragen, man spürt die Begeisterung an der Sache, ein Spirit, der den Erörterungen der großen philosophischen Vordenker Marx und Engels noch zu fehlen schien. Sprecher Zitat Richard Wagner, Forts. Alle, der Fürst in seinem Palaste, wie der Arme in seiner Hütte, wir Alle müssen mitstreiten in diesem großen Kampfe, denn wir Alle sind Menschen und unterliegen dem Gebote der Zeit. (...) Des Menschen Recht ist: Durch die immer höhere Vervollkommnung seiner geistigen, sittlichen und körperlichen Fähigkeiten zum Genusse eines stets wachsenden, reineren Glückes zu gelangen. Erzählerin Auch wie diese Ziele zu erreichen sind, scheint Wagner zu wissen. Sprecher Zitat Richard Wagner, Forts. In der Vereinigung der Menschen finden wir die Kraft, welche wir bei den Einzelnen vergebens suchen. Während der Geist des Vereinzelten ewig in tiefster Nacht begraben bleibt, wird er in der Vereinigung der Menschen erweckt, angeregt und zu immer reicherer Kraft entfaltet. (...) Während die Kraft, die Geschicklichkeit des Vereinzelten stets dieselben sind, steigert sich in der Vereinigung der Menschen ihre Kraft ins Unendliche (...). Erzählerin „Proletarier aller Länder vereinigt Euch“, so mag man Wagner aus London zurufen. Dort sitzt 1849, dem Entstehungsjahr von Wagners Schrift „Der Mensch und die bestehende Gesellschaft“, Karl Marx in der Emigration. Wagner hatte in Dresden Bakunin kennen gelernt, einen bekennenden Anarchisten, der im Gegensatz zu dem Komponisten einer Verhaftung nicht entgehen kann und viele Jahre in Kerkern verbringen muss. Bakunin bleibt sein Leben lang linksorientierter Sozialist und Anarchist – wogegen sich Wagner sehr bald von rein politischen Gesellschaftsideen abwenden wird. Er entwickelt eine Weltanschauung, die gesellschaftliche Veränderung an die Idee einer künstlerischen Avantgarde bindet. Der Künstler, in Wagners Verständnis vor allem er selbst, soll Prophet und Vorreiter dieser neuen Gesellschaft sein. Musik als Weihedienst, der Künstler als Priester, als legitimer Vertreter einer Kunstreligion, der alle folgen sollen – das bedeutet de facto die Umkehr seiner ursprünglich sozialistischen revolutionären Ideale. Wagner beginnt privat ein luxuriöses Leben zu schätzen, er verbringt die Winter gern in venezianischen Palästen und lässt sich und seine Projekte vom bayerischen König finanzieren. Er wird zu einem glühenden Anhänger der Monarchie. Musik 3 Rimski-Korskov, Sadko Erzählerin, über Musik Wagners Schriften, auch wenn sie nicht diesen Titel tragen, haben durchaus den Charakter von Manifesten. Sie nehmen Stellung gegen eine Wirklichkeit, die der Autor zutiefst ablehnt, sie entwickeln Konzepte des „ganz Anderen“, der Utopie also, und sie sind öffentlich. Das geschriebene, publizierte Wort, nicht das Geheimpapier, das mutige Treten vor die Gemeinschaft mit einer ausformulierten Programmatik, nicht die nur in Fachkreisen diskutierte theoretische Schrift – das sind Kennzeichen eines Manifests. Wladimir Stassow ist Schriftsteller, Journalist, publizistisch wirkender Vertreter einer Musikerkleingruppe, die sich parallel zu Wagners Schweizer essayistischen Versuchen in Russland, vor allem in Petersburg, zusammenfindet. Er selbst nennt den Kreis die „Gruppe der Fünf“, oder, mit einem Zug von wohlwollender Ironie: „das mächtige Häuflein“. Sprecher Zitat Wladimir Stassow Das russische Volk liebt seit je sein Lied, das so breit und so voll Weisheit ist wie die Natur unseres grenzenlosen Landes. Nicht ziemt es den Erben Glinkas und Dargomyshskis, an fremden Schwellen das Knie zu beugen. Erzählerin So der Kritiker Stassow, und hätte es den Begriff im Zusammenhang mit ästhetischen Positionen schon gegeben, so hätte auch er sein Eintreten für eine neu-russische Musik sicher als Manifest bezeichnet. Er formuliert emphatisch die Haltung eines Kreises von Musikern um den Pianisten, Dirigenten und Komponisten Mili Balakirew. Sprecher Zitat Wladimir Stassow, Forts. Wir haben unserem echten russischen Lied in der Kunst Geltung verschafft. Es verzehnfacht unsere Kräfte, wenn wir es begreifen. Es klingt schon in unsern Opern und Sinfonien. Wir verleihen ihm neue Flügel. Erzählerin Die Gruppe will eine Neuorientierung in der russischen Musik, sie will sich auf die eigenen Wurzeln besinnen, sich emanzipieren von westeuropäischen Vorbildern und akademischen Traditionen. Seit Peter dem Großen, seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts, galten die eigenen russischen Vorbilder wenig, mitunter gar nichts, nun aber scheint den Fünfen die Zeit reif für einen nationalen Neuanfang. Die bekanntesten Mitglieder sind Nikolai Rimsky-Korsakow, Alexander Borodin und vor allem Modest Mussorgsky. Die Themen ihrer Opern entstammen russischen Märchen oder der russischen Geschichte, ihre Motive sind meist russische Bilder. Musik 4 Mussorgsky, Bilder einer Ausstellung, Bydlo Sprecher Zitat Wladimir Stassow, Forts., kann über Musik Fliege vorwärts! Rufe vorwärts! Jenen Zeiten entgegen, wo unser Volk in Freiheit und Glück seine Lieder anstimmen wird. In den fernsten Winkeln der Erde wird man es hören und sich freuen. Erzählerin Stassow, der sich in unzähligen Artikeln für die Ideen der „Fünf“, zu denen auch Mussorgsky zählt, einsetzt, liefert damit eine Art Vorläufer eines Musik-Manifests. Die Zeit für diese Form, politische oder ästhetische Ideen in die Öffentlichkeit zu tragen, ist in Russland noch nicht wirklich reif. Doch auch hier wird das theoretische Formulieren, dessen was „sichtbar“, „fühlbar“, eben „manifest“, ist, langsam populärer. In wenigen Jahrzehnten wird Russland das Land sein, in dem die Kultur der Manifeste die wildesten Blüten treiben wird. In Frankreich entsteht in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, als Pendant zu Wagners Musik, zeitgleich der Symbolismus. Sprecher Zitat, Jean Moréas, Le Figaro, Supplément littéraire, 18.9.1886 Eine neue Offenbarung der Kunst (...), seit langem sich entwickelnd, ist dabei sich zu entfalten. Und all die unbedeutenden Scherze der fidelen Presseleute, all die Besorgnisse gewichtiger Kritiker, die ganze schlechte Stimmung des in seinem unbekümmerten Trott überraschten Publikums bestärken nur jeden Tag mehr die Vitalität der gegenwärtigen Entwicklung in der französischen Literatur – diese Entwicklung, die voreilige Richter in einem unerklärlichen Widerspruch als Dekadenz qualifizieren. Erzählerin So der französische Dichter Jean Moréas im Pariser „Figaro“. O-Ton 3 Wolfgang Asholt Moréas im Vergleich zu den großen Symbolisten bis hin zu dem heute noch Maßstäbe setzenden Mallarmé ist mit Sicherheit ein Mann der zweiten Reihe, er ist aber der Erste, der Formulierungen auf den Punkt bringt und vor allem derjenige der eine solche Programmatik dann auch noch als MF bezeichnet und, auch da ist er Maßstäbe setzend, er veröffentlicht sein MF in einer Zeitung dem heute noch existierenden Le Figaro und erreicht damit zum ersten mal eine Wirkung weit über den Bereich der relativ kleinen symbolistischen Gruppe hinaus und auch weit über den Bereich der Literatur insgesamt hinaus also man kann das mit den Feuilleton-Romanen eines Emile Zola vergleichen, das ist dann auch wirklich eine Breitenwirkung. Sprecher Zitat, Jean Moréas, Forts. Was kann man der neuen Schule vorwerfen, was wirft man ihr vor? Zu viel Pomp, Fremdartigkeit der Metaphorik, ein neuartiges Vokabular, in dem die Gleichklänge sich mit den Farben und Linien vermischen: Kennzeichen einer jeden Erneuerung.  Erzählerin Der ´Figaro` hatte darum gebeten, die wesentlichen Grundsätze der „neuen Kunsterscheinung“, von vielen Kritikern als „Dekadenz“ bewertet, genauer zu erläutern. Sprecher Zitat, Jean Moréas, Forts. Wir haben schon die Bezeichnung Symbolismus vorgeschlagen, die als die einzige fähig ist, die aktuelle Tendenz des schöpferischen Geistes in der Kunst angemessen zu benennen. (...) Sagen wir (...), dass Charles Baudelaire als der wahre Vorläufer der aktuellen Bewegung anzusehen ist; Stéphane Mallarmé vermachte ihr den Sinn für das Geheimnisvolle und für das Unsagbare; Paul Verlaine brach zu ihrer Ehre die schrecklichen Hindernisse des Verses (...). Als Feindin des "Belehrens, des Deklamierens, des falschen Gefühls und der objektiven Beschreibung" strebt die symbolische Dichtung danach, die Idee in eine sensible Form zu kleiden, die dennoch nicht Selbstzweck wäre, sondern, ganz dem Ausdruck der Idee dienend, ihr unterworfen bliebe. (...) So dürften sich in dieser Kunst die Bilder der Natur, die Handlungen der Menschen, und alle konkreten Phänomene nicht als sie selbst zeigen; sie sind vielmehr sinnlich wahrnehmbare Erscheinungen, dazu bestimmt, ihre esoterischen Affinitäten mit den ursprünglichen Ideen zum Vorschein zu bringen. Erzählerin Die Formulierung von Jean Moréas richtet sich gegen jene Idee von Realismus und Naturalismus, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ganz Europa die meisten Autoren zu folgen scheinen. Ob in Frankreich Balzac und Zola, in Russland Dostojewski und Tolstoi oder in Deutschland Fontane – die vermeintliche Klarheit, der Anspruch auf getreue Abbildung einer Realität, Objektivität und Wahrhaftigkeit dieser Autoren sind Moréas suspekt. O-Ton 4 Wolfgang Asholt Also man kann schon sagen dass Moréas genau gewusst hat an welches Publikum er sich richtet und dass man ungefähr mit Bourdieu schon ein Publikum unterscheiden kann was symbolisch der Dichtung gegenüber aufgeschlossener ist und darin durchaus auch eine Abwendung vom Zola’schen Naturalismus sieht und die unterstützen kann, also es gibt dann sozusagen zwei Gruppen im Publikum, das eher großbürgerlich konservative und das eher linke oder sozialistische Publikum ... Sprecher Zitat, Jean Moréas, Forts. Für die genaue Wiedergabe seiner Synthese bedarf der Symbolismus (...) der wahren und reichen und unbeschwert lebendigen französischen Sprache (...) so vieler (...) freisinniger Schriftsteller, die das scharfsinnige Wort der Sprache so abschießen wie die Bogenschützen der Thraker ihre gewundenen Pfeile. Erzählerin Die Theorie fällt bei vielen des Realismus überdrüssig gewordenen, sich nach mehr Individualismus sehnenden Autoren auf fruchtbaren Boden. Rainer Maria Rilke wird später Gedichte von Moréas ins Deutsche übertragen. Sprecher Zitat Jean Moréas/Rilke Dem Freund des Äthers dort, dem gleichgemuten Rauche mit ist, ich gleich ihm sehr: sein Dasein dauert kaum und meins ist am Verbrauche, vom Feuer ich wie er. Zur Asche hingebückt, wie nutzt er seine Kniee, der Mensch, um zu bestehn! Uns aber, daß uns nichts bekümmernd niederziehe aus unserem Vergehn! Erzählerin Verse, die den Vorwurf des gewollt Geheimnisvollen und schwer Verständlichen nicht scheuen. Jean Moréas, ihr Dichter, proklamiert wie der nachdichtende Rilke ein Recht auf das Rätsel, das Mysteriöse und damit – in einer Zeit zunehmender Vermassung – das Recht auf Subjektivität. Sprecher Zitat, Jean Moréas, Forts. Der Rhythmus: die alte Metrik aufgefrischt; eine geschickt geordnete Unordnung; der Reim leuchtend und gehämmert wie ein Schild aus Gold und Erz (...); der Gebrauch gewisser Primzahlen – sieben, neun, elf, dreizehn – überführt in verschiedene rhythmische Kombinationen deren Summe sie sind. So die kindische Methode des Naturalismus verachtend (...) wird der symbolisch-impressionistische Roman sein Werk der subjektiven Verformung errichten, gestützt auf diesen Grundsatz: dass die Kunst im Objektiven nur einen einfachen, äußerst begrenzten Ausgangspunkt suchen kann. Musik 5 Arnold Schönberg, Verklärte Nacht Erzählerin, über Musik Moréas’ Manifest zeigt Wirkung. Der Symbolismus in der Bildenden Kunst, etwa bei Gustave Moreau oder dem Österreicher Gustav Klimt, aber auch bei Musikern wie Claude Debussy oder dem frühen Arnold Schönberg, bekommt hier ein theoretisches Fundament. Der 1886 veröffentlichte Artikel ist der Vorbote einer Entwicklung, die sich einige Jahre später mit voller Kraft entfalten wird. Das Bedürfnis, theoretische Positionen öffentlichkeitswirksam zu präsentieren, wird in der Zeit des Fin de siècle, in der Endzeit aristokratischer, vordemokratischer Gesellschaften, immer stärker. Und es betrifft nicht nur die Politik, nicht nur die Literatur. Auch die anderen Künste machen durch Manifeste auf sich aufmerksam. O-Ton 5 Jörg Gleiter, Architekturtheoretiker Wir müssen da unterscheiden zwischen Architekturtraktaten und Manifesten und theoretischen Publikationen oder Bücher. Erzählerin Der Architekturtheoretiker Jörg Gleiter. O-Ton 6 Jörg Gleiter Die Traktatliteratur beginnt in der Renaissance, geht bis ins 18. Jahrhundert, das sind dann keine theoretischen Diskurse in dem Sinne, sondern eher philosophisch, literarisch, da wird also über die Architektur ein ganzes Weltbild dann skizziert, und richtet sich dann auch weniger an die bauenden oder praktizierenden Architekten, während die Manifeste dann erst Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommen. 3’30 Erzählerin „Handgreiflich machen“, „in die Hand geben“ – so oder ähnlich ließe sich wohl der ursprüngliche Sinn des Wortes „Manifest“ übersetzen. Einer der ersten, der im Bereich von Architektur und Gestaltung mit einem solchen Text hervortritt, ist der Wiener Adolf Loos. Der auch als pointierter Rhetoriker bekannte Loos hält im Jahr 1908 einen Vortrag mit dem reißerischen Titel „Ornament und Verbrechen“. Sprecher Zitat Adolf Loos, Ornament und Verbrechen Der Mensch unserer Zeit, der aus innerem Drange die Wände mit erotischen Symbolen beschmiert, ist ein Verbrecher oder ein Degenerierter. Erzählerin Adolf Loos wird vor allem als genialer Architekt in die Baugeschichte eingehen. Das Thema „Ornament am Bau“ liegt in der Zeit des exzessiv wuchernden Wiener Jugendstils gewissermaßen „auf der Straße“, doch beschränken sich seine Überlegungen keineswegs auf den Bereich der Architektur. Sprecher Zitat Adolf Loos, Ornament und Verbrechen Ich habe folgende Erkenntnis gefunden und der Welt geschenkt: Evolution der Kultur ist gleichbedeutend mit dem Entfernen des Ornamentes aus dem Gebrauchsgegenstande. Ich glaubte damit neue Freude in die Welt zu bringen, sie hat es mir nicht gedankt. Man war traurig und ließ die Köpfe hängen. (...) Da sagte ich: Weinet nicht. Seht, das macht ja die Größe unserer Zeit aus, daß sie nicht imstande ist, ein neues Ornament hervorzubringen. O-Ton 7 Jörg Gleiter Man könnte sagen er hat einen sehr allgemeinen Begriff der Architektur, speziell wenn es um Architektur als Kunst geht, das ist ja nur das Grabmal und das Denkmal für ihn, das ist Kunst, alles andere ist Gebrauch, und läuft unter Gebrauch, nicht, er sagt die Kunst soll anregen zum Nachdenken, sie soll kritisch sein, das Haus soll bequem sein, deswegen ist das Haus, die Architektur in erster Linie nicht Kunst und auch nicht Baukunst, das ist ein Gebrauchsgegenstand so wie Löffel, Teller, Stühle usw. Das ist der Hintergrund für seine Theorie. Sprecher Zitat Adolf Loos, Ornament und Verbrechen Wir haben das Ornament überwunden, wir haben uns zur Ornamentlosigkeit durchgerungen. Seht, die Zeit ist nahe, die Erfüllung wartet unser. Bald werden die Straßen der Städte wie weiße Mauern glänzen! O-Ton 8 Jörg Gleiter „Ornament und Verbrechen“, nicht „Ornament ist Verbrechen“ sondern „Ornament und Verbrechen“, das wird oftmals falsch zitiert weil es so besser ins Klischee passt oder in die Ideologie aber es ist tatsächlich Ornament und Verbrechen, d.h. nicht jedes Ornament ist Verbrechen, was er in seinem Text sehr schön expliziert als Manifest ... ist so der Urtyp des Manifests könnte man sagen, er ist polemisch, es ist Nietzscheanisch in einem Sinne, es ist mit spitzer Feder geschrieben, Loos hat auch viele Jahre an diesem Text tatsächlich geschrieben, ihn immer wieder zugespitzt, und so zugespitzt dass im Prinzip er auch seine Quellen eigentlich kaschiert hat. Erzählerin Die Idee einer ornamentlosen, einer versachlichten Welt von schmucklosen Mauern wird im 20. Jahrhundert noch häufiger auftauchen. Loos entwirft einen Typus des „modernen Menschen“, dessen inneres Ideal Schlichtheit und ökonomische Funktionalität ist. Er selbst, Adolf Loos, sieht sich als Prototyp. Sprecher Zitat Adolf Loos, Ornament und Verbrechen Ich lasse den Einwand nicht gelten, daß das Ornament die Lebensfreude eines kultivierten Menschen erhöht, lasse den Einwand nicht gelten, der sich in die Worte kleidet: „wenn aber das Ornament schön ist. ..!“ Mir und mit mir allen kultivierten Menschen erhöht das Ornament die Lebensfreude nicht. Wenn ich ein Stück Pfefferkuchen essen will, so wähle ich mir eines, das ganz glatt ist und nicht ein Stück, das ein Herz oder ein Wickelkind oder einen Reiter darstellt, der über und über mit Ornamenten bedeckt ist. (...) Ich kasteie mich nicht! Mir schmeckt es so besser. Erzählerin Loos argumentiert nicht nur aus der authentisch erlebten Empfindung des eigenen Geschmacks. Er sieht ein neues Zeitalter des Menschen aufdämmern, dem Sachlichkeit alles, verspieltes Schmuckwerk dagegen nichts ist. Nur im Privaten gibt er ihm ein gewisses Recht. Dabei argumentiert er ökonomisch, volkswirtschaftlich. Die Frage des Ornaments wird überraschenderweise – zu einer sozialen Frage. Sprecher Zitat Adolf Loos, Ornament und Verbrechen Das Ornament verteuert in der Regel den Gegenstand, trotzdem kommt es vor, daß ein ornamentierter Gegenstand bei gleichem Materialpreis und nachweislich dreimal längerer Arbeitszeit um den halben Preis angeboten wird, den ein glatter Gegenstand kostet. Das Fehlen des Ornamentes hat eine Verkürzung der Arbeitszeit und eine Erhöhung des Lohnes zur folge. O-Ton 9 Jörg Gleiter Man muss ihn sehr genau lesen, diesen Text, um herauszubekommen, dass er sich bezieht auf Freud natürlich bezieht, dass er sich auf Darwin bezieht, dass er sich auf Kunsttheorien bezieht, dass er im Prinzip soziale Theorien, Theorien der Ökonomie hier mit verarbeitet, das ist im Manifest alles wie soll man sagen unterschwellig präsent, was allerdings wirken sollte ist tatsächlich die Polemik, es sollte aufrühren, es sollte zu Nachdenken verleiten, vielleicht sogar zu mehr. Sprecher Zitat Adolf Loos, Ornament und Verbrechen Ornament ist vergeudete Arbeitskraft und dadurch vergeudete Gesundheit. So war es immer. Heute bedeutet es aber auch vergeudetes Material und beides bedeutet vergeudetes Kapital. Da das Ornament nicht mehr organisch mit unserer Kultur zusammenhängt, ist es auch nicht mehr der Ausdruck unserer Kultur. Erzählerin In dem Manifest von Loos flimmert die Sehnsucht nach einem Umbruch auf, nach einem gesamtgesellschaftlichen Umbruch, der alle Lebensbereiche erfassen soll – nach einer kulturellen Revolution. Nur ein Jahr später wird dieser Umbruch in einer bis dahin nie dagewesenen Radikalität von anderer Seite eingefordert. Initiator ist ein italienischer Schriftsteller aus vermögendem Hause, das Publikationsorgan ist dasselbe wie beim symbolistischen Manifest 22 Jahre zuvor: der Pariser ´Figaro`, eine bürgerliche Tageszeitung. Am 20. Februar 1909 beginnt, sieht man es mit dem Blick auf künstlerische Programme, das 20. Jahrhundert. Auf der Titelseite beginnend erscheint das erste Manifest des ´Futurismus`. Sprecher Zitat Marinetti, Gründung und Manifest des Futurismus Wir hatten die ganze Nacht gewacht, meine Freunde und ich, unter den Lampen der Moscheen, deren Kupferkuppeln, die ebenso durchbrochen waren wie unsere Seele, doch elektrische Herzen hatten. Und indem wir in unserer angeborenen Faulheit auf üppige Perserteppiche traten, stritten wir an den äußersten Grenzen der Logik und bedeckten das Papier mit wahnsinnigen Schriftzeichen. Ein unendlicher Stolz dehnte unsere Brust, uns allein stehen zu sehen, wie Leuchttürme oder wie weiter vorgeschobene Vorposten, gegenüber dem Heer feindlicher Sterne, die in ihrem heimatlichen Biwak kampieren. Erzählerin Die Szene scheint einem symbolistischen Bild zu entstammen, üppige Perserteppiche, wahnsinnige Schriftzeichen, eine orientalisch anmutende Umgebung. Autor ist der 32-jährige Filippo Tommaso Marinetti, ein Dichter, der einige Jahre zuvor bereits mit symbolistischer Lyrik hervorgetreten war. Sprecher Zitat Marinetti, Gedicht von 1904, Destruction Ich bin es, der dich entfesselt, oh Meer, zu einem grausigen Gemetzel, zur unmöglichen Zerstörung. (...) Aber worauf wartest du, oh Meer? Beeile dich! Beeile dich die Erde zu verschlingen (...) Zerstören wir! Zerstören wir! Zerstören wir! Denn es gibt keinen Glanz außerhalb dieses schrecklichen Wortes hereinbrechend wie ein Zyklopenhammer, zerstören wir! Zerstören wir! Zerstören wir! O-Ton 10 Wolfgang Asholt Marinetti ist ein Symbolist oder besser gesagt Spätsymbolist zumindest in seinen Anfängen und sieht dann um die Mitte des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts dass (..) dieser Symbolismus an ein bestimmtes Publikum nämlich das erwähnte Großbürgertum gebunden ist und er will genau diese Grenze überwinden und aus diesem Grund schreibt er ein MF, das er wie in der in der schon von Jean Moréas gewählten Zeitung „Le Figaro“ veröffentlicht dass aber prinzipiell sich an die ganze Bevölkerung wendet und das in gewisser Weise auch deshalb kann weil es mit der Literatur brechen bzw. die Trennung zwischen Literatur und Leben überwinden will. Erzählerin Man spürt in den Versen des jungen Marinetti ein Motiv, das auch seine Manifeste dominieren wird: das Motiv einer rohen, zerstörerischen Kraft. Marinetti wird diese Kraft vor allem bewundern, wenn sie von den Maschinen der Moderne ausgeht. Es ist die Zeit wöchentlich neuer Erfindungen, die Titanic ist in Planung, Automobile knattern bedrohlich durch die Städte, Elektrizität macht die Nacht zum Tage, Luftschiffe erobern den Himmel. Sprecher Zitat Marinetti, Gründung und Manifest des Futurismus Allein mit den Mechanikern in den höllischen Heizräumen der großen Schiffe, allein mit den schwarzen Fantomen, die den roten Leib der Lokomotiven füttern, allein mit den Trunkenen, die mit ihren Flügeln gegen die Mauer schlagen. Und plötzlich werden wir durch das Rollen der zweistöckigen Straßenbahnen abgelenkt, die hüpfend und buntscheckig vor lauter Licht vorüberfahren, wie der aus seinem Bett getretene Po plötzlich die Weiler überfällt und entwurzelt, um sie mit sich über Kaskaden und Wirbel bis ans Meer zu ziehen. Erzählerin Selten ist eine Kulturvision mit so viel verführerischer Sprachkraft formuliert worden. Dabei verstecken sich die gewalttätigen, antihumanistischen und schließlich faschistischen Gewaltphantasien in seinem Gründungsmanifest keineswegs. Es ist ein heulender Wolf, ohne Schafpelz, für jeden erkennbar. Sprecher Zitat Marinetti, Gründungsmanifest des Futurismus 1. Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und die Tollkühnheit. 2. Die Hauptelemente unserer Poesie werden Mut, Kühnheit und Empörung sein. 3. Bis heute hat die Literatur die gedankenschwere Unbeweglichkeit, die Ekstase und den Schlaf gepriesen. Wir wollen die aggressive Bewegung, die fiebrige Schlaflosigkeit, den Laufschritt, den Salto Mortale, die Ohrfeige und den Faustschlag preisen. 4. Wir erklären, daß sich der Glanz der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie mit großen Rohren bepackt ist, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen, ein heulendes Automobil, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die „Nike von Samothrake". 5. Wir wollen den Mann besingen, der das Lenkrad hält, dessen ideale Achse die Erde durchquert (...) O-Ton 11 Wolfgang Asholt Der Futurismus entsteht wahrscheinlich auch deshalb in Italien, weil Italien im Vergleich zu England, Frankreich, Deutschland und ein paar anderen westeuropäischen Ländern industriell und technologisch eher unterentwickelt war und Marinettis Vorstellung ist es "mit einem großen Sprung nach vorn" (..) Italien zukunftsfähig zu machen, das ist verbunden mit seiner Verurteilung des italienischen Passatismus, also der gloriosen italienischen Vergangenheit, sei es die römische, sei es die Vergangenheit der Renaissance mit all dem soll gebrochen werden. Sprecher Zitat Marinetti, Gründungsmanifest des Futurismus, Forts. 6. Der Dichter muss sich glühend, glanzvoll und freigiebig verschwenden, er muss die leidenschaftliche Inbrunst der Urelemente vermehren. 7. Nur im Kampf ist Schönheit. Kein Meisterwerk ohne aggressives Moment. O-Ton 12 Wolfgang Asholt Marinetti sagt irgendwann: „Ich hatte verstanden, dass man in die Arena hinabsteigen muss“, dass man auch an den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen seiner eigenen Zeit teilnehmen muss wenn man zu Veränderungen kommen will und diese Veränderungen sollen bei ihm unter dem Stichwort Futurismus zu einem anderen, zu einem moderneren, zu einem zukunftsorientierteren Italien führen. Sprecher Zitat Marinetti, Gründungsmanifest, Forts. 8. Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte! . . . Wozu hinter uns blicken, da wir gerade die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen brechen? 9. Wir wollen den Krieg preisen, — diese einzige Hygiene der Welt — den Militarismus, den Patriotismus, die zerstörende Geste der Anarchisten, die schönen Ideen, die töten, und die Verachtung des Weibes. 10. Wir wollen die Museen, die Bibliotheken und die Akademien jeder Art zerstören, den Moralismus und den Feminismus bekämpfen wie jede Feigheit, die auf Opportunismus und Eigennutz beruht. Erzählerin Bereits zwei Monate nach dem zuerst in Frankreich erschienenen Manifest publiziert Marinetti – diesmal tatsächlich in Italien – ein Pamphlet mit dem Titel „Tod dem Mondschein“. Der Bann jeglicher Moral scheint nun gebrochen und Europas abendländischer Geist entsorgt zu werden. Sprecher Zitat „Tod dem Mondschein“ Wir sprengen alle Traditionen in die Luft wie wurmstichige Brücken! ... Krieg? Gewiss! ... Unsere einzige Hoffnung, unsere Existenzberechtigung und unser Wille .... Ja, der Krieg! Gegen Euch, die ihr zu langsam sterbt, und gegen alle Toten, die unseren Weg versperren! ... Gewiss, unsere Nerven fordern den Krieg und verachten die Frauen! Sicherlich, denn wir fürchten ihre blumenrankigen, um die Knie am Morgen des Abschieds geschlungenen Arme! Was gehen uns die Frauen an, die häuslichen, die Invaliden, die Kranken und alle klugen Ratgeber? Erzählerin Es ist das Ideengebäude des Faschismus, das hier noch nicht die Rasse, wohl aber männliche Kraft und Überlegenheit ins Zentrum setzt. Als Italien 1915 über einen möglichen Kriegseintritt streitet, sind Marinetti und seine Anhänger die entschiedensten Befürworter einer solchen Beteiligung. O-Ton 13 Wolfgang Asholt Sie haben sich gefunden, also sowohl Marinetti wie auch Mussolini, die ja vor dem ersten WK sozusagen zwischen sozialistischen, anarchistischen und nationalistischen Positionen geschwankt haben, finden sich mit ihrer Position zum Kriegseintritt Italiens sozusagen im gleichen Lager wieder, und das Bündnis hält im Grunde solange wie der Krieg dauert und nach dem Krieg erweist sich Marinetti als dem faschistischen Mussolini eindeutig unterlegen, die Futuristen schaffen es nie eine Massenbewegung ins Leben zu rufen, was Mussolini dann gelingt. Erzählerin In und nach dem ersten Weltkrieg kommt es zu einer wahren Flut von futuristischen Manifesten. Marinetti und seine Anhänger geraten in einen regelrechten Modernisierungsstrudel, und zu den Bereichen, in denen der Bruch mit jeglicher Tradition gesucht wird, gehört auch die Kompositionskunst. Schon Wagner hatte Schmiedeambosse als Instrumente eingesetzt, doch die Forderung nach einer Emanzipation des Geräuschs, die Anerkennung seiner Schönheit, ist etwas Neues. Luigi Russolo, Maler, Komponist, bekennender Futurist: Sprecher Zitat Luigi Russolo, Manifest „Die Geräuschkunst“ Jede Äußerung unseres Lebens ist von Geräuschen begleitet. Das Geräusch ist folglich unserem Ohr vertraut und vermag uns unmittelbar in das Leben zu versetzen. Während der Ton, der nicht am Leben teilhat, der immer musikalisch eine Sache für sich und ein zufälliges, nicht notwendiges Element ist, bereits für unser Ohr das geworden ist, was für das Auge ein allzu bekanntes Gesicht ist, offenbart sich hingegen das Geräusch, das verworren und unregelmäßig aus dem unregelmäßigen Gewirr des Lebens zu uns dringt, niemals ganz und hat zahllose Überraschungen für uns bereit. O-Ton 14 Stefan Drees Luigi Russolos Manifest „Die Kunst der Geräusche“ ist ein MF das sich eigentlich direkt auf die Thesen von Marinetti stützt, es geht ja darum: Wir leben in der modernen Welt, wir leben in der Großstadt also müssen wir auch Kunst schaffen die zu dieser Großstadt passt und Luigi Russolo der überträgt das sozusagen auf die Musik. Erzählerin Stefan Drees, Musikhistoriker. O-Ton 15 Stefan Drees Er erfindet Musikinstrumente mit denen man diese Geräusche machen kann, er nennt die „Intonarumori”, also "Geräuscherzeuger" und diese Instrumente versuchen sozusagen auf physikalischem Wege die Geräusche nachzumachen die man auf der Straße hört. Also Sie haben einen "Schüttler" wie er das so schön nennt, Sie haben einen "Heuler", also er nennt die Instrumente auch nach den Klangkategorien die es auf der Straße gibt und Sie können mit diesem Orchester aus Geräuschinstrumenten die Geräuschkulisse der Stadt nachmachen, da gibt es sogar eine Partitur von ihm. Musik 6 Luigi Russolo „Risveglio di una città für Intonarumori“ Erzählerin, über Musik „Maschinenmusik“ wird die Musikgeschichte diese Art von Geräuschkompositionen nennen. Fachkundige Zeitgenossen zeigen sich wenig beeindruckt, etwa Sergej Prokofjew. Der berichtet aus Mailand ins heimatliche Moskau: Sprecher Zitat Sergej Prokofjew Die Futuristen legen ihren Instrumenten selbständige Bedeutung bei und versuchen, aus ihnen besondere Orchester zu bilden, aber für eine solche selbständige Rolle sind ihre Mittel zu primitiv, ganz abgesehen von der technischen Unvollkommenheit der Instrumente. Musik 6 Luigi Russolo, Geräuschkomposition Erzählerin Beinahe ein halbes Jahrhundert vor John Cage, der das Brummen eines Kühlschranks, die schwingenden Stachel eines Kaktus oder das Blubbern von kochendem Wasser als Musik hörbar machen wird. Verschiedene Komponisten versuchen in der Folge, Geräuschmaterial in Kompositionen sinnvoll zu integrieren. „Macchina tipografica“, ´Die Druckmaschine`, heißt ein Stück von Giacomo Balla. Musik 7, Giacomo Balla, Macchina tipografica. Erzählerin Mit diesem frühen Versuch eines systematischen Einsatzes von Geräuschen in der Musik geht die erste Stunde über Manifeste zu Ende. Was hier noch wie ein Experiment klingt, wird bald als Mittel der Gestaltung in die Arbeiten auch anderer Komponisten eingehen. Die Futuristen werden in vielen Bereichen des Lebens, bis hin zur Kochkunst, ihre Spuren hinterlassen. Gleichzeitig wird eine ganz andere Bewegung entstehen, von der wir in der zweiten Stunde berichten werden. Es geht um die Entdeckung des Un-Sinns als Kampfmittel gegen den Stumpf-Sinn, es geht um den Dadaismus. Musik ohne Nummer, A. Honegger, Pazific 231 ENDE Stunde 1 2. Stunde Musik ohne Nummer O-Ton 16 a Tristan Tzara La Chanson DADA, musique de George Auric La chanson d’un dadaiste / qui n’était ni gai ni triste / et aimait une bicycliste / qui n’était ni gaie ni triste /  mais l’époux le jour de l’an / savait tout et dans une crise /  envoya au vatican / leur deux corps en trois valises / Sprecher, Übersetzung des DADA-Chansons, Teil 1 Das DADA-Chanson, Musik von George Auric Das Lied eines Dadaisten der weder froh noch traurig war und eine Radfahrerin liebte die weder froh noch traurig war aber der Ehemann wusste am Neujahrstag alles und in einem Anfall schickte er ihre zwei Körper in drei Koffern in den Vatikan Erzählerin Während Marinettis Futuristen nach 1909 von Italien aus die Kultur, ja die Gesellschaft der Zukunft zu entwerfen versuchen, findet sich in den Jahren des Ersten Weltkrieges in Zürich eine kleine Gruppe von experimentierfreudigen Spaßvögeln, die, oberflächlich gesehen, vor allem eines im Sinn hat: Blödsinn. Einer ihrer Protagonisten, gelegentlich gar singend: der frankophile Rumäne Tristan Tzara. O-Ton 16 b Tristan Tzara, Teil 2 ni amant / ni cycliste / n’étaient plus ni gais ni tristes  /  mangez de bons cerveaux / lavez votre soldat / DADA DADA buvez de l’eau Sprecher, Übersetzung, Fortsetzung, Teil 2 weder Liebhaber noch Radfahrerin waren froh noch traurig esst gutes Hirn wascht euren Soldaten DADA, DADA trinkt Wasser. Sprecher Zitat Manifest Tristan Tzara Dada ist weder Verrücktheit, Weisheit noch Ironie, sieh mich an, netter Bourgeois. (...) Wir sind Zirkusdirektoren und pfeifen mitten in den Winden der Jahrmärkte, mitten in den Klöstern, Prostitutionen, Theatern, Realitäten, Gefühlen, Restaurants, ohi, hoho, bang, bang. O-Ton 17 Wolfgang Asholt Die Dadaisten in Zürich kennen die italienischen Futuristen und deren Erfahrungen ziemlich genau und nehmen quasi Gegenpositionen ein, das hat allerdings auch etwas damit zu tun, dass alle Dadaisten aus Ländern stammen, die am Krieg beteiligt sind und denen teils aufgrund der eigenen kurzen Kriegserfahrung teils aus anderen ideologischen Gründen den Rücken gekehrt haben und in der Schweiz eine andere Einstellung gegenüber dem Krieg aber auch gegenüber der Gesellschaft die diesen Krieg produziert hat, die großbürgerliche Gesellschaft vor dem ersten Weltkrieg, an den Tag legen. Erzählerin Der Deutsche Richard Huelsenbeck wird zu einem der Vor-Denker und Vor-Sprecher des Dadaismus, im Frühjahr 1916 gibt er eine Erklärung an sein Publikum. Sprecher Zitat Richard Huelsenbeck Edle und respektierte Bürger Zürichs, Studenten, Handwerker, Arbeiter, Vagabunden, Ziellose aller Länder, vereinigt euch. Im Namen des Cabaret Voltaire und meines Freundes Hugo Ball, dem Gründer und Leiter dieses hochgelehrten Institutes, habe ich heute Abend eine Erklärung abzugeben, die Sie erschüttern wird. Ich hoffe, dass Ihnen kein körperliches Unheil widerfahren wird, aber was wir Ihnen jetzt zu sagen haben, wird Sie wie eine Kugel treffen. Wir haben beschlossen, unsere mannigfachen Aktivitäten unter dem Namen Dada zusammenzufassen. Wir fanden Dada, wir sind Dada, und wir haben Dada. Dada wurde in einem Lexikon gefunden, es bedeutet nichts. Dies ist das bedeutende Nichts, an dem nichts etwas bedeutet. Wir wollen die Welt mit Nichts ändern, wir wollen die Dichtung und die Malerei mit Nichts ändern und wir wollen den Krieg mit Nichts zu Ende bringen. Erzählerin Es ist weit mehr als die Apologie des reinen Nichts, die Huelsenbeck hier behauptet. Es ist ein Angriff gegen eine Normalität, die die alte Welt gerade in Blutströmen versinken lässt. Es ist ein Aufstand des Skurrilen gegen den Kriegs-, Männlichkeits- und Technikwahn der Futuristen. Nochmals Tristan Tzara in seinem Manifest von 1916: Sprecher Zitat Manifest Tristan Tzara Wir erklären, daß das Auto ein Gefühl ist, das uns mit den Langsamkeiten seiner Abstraktionen genauso wie die Ozeandampfer, die Geräusche und die Ideen genügend verwöhnt hat. Dennoch veräußerlichen wir die Leichtigkeit, suchen wir nach dem zentralen Wesen und freuen wir uns, wenn wir es verstecken können. Wir wollen nicht die Fenster der wunderbaren Elite aufzählen, denn DADA ist für niemanden vorhanden und wir wollen, daß jeder es versteht. Dort ist Dadas Balkon, das versichere ich Ihnen. Von dem man die Militärmärsche hören und herabsteigen kann, indem man die Luft wie ein Seraph durchschneidet, zu einem Bad im Volk, um zu pissen und die Parabel zu verstehen. Erzählerin Wenn Tzara die Sphäre des Militärischen, ein ideologisches Zentrum im Denken des Futuristen Marinetti, vom Balkon aus betrachtet, dann zum Urinieren herabsteigt, ist dies ein deutlich ironischer Hieb gegen den militaristischen Wahn des Italieners. Es ist ein Angriff des kindlichen Unsinns gegen das Pathos des Herrenmenschen. Sprecher Zitat Manifest Tristan Tzara Die Kinder setzten die Wörter zusammen mit den Klingeln am Ende, dann weinten und schrien sie die Strophe und zogen ihr die Stiefelchen der Puppen an und die Strophe wurde eine Königin, um ein wenig zu sterben und die Strophe wurde ein Wal, die Kinder liefen sich atemlos. Dann kamen die großen Botschafter des Gefühls, die historisch im Chor ausriefen: Psychologie Psychologie hihi Erzählerin Die Gemeinschaft, die sich in der Züricher Spiegelgasse zusammen findet, ist multinational. Im Cabaret Voltaire finden regelmäßig „Vortrags-“ – heute würde man sagen: „Performance-Abende“ - statt. O-Ton 18 Wolfgang Asholt Die Gesellschaft und die herrschenden Vorstellungen der Gesellschaft werden geradezu ad absurdum geführt oder lächerlich gemacht und das ist dann eine Möglichkeit, sich deutlich von den Futuristen zu unterscheiden. Es ist vielleicht kein Zufall, (...) dass in der gleichen kleinen Straße in Zürich, in der das Cabaret Voltaire noch heute existiert, während des ersten WKs ein paar Häuser weiter Lenin gelebt hat und dass es das Gerücht gibt, dass Lenin ab und zu ins Cabaret Voltaire gegangen sei, wir wissen allerdings nicht was er von diesem Spektakel gehalten hat. Erzählerin Auch Hugo Ball gehört zu der kleinen Gruppe. Ball war als Lyriker, Dramaturg und Theaterautor aufgefallen. Wie bei vielen Intellektuellen hatte sich auch bei ihm die anfänglich positive Haltung zum Krieg mittlerweile ins Gegenteil verkehrt. Gestrandet in Zürich, formuliert er das erste dadaistische Manifest. Sprecher Zitat Hugo Ball Dada ist eine neue Kunstrichtung. Das kann man daran erkennen, dass bisher niemand etwas davon wusste und morgen ganz Zürich davon reden wird. Dada stammt aus dem Lexikon. Es ist furchtbar einfach. Im Französischen bedeutet es Steckenpferd. Im Deutschen: Addio, steigt mir bitte den Rücken runter, auf Wiedersehen ein ander Mal! Im Rumänischen: 'Ja wahrhaftig, Sie haben Recht, so ist es. Jawohl, wirklich. Machen wir'. Und so weiter. (..) Dada ist die Weltseele, Dada ist der Clou, Dada ist die beste Lilienmilchseife der Welt. (...) Dada Johann Fuchsgang Goethe. Dada Stendhal. Dada Buddha, Dalai Lama, Dada m'dada, Dada m'dada, Dada mhm' dada. Musik 8 aus Dada-Performance mit Lautgedicht von Hugo Ball O-Ton 19 Drees Hugo Ball versucht der Sprache ihren Sinn zu nehmen weil Sprache ja in dieser Zeit nur noch missbraucht wird, und er schreibt Gedichte, die nur noch aus Lauten bestehen. Aber das ist nicht das einzige, in seinen Tagebuchaufzeichnungen vom Juni 1916 berichtet er, wie er diese Lautgedichte vorgetragen hat und dann sieht man, dass es eben auch auf die Performance ankommt. Er hatte sich ein Kostüm geschneidert, hat sich dann auf die Bühne tragen lassen, ist mit einem Hut und mit einem aus Pappkarton hergestellten Mantel dann auf der Bühne gestanden und hat diese Gedichte vorgetragen mit einer entsprechenden Beleuchtung, also man kann sich das durchaus als eine Art Theater vorstellen, deshalb finde ich das wichtig diese Sache auch als Musik zu begreifen. Sprecher Zitat Hugo Ball Warum kann der Baum nicht Pluplusch heissen, und Pluplubasch, wenn es geregnet hat? Und warum muss er ueberhaupt etwas heissen? Müssen wir denn überall unseren Mund dran hängen? Das Wort, das Wort, das Weh gerade an diesem Ort, das Wort, meine Herren, ist eine öffentliche Angelegenheit ersten Ranges. Erzählerin Nach Kriegsende zerstreut sich die kleine Gruppe rasch. Hugo Ball zieht sich vom Dadaismus zurück, Tristan Tzara geht nach Paris, Hans Arp nach Köln, Richard Hülsenbeck nach Berlin. Bald treten weitere Künstler dem lockeren, internationalen Kreis bei, unter ihnen der in Hannover ansässige, multitalentierte Kurt Schwitters. Musik 9 Kurt Schwitters Ursonate, Aufnahme von 1925/32 O-Ton 20 Stefan Drees Die Ursonate von Kurt Schwitters ist eigentlich eine Konsequenz aus diesen ganzen Entwicklung, die ja übrigens auch bei Marinetti angefangen haben, nicht nur beim Dadaismus, sondern der Dadaismus gründet sich ja auch schon wieder auf diese parole in liberta von Marinetti, also diese Lautgedichte, die mehr Bilder sind als Gedichte, und diese Tendenz geht über den Dadaismus bis zu Kurt Schwitters, der versucht nun etwas ähnliches wie Hugo Ball zu machen, nämlich die Sprache nur als Klang zu benutzen, aber er versucht auch gleichzeitig eine musikalische Form dafür zu machen und zwar eine Sonatenform eine sehr frei verstandene Sonatenform. Erzählerin Auch Schwitters äußert sich in einem Manifest. Es ist „an alle Bühnen der Welt“ adressiert. Sprecher Zitat Kurt Schwitters, An alle Bühnen der Welt Ich fordere die Merzbühne. Ich fordere die restlose Zusammenfassung aller künstlerischen Kräfte zur Erlangung des Gesamtkunstwerkes. Ich fordere die prinzipielle Gleichberechtigung aller Materialien, Gleichberechtigung zwischen Vollmenschen, Idiot, pfeifendem Drahtnetz und Gedankenpumpe. Ich fordere die restlose Erfassung aller Materialien vom Doppelschienenschweißer bis zur Dreiviertelgeige. (...) Ich fordere den Bismarckhering. Erzählerin Auch das Manifest von Kurt Schwitters lebt von der Freiheit zum scheinbar Sinnlosen, und doch folgt er, ganz gegen den funktionalistischen Zeitgeist, dem wagnerschen Traum vom Gesamtkunstwerk. Der auch als ´Merz-Manifest` bekannt gewordene Text fordert die Emanzipation des Materials, visuell, taktil, akustisch. Sprecher Zitat Kurt Schwitters, An alle Bühnen der Welt Man nehme Zahnarztbohrmaschine, Fleischhackmaschine, Ritzenkratzer von der Straßenbahn, Omnibusse und Automobile, Fahrräder, Tandems und deren Bereifung, auch Kriegsersatzreifen und deformiere sie. Man nehme Lichte und deformiere sie in brutalster Weise. Lokomotiven lasse man gegeneinander fahren, Gardinen und Portieren lasse man Spinnwebfaden mit Fensterrahmen tanzen und zerbreche winselndes Glas. Dampfkessel bringe man zur Explosion zur Erzeugung von Eisenbahnqualm. Man nehme Unterröcke und andere ähnliche Sachen, Schuhe und falsche Haare, auch Schlittschuhe und werfe sie an die richtige Stelle, wohin sie gehören, und zwar immer zur richtigen Zeit. (...) Nun beginne man die Materialien miteinander zu vermählen. Man verheirate z.B. die Wachstuchdecke mit der Heimstättenaktiengesellschaft, den Lampenputzer bringe man in ein Verhältnis zu der Ehe zwischen Anna Blume und dem Kammerton a. (...) Und nun beginnt die Glut musikalischer Durchtränkung. Orgeln hinter der Bühne singen und sagen: »Fütt Fütt«. Die Nähmaschine rattert voran. Ein Mensch in der einen Kulisse sagt: »Bah«. Ein anderer tritt plötzlich auf und sagt: „Ich bin dumm“. (...) Dem Mann (...) läuft ein Strahl eiskaltes Wasser über den Rücken in einen Topf. Er singt dazu cis d, dis es, das ganze Arbeiterlied. Erzählerin Während Schwitters mit der „Merzbewegung“ eine erste Aufspaltung des Dadaismus im deutschen Sprachraum initiiert, tut sich in Paris ähnliches. O-Ton 21 Wolfgang Asholt Der Dadaismus wird dann zu einem Unternehmen des Protestes und der Provokation. Diese Provokationen drohen allerdings nach einiger Zeit zu Automatismen zu werden und sich zu erschöpfen und dem setzt der Surrealismus unter Rückgriff auf die Entdeckungen von Freud eine ganz andere Kunst entgegen, nämlich eine Kunst die weitgehend mit dem Unbewussten operieren will und das große Manifest von Breton, das MF des Surrealismus, zeigt oder hofft mit der Entdeckung des Unbewussten nicht nur für die Kunst eine neue Welt zu erschließen, sondern es der Kunst zu ermöglichen ins Leben zurück zu kehren und das Alltagsleben zu verändern. Sprecher Zitat André Breton, Manifest des Surrealismus von 1924 Sehr unredlich wäre es, wollte man uns das Recht streitig machen, das Wort SURREALISMUS in dem besonderen Sinne, wie wir ihn verstehen, zu gebrauchen; denn es ist offenkundig, dass vor uns dieses Wort nicht angekommen ist. Ich definiere es also ein für allemal: SURREALISMUS, Substantiv, männlich – Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung. (...) Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser, bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihre Stelle setzen. Erzählerin Das Manifest André Bretons ist mehr als eine avantgardistische Kampfansage an eine vertrocknete, „realistische“ Kunst. Poetische Bilder, literarische Einfälle, irreale Sequenzen im Film sind für Breton das Resultat von unbewussten Vorgängen und nicht erster Linie Erzeugnisse bewusst gesteuerter Prozesse. Eine radikale Definition Bretons, die sogar unter Surrealisten Widerspruch erregt. Der deutsch-französische Dichter Yvan Goll hält in einem eigenen Manifest 1924 dagegen: Sprecher Zitat Yvan Goll, Manifest des Surrealismus Die Fälschung des Surrealismus, die einige Ex-Dadas erfunden haben, um den Bürger zu bluffen, wird wieder von der Bildfläche verschwinden. Sie verkündet die „Allmacht des Traumes“ und stempelt Freud zur neuen Muse. Als ob sich die Lehre Freuds in die Poesie übertragen ließe! Heißt das nicht Psychiatrie und Kunst verwechseln? Erzählerin Während der Surrealismus vor allem in Frankreich und Spanien kräftige Blüten treibt, in Dichtung, Malerei, Theater und auch beim Film herausragende Werke der Avantgarde entstehen, ist die futuristische Bewegung längst in der politischen, damit unpoetischen Wirklichkeit angekommen. Mussolini und Marinetti werden ein Paar. Bei aller Ungleichheit der Charaktere sind sie doch beide Meister der Selbstinszenierung. Musik 10 Luigi Russolo, Canzone rumorista Erzählerin, über Musik Die Laut- und Geräuschmalerei futuristischer Texte und Musikstücke, hier ein Stück von Luigi Russolo, klingt zwar manchmal ähnlich wie bei den Dadaisten oder Surrealisten. Doch die Funktion der Worte ist verschieden. Das sinnentleerte Wort dient nicht der radikalen Kritik an einer gewalttätigen kriegerischen Rhetorik, nicht der Beschwörung unbewusster psychischer Vorgänge, sondern der Imitation einer beinahe mythisch bewunderten Technik. Dennoch: Bei vollkommen verschiedenen Intentionen ist die Ähnlichkeit der verwendeten Mittel überraschend. Musik 10 Luigi Russolo, 12 Canzone rumorista Sprecher Zitat Marinetti, aus F.T. Marinetti, Die futuristische Küche Von den sprichwörtlichen Ausnahmen abgesehen haben sich die Menschen bisher wie Ameisen, Mäuse, Katzen und Ochsen ernährt. Durch uns Futuristen entsteht die erste menschliche Küche, das heißt die Kunst, sich zu ernähren. Wie alle Künste schließt sie das Plagiat aus und verlangt schöpferische Qualität. Erzählerin „Die futuristische Küche“ – ein Angriff gegen die Tradition der italienischen Küche, der manchem Pasta-gewohnten Gaumen sehr gegen den Strich geht. Und doch ist das Küchenmanifest, 1930 veröffentlicht und damit zu einer Zeit, als der Faschismus Mussolinis bereits fest im Sattel sitzt, auch ein Zeichen für die mittlerweile erfolgte Marginalisierung der Bewegung. O-Ton 22 Wolfgang Asholt Beim Futurismus unterscheidet man den ersten und den zweiten Futurismus, der erste Futurismus geht in etwa bis zum ersten Weltkrieg und der zweite Futurismus ist dann der Futurismus unter dem Faschismus, der erste Futurismus schafft es durchaus in der Öffentlichkeit Aufsehen zu erregen, schafft es sein Publikum zu provozieren, schafft es Unruhen hervorzurufen, der zweite Futurismus wird dann schon mehr institutionalisiert, d.h. also es gibt so etwas wie ein Programm sämtliche Bereiche des Lebens abzudecken, ob die dann Wirkungen für das konkrete Alltagsleben der Italiener unter dem italienischen Faschismus gehabt haben, daran kann man große Zweifel aufbringen. 28'59 Erzählerin Mit dem Kampf auf Nebenschauplätzen ist der Futurismus zumindest in seinen Auswüchsen zu einer absonderlichen Kulturarabeske geworden. Sprecher Zitat Marinetti, Küchenmanifest Vor allem halten wir für notwendig: a) Die Abschaffung der Pasta asciutta, dieser absurden Religion der italienischen Gastronomie. (...) Den Italienern nützt die Pasta asciutta nicht. Sie steht zum Beispiel im Gegensatz zum lebendigen Geist und zur leidenschaftlichen, großzügigen und einfühlsamen Seele der Neapolitaner. (...) Indem sie Pasta essen, entwickeln sie den typischen und sentimentalen Skeptizismus, der oft ihren Enthusiasmus beschneidet. b) Die Abschaffung von Volumen und Gewicht als Kriterium für die Auffassung und Bewertung der Nahrung. c) Die Abschaffung der traditionellen Zusammenstellungen durch das Ausprobieren aller möglichen neuen, scheinbar absurden Zusammenstellungen. d) Die Abschaffung der mediokren Alltäglichkeit bei den Gaumenfreuden. Erzählerin Auch bei der Frage einer zukünftigen Ernährung klingt im futuristischen Küchenmanifest einiges an, was in manchem Detail sehr nahe an unsere heutige Lebensrealität heranreicht. Sprecher Zitat Marinetti, Forts. Nehmen wir die Chemie in die Pflicht: sie soll dem Körper schnell die notwendigen Kalorien durch Nahrungsäquivalente zuführen, unentgeltlich vom Staat verteilt, in Pulver- oder Pillenform, die eiweißartige Stoffe, synthetische Fette und Vitamine enthalten. So wird man eine tatsächliche Senkung der Lebenshaltungskosten und der Gehälter bei entsprechender Minderung der Arbeitszeit erreichen. Erzählerin Wie bei Adolf Loos’ Manifest zur Ablehnung des Ornaments werden auch bei den Futuristen die Fragen der Ästhetik, des Geschmacks und der Sinnlichkeit des Lebens mit der sozialen Frage auf diffuse Weise verknüpft. Sprecher Zitat Marinetti Wenn die Arbeitszeit auf zwei oder drei Stunden reduziert wird, kann man die übrige Zeit bereichern und adeln in Gedanken an die Künste und durch den Vorgeschmack vollkommener Mahlzeiten. In allen Schichten werden die Mahlzeiten weniger werden, aber vollkommener durch die täglichen Nahrungsäquivalente. Erzählerin Marinetti ist nach zwanzig Jahren publizistischen Einsatzes für den Futurismus erfahren im Umgang mit der Öffentlichkeit. Es gelingt ihm mit seinen Kochrezepten, die sich zwischen snobistisch-luxuriöser Exzentrik, kalorienreduzierter Diätküche und dadaistischem Happening bewegen, die Aufmerksamkeit Italiens, ja Europas zu erringen. Sprecher Zitat Marinetti Luftbildhaueressen im Pilotensitz. In der großen Pilotenkanzel eines dreimotorigen Flugzeugs (...) werden die Gäste einen Teig aus Kartoffelstärke, kleinen Zwiebeln, Ei, Krebsfleisch, Seezungenstücken, Tomate und Langustenfleisch, Torte und geriebenem Zwieback, Vanille- und Puderzucker, kandierten Früchten und Schweizer Käse zubereiten, der reichlich mit Vino Santo aus der Toskana begossen wird. Sie füllen damit elf Backformen, jede in einer typischen Form als Gebirge, Schlucht, Vorgebirge oder große Insel. Dann werden sie alle elektrisch gebacken. Nachdem die 11 Pasteten aus den Formen herausgenommen worden sind, werden sie auf einem großen Tablett im Mittelpunkt der Pilotenkabine serviert, während die Tischgenossen einander Haufen von sahnig geschlagenem Eiweiß zuwerfen und es verschlingen, wie es der Wind draußen mit den weißen Zirrus- und Kumuluswolken macht. Erzählerin Elf Pasteten in elf Backformen – die Zahl ´11` ist für Marinetti von Beginn an von hohem symbolischem Wert, es ist eine Art mythische Primzahl. Die meisten Manifeste sind am elften eines Monats veröffentlicht, und selbst die Geburtsstunde der Bewegung – eigentlich die Veröffentlichung des futuristischen Manifestes im Pariser ´Figaro` am 20. Februar 1909 – hatte Marinetti auf den 11. Oktober 1908 vorzudatieren versucht. Musik 11, aus „Les Mariés de la Tour Eiffel“ die „Ouverture“ von Georges Auric Erzählerin, kann über Musik In der Musik tut sich, genau wie in der Kunst, in diesem ersten Viertel des Jahrhunderts eine Menge. Nicht alle Richtungen, die neu entstehen, treten dabei programmatisch auf. Doch wenn es gelingt, zumindest den Eindruck einer entstehenden Bewegung zu erwecken, ist meist schon viel gewonnen. Dazu dient ein Manifest oder wenigstens ein kühner Text, den man als Manifest verkaufen könnte. Punkt Eins der Strategie: der frontale Angriff gegen das Etablierte. Sprecher Zitat Jean Cocteau, Hahn und Harlekin Die russische Musik ist bewundernswert, eben weil sie russische Musik ist. Die franko-russische oder franko-deutsche Musik ist recht mittelmäßig, auch wenn sie sich an Mussorgski oder Strawinsky, an Wagner oder Schönberg inspiriert. Ich verlange eine französische Musik Frankreichs. Erzählerin Das schriftstellerische Multitalent Jean Cocteau ist ein idealer Verkäufer solcher Botschaften. Cocteau bewegt sich zwischen allen Künsten, er hat Kontakt zu Theatern, Musikern, er schreibt für die in Paris als Sensation empfundenen „ballet russes“ des mit seinen Tänzern aus Russland emigrierten Impresarios Sergei Djagilew. Selbst Pressearbeit ist Cocteau nicht fremd. Um ihn herum bildet sich nach dem Ersten Weltkrieg ein Kreis, im Namen Bezug nehmend auf das russische „mächtige Häuflein“, die „Gruppe der Fünf“. Es sind sechs Musiker, darunter eine Frau, und sie werden bekannt als ´Groupe des six`. Musik 12, aus „Les Mariés de la Tour Eiffel“ Erzählerin In seiner Schrift „Le coq et l’arlequin“, „Der Hahn und der Harlekin“, versammelt Cocteau Aphorismen, die als Programm, als „Manifest“ der „Six“ verstanden werden. Sprecher Zitat Jean Cocteau Der Impressionist fürchtet die nackte Fläche, die Leere, die Stille. Die Stille braucht nicht unbedingt eine Lücke zu sein; es gilt, die Stille anzuwenden und keinen Lückenbüßer aus Gemurmel. Die Musik ist nicht immer Gondel, Streitross, gespanntes Seil. Zuweilen ist sie auch ein Stuhl. Schluss mit den Wolken, den Wellen, den Aquarien, den Undinen und nächtlichen Düften; wir brauchen eine Musik, die fest auf Erden steht, eine Alltagsmusik. Schluss mit den Hängematten, den Girlanden, den Gondeln; ich will, dass man eine Musik für mich erbaut, in der ich wie in einem Hause wohnen kann. Erzählerin Die „Sechs“ arbeiten weitgehend allein, jeder für sich, doch wenigstens zwei kleine Zyklen entstehen in gemeinschaftlicher Arbeit. Zu einem Ballett von Cocteau steuern die „Sechs“ einzelne Stücke bei, hier die „Fugue du Massacre“ von Darius Milhaud. Musik 13, aus „Les Mariés de la Tour Eiffel“, „Fugue du Massacre“ von Darius Milhaud. Sprecher Cocteau Der Impressionismus hat am Ende eines langen Festes sein hübsches Feuerwerk abgebrannt. Wir müssen jetzt die Raketen für ein anderes Fest herstellen. Erzählerin Mit dem „Coq“, dem „Hahn“ aus dem Titel von Cocteaus programmatischer Schrift ist das Symboltier der Franzosen gemeint, und zu ihm bekennt sich Cocteau ausdrücklich. Auch bei Cocteau und seinen Musikern klingt zumindest ein wenig Sympathie für die rauhe, unsentimentale Gedankenwelt der Futuristen an. Einige Jahre später wird ein prominentes Mitglied der „Six“, der Schweizer Arthur Honegger, eine Komposition vorlegen, die eigentlich der Prototyp jeder futuristischen Musik sein könnte. Das symphonische Stück heißt „Pacific 231“ und beschreibt die Fahrt der in den zwanziger Jahren weltweit leistungsstärksten Dampflokomotive. Musik 14 Honegger, aus Pacific 231 Sprecher Cocteau, über Musik Bald darf man ein Orchester ohne das Streicheln der Saiten erhoffen. Einen klangvollen Musikverein aus Holz, Blech und Schlagzeug. Erzählerin Das Jahr 1918 markiert nicht nur gewaltige politische Umbrüche in ganz Europa, auch ästhetisch wird überall versucht, neue Wege zu gehen. In Holland ist es die Gruppe „De Stijl“, die unter Führung des Malers und Architekten Theo van Doesburg eine organische Verbindung von Architektur, Plastik und Malerei anstrebt. „De Stijl“ ist zunächst der Name einer Zeitschrift. Auch bei dem dort 1918 veröffentlichten Manifest spürt man deutlich, wie die gerade überstandenen Katastrophen des Krieges das Denken prägen. Sprecher Zitat, „De Stijl“ Manifest 1 1. Es gibt ein altes und ein neues Zeitbewusstsein. Das alte richtet sich auf das Individuelle. Das neue richtet sich auf das Universelle. Der Streit des Individuellen gegen das Universelle zeigt sich sowohl im Weltkriege wie in der heutigen Kunst. 2. Der Krieg zerstört die alte Welt mit ihrem Inhalt: die individuelle Vorherrschaft auf jedem Gebiet. 3. Die neue Kunst hat das, was das neue Zeitbewusstsein enthält, ans Licht gebracht: gleichmäßiges Verhältnis des universellen und des individuellen. 4. Das neue Zeitbewusstsein ist bereit, sich in allem, auch im äußerlichen Leben, zu realisieren. 5. Tradition, Dogmen und die Vorherrschaft des individuellen stehen dieser Realisierung im Wege. 6. Deshalb rufen die Begründer der neuen Bildung alle, die an die Reform der Kunst und der Kultur glauben, auf, diese Hindernisse der Entwicklung zu vernichten (...). 7. Die Künstler der Gegenwart in der ganzen Welt haben, getrieben durch ein und dasselbe Bewusstsein, auf geistigem Gebiet teilgenommen am Weltkrieg gegen die Vorherrschaft des Individualismus, der Willkür. Sie sympathisieren deshalb mit allen, die geistig oder materiell streiten für die Bildung einer internationalen Einheit in Leben, Kunst, Kultur. Erzählerin Die Avantgarden der zwanziger Jahre zunehmend ein internationales Bewusstsein. Es verwundert nicht, dass sich van Doesburg 1920 und 21 in Weimar aufhält und, obwohl nicht offiziell dort als Lehrer angestellt, erheblichen Einfluss ausüben kann. Unter der Leitung des Architekten Walter Gropius war dort eine revolutionär neue Kunstschule gegründet worden, das Weimarer Bauhaus. Von Gropius stammt das erste Bauhaus-Manifest. Sprecher Zitat Bauhaus Manifest von Walter Gropius Das Endziel aller bildnerischen Tätigkeit ist der Bau! Ihn zu schmücken war einst die vornehmste Aufgabe der bildenden Künste, sie waren unablösliche Bestandteile der großen Baukunst. Heute stehen sie in selbstgenügsamer Eigenheit, aus der sie erst wieder erlöst werden können durch bewusstes Mit- und Ineinanderwirken aller Werkleute untereinander. Architekten, Maler und Bildhauer müssen die vielgliedrige Gestalt des Baues in seiner Gesamtheit und in seinen Teilen wieder kennen und begreifen lernen, dann werden sich von selbst ihre Werke wieder mit architektonischem Geiste füllen, den sie in der Salonkunst verloren. Erzählerin Obwohl Walter Gropius dezidiert Architekten anspricht, wurde in Weimar im Jahr 1919, so Jörg Gleiter, Professor für Architekturtheorie, die konkrete Ausbildung noch gar nicht angeboten. Das Weimarer Bauhaus hatte zunächst eine ganz andere Arbeit zu leisten. O-Ton 23 Jörg Gleiter Nach dem ersten Semester gibt es eine Ansprache von Gropius an seine Studenten, es waren nur Studenten damals tatsächlich, wo er sinngemäß sagt: Meine Herren, ich weiß was Sie alles durchgemacht haben, der Krieg, das Trauma, wir müssen jetzt erst mal runterkommen und alles neu begründen von unten heraus, also aus dem Handwerk heraus, also das erste, das frühe Bauhaus eigentlich als eine Therapieanstalt. Sprecher Zitat Walter Gropius, Bauhaus Manifest Wenn der junge Mensch, der Liebe zur bildnerischen Tätigkeit in sich verspürt, wieder wie einst seine Bahn damit beginnt, ein Handwerk zu erlernen, so bleibt der unproduktive „Künstler“ künftig nicht mehr zu unvollkommener Kunstübung verdammt, denn seine Fertigkeit bleibt nun dem Handwerk erhalten, wo er Vortreffliches zu leisten vermag. Architekten, Bildhauer, Maler, wir alle müssen zum Handwerk zurück! Denn es gibt keine „Kunst von Beruf“. Es gibt keinen Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem Handwerker. Der Künstler ist eine Steigerung des Handwerkers. (...) Die Grundlage des Werkmäßigen aber ist unerlässlich für jeden Künstler. Dort ist der Urquell des schöpferischen Gestaltens. Erzählerin In Gropius’ Manifest für das Bauhaus ist der Wille spürbar, soziale, aber auch berufsständische Grenzen zu überwinden. Sprecher Zitat Walter Gropius, Bauhaus Manifest Bilden wir also eine neue Zunft der Handwerker ohne die klassentrennende Anmaßung, die eine hochmütige Mauer zwischen Handwerkern und Künstlern errichten wollte! Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens. Erzählerin Erst nach dem durch eine feindselige Regierung verursachten Umzug nach Dessau wird das Bauhaus auch Architektur in sein Lehrangebot aufnehmen. Doch die Idee, Kunst und Handwerk wieder miteinander zu versöhnen, den Handwerker im Künstler zu fordern, den Künstler im Handwerker zu ermutigen, entspricht dem Geist der Zeit. Die Aufhebung von Grenzen, von sozialen, nationalen wie von solchen zwischen den gesellschaftlichen Klassen, wird überall diskutiert. Sprecher Zitat Marinetti Man muss die Syntax zerstören, man muss das Verb im Infinitiv gebrauchen, man muss das Adjektiv und die Zeichensetzung abschaffen. Erzählerin ... mit solchen rigorosen Forderungen, hier die Sprache betreffend, war der omnipräsente Marinetti schon im vorrevolutionären Russland auf offene Ohren gestoßen. Die Programme der italienischen Futuristen waren auch dort begeistert aufgenommen worden, vor allem ein persönlicher Besuch des Superstars im Januar 1914 mit einer „Semaine Marinetti“, mit einer „Marinetti-Woche“ und anschließendem Symposion hatte für ein Anwachsen der russischen Gemeinde der Futuristen gesorgt. Einer ihrer Wortführer ist Welimir Chlebnikow, er schrieb schon 1912, also vor der Russland-Reise Marinettis, das erste russische futuristische Manifest. Sprecher Zitat russisches futuristisches Manifest von 1912 Wir sind das Gesicht unserer Zeit. Das Horn der Zeit dröhnt durch uns in der Wortkunst. Das Vergangene ist eng. Die Akademie und Puskin sind unverständlicher als Hieroglyphen. Puschkin, Dostojewski, Tolstoi usw. usw. sind vom Dampfer der Gegenwart zu werfen. Wir befehlen, die Rechte der Dichter zu achten: 1. Auf die Vergrößerung des Wortschatzes in seinem Volumen durch willkürliche und abgeleitete Wörter. 2. Auf den unüberwindlichen Hass gegen die Sprache, die bis zu ihnen existiert hat. 3. Mit Entsetzen euch den Kranz des Groschenruhms, geflochten aus Sauna-Birkenruten, vom stolzen Haupte zu reissen. 4. Auf der Scholle des Wortes WIR inmitten eines Meers von Pfiffen und Entrüstung zu stehen. Erzählerin Den gewaltigsten Aufschwung erlebt das Manifest als literarische und publizistische Form nach den revolutionären Ereignissen des Jahres 1917. Es entsteht eine Unzahl von Manifesten. Majakowski, führender Dichter des revolutionären Umbruchs, scheint sich in der Hinwendung zum Volk von seinem ehedem elitär-futuristischen Gedankengut entfernt zu haben – auch wenn er sich verbal noch zum Futurismus bekennt. Sprecher Zitat Dekret Nr. 1 über die Demokratisierung der Künste Genossen und Bürger, wir, die Führer des russischen Futurismus, der revolutionären Kunst der Jugend, erklären: 1. Von heute an wird – zugleich mit der Vernichtung des zaristischen Systems – das Dasein der Kunst in den Abstellkammern und Schuppen der menschlichen Schöpferkraft – den Palästen, Galerien, Salons, Bibliotheken und Theatern – beendet. 2. Im Namen des großen Voranschreitens der Gleichheit aller vor der Kultur soll das freie Wort der schöpferischen Persönlichkeit an allen Ecken und Enden auf die Häuserwände, Zäune, Dächer und Straßen unserer Städte und Dörfer, auf die Rückseiten der Automobile, Equipagen und Straßenbahnen und auf die Kleidung aller Bürger geschrieben werden. 3. Wie Regenbögen aus Edelsteinen sollen sich die Bilder (Farben) in den Straßen und auf den Plätzen von Haus zu Haus spannen und das Auge (den Schönheitssinn) des Vorübergehenden erfreuen und veredeln. (...) Und wenn es nach unserem Wort geschehen wird, wird jeder, wenn er hinausgeht auf die Straße, erhoben und geistig bereichert werden durch die Betrachtung von Schönheit anstelle der jetzigen Straßen (...). Die Straßen sollen ein Fest für die Kunst für alle sein. „Die ganze Kunst dem Volk!“ Erzählerin Gedanken, die kilometerweit von den Intentionen Marinettis entfernt sein dürften. Tatsächlich werden der Sozialismus der Sowjetunion, den Majakowski vertritt, und der Faschismus Italiens, dem Marinetti anhängt, am Ende gar Krieg gegeneinander führen. In den jungen Jahren der Sowjetunion ist die Lage noch offen für Zukunftskonzepte verschiedenster Art. Der Filmemacher Dziga Vertov vertritt in der Schrift „Wir. Variante eines Manifests“ eine neue Ästhetik des Films. Sprecher Zitat Manifest von Vertov Wir nennen uns »Kinoki« im Unterschied zu den »Kinematographisten« - der Herde von Trödlern, die nicht übel mit ihren Lappen handelt. Wir sehen keine Bindung zwischen der Gerissenheit und Berechnung des Handels und der echten Filmsache. In unseren Augen ist das von der Sicht und den Erinnerungen der Kindheit belastete psychologische russo-deutsche Kinodrama Humbug. (...) Wir erklären die alten Kinofilme, die romantizistischen, theatralisierten u. a. für aussätzig. - Nicht nahekommen! - Nicht anschauen! - Lebensgefährlich! - Ansteckend! Erzählerin Auch diesmal beginnt die Manifestation des Neuen mit einem Frontalangriff gegen das Gewohnte. Sprecher Zitat Manifest von Vertov, Forts. Wir bekräftigen die Zukunft der Filmkunst durch die Ablehnung ihrer Gegenwart. Der Tod des »Kinematographen« ist notwendig für das Leben der Filmkunst. Wir rufen dazu auf, seinen Tod zu beschleunigen. (...) Wir säubern die Filmsache von allem was sich einschleicht, von der Musik, der Literatur und dem Theater; wir suchen ihren nirgendwo gestohlenen Rhythmus und finden ihn in den Bewegungen der Dinge. Wir fordern auf: Weg – von den süßdurchfeuchteten Romanzen, vom Gift des psychologischen Romans, aus den Fängen des Liebhabertheaters! Weg ins reine Feld ... Erzählerin Der Wunsch nach Vernichtung des Alten wie die Begeisterung für moderne Technik weist auf die geistige Herkunft mancher sozialistischer Reformer hin. Es ist der Futurismus, der immer wieder in schillernden Farben aufscheint. Sprecher Zitat Manifest von Vertov, Forts. Wir sehen keinen Grund, in der Kunst der Bewegung dem heutigen Menschen das Hauptaugenmerk zu widmen. Die Unfähigkeit des Menschen, sich zu beherrschen, ist vor den Maschinen beschämend; aber was tun, wenn uns die fehlerlosen Funktionsweisen der Elektrizität mehr erregen als die regellose Hetze aktiver und die zersetzende Schlaffheit passiver Leute. Uns ist die Freude tanzender Sägen einer Sägemaschine verständlicher und vertrauter als die Freude menschlicher Tanzvergnügen. (...) Die Seele der Maschine enthüllen, den Arbeiter in die Werkbank verlieben, den Bauern in den Traktor, den Maschinisten in die Lokomotive! Wir tragen die schöpferische Freude in jede mechanische Arbeit. Wir verbinden den Menschen mit der Maschine. Wir erziehen neue Menschen. Erzählerin Vertov plädiert für ein Kino jenseits von Psychologie und Realismus. Nach seiner Vorstellung entsteht der dokumentarische Film vor allem im Schnitt und in der Montage. Erst hier werde der Rhythmus geschaffen, der den Dingen ihre Wirklichkeit verleiht. Sprecher Zitat Manifest von Vertov, Forts. Der geometrische Extrakt der Bewegung, gepackt vom Wechsel der Darstellungen, ist die Forderung an die Montage. (...) Es lebe die dynamische Geometrie, es leben die Abläufe der Punkte, Linien, Flächen, Volumina! (...) Es lebe die Poesie der bewegenden und sich bewegenden Maschinen, die Poesie der Hebel, Räder und stählernen Flügel, der eiserne Schrei der Bewegung, die verblendeten Grimassen glühender Strahlen. Erzählerin Nach der Erfindung des Tonfilms wird Vertov den Klang des Realen in seinen Filmen hörbar machen. Ob die Konzentration einer Radiohörerin, das Elend des Alkoholismus, die Gesänge der Kirche, das Marschieren der Revolutionäre oder die Schmiedehämmer der Industrie, Symbol einer modernen Zukunft – all dies verschmilzt hier zu einer vielschichtigen Symphonie der Revolution. Musik 15 Filmton aus Donbas-Symphonie von 1930 Erzählerin Absage 2. Stunde Mit diesen Tönen aus Dziga Vertovs Film „Donbas-Symphonie“ von 1931 beschließen wir die zweite Stunde der Langen Nacht über „Manifeste“. Im dritten Teil schauen wir auf die Entwicklung des Manifest-Gedankens nach Ende des zweiten Weltkriegs – und darauf, was Manifeste in der jüngeren Vergangenheit noch bewirken können. Musik ohne Nummer ENDE Stunde 2 3. Stunde Musik ohne Nummer Sprecher Manifest für den Äthiopien-Krieg von Marinetti Seit siebenundzwanzig Jahren erheben wir Futuristen uns dagegen, daß der Krieg als antiästhetisch bezeichnet wird … Demgemäß stellen wir fest: (…) Der Krieg ist schön, weil er dank der Gasmasken, der schreckenerregenden Megaphone, der Flammenwerfer und der kleinen Tanks die Herrschaft des Menschen über die unterjochte Maschine begründet. Der Krieg ist schön, weil er die erträumte Metallisierung des menschlichen Körpers inauguriert. (...) Der Krieg ist schön, weil er das Gewehrfeuer, die Kanonaden, die Feuerpausen, die Parfums und Verwesungsgerüche zu einer Symphonie vereinigt. Der Krieg ist schön, weil er neue Architekturen, wie die der großen Tanks, der geometrischen Fliegergeschwader, der Rauchspiralen aus brennenden Dörfern und vieles andere schafft (…) Dichter und Künstler des Futurismus, (…) erinnert Euch dieser Grundsätze einer Ästhetik des Krieges, damit Euer Ringen um eine neue Poesie und eine neue Plastik (…) von ihnen erleuchtet werde! O-Ton 24 Wolfgang Asholt Marinetti hat schon am Krieg in Libyen teilgenommen, also 1912, und hat schon da das hohe Lied der Ästhetik des Krieges, des modernen Krieges gesungen und Marinetti war eindeutig von der Überlegenheit der europäischen in diesem Falle der italienischen Eroberer überzeugt und alles was in Libyen oder später in Abessinien geschah war aus dem Anspruch der überlegenen Zivilisation abgeleitet. Erzählerin Sein flammendes Bekenntnis zur Schönheit des Krieges, veröffentlicht aus Anlass des italienischen Äthiopienfeldzugs 1935, ist eines der letzten Manifeste aus der Feder Filippo Tommaso Marinettis. Mehr als 25 Jahre ist er als Produzent von unzähligen Manifesten aktiv. Walter Benjamin, als Jude aus Deutschland geflohen, lebt derweil in Paris und arbeitet an einem Aufsatz, der zur Grundlage für die moderne Medien- und Kommunikationstheorie werden wird: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. Im letzten, tief pessimistischen Absatz bezieht er sich ausdrücklich auf Marinettis Schrift. Sprecher Zitat Walter Benjamin Alle Bemühungen um die Ästhetisierung der Politik gipfeln in einem Punkt. Dieser eine Punkt ist der Krieg. Der Krieg, und nur der Krieg, macht es möglich, Massenbewegungen größten Maßstabs unter Wahrung der überkommenen Eigentumsverhältnisse ein Ziel zu geben. Erzählerin Auch Walter Benjamin will seinen Essay als Manifest verstanden wissen. Sprecher Zitat Walter Benjamin, Forts. Anstatt Flüsse zu kanalisieren, lenkt die Gesellschaft den Menschenstrom in das Bett ihrer Schützengräben, anstatt Saaten aus ihren Aeroplanen zu streuen, streut sie Brandbomben über die Städte hin (...). Der Faschismus (...) erwartet die künstlerische Befriedigung der von der Technik veränderten Sinneswahrnehmung, wie Marinetti bekennt, vom Kriege. (...) Die Menschheit, die einst bei Homer ein Schauobjekt für die Olympischen Götter war, ist es nun für sich selbst geworden. Ihre Selbstentfremdung hat jenen Grad erreicht, der sie ihre eigene Vernichtung als ästhetischen Genuss ersten Ranges erleben lässt. Musik 16 aus der „Deutschen Symphonie“ von Hanns Eisler Erzählerin 1935 sitzt Walter Benjamin im noch sicheren Exilort Paris. Wie Benjamin kann auch der österreichische Komponist Hanns Eisler nach 1933 nicht mehr nach Deutschland zurück, auch er ist seit nun zwei Jahren flüchtend unterwegs. Aus Moskau schreibt Eisler an den befreundeten Autor Bertolt Brecht: Sprecher Zitat Hanns Eisler, aus Brief an Brecht Ich habe (...) einen sehr interessanten Kompositionsplan und zwar will ich eine große Symphonie schreiben, die den Untertitel „Konzentrationslagersymphonie“ haben wird. Es wird auch in einigen Stellen Chor verwendet, obwohl es durchaus ein Orchesterwerk ist. Erzählerin, über Musik Über zehn Jahre wird Eisler an dem Werk arbeiten, sein endgültiger Titel wird ´Deutsche Symphonie` lauten. ´Deutsch`? Ein überraschendes Attribut, gewählt von einem, der mit Schimpf und Schande aus Deutschland vertrieben ist. O-Ton 25 Albrecht Dümling Es wurde ja damals der Name Deutsch (...) überall von den Nazis für alles verwendet und er sagte warum haben nur die Nazis den Begriff "Deutsch"? Wir im Exil, wir sind das andere Deutschland. Erzählerin Die ´Deutsche Symphonie` wird zu einer Art musikalischem Manifest für ein kulturelles Deutschland, das untergegangen zu sein scheint. Der Eisler-Forscher Albrecht Dümling: O-Ton 26 Albrecht Dümling Es gibt das "Deutsche Requiem" von Brahms, mit Brahms hat er sich ja immer sehr verbunden gefühlt auch ein Johannes Brahms, ein Johannes Eisler und ... es ist kein US Exilstück, obwohl er dann den symphonischen Satz, das dritte Orchesterstück Allegro dann in NY 1939 noch komponiert hat und dann 1947 auch noch einen Satz in den USA bevor er dann das Land verlassen hat. Erzählerin Eislers Vertreibungsgeschichte, die über viele Länder vorläufig in Kalifornien zu enden scheint, ist auch 1945 noch nicht vorbei. Nach dem Finale des heißen Krieges beginnt weltweit der kalte, und damit auch eine Hetzjagd gegen vermeintlich kommunistische Sympathisanten. O-Ton 27 Albrecht Dümling Dann wurde er ja aus den USA ausgewiesen 1948 und er wollte eigentlich nach Österreich zurück, Österreich wäre das ideale Land gewesen um das aufzuführen, aber er bekam keine Stelle in Österreich und ging dann in die Sowjetzone, in die SBZ die dann (...) umbenannt wurde in Deutsche Demokratische Republik und dort war dann inzwischen eine ästhetische Richtung, dass atonale Musik nicht für die Arbeiterbewegung gebraucht werden könnte wie gesagt worden ist. Erzählerin Diese Richtung, vorgegeben aus einer noch hundertprozentig stalinistischen Sowjetunion, sollte bei einer Versammlung internationaler Komponisten diskutiert und gemeinsam verabschiedet werden. Der prominenteste Teilnehmer dieses im Mai 1948 in Prag stattfindenden Kongresses: Der zurückgekehrte Hanns Eisler. Sprecher Prager Manifest Die Musik und das Musikleben unserer Zeit zeigt eine tiefe Krise. Diese wird hauptsächlich charakterisiert durch den Gegensatz zwischen sogenannter ernster und sogenannter Unterhaltungsmusik. Die sogenannte ernste Musik wird immer komplizierter, konstruierter, individualistischer und subjektiver. Die sogenannte populäre Musik wird immer flacher, nivellierter, standardisierter; sie wird zum Objekt der monopolisierten Kulturindustrie, zur Ware. O-Ton 28 Stefan Drees Das Prager Manifest, das u.a. von Hanns Eisler geschrieben wurde, bzw. man nimmt heute an dass es von Hanns Eisler formuliert wurde und dann gemeinsam korrigiert wurde und Hanns Eisler ist auch der erste der unterzeichnet, Eisler war damals als Abgesandter des österreichischen Verbandes in Prag, also das Prager Manifest versucht eigentlich die Krise der Musik zu lösen indem es sagt wir dürfen erstens keine Musik schreiben die nur für den Elfenbeinturm ist, (da spricht ... Elfenbeinturm ist) aber es darf eben auch keine Musik sein die sich als populäre Musik konsumieren lässt. Erzählerin Stefan Drees, Musikwissenschaftler. O-Ton 29 Stefan Drees Also die Konsummusik ist auch schlecht, wir müssen einen Mittelweg finden der beides verbindet, also eine Musik die sich der Komponiertraditionen, dem Kontrapunkt, dem großen europäischen Denken, es steckt tatsächlich nur das europäische Denken dahinter, der Kompositionsgeschichte stellt und das in einen neuen Kontext bringt und dabei durchaus unterhaltend sein kann aber die sich nicht vermarkten lassen darf. Sprecher Prager Manifest Je mehr die sogenannte ernste Musik subjektiver und komplizierter wird, je mehr sie sich entfernt von dem Vorstellungskreis der Volksmassen, desto mehr überschwemmt und durchdringt die vulgäre Vergnügungsmusik das Leben der Völker und verflacht und banalisiert die Empfindungswelt der Hörer.   Wir, auf dem II. Internationalen Kongress der Komponisten und Musikkritiker in Prag versammelten Musiker sehen mit Besorgnis auf diesen Zustand, denn wir leben in einer Zeit, (...) wo die ganze menschliche Kultur in ein neues Stadium tritt und den Künstler vor neue dringende Aufgaben stellt. Erzählerin Eislers Versuch einer Lösung der Problematik ist nicht nur der Vorschlag, die avancierte Moderne müsse einfacher und verständlicher werden, er schlägt in dem Manifest auch vor, was immer wieder als vermeintliches Mittel gegen Krisen empfohlen wird: die Besinnung auf das Nationale. Sprecher Prager Manifest Die Überwindung dieser Musikkrise scheint uns möglich, wenn 1. die Musik der Ausdruck der großen neuen fortschrittlichen Ideen und Empfindungen der Volksmassen wird; wenn 2. die Künstler in ihren Werken sich tiefer verbinden mit der nationalen Kultur ihres Landes und sie verteidigen gegen die Nivellierungstendenzen. Die echte Internationalität der Musik ergibt sich nur aus der Ausbildung ihres Nationalcharakters; wenn 3. die Komponisten aus ihrer Isolierung ausbrechen und ihren Weg zu der heutigen Realität finden. Die Aufmerksamkeit der Komponisten muss daher auch auf musikalische Formen gelenkt werden, die solches ermöglichen, insbesondere die vokalen Formen, wie Opern, Oratorien, Kantaten, Chöre, Lieder; wenn 4. alle Musikschaffenden, Kritiker und Musikwissenschaftler an der Überwindung des Musikanalphabetismus und an der musikalischen Erziehung der breiten Massen praktisch arbeiten werden. O-Ton 30 Drees Es ist der Versuch diese neue Klassik auf eine breitere Basis zu stellen. Und der Anknüpfungspunkt den sie da in unterschiedlichen Ländern haben sind natürlich auch die unterschiedlichen Arten der Volksmusik, wir haben im Ostblock, besonders in Ungarn den Versuch, an die Kodaly-Methode anzuknüpfen, neue Musik nur aus dem Geiste der Volksmusik entstehen zu lassen, was nicht lange gut geht weil sich die Komponisten selbst nicht wohlfühlen damit, (...) das ist eben der Gegenentwurf zu dem was einige Jahre später dann in Darmstadt passiert mit dem Serialismus. O-Ton 31 Albrecht Dümling Das ist ein großes trauriges Thema, das ist eine Folge des Kalten Krieges, wo die beiden Systeme Ost und West sich gegenseitig profiliert haben. Erzählerin Der ehemalige Weggefährte und einstige Co-Autor Eislers, bald philosophischer Mentor der Neuen Musik westdeutscher Prägung, Theodor W. Adorno, wird in seinem Aufsatz ´Die gegängelte Musik` diesen Weg aufs Schärfste verurteilen. Er sieht in dem Prager Manifest nur den Versuch, die „universale Gleichschaltung zu rechtfertigen“ und warnt vor einer „Selbstliquidierung der Subjekte“. O-Ton 32 Albrecht Dümling Im Westen war es so, dass der Begriff Freiheit nur noch Dodekaphonie und 12-Ton-Technik bedeutete, man durfte als ernstzunehmender Komponist nicht mehr tonal komponieren, umgekehrt im Ostblock war dann 12-Ton-Technik kapitalistisch, dekadent, d.h. die ganzen 12-tönigen Werke des Exils waren auf Eis und er konnte es nicht aufführen. Musik 17 Karlheinz Stockhausen, Kreuzspiel von 1951 Erzählerin „Im Westen“ – das heißt in erster Linie Köln, Donaueschingen und vor allem Darmstadt. Hier bilden sich bald die Zentren der Avantgarde, in Köln durch die Aktivitäten der Musikhochschule und des Westdeutschen Rundfunks, in Donaueschingen durch ein jährlich stattfindendes Festival, in Darmstadt durch die „Internationalen Ferienkurse für Neue Musik“. Vor allem in Darmstadt versucht die junge Generation Anschluss zu finden an die außerdeutsche Entwicklung der letzten fünfzehn Jahre, man hört Vorträge, diskutiert die eigenen Kompositionen. Es geht um die Frage, wie neues Komponieren, ein Komponieren „nach Ausschwitz“, noch möglich sein könnte. Protagonisten sind neben einigen zurückgekehrten Vertretern der Schönberg-Schule und dem erwähnten Theodor W. Adorno vor allem die jungen Nachwuchskomponisten Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen. Stockhausen wird in der Bundesrepublik zur weit über Fachkreise hinaus bekannten Symbolfigur für eine weitgehend abgehobene, dem Laien nicht mehr erschließbare musikalische Moderne. Auch wenn bei den Darmstädter Ferienkursen die Gefahr von Dogmatismus und Intoleranz immer droht, es häufig zu Ausgrenzungen kommt, so tauchen andererseits auch Außenseiter auf. Die sorgen mit ungewohnten Positionen für Aufsehen. Sprecher Zitat John Cage, aus „Die Zukunft der Musik – Credo“ Wir hören beinahe immer Geräusche, wo auch immer wir gerade sind. Wenn wir sie ignorieren, stört es uns. Wenn wir zuhören, finden wir es faszinierend. Erzählerin Ein solcher Auftritt gelingt im Jahr 1958 dem Amerikaner John Cage. Sprecher Zitat John Cage Das Geräusch eines Lastkraftwagens bei 50 Stundenkilometer. Atmosphärische Störungen im Radio. Regen. Wir wollen diese Klänge einfangen und beherrschen, nicht um sie als Klangeffekte einzusetzen, sondern als Musikinstrumente. Erzählerin Cage ist bei seinem ersten Darmstädter Auftritt bereits 46 Jahre alt, damit eine halbe Generation älter als die Darmstädter Stars Stockhausen und Boulez. Er plädiert für das Recht, den Zufall als kompositorisches Prinzip einzubeziehen. Sein Manifest stammt aus dem Jahr 1937. Es hat den Titel: Die Zukunft der Musik. Sprecher Zitat John Cage Wir können ein Quartett für Explosionsmotor, Wind, Herzschlag und Erdrutsch komponieren und aufführen. Sollte das Wort Musik heilig sein und den Instrumenten des 18. und 19. Jahrhunderts vorbehalten, können wir dafür ein sinnvolleres setzen: Klangorganisation. Erzählerin Cage vollendet, was die „Geräuschemacher“ der italienischen Futuristen zaghaft und wenig inspiriert in den 1910er Jahren begonnen hatten: Die Gleichberechtigung von allem, was dem menschlichen Ohr hörbar ist, die Akzeptanz des Geräuschs in der Welt der Musik. Musik 18 Cage, Williams Mix von 1952/53 Erzählerin Cage bringt die Stacheln von Kakteen zum Klingen, präpariert Klaviere mit Reißnägeln und Radiergummis, nutzt Geräusche aus allen erdenklichen Quellen, beschäftigt sich vor allem immer wieder mit der Hörbarkeit von Stille. Reduzierter und konzentrierter, so sein Credo, sollten wir die akustische Welt in ihrer Schönheit wahrnehmen. Musik 19 von Yves Klein, „Symphonie Monotone“ Erzählerin In einer durchaus ähnlichen Richtung arbeitet der Franzose Yves Klein. Er ist kein Musiker, eher ein mediales Multitalent mit dem Fokus auf die Malerei. Seine „Symphonie Monotone“ besteht aus nur einem einzigen Ton, gespielt von einem kleinen Orchester. Das Stück begleitet eine Performance, bei dem einige nackte Frauen, die Körper mit Farbe bestrichen, durch ihre Bewegungen auf einer Leinwand Körperbilder entstehen lassen. Musik 19 Yves Klein Erzählerin, über Musik Die musikalische Komposition ist so einfach wie die Komposition seiner Bilder, die meist unter der Verwendung einer einzigen Farbe – Monochrome-Blau – entstehen. O-Ton 33 Heinz Mack Ich habe natürlich auf meine Weise fast neidvoll erkannt dass z.B. Yves Klein weiter war als ich, also da war auf einmal eine Kunstebene erreicht, die mir nicht mehr ... (sz: Mack stockt) ... Erzählerin In einer Düsseldorfer Galerie lernt der junge Heinz Mack den Franzosen kennen. O-Ton 34 Heinz Mack, Forts. Da kam eben bei mir die sehr sehr kritische Frage bei mir auf: Kann man das noch übersteigen? Wie soll das weitergehen? Wie soll nach dieser Reduktion malerischer Mittel, wie soll man da noch weitermalen? Erzählerin Mack gründet zusammen mit dem Künstlerkollegen Otto Piene die Gruppe ZERO, zu der später noch Günter Uecker stoßen wird. Auch sie suchen den künstlerischen Neubeginn. Und sie entdecken das Licht, das Weiss, die Leere und die Bewegung von Objekten. Auf der Kasseler Dokumente des Jahres 1964 gelingt ZERO der Durchbruch. Es ist das erste Mal seit der Weimarer Republik, dass deutsche Künstler mit ihrer Kunst international Aufsehen erregen. Sie verfassen ein poetisches Manifest. O-Ton 35 a ZERO Manifest Zero ist die Stille. Zero ist der Anfang. Zero ist rund. Zero dreht sich. Zero ist der Mond. Die Sonne ist Zero. Zero ist weiß. Die Wüste Zero. Der Himmel über Zero. Die Nacht –. Zero fließt. Das Auge Zero. Nabel. Mund. Kuß. Die Milch ist rund. Die Blume Zero der Vogel. Schweigend. Schwebend. O-Ton 36 Wolfgang Asholt Die Gruppe Zero hat schon eine Vorstellung von der Avantgarde des 20. Jahrhunderts und sieht, dass man mit modernen technischen Mitteln, mit Maschinen, aber auch mit Lichteffekten und Elektrizität die Kunst verändern kann. O-Ton 35 b ZERO Manifest, Forts. Ich esse Zero, ich trinke Zero, ich schlafe Zero, ich wache Zero, ich liebe Zero. Zero ist schön, dynamo, dynamo, dynamo. Die Bäume im Frühling, der Schnee, Feuer, Wasser, Meer. Rot orange gelb grün indigo blau violett Zero Zero Regenbogen. 4 3 2 1 Zero. Gold und Silber, Schall und Rauch. Wanderzirkus Zero. Zero ist die Stille. Zero ist der Anfang. Zero ist rund. Zero ist Zero. O-Ton 37 Asholt Die Gruppe Zero stellt sich damit in Gegensatz zu dem was die deutsche Nachkriegskunst versucht indem sie unmittelbar an die Avantgarden vor 1933 die künstlerischen malerischen Avantgarden anknüpft. Damit wird gebrochen, aber damit lässt sich auch die Gruppe Zero auf ihre Zeit ein, die Zeit des Wirtschaftswunders, in der solche Installationen durchaus Erfolg haben. Erzählerin An Veränderung scheint die westdeutsche Gesellschaft der fünfziger und frühen sechziger Jahre auch nicht interessiert. „Keine Experimente“ lautet der politische Slogan, mit dem der 81-jährige Konrad Adenauer im September 1957 die Wahlen für die CDU mit absoluter Mehrheit gewinnt. Sprecher Zitat Göttinger Manifest Die Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr erfüllen die unterzeichnenden Atomforscher mit tiefer Sorge. Erzählerin Es sind 18 zum Teil sehr prominente Wissenschaftler, die am 12. April 1957, unmittelbar vor Beginn des Bundestagswahlkampfes, ein deutliches Zeichen gegen eine obrigkeitstreue Untertanenhaltung setzen. Sie formulieren das „Göttinger Manifest“. Wenige Tage zuvor hatte sich Bundeskanzler Adenauer, so musste es den Wissenschaftlern erscheinen, in fatal naiver Weise zu der Art der geplanten Bewaffnung der Bundeswehr geäußert. Adenauer wörtlich: Sprecher Zitat Konrad Adenauer Die taktischen Atomwaffen sind im Grunde nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie, und es ist ganz selbstverständlich, dass bei einer so starken Fortentwicklung der Waffentechnik, wie wir sie leider jetzt haben, wir nicht darauf verzichten können (...), das sind ja besondere normale Waffen in der normalen Bewaffnung. Sprecher Zitat Göttinger Manifest, Forts. Heute kann eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebietes zeitweilig unbewohnbar machen. Durch Verbreitung von Radioaktivität könnte man mit Wasserstoffbomben die Bevölkerung der Bundesrepublik wahrscheinlich schon heute ausrotten. Wir kennen keine technische Möglichkeit, große Bevölkerungsmengen vor dieser Gefahr sicher zu schützen. Erzählerin Das Manifest löst eine breite Diskussion um den Sinn der von der Regierung geplanten und von ihrem Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß vorangetriebenen atomaren Bewaffnung der Bundeswehr aus. Die Gesellschaft ist irritiert. Sprecher Zitat Göttinger Manifest, Forts. Wir wissen, wie schwer es ist, aus diesen Tatsachen die politischen Konsequenzen zu ziehen. Uns als Nichtpolitikern wird man die Berechtigung dazu abstreiten wollen; unsere Tätigkeit, die der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, belädt uns aber mit einer Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit. Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen. Erzählerin Der Hauptautor des Göttinger Manifests ist Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker, geläuterter Sohn eines Nazi-Diplomaten und SS-Führers, Bruder des späteren Bundespräsidenten. Er wird sein weiteres Leben zu einem guten Teil der Friedensforschung widmen. O-Ton 38 Carl Friedrich von Weizsäcker Wie lange würde es dauern, bis dann auch Syrien, Ägypten, Israel Atomwaffen hätten. Es ist ganz absurd wenn man sagt: Wir sind friedliebend und müssen die Atomwaffen haben, um die Unruhestifter im Zaum zu halten. Denn die sogenannten Unruhestifter werden sich bemühen dieselben Waffen zu bekommen und wer wird sie dann hindern? Und wer von uns weiß, an welchem Tag er selbst als Unruhestifter dastehen wird? 1’02 Erzählerin Die Einmischung der Naturwissenschaftler hat faktisch zunächst wenig Erfolg, im Geheimen verfolgt die bundesdeutsche Regierung weiterhin das Ziel einer atomaren Bewaffnung. Dass es dennoch nicht dazu kommt, hängt weniger mit der Aktivität der Göttinger Wissenschaftler zusammen als vielmehr mit der Unwilligkeit des französischen Präsidenten De Gaulle. Der ist seit Beginn des Jahres 1959 an der Macht und storniert kurzerhand alle Planungen, gemeinsam mit Deutschland und Italien eine Ausrüstung mit Atomwaffen zu realisieren. Dennoch ist das Göttinger Manifest der Prototyp eines erfolgreichen politischen Manifestes. Es ist gestützt durch die fachliche und moralische Autorität der Autoren ... Sprecher Zitat Göttinger Manifest ... unsere Tätigkeit, die der reinen Wissenschaft und ihrer Anwendung gilt und bei der wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen ... Erzählerin ... eine offensiv artikulierte Bescheidenheit ... Sprecher Zitat Göttinger Manifest ... Wir fühlen keine Kompetenz, konkrete Vorschläge für die Politik der Großmächte zu machen ... Erzählerin ... international beglaubigte Autorität: In den Reihen der Unterzeichner befinden sich ausschließlich habilitierte Naturwissenschaftler, darunter vier Nobelpreisträger. Zudem verzichtet der Text auf Fachterminologie und appelliert an eine für jeden unmittelbar vorstellbare Erfahrung: Sprecher Zitat Göttinger Manifest Eine taktische Atombombe kann eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebietes zeitweilig unbewohnbar machen. Erzählerin Man trägt keine utopischen Forderungen vor, sondern fordert das Realistische: den freiwilligen Verzicht einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr. Und man bleibt nicht auf einer unpersönlichen, ausschließlich abstrakten Ebene, sondern bringt sich selbst persönlich ein: Sprecher Zitat Göttinger Manifest Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen. Erzählerin Das Manifest wird an einem Freitag, eine Woche vor Ostern, an die Zeitungsredaktionen übermittelt. Der Samstag als Veröffentlichungstag garantiert nicht nur eine vom alltäglichen Getriebe befreite, wochenend- und vorösterlich gestimmte Leserschaft, sondern verhindert wegen des ruhenden Politikbetriebes auch schnelle Gegenangriffe. Musik 20 Edgar Varese, Poème électronique Erzählerin Im Feld der Architektur ist in jenen Jahren, besonders in den Wüsten zerstörter deutscher Städte, großer Handlungsbedarf. Und das sowohl in Hinsicht auf ein neues Denken und Planen wie auf dem Feld des realen Bauens. Wie soll das Haus der Zukunft, wie soll die Stadt der Zukunft aussehen? Bereits 1926 hatte der Schweizer Architekt Le Corbusier zusammen mit seinem Kollegen Pierre Jeanneret ein Manifest verfasst. O-Ton 39 Gleiter Dort führt er die fünf Punkte der Architektur ein, einer modernen Architektur ein, was ist das? Die Piloti, also die Stützen, sichtbaren Stützen, der freie Grundriss, die freie Fassade, das Bandfenster und, als fünftes, der Dachgarten. Sprecher Zitat Corbusier Manifest von 1926 Die fünf grundlegenden Punkte bedeuten eine fundamental neue Ästhetik. Es bleibt uns nichts mehr von der Architektur früherer Epochen. O-Ton 40 Gleiter Das ist, könnte man sagen, das zentrale Manifest überhaupt eigentlich, das der modernen Architektur mit einer umfassenden Wirkung bis heute noch. Erzählerin Le Corbusier strebt einen radikalen Bruch mit der Tradition an. Nicht das Gebäude muss sich in seine umgebende Natur hineinfügen, sondern das Umfeld erhält seine Gestaltung durch die vom Menschen entworfene Architektur. Von der holländischen Firma Philips erhält er den Auftrag, einen Pavillon für die Weltausstellung 1958 in Brüssel zu gestalten. Der Auftrag beschränkt sich nicht nur auf die Errichtung des Gebäudes. Im Innern entwickelt Le Corbusier zusammen mit dem amerikanischen Komponisten Edgar Varese ein Environment, bei dem im Zusammenspiel von Architektur, Bildprojektionen und einer über 425 Lautsprecher gesteuerten Musik ein multimediales Kunstgeschehen entsteht. Musik 20 Edgar Varese, Poème électronique Sprecher Zitat Corbusier Das Auto ist eine Maschine zum Fahren. Das Flugzeug ist eine Maschine zum Fliegen. Das Haus ist eine Maschine zum Wohnen. Erzählerin Le Corbusier entwickelt und baut Wohnblocks für mehr als 1000 Menschen, von Kritikern auch als „Wohnmaschinen“ bezeichnet. Sprecher Zitat Corbusier Manifest von 1926 Durch Serienherstellung werden Bauelemente präzis, billig und gut. Sie können im Voraus in beliebiger Zahl hergestellt werden. (...) Somit verfügt der Architekt über einen Baukasten. Seine architektonische Begabung kann sich frei auswirken. Nur sie bestimmt seine Architektur. Es kommt die Zeit der Architekten. O-Ton 41 Gleiter Erstens unterscheidet er zwischen dem Ingenieur und dem Architekten, d.h. der Architekt ist für die Emotionen da, der Ingenieur für das Gerechnete, dann (...) als zentrale Idee die Idee des Lichts ... von Licht und Schatten weiter aus dem Klassizismus heraus auch für die moderne Architektur, da immer das Problem, dass er von Fassaden spricht, ihrer Belichtung durch die Sonne, das Spiel von Licht und Schatten dass dann emotionalisierend ist. Erzählerin Und doch haftet den Bauten von Le Corbusier, vor allem wegen der Kälte des Baumaterials Beton, etwas an, was schon in den fünfziger Jahren auf Widerstand stößt. Man wird bestimmte Weiterentwicklungen dieses Stils später als „Brutalismus“ bezeichnen. Und die Verwendung vorgefertigter Elemente wird, vor allem im Wohnungsbau der sozialistischen Länder, unter dem Begriff „Plattenbau“ eine wenig schmeichelhafte Berühmtheit erlangen. O-Ton 43 Hundertwasser Wir haben einen falschen Begriff von der Schönheit. Das hat sich langsam, ich weiß nicht wie, wahrscheinlich erst in den letzten 100 oder 50 Jahren herangebildet, dass man nicht reglementierte Unregelmäßigkeiten als hässlich empfindet. Erzählerin Einer, der sich früh massiv gegen das Bauen nach den Prinzipien der Moderne positioniert, ist der österreichische Künstler Friedensreich Hundertwasser. O-Ton 44 Hundertwasser Das ist doch eine völlig makabre, eine völlig perverse Situation. Ich glaube das hängt mit dem Maschinenzeitalter, mit der Diktatur, mit der Gleichmacherei zusammen, mit einer gewissen Gehirnwäsche. Erzählerin 1958 veröffentlicht Hundertwasser ein „Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur“. Sprecher Zitat Hundertwasser, Verschimmelungsmanifest Jeder soll bauen können, und solange diese Baufreiheit nicht existiert, kann man die gegenwärtige, geplante Architektur überhaupt nicht zur Kunst rechnen. (...) Was realisiert ist, sind einzeln dastehende erbärmliche Kompromisse von Linealmenschen mit schlechtem Gewissen! O-Ton 45 Hundertwasser Die gerade Linie ist eine nichtexistierende Linie, die hat der Mensch sich ausgedacht mit dem Lineal, es hat nichts Göttliches, im Gegenteil, es ist eine feige Linie die jeder Idiot nachziehen kann mit dem Lineal, es ist keine kreative Linie, es ist die einzige Linie die nicht kreativ ist. Sprecher Zitat Hundertwasser, Verschimmelungsmanifest Man soll den Baugelüsten des einzelnen keine Hemmungen auferlegen! Jeder soll bauen können und bauen müssen und so die wirkliche Verantwortung tragen für die vier Wände, in denen er wohnt. Und man muss das Risiko mit in Kauf nehmen, dass so ein tolles Gebilde nachher zusammenfällt, und man soll und darf sich vor Menschenopfern nicht scheuen, die diese neue Bauweise erfordert, vielleicht erfordert. Es muss endlich aufhören, dass Menschen ihr Quartier beziehen wie die Hendeln und die Kaninchen ihren Stall. Erzählerin Es klingt mitunter gesundheitsgefährdend, was Hundertwasser fordert. Von vornherein bricht er mit bürokratischen Reglementierungen, ignoriert den gesetzlichen Status quo, ist sich selbst seiner Außenseiterposition bewusst. Eine Ausbildung zum Architekten besitzt er nicht. Sprecher Zitat Hundertwasser, Verschimmelungsmanifest Die materielle Unbewohnbarkeit der Elendsviertel ist der moralischen Unbewohnbarkeit der funktionellen, nützlichen Architektur vorzuziehen. In den sogenannten Elendsvierteln kann nur der Körper des Menschen zugrunde gehen, doch in der angeblich für den Menschen geplanten Architektur geht seine Seele zugrunde. O-Ton 46 Hundertwasser, aus Hundertwasser Gespräch Degenhard - Hundertwasser_Schmid, Wir leben in einer Welt wo die Menschen sehr gleichgeschaltet sind und dem Putzwahn preisgegeben sind, also man versucht die Menschen zu indoktrinieren und ihnen zu sagen dass der Schmutz etwas gefährliches ist (...) Der Schmutz, ich sage Schmutz, diese Dinge, die uns geschenkt werden, eigentlich vom lieben Gott, zB dass plötzlich ein Fleck entsteht auf einem Fenster oder auf einem Haus, das soll man als Geschenk Gottes betrachten und belassen und sich daran freuen, anstatt dass man dieses Geschenk, dass Gott und die Natur uns gegeben hat, belässt, weil dadurch werden wir ja anders, dadurch entsteht eine Variation. Sprecher Zitat Hundertwasser, Verschimmelungsmanifest Daher ist das Prinzip der Elendsviertel, das heißt der wild wuchernden Architektur, zu verbessern und als Ausgangsbasis zu nehmen und nicht die funktionelle Architektur. Die funktionelle Architektur hat sich als Irrweg erwiesen, genauso wie die Malerei mit dem Lineal. Wir nähern uns mit Riesenschritten der unpraktischen, der unnutzbaren und schließlich der unbewohnbaren Architektur. Erzählerin Einige Jahre später wird die Kritik an dieser Architektur auch von wissenschaftlicher Seite formuliert werden. „Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden“ lautet der Titel eines weithin bekannten Buches von Alexander Mitscherlich. Doch Hundertwassers Manifest ist keine sozialpsychologische Analyse, sondern, rund zwanzig Jahre vor der Gründung der „Grünen“, eher ein ökologisches Manifest aus der Perspektive der Kunst. Sprecher Zitat Hundertwasser, Verschimmelungsmanifest Die verantwortungslose Zerstörungswut der konstruktiven funktionellen Architekten ist bekannt. Sie wollten die schönen Häuser mit Stuckfassaden der neunziger Jahre und des Jugendstils einfach abreißen und ihre leeren Gebilde hinpflanzen. Ich weise auf Le Corbusier, der Paris dem Erdboden gleichmachen wollte, um geradlinige Monsterkonstruktionen hinzusetzen. Erzählerin Und so gelangt Hundertwasser schließlich zu seiner Aufmerksamkeit erregenden, pointierten These: dem Lob des Schimmels. Sprecher Zitat Hundertwasser, Verschimmelungsmanifest Um die funktionelle Architektur vor dem moralischen Ruin zu retten, soll man auf die sauberen Glaswände und Betonglätten ein Zersetzungsprodukt gießen, damit sich dort der Schimmelpilz festsetzen kann. (...) Erst nach der schöpferischen Verschimmelung, von der wir viel zu lernen haben, wird eine neue und wunderbare Architektur entstehen. Musik ohne Nummer Erzählerin Zu Beginn der sechziger Jahre stehen vielerorts die Vorzeichen auf Aufbruch, ob in der Politik, in der Kunst, oder – wie bei Hundertwasser – im Grenzbereich von beiden. Es scheint, als sei die Zeit für kraftvolle Gegen-Positionierungen wieder reif. Manifeste werden wieder aktuell. O-Ton 48 Alexander Kluge liest das Oberhausener Manifest Der Zusammenbruch des konventionellen deutschen Films entzieht einer von uns abgelehnten Geisteshaltung endlich den wirtschaftlichen Boden. Dadurch hat der neue Spielfilm endlich die Chance lebendig zu werden. Erzählerin Um die deutsche Filmindustrie ist es im Jahr 1962 schlecht bestellt. Mit Heimatfilmen, Sissy und Winnetou ist nur gelegentlich an der Kinokasse Gewinn zu machen, und auch künstlerisch ist in Deutschland produziertes Kino international nicht konkurrenzfähig. Nur der Kurzfilm bildet eine Ausnahme. Durch ein Gesetz, das Kinobetreiber von der Abgabe einer Vergnügungssteuer befreite, wenn sie ihrem Publikum künstlerisch wertvolle Vorfilme präsentierten, konnte sich das Genre „Kurzfilm“ gut entwickeln. O-Ton 49 Alexander Kluge, Forts. Deutsche Kurzfilme von jungen Autoren, Regisseuren und Produzenten erhielten in den letzten Jahren eine große Zahl von Preisen auf internationalen Festivals und fanden Anerkennung der internationalen Kritik. Diese Arbeiten und ihre Erfolge zeigen, dass die Zukunft des deutschen Films bei denen liegt, die bewiesen haben, dass sie eine neue Sprache des Films sprechen. Erzählerin Alexander Kluge ist der Wortführer einer Gruppe von Filmemachern, die vor allem solche Kurzfilme realisiert hatten. Die große Form, der abendfüllende Spielfilm, blieb seiner Generation jedoch bislang versagt. O-Ton 50 Alexander Kluge, Forts. Wie in anderen Ländern, so ist auch in Deutschland der Kurzfilm Schule und Experimentierfeld des Spielfilms geworden. Erzählerin Bei den Kurzfilmtagen 1962 verfassen die Nachwuchsregisseure das sogenannte „Oberhausener Manifest“. O-Ton 51 Alexander Kluge, Forts. Wir erklären unseren Anspruch, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen. Dieser neue Film braucht neue Freiheiten. Freiheit von den branchenüblichen Konventionen. Freiheit von der Beeinflussung durch kommerzielle Partner. Freiheit von der Bevormundung durch Interessengruppen. Wir haben von der Produktion des Neuen deutschen Films konkrete geistige, formale, wirtschaftliche Vorstellungen. Wir sind gemeinsam bereit, wirtschaftliche Risiken zu tragen. Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen. Erzählerin Die Oberhausener Pressekonferenz, bei der die Gruppe ihr Manifest präsentiert, steht folgerichtig unter dem Motto: „Papas Kino ist tot“. Wolfgang Asholt: O-Ton 52 Wolfgang Asholt Kluge hat wie die gesamte Oberhausener Gruppe versucht, im Sinne der Nouvelle Vague mit dem deutschen Film der Nachkriegszeit, der ja nun extrem konservativen und ideologisch stabilisierenden Charakter gehabt hat, zu brechen, das ist ihm zweifelsohne auch gelungen, insofern kann man im Oberhausener Manifest eine Art avantgardistischen Impetus sehen, O-Ton 53 Alexander Kluge Dieses Selbstbewusstsein, das wir hatten musste sich irgendwie äußern, aber man braucht öffentlichen Ausdruck wenn man zu mehreren zu neuen Ufern aufbricht. O-Ton 54 Wolfgang Asholt Es hat aber mit Sicherheit den deutschen Film radikal erschüttert und alles was in den 70er und 80 Jahren geschehen ist geht letzten Endes auf diesen Anstoß durch das Oberhausener Manifest zurück. Erzählerin Drei Jahre später, 1965, wird das „Kuratorium Junger deutscher Film“ gegründet, eine an künstlerischen Kriterien orientierte Filmförderung kommt in Gang. Einige Regisseure des nun entstehenden „Autorenfilms“ wie Wim Wenders, Hans-Jürgen Syberberg, Werner Herzog oder Rainer-Werner Fassbinder erzielen mit ihren Arbeiten auch international Aufmerksamkeit. Und Volker Schlöndorff wird einige Jahre später in Los Angeles den ersten deutschen Oscar gewinnen. Die Themen ihrer Filme sind oft sperrig, es geht um die Aufarbeitung von deutscher Geschichte, die Situation von Minderheiten, die immer noch reale deutsche Untertanenmentalität. Noch nicht im Blick, das zeigt schon die Liste der ausschließlich männlichen Unterzeichner des Oberhausener Manifests, ist die Situation der Frau in der Gesellschaft. Feminismus ist in Deutschland 1962 noch kein Thema. Musik ohne Nummer Sprecherin Zitat SCUM-Manifest Das Leben in dieser Gesellschaft ist ein einziger Stumpfsinn, kein Aspekt der Gesellschaft vermag die Frau zu interessieren, daher bleibt den aufgeklärten, verantwortungsbewussten und abenteuersuchenden Frauen nichts anderes übrig, als die Regierung zu stürzen, das Geldsystem abzuschaffen, die umfassende Automation einzuführen und das männliche Geschlecht zu vernichten.  Erzählerin Am 3. Juni 1968 geht die 32-jährige Valerie Solanas vor einem Gebäude in Manhattan, New York, auf und ab. Im vierten Stock des Hauses befindet sich Andy Warhols „Factory“, der Arbeitsort und Szenetreffpunkt des berühmten Pop-Art-Künstlers. Solanas war zeitweise Mitglied dieser Szene, gilt aber als unzugänglich und schwierig, mittlerweile ist sie ausgeschlossen. An diesem Nachmittag wartet sie auf Warhol. Sprecherin Zitat SCUM-Manifest, Forts. Die Reduktion der Frauen zu Tieren im rückständigsten Sektor der Gesellschaft – der „privilegierten“, „gebildeten“ Mittelklasse, dieser Hinterprovinz der Humanität, wo Daddy unangefochten regiert – ist so gründlich, dass die Frauen sich nach der Tretmühle der Arbeit drängen und heute, in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, im fortgeschrittensten Land der Erde, mit am Busen fettwerdenden Babys herumlungern. Aber trotzdem geschieht es nicht zum Wohl der Kinder, wie „Experten“ den Frauen weismachen wollen, wenn Mama zu Hause bleiben und im Bereich des Animalischen herumkriechen muss, sondern es ist Daddys Vorteil. Ihr Busen gehört ihm, damit er sich festhalten kann; die häusliche Tretmühle ist für ihn, damit er sich „groovy“ fühlen kann. Erzählerin Valerie Solanas ist die Autorin des radikalsten feministischen Manifests, das je verfasst wurde. Sprecherin Zitat SCUM-Manifest, Forts. Die Mutter will das Beste für ihre Kinder. Daddy will das Beste für Daddy. Erzählerin Es ist eine literarisch ironische Schmähschrift mit einem revolutionären, scheinbar von Wut und Hass gespeisten Programm. In der Sprache oft klar, mitunter ordinär, obszön oder von merkwürdig pornographischer Offenheit. Und dabei doch von großer gedanklicher Schärfe. Sprecherin Zitat SCUM-Manifest, Forts. Die Männer können keine grundlegende Revolution herbeiführen, denn der Mann an der Spitze will stets den Status quo, und die unten Sitzenden wollen nichts anderes als selber der Mann an der Spitze sein. Der männliche Rebell ist eine Farce, denn wir leben in der „Gesellschaft“ des Mannes, die er sich schuf, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Befriedigung findet er allerdings nie, denn für ihn gibt es keine Befriedigung. Letzten Endes rebelliert der männliche Rebell gegen nichts anderes als die Tatsache, dass er ein Mann ist. Erzählerin Solanas, die in der Mitte der 1960er Jahre in New York von Gelegenheitsjobs, Bettelei und gelegentlicher Prostitution lebt, ist studierte Psychologin. Teil Eins der von ihr angestrebten Revolution baut auf den medizinischen Fortschritt. Sprecherin Zitat SCUM-Manifest, Forts. Heute ist es technisch möglich, sich ohne Hilfe der Männer (...) zu reproduzieren und ausschließlich Frauen zu produzieren. Wir müssen sofort damit beginnen. Der Mann ist eine biologische Katastrophe: das (männliche) y-Gen ist ein unvollständiges (weibliches) x-Gen, das heißt, es hat eine unvollständige Chromosomenstruktur. Mit anderen Worten, der Mann ist eine unvollständige Frau, eine wandelnde Fehlgeburt, die schon im Genstadium verkümmert ist. Mann sein heißt, kaputt sein; Männlichkeit ist eine Mangelkrankheit, und Männer sind seelische Krüppel. Obwohl er von Schuld- und Schamgefühlen, Angst und Unsicherheit aufgefressen wird und – wenn er sich glücklich fühlt – nur ein kaum wahrnehmbares körperliches Gefühl aufbringt, ist der Mann gleichwohl wie besessen aufs Vögeln aus; er wird durch einen See voll Rotz schwimmen, meilenweit durch bis zur Nase reichende Kotze waten, wenn er nur glaubt, dass am anderen Ufer ein freundliches Vötzchen auf ihn wartet. Eine Frau, die er verachtet, wird er trotzdem vögeln, irgendeine zahnlose alte Hexe, und darüber hinaus für diesen Glücksfall noch bezahlen. Erzählerin Solanas, die am 3. Juni 1968 in Manhattan auf Andy Warhol wartet, ist nicht gut auf ihn zu sprechen. Sie hatte ihm das Script eines Theaterstücks anvertraut, in der Hoffnung, er werde es produzieren. Als Warhol gegen 16.15 Uhr erscheint, fahren sie gemeinsam mit dem Fahrstuhl in die Etage der Factory. Dort zieht Valerie Solanas einen Revolver und schießt mehrfach auf Warhol. Eine Kugel trifft Warhols Lunge, seine Galle, den Magen, Leber und Speiseröhre. Sprecher Zitat SCUM-Manifest, Forts. Mit seiner totalen Sex-Abhängigkeit und seiner Unfähigkeit zu intellektuellen oder ästhetischen Reaktionen, mit seinem Materialismus und seiner Gier hat der Mann, abgesehen davon, dass er die „große Kunst“ auf die Welt losgelassen hat, seine gesichtslosen Städte mit (...) hässlichen Gebäuden, hässlichen Dekorationen, Reklameflächen, Autobahnen, Autos, Müllfahrzeugen und – vor allem mit seiner eigenen widerwärtigen Anwesenheit verziert. Erzählerin "Er hatte zu viel Kontrolle über mein Leben" – so kommentiert Solanas später gegenüber einem Polizisten, von dem sie sich festnehmen lässt, ihre Tat. Andy Warhol überlebt den Anschlag, nach Reanimation und einer mehrstündigen Notoperation. Das Manifest, das sie bis dahin lediglich in hektographierten Exemplaren auf der Straße zu verkaufen versucht hatte, trägt den Titel „SCUM“. Das bedeutet einerseits soviel wie „Abschaum“, ist andererseits die Abkürzung für „Society for cutting up men“, „Gesellschaft zur Vernichtung von Männern“. Es ist das bis heute radikalste Manifest der feministischen Bewegung weltweit. Punkt Zwei des Programms: Sprecher Zitat SCUM-Manifest, Forts. S.C.U.M. wird alle Männer töten, die nicht Mitglieder der S.C.U.M.-Männerhilfstruppe sind. Mitglieder der Männerhilfsgruppe sind diejenigen, die fleißig daran arbeiten, sich selbst zu eliminieren; Männer, die – aus welchen Motiven auch immer – Gutes tun; Männer, die S.C.U.M. in die Hände arbeiten. (...) Männer, die die Dinge beim Namen nennen (...) und ihnen beibringen, dass es der wichtigste Lebensinhalt einer Frau sein sollte, das männliche Geschlecht zu vernichten. Erzählerin Mehrere Jahre wird Solanas wegen des Mordanschlages in einem psychiatrischen Gefängnis verbringen, danach nie wieder festen Grund unter die Füße bekommen. Im Alter von 52 Jahren stirbt sie 1988 in einem Obdachlosenasyl in San Francisco. Ihr SCUM-Manifest ist da bereits zu einem literarischen Klassiker des radikalen Feminismus geworden. Musik 21 Luigi Nono, Musica Manifesto No. 1, aus Teil 2, „Non cosumiamo Marx“ Erzählerin, über Musik Nicht feministisch, aber dennoch hochpolitisch versteht der italienische Komponist Luigi Nono seine Arbeit. Schon in den fünfziger Jahren war er bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik aufgetaucht, schon damals war er mit seinen Ideen zu einer stets historisch reflektierten Musik auf erheblichen Widerstand gestoßen. Nono ist aktives Mitglied der kommunistischen Partei Italiens. Im zweiten Teil seiner Komposition „Musica Manifesto Numero uno“ beschäftigt er sich in einer Tonbandcollage mit der Lust am Protest, mit der Poesie des Widerstands, aber auch mit dessen Gewalttätigkeit. Der warnende, beinahe belehrende Titel dieses Teils: „Non cosumiamo Marx“, „Lasst uns Marx nicht konsumieren!“. Es ist das Jahr 1968. Nono versucht Politik und Musik ineinander zu verklammern, das Politische in der Musik zu bedenken. Wie Cage nutzt er Geräusche, alltägliche Originaltöne, ignoriert aber nicht deren historische Dimension, sondern betont sie. Politischer Protest wird nicht, wie etwa bei einem Agit-Prop-Song, auf die Musik gesetzt. Der Protest liegt immer auch in der Form selbst, die das Alte weiter entwickeln oder überwinden soll. Das „Musica Manifesto Numero uno“ ist ein Statement für die notwendige Verbindung von politischer und musikalischer Arbeit. Musik 21 Luigi Nono, Musica Manifesto No. 1, Teil 2 Erzählerin Und doch wäre eine solche Interpretation zu kurz gegriffen, denn sein „Manifesto“ hat zwei Teile. Der vorangestellte, der erste Teil, trägt den Titel „Un volto, del mare“, „Ein Antlitz, des Meeres.“ Musik 22 Luigi Nono, Musica Manifesto No. 1, aus Teil 1 „Un volto, del mare“ O-Ton 55 Stefan Drees, über Musik Er setzt zwei völlig unterschiedliche Teile gegeneinander und das ist eigentlich eine dialektische Form die er hier bildet, deswegen kommt er zum Titel Manifest, einerseits haben wir den privaten Bereich, andererseits den politischen, aber nur wenn wir das eigenständig zusammendenken, haben wir eigentlich den ganzen Menschen, darauf kommt es ihm an, aber auf das Zusammendenken kommt es ihm an, aber das Zusammendenken zeigt er eben nicht, sondern er präsentiert diese beiden Teile, die übrigens gleich lang sind, hintereinander und das Zusammendenken das überlässt er uns. Also er möchte dass wir diesen dialektischen Prozess nachvollziehen. Erzählerin Nono scheint den Riss durch den Menschen ausdrücken zu wollen, der auch in Valerie Solanas feministischem Manifest immer wieder aufschien. Es ist die Sehnsucht nach privatem, persönlichem Glück, vielleicht in Kontakt zur Natur – einerseits. Andererseits die Notwendigkeit, sich politisch mit Anderen zusammenzuschließen und sich offenkundigem Unrecht in der Welt entgegen zu stellen. Denn bei allen Forderungen, die in Manifesten zum Ausdruck kommen – meist ist der Schmerz über eine Welt, wie sie nun mal ist, der Ausgangspunkt. Musik 22 Luigi Nono, Musica Manifesto No. 1, aus Teil 1 Erzählerin, über Musik Eine Welt, die man sich lieber anders vorstellen mag. Musik 22 Nono, frei Darüber Abmoderation Musik 22 ENDE Stunde 3