DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Tel. (0221) 345 1503 Ich schlafe nicht. Leben mit dem Tod Von Constanze John Sprecherinnen: Renate Fuhrmann und Camilla Renschke Redaktion und Regie: Ulrike Bajohr Produktion des Deutschlandfunks 2008 URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? DeutschlandRadio Produktion: 13. bis 15. Oktober Sendung: 24.Oktober 2008 1 Tango/ Bergerac/ L'art de passage/ Komposition: Tobias Morgenstern 2 Franz Schubert: Klaviertrio Es-Dur 1. Satz 3 Franz Schubert: Klaviertrio Es-Dur 2. Satz 4 Wolfgang Amadeus Mozart: Streichquartett G-Dur, 1. Satz 5 Wolfgang Amadeus Mozart: Streichquartett G-Dur, 3. Satz 6 J. S. Bach Partita, Shlomo Mintz 7 J.S. Bach, Sonate Nr. 3, Adagio, Arch. 6054872 8 01 Ute: Das ist - das ist nicht Trauer, das ist Fassungslosigkeit. So kann man vorbereitet sein, wie man will. Das ist ein Erdbeben oder - und zugleich ja die Pflicht, möglichst ruhig und heiter zu sein. 02 Käthe: Die Natur ist so. Die Natur kommt und geht. Und wir sind eben ein Stück Natur auch. Aber du kannst eben auch nicht so viel Geschrei um dich herum machen. Das mag ich nun auch nicht. Sich so furchtbar wichtig nehmen. 03 Inge: Es ist ein Wellengang. Mal gehen die Wellen hoch, mal gehen sie schön sanft. Und dann kommt wieder eine Sturmflut. Und dann muss man sehen, dass man nicht ins Uferlose gespült wird. M1: Bergerac/ Tango/ Tobias Morgenstern / darauf Ansage: Ich schlafe nicht. Leben mit dem Tod. Ein Feature von Constanze John A CD Meeresrauschen /A01 Zug/unter Text: Sprecherin 2: Steh nicht weinend an meinem Grab, ich bin nicht dort unten, ich schlafe nicht. Ich bin tausend Winde, die weh ´n, ich bin das Glitzern der Sonne im Schnee, Ich bin das Sonnenlicht auf reifem Korn, ich bin der sanfte Regen im Herbst. Sprecherin 1: Wenn du erwachst in der Morgenfrühe bin ich das schnelle Aufsteigen der Vögel im kreisenden Flug. Ich bin das sanfte Sternenlicht in der Nacht. Steh' nicht weinend an meinem Grab, ich bin nicht dort unten, ich schlafe nicht. (Quelle: American Indian) M 1: Bergerac/ Tango/ Tobias Morgenstern, unter Text. Sprecherin 1: Wir treffen uns ein-, zweimal im Jahr. Meine drei Freundinnen Käthe, Ute und Anna sind viel Jahre älter als ich, Käthe vierzig, Ute zwanzig, Anna dreißig Jahre älter. Mal treffe ich mich mit der einen, mal mit der anderen. Käthe, Ute und Anna. Meine drei weisen Frauen. Wie ist das mit dem Leben? Mit dem Alleinsein? Und wie mit dem Sterben und dem Tod? Wenn wir uns nicht sehen, dann telefonieren wir, schreiben Ansichtskarten oder Emails. Da gehört es fast schon mit dazu, dass bei einem Telefonat nach längerer Pause ausgerufen wird: "Das ist ja merkwürdig. Gerade habe ich an dich gedacht!" Musik hoch, verbl. mit A 01, darauf: . Sprecherin 2: Käthe, 93 Jahre A 01 hoch, weg. 04 Käthe: Und das sind eben so Dinge. Ich finde, die muss man sich auch vorher mal durchdenken. Wenn man älter geworden ist, durchdenkt man sie sich auch. Also, ich habe da keine Angst vor dem Tod. Das ist das ganz Normale. Die Kinder leben weiter. Und es wird weitergehen, das Leben. Und ich kann nicht von ihnen verlangen - Es könnte sein, ich sterbe noch Anfang Oktober und Ende Oktober kommt das Kind, das neue Enkelchen. Das hat mehr Anspruch auf Zuwendung als ich, das ist so. (32") A01 kurz hoch , dann unter Text zügig weg: Sprecherin 1: Käthe ist die Älteste im Kreis. Sie ist dreiundneunzig Jahre alt und lebt allein in einer kleinen Wohnung in Rangsdorf bei Berlin. Der Sohn, die Enkelkinder, die Urenkel, Freunde und ehemalige Studenten sind übers Land verteilt. Die Züge, die regelmäßig hinter Käthes Fenster vorüber fahren, erinnern: Ja, es wird beschwerlich, das Reisen, aber es finden sich immer wieder Wege. Denn Käthe reist noch: zur Familie und auch zu Lesungen. Seit der Pensionierung ist ihr das Schreiben Lebenszentrum. M 2: Schubert, Piano Trio in E flat, D. 929, Klaviertrio Es-Dur, 1. Satz, Allegro Aufklingend, dann unter nächstem O-Ton 05 Käthe/ Sprecherin 2: Tief in der Grotte Morassina gilt als Maß des Schönen: Sehr alt zu sein, so wie das Felsgestein es offenbart. (Quelle: Käthe Seelig) M 2 hoch, übergehend in - A 01 : Fahrender Zug - A02 Begräbnis 1 (Schritte, Stimmen, Instrumente werden gestimmt), unter Text Sprecherin 1: Jahrzehntelang lehrte Käthe an der Theaterhochschule Leipzig Ästhetik. In den 60er Jahren studierte dann auch Eva-Maria bei ihr. Käthe hatte Eva-Maria schon als Kind gekannt. Sie war ihre "Tante Käthe". Der Studentin wird sie zur Vertrauten. Und sie, die dreißig Jahre ältere Freundin, spricht dann auch die Abschiedsworte, als Eva-Maria mit Mitte Fünfzig, wie es in der Todesanzeige heißt: "völlig unerwartet aus dem Leben gerissen" wurde. Je älter Käthe wird, umso einsamer wird es um sie herum. Alle sterben: der Bruder, der Vater, die Schwester, die Großmutter, die Mutter. In den 60er Jahren der erste Ehemann, vor zwei Jahren der zweite Ehemann - und nun eben auch Eva-Maria. 06 Käthe: Also praktisch dreißig Jahre, genau dreißig Jahre. Aber ich weiß auch nicht. Sie hatte also immer irgendwie Vertrauen zu mir. Ist oft mit in die Tschaikowskistraße gekommen, sind wir da hinten durch den Park gegangen, haben wir erzählt uns. Lacht Weißt ja, so Kleinigkeiten, so: "Tante Käthe, hast du Käse oder so?" Da hat sie doch eine Zeitlang keine Wurst und kein Fleisch gegessen. 07 Käthe: Ich lebte alleine. Aber sie hat sich oft dafür interessiert: "Wie ist das so, wenn man alleine lebt? Wie ist das? Ist man da besonders oft traurig? Oder so?" 08 Käthe: Da gab's so einen schönen Süßwein bei uns. Das war ein Wermut. Eine Wermutart. So eine Flasche Wein haben wir dann mal getrunken. Dagesessen. Aber in aller Ruhe. Und erzählt und erzählt. Und eben über Gott und die Welt gesprochen, über ästhetische Fragen. Dann, später wurde es dann eben Philosophie - Hegel und so. Nicht? Das sie beschäftigt hat. Aber es war für sie eben immer, immer irgendwie die Suche auch nach Irgendwas. Sie suchte nach irgendwas. M 2, Zäsur 09 Käthe: Ich krieg ( ... ) eine Karte ( ... ): "Eva -Maria ist tot". Ich dachte, ich werde nicht wieder. Das war - ich war so traurig darüber, weil wir uns noch getroffen hatten ( ... ) in Köpenick. Und da hatte ich eine Lesung. Und da war sie mit dabei. Sprecherin 2: Tief in der Grotte Morassina gilt als Maß des Schönen: Sehr alt zu sein, so wie das Felsgestein es offenbart. (Quelle: Käthe Seelig) 10 Käthe: Und nach der Lesung sagt sie: "Ach, komm doch noch mal mit in die neue Wohnung. Wir haben jetzt die neue Wohnung. Die hast du doch noch gar nicht gesehen." Und ich musste aber noch zu einer Veranstaltung im Puppentheater. Das war vormittags. Die war dann nachmittags. Und da sag ich: "Ich komme ganz bestimmt, Eva. Und dann haben wir Zeit für uns." M2 Zäsur 11 Käthe: Also sie hatte bei mir nie eigentlich den Gedanken an den Tod geäußert. Nie. Und das war für mich so tragisch, so unheimlich plötzlich und aus dem Leben raus. Wir haben dann da auch noch ein Glas Wein getrunken, alle zusammen, und wieder erzählt von alten Zeiten an der Hochschule. Aber ich merkte, drunter irgendwo war sie ein bisschen unglücklich. M2 Zäsur übergehend in - A 01 unter Text: Sprecherin 2: An die Erde das lauschende Ohr, und ihr werdet hören, durch den Schlaf hindurch werdet ihr hören wie im Tode das Leben beginnt. (Quelle: Nelly Sachs) M 3:Schubert, Piano Trio in E flat, D. 929, Klaviertrio Es-Dur, 2. Satz, Andante con moto unter 13 13 Käthe: Was bleibt? Solange man sich erinnert, ist der Betreffende nicht tot. Aber ich werde ja auch sterben. Und sie hat auch keine Kinder,? Was bleibt? Strittmatter mit seinen Gedanken - irgendwo kommt man wieder. Ich weiß es nicht. Ist es auch entscheidend? Ist nicht entscheidend! Wenn du gelebt hast, hast du gelebt. M3 hoch und weg 12 Käthe: ... Ihre Frische, diese Unbedingtheit auch, und gleichzeitig diese liebevolle Art und Weise, wie sie eben so an mir hing, wie sie mit mir umging. Und das absolute Vertrauen, das sie mir entgegen brachte. Denn ich hab das fast alles immer miterlebt. Nun kannte ich sie ja schon, da war sie noch - vier Jahre, nicht? Nein, sechs. 14 Käthe: Ihre, ihre Fähigkeit - sich zu freuen. Langes Nachdenken/ Schweigen Sich zu verlieben. () Gern! Gern und oft! Aber Honza war eben die größte Liebe, nicht? Und das kam nicht wieder. 16 Käthe: Honza? Ich hab ihn kennengelernt. Ich hab das ja miterlebt, wie die beiden an dem Hang standen, oben, bei dem Schloss in... Wie heißt denn das Schloss? 17 Käthe: Jedenfalls da standen die beiden. Und da hab ich sie so gesehen. Und die Kirschbäume, die blühten, da an diesem Hang. Und die beiden standen so sich gegenüber und sahen sich eigentlich nur an, haben sich dann so an den Händen gefasst. Und dann waren sie ganz vollkommen in sich versunken. ( ... ) Und dann war eben noch - Weimar besuchen, Buchenwald. Und da hat wohl Honza ihr auch erzählt, nicht, von seinen Eltern, in dieser Zeit, (nicht)? Dass die Mutter ja doch Jüdin war. M 3 hoch, unter Text: Sprecherin 2: Einmal ist ein Mädchen zu uns gekommen. Wir kannten es. Aber wir kannten es nicht. Weil es freundlich war, ließen wir es die Stufen zu uns herauf laufen. Oben steht der alte Holzstuhl. Das Mädchen schaute sich nicht um. Sie kannte alles schon und zog ihren kleinen Körper auf den Stuhl. Als sie dann oben saß, ließ sie ihre Beine baumeln und rief uns zu: "Und eure Zungen? Was ist mit euren Zungen, wenn ihr sie schon habt? Tragen sie Kleider? Tragen sie Hosen? Beginnt mal zu erzählen!" (Quelle: Constanze John) M 3 hoch und weg 18 Käthe: Ja, das hat sie sehr bewegt. Sie hatte da irgendwie auch einen Nerv dafür. Also für die jüdischen Schicksale. Und darum war ihr das wahrscheinlich auch wieder eine besondere Begegnung. 20 Käthe ... eine wunderschöne, wunderschöne Liebe. Und wenn sie eben rüber gefahren ist, sagt sie: "Das sind überhaupt ganz andere Menschen." 21 Käthe: Vor allem hat sie dann tschechische Filme geliebt. Weil die als Hintergrund so zarte Liebesgeschichten hatten. Sie sagte: "Und diese ganze Poesie, die eben darin steckt, das ist viel stärker als bei uns, nicht?" Sie hatte ein sehr gutes Gefühl dafür. 24 Käthe: Und wenn sie von niemandem Recht kriegte, von mir kriegte sie eben Recht. ( ... ) Wir haben auch nie Auseinandersetzungen gehabt. Nie! Und wenn sie dann - "Ach, Käthe!" Ne? So heiter sie also sein konnte, aber dann hat sie auch - Und das hat zugenommen im Alter, eine resignative Stimmung. Irgendwo - als ob sie das auch schon - 25 Käthe: "Ach, Käthe", sagte sie immer. "Ach, Käthe!" A 03 Begräbnis 2 (Stille, Beginn der Musik) aufscheinend, dann übergehend in CD-Aufnahme (M3) 23 Käthe: Ich war jedenfalls so erschüttert, dass ich tagelang das gar nicht fassen konnte. Mitten aus dem Leben, nicht? M 3 unter 26 und 27 mit winziger Zäsur 26 Käthe: Ich weiß es nicht. Aber auf jeden Fall ist sie nicht wieder erwacht aus dem Koma. 27 Käthe: Aber ich - die Eva - so von Kindheit an. Und dann plötzlich mit sechsundfünfzig Jahren - und dann immer bei mir der Gedanke: "Warum bist du bloß damals nicht mitgegangen? Hättest du doch Puppentheater Puppentheater sein lassen!" Denn sie - sie brachte uns noch zum Auto. "Ach", sagte sie. "Das ist so schade!" Das war das letzte Mal, wo ich sie gesehen habe. Atmet tief durch. A01 Zug 29 Käthe: Vorm Tod nicht, aber vorm Sterben. Ne, wenn sich das so lange hinzieht. Deshalb bin ich auch richtig froh, dass Rudolf dann eben gesagt hat: "Ich will nicht mehr." Hat nicht mehr gegessen und getrunken und ist eben dadurch schneller zu Ende gekommen. Als zu leben mit Demenz. Also ich finde diese Seite des Lebens ist die schrecklichste. Nicht mehr normal denken zu können und nicht mehr das Bewusstsein zu haben: Wo bin ich eigentlich? Und was mach ich eigentlich jetzt? Das ist schrecklich, Constanze. Das wäre mir furchtbar. Alles andere - ist das der normale Lauf der Welt! 30 Käthe: Und ich will's auch gar nicht wissen. Ich will mir bis zum letzten Augenblick b- einen Zipfel Heiterkeit. Ich will's nicht. Und es ist gut, wenn's überraschend kommt. M 3 hoch , unter Text Sprecherin 2: ....gilt als Maß des Schönen: Sehr alt zu sein, so wie das Felsgestein es offenbart. (Quelle: Käthe Seelig) 32 /Käthe: Ich würde gern noch ein paar Jahre leben, ein bisschen schreiben. M 3 in A 01, darauf 33 Käthe: Na, also ich freu mich daran, dass ich auch Zeit da habe. Mein, das ist die andere Seite: Wenn Rudolf leben geblieben wäre, ich hätte gar keine Zeit gehabt, und ich hätte ihn gepflegt, ich hätte ihn dann nicht immer in dem Heim behalten mögen. Und ich war ja schon richtig abgemagert. Das war ja also ziemlich schlimm. Aber - und das ist natürlich - aber es ist eben egoistisch. Aber es ist natürlich - muss ich auch so sehen. 34 Käthe: Weil - das Leben ist schon kompliziert. Aber wie kriegt man alles zu fassen? Das wird dir auch so gehen. Wie kannst du alles fassen? Und auch gerecht sein. Gerecht. A 04: Begräbnis 3 (Ende der Begräbnisrede, "Meine Eva-Maria soll ruhig schlafen." ... "Leb wohl, Eva-Maria") ---------- M 3 unter Text Sprecherin 2: Ich bin nicht dort unten, ich schlafe nicht. Ich bin tausend Winde, die wehn, ich bin das Glitzern der Sonne im Schnee. (Quelle: American Indian) ------------- A01 Fahrender Zug --- M1 Tango darauf: Sprecherin 2: Ute, 70 Jahre M1 hoch - A01 unter O-Ton weg 35 Ute: Ich nehme mir nichts vor. Ich lasse geschehen. Ich halte das für besser. Ich habe das versucht. Ich habe nach dieser Klausur, von der ich sprach, gesagt: "So, und jetzt lebst du einfach normal!" Und habe mir täglich irgendetwas zur Pflicht gemacht. Das waren also Vernissagen und Ausstellungen und Vorträge - und zwischendurch zur Erholung, wenn das Wetter es wollte, in die Landschaft - und das überfordert mich. Das. Jetzt versuche ich einfach ein, ein Maß zu finden. Und ich hab mich dran gewöhnt, dass Johannes neben mir hergeht. Das hat mich beunruhigt, anfänglich. Jetzt nicht mehr. A01 hoch und weg Sprecherin 1: Ute ist die jüngste in meinem persönlichen Ältestenrat. Ute kommt vom Theater, genau wie ihr Mann. Beide waren sie Schauspieler. Zuletzt in der sächsischen Industriestadt Zwickau. Während Johannes wegen einer psychischen Erkrankung vorzeitig in den Ruhestand gehen musste, stand Ute vor fünf Jahren noch auf der Bühne. Johannes kommentierte Weltgeschehen. Zum Beispiel im städtischen Literaturkreis, wo er auch die Umstände seiner Kindheit im westfälischen Bocholt schilderte, die Zeit des aufkommenden Nationalsozialismus und den Übergriff eines katholischen Pfarrers auf ihn als jungen Mann. Johannes schrieb über all das. Neben Johannes ging immer Ute, auch wenn sie gerade nicht neben ihm ging. Er zuletzt leicht gebeugt, langsam, sie noch immer sehr gerade, ihr dunkles, halblanges Haar mädchenhaft hinters Ohr gestreift. M 4: Mozart Streichquartett KV 387, G major/ sol majeur, G-Dur, 1. Satz unter 36 und 37mit winziger Zäsur 36 Ute: Wir saßen gemeinsam am ersten Tag der Spielzeit, die Vollversammlung erwartend, auf einer Bank vor dem Theater in Rudolstadt, und Johannes fühlte sich etwas befangen, wie das so ist, wenn man mit neuen Kollegen zusammenkommt. Wir waren beide neu. Und begannen ein Gespräch über die Qualität des Wassers der Saale. Ob man da wohl schwimmen könne - obwohl er nie schwimmen gelernt hat. 37 Ute: Und eines Tages fragte er mich: "Wann heiraten wir eigentlich?" Und ich - war etwas verblüfft. Aber mir war auch klar, also - ich wollte damals unbedingt ein Kind, aber keinen Mann. Und Johannes kam natürlich sehr in Frage, aber der war mir dann zu schade, bloß um ein Kind in die Welt zu setzen. Und es war uns klar geworden: Wir trennen uns eh nicht. M4 hoch und weg Sprecherin 1: Ute sitzt auf ihrem großen dunklen Ledersofa, schenkt mir mit flinken Bewegungen Tee ein und reicht den Teller mit Waffelgebäck. Während des Gespräches steht sie zwischendurch auf, stellt sich in die geöffnete Tür zur Küche hin und raucht. Dabei erzählt sie weiter. Und Johannes, vor einem Jahr mit achtundsiebzig gestorben, wird dabei wieder gegenwärtig. Sie scheinen füreinander geschaffen gewesen zu sein, Ute und er. Von Thüringen zogen sie nach einem Engagement an der Ostseeküste weiter nach Sachsen. Das war vor vierzig Jahren. Der Sohn wurde auf Rügen geboren. Die beiden Enkelkinder kamen in Leipzig zur Welt. evt. M 4 kurz Sprecherin 2: Wir sind nicht auf Erden, um zu leben. Wir sind gekommen, um zu schlafen nur, um zu träumen. Unser Leib ist eine Blume; wie das Gras im Frühling ergrünt, so öffnen sich unsere Herzen und treiben Knospen, um zu blühen und dann zu verwelken. (Quelle: Das Leben ist ein Traum/ Azteken/ Die Weisheit der Indianer) M 4 hoch, unter 38, 39 und 41 38 Ute: Ich erinnere mich an manchen verzweifelten Abend, wenn er ein Stück das erste Mal las. Dann erschienen am Rand an die zweihundert Fragezeichen, Striche und dergleichen ... Und die Schwierigkeit bestand darin: Wenn wir uns mit diesen tausend Fragen beschäftigten, dass er immer an der Stelle, wo etwas sich ihm nicht öffnete, stehen blieb ... Und wenn man jetzt sagte: "Johannes, (lies mal weiter)! Das erschließt sich dir! Aber du musst jetzt mal drüber weg lesen und sagen: Gut, das ist eine Frage." - Das geht bei Johannes nicht. Johannes muss es wissen. 39 Ute: Aber ich habe mit kaum einem Menschen so viel gelacht wie mit Johannes. Einer, der das Leben sehr genießen konnte. Und einer, der durch eine sehr tiefe Störung und Verletzung in der Kindheit und durch sehr viele ungünstige Faktoren - also, zwar Liebe in der Familie, aber totales Unverständnis - eine sehr holprige Entwicklung ( ... ) Also das Schutzbedürfnis hab ich bei keinem Menschen so erlebt wie bei Johannes. M4 hoch und weg 40 Ute: Was er mir vor allem gegeben hat, ist - Tiefe, sehr viel Zärtlichkeit und Verständnis. Ich bin nicht so offenherzig wie Johannes. Aber er hat mich verstanden. Sprecherin 2: Erkenne doch dein eigenes Wesen, gerade Das, was vom Durst nach Dasein so erfüllt ist, erkenne es wieder in der innern, geheimen, treibenden Kraft des Baumes, welche, stets eine und die selbe in allen Generationen von Blättern, unberührt bleibt vom Entstehn und Vergehn. (Quelle: Schopenhauer) 42Ute: Beide haben wir den Krieg erlebt, beide haben wir schon als Kinder Tote gesehen. Und ich persönlich habe viel zu früh Schopenhauer "Über den Tod" gelesen. Da war ich dreizehn ungefähr. 43 Ute: Und da fand ich eine tiefe Beruhigung in dem Gedanken, dass der Zustand nach dem Leben derselbe ist wie vor dem Leben. Und wir haben eigentlich immer den Tod ins Leben einbezogen und als nichts Schreckliches empfunden. Wir haben auch darüber gesprochen, dass wir beide keinen Krieg mehr erleben werden. Das heißt, dass wir uns dann davon machen, weil wir - das wollten wir beide um nichts in der Welt noch mal. M 5: Mozart Streichquartett KV 387, G major/ sol majeur, G-Dur, 3. Satz unter 44 /45 45 Ute: Er hat gesagt: "Ich will sterben!" Das war, das war ein furchtbarer Moment, obwohl wir darauf vorbereitet waren, und Johannes schon zweimal in Todesnähe war, und ich aber immer gesagt habe: "Nein, das ist nicht soweit. Man sieht das an den Augen." Und diesmal war's soweit. Das war klar. M5 weg Und wir haben uns beraten und haben Johannes noch gefragt: "Wie ist das: Wenn du nun aber keine Medikamente mehr nimmst ... " - der konnte ja auch nicht mehr schlucken. Wir hätten 's auflösen müssen und und und - " ... dann kann es doch sein, dass du Schmerzen hast, dass du Angst bekommst, dass du in einen furchtbaren Zustand gerätst." Und er sagte: "Trotzdem!" 46 Ute: Ja, er hatte großen Appetit auf Bier. Daraufhin hat eine sehr langjährige Freundin gesagt: "Ja, jetzt kriegst du Bier!" ( ... ) Ich war erst etwas entsetzt, aber die Kata sagte: "Nein, das Recht hat er! Wenn ihm Bier jetzt schmeckt, bekommt er Bier." Dann bat uns Johannes, ihn nach Hause zu holen. 47 Ute: Und daraufhin habe ich seine Hausärztin angerufen, die sich wunderbar verhalten hat, in diesem ganzen Vorgang, und sie hat mir ihre private Handynummer gegeben und hat gesagt: "Sie können Tag und Nacht mich rufen. Sobald der Mann Schmerzen hat oder etwas Beunruhigendes eintritt, bin ich da und helfe ihm!" 48 Ute: Und er war unerhört erleichtert, als wir ihm sagen konnten: "Um zwölf bist du zu Hause!" Und von dem Moment an hat sich - also ein tiefer Frieden eingestellt. Und es bildete sich ein Rhythmus heraus, von zwei Stunden klarem Wachsein, mit leicht behindertem Sprechen, aber wir konnten uns ausführlich und gut unterhalten, wie schon in der Nacht im Krankenhaus. Dann kamen zwei Stunden so mit Dämmerzuständen, in denen er auch Visionen hatte. Davon spreche ich dann. Und dann schlief er immer etwa zwei Stunden. Und empfand es als sehr schön, dass immer jemand da war, immer eine Hand. Dass er nie das Gefühl von Angst oder Beklemmung hatte. Ich habe ihn mehrfach gefragt. Er sagte: "Nein, keine Schmerzen. Keine Angst." Sprecherin 2: Menschen und Vögel suchten nichts mehr. Die Vögel verschwanden im Nebel. Die Menschen ermüdet, sprachlos geworden im Dunkel, vom Schnee bedrängt, schliefen sie ein. (Quelle: Johannes Büning) 49 Ute: Und als klar war, dass es diesmal zu Ende geht, da hat mein Sohn, der ausnahmsweise mal tagelang zu Hause war, die Kinder sofort eingepackt, hat sie hierher gefahren und sie haben den Großvater mit gepflegt. Der Kleine, der damals sechs Jahre alt war, mit - es war sehr heiß und Johannes schwitzte stark - mit `nem Propeller. Meine kleine Enkelin, zehn Jahre alt, fächelte ihn mit einem Bühnenfächer. Und sie haben ihm die Füße gesalbt und den Rücken gesalbt und haben ihm Basteleien geschenkt und ihm richtig "Auf Wiedersehen!" gesagt. 50 Ute: Wir haben also erlebt, dass Johannes bewusst gegangen ist. Er fragte einen Tag vor seinem Tod plötzlich: "Du sag mal, da ... " Er sah das immer da an dieser Wand. "Das ist doch der Mann, der die Toten abholt, an dem großen Fluss!" Er meinte offensichtlich Charon und den Acheron und Lethe. Er sagte: "Ich muss jetzt los. Ich bin in zehn Minuten da. Kommst du mit?" Und ich sage: "Ich komm mit. Ich kann aber nur bis zu dem Fluss mitgehen. 52 Ute: Er hat noch lange mit dem Sohn mal unter vier Augen gesprochen. Und er hat sich bedanken können, er hat sich verabschieden können, er hat sich entschuldigen können, wo es mal nötig war. 55 Ute Nein, es war alles gut. Und er sagte, war so froh, dass immer jemand da war, und er sagte sehr häufig: "Gute, gute Menschen!" Und hat sich auch in (Auto im Hintergrund) einer oft geäußerten Haltung revidiert - nämlich dass er die Annahme zuließ, dass die Menschheit doch vielleicht gut ist - im Ganzen - was er immer bezweifelt hatte. 53 Ute ... am Abend vor seinem Tod hatte er noch gesagt: "Wir haben jetzt so viel übers Sterben gesprochen, aber das ist ganz anders. Das ist ja ein großes Erlebnis!" 54 Ute: Und am 18. begann dann mittags der Todeskampf, der aber nur vom Körper ausging. Also Johannes war ganz ruhig, aber er begann stark zu schwitzen. Und das Herz schlug sichtbar in ganz irrem Rhythmus, und eine Freundin war da, Marina, die sagte: "Johannes, ich weiß, du bist ein ungläubiger Mensch. Aber ich bete jetzt für dich." Das tat sie auch. Und Johannes fand das auch in Ordnung. M5 hoch. unter Text weg Sprecherin 2: ... Denn tausend Jahre sind vor dir, wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom. Sie sind wie ein Schlaf, (M5 weg) wie ein Gras, das am Morgen noch sprosst und des Abends welkt und verdorrt ... (Quelle: Psalm 90) 56 Ute: Und den letzten Moment hab ich nicht erlebt, weil ich gerade ans Telefon gerufen wurde und Marina saß bei ihm und sagte: "Es war ganz leicht. Er hat zweimal eingeatmet, leicht röchelnd und nicht mehr ausgeatmet." A01 Zug.... M 5, leise unter 57, lauter unter 58 57 Ute: Ich habe überhaupt nicht das Gefühl, dass Johannes weg ist. Und ich habe Freudsche Fehlleistungen noch und nöcher. Ich wache - bin die erste Zeit immer noch nachts zu den Zeiten, wo ich ihn begleiten musste, aufgewacht, und ich habe wochenlang nicht an diesem Tisch essen können. Ich stell jetzt immer Blumen hin. Dann geht das. 58 Ute: Und jetzt sprechen sie viel vom Großvater. Und der kleine Herrmann, der ein Abenteurer ist, sagt: "Der Großvater hat's jetzt gut! Der kann überall hingehen und keiner sieht ihn. Der kann ins Kino gehen und keiner sieht ihn. Und er kann Einbrecher beobachten und keiner weiß das. Und er kann fremden Leuten Eis wegessen und niemand weiß, wie das passiert!" Und ich dachte immer in dem Zusammenhang an Sartre "Das Spiel ist aus", aber das kennt er natürlich noch nicht. Und Marlene sagt: "Ach, der Großvater sitzt jetzt - nein! - der liegt auf einer Wolke und guckt uns zu und freut sich." M 5 hoch, unter Text Sprecherin 2: Der einzige Wert eines Menschen ist seine Seele. Deshalb wurde ihr ewiges Leben gegeben, entweder im Land des Himmels oder in der Unterwelt. Die Seele ist die mächtigste Kraft des Menschen. Es ist die Seele, die uns zu Menschen macht, doch wie ihr das gelingt, wissen wir nicht. (M5 weg) (Quelle: Die Seele macht uns zu Menschen/ Ikinilik/ Utkuhikjaling-Eskimo/ Die Weisheit der Indianer) 59 Ute: Ich habe dann, nach dem Tod, gemerkt, dass ich in dieser unendlichen Fürsorge von allen Seiten überhaupt nicht trauern kann. Und habe dann darum gebeten - mich mal - das waren dann zwei Monate - völlig mir zu überlassen. Weil ich gemerkt habe - natürlich haben wir zusammen geweint, das geht, aber Trauern ist eine ganz einsame Arbeit. A01 Zug --- M1 Sprecherin 2: Anna, 77 Jahre A01 Zug oder Atmo/CD Meeresrauschen Unter O-Ton weiter 60 Inge: Ich hab ja dann zwischen drei und vier Jahren meine erste Tote gesehen. Nachbarin. Eine alte Frau, die ich auch kannte und die ich sehr mochte. Und da ging meine Mutter dann zum Kondolenzbesuch. Und ich ging mit. Und wie das so üblich war, wenn jemand gut anzusehen war, dann wird gesagt: "Möchten Sie oder möchtest du die Tote noch mal sehen?" Und tja, da sagten sie: "Die Inge kann doch auch mitgehen. Möchtest du mal Oma Minchen noch mal sehen?" "Ja", habe ich gesagt. Und sie war so schön aufgebahrt und sah so richtig schön wie im Leben auch schlafend aus. Und das war meine erste Tote. A01 oder Atmo CD verbl. mit M6: Bach, Partita, unter Text weg Sprecherin 2: Und sie kamen nahe zu dem Orte, wo sie hingingen. Und er stellte sich, als wollte er weiter gehen. Und sie nötigten ihn und sprachen: "Bleibe bei uns. Denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt." Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben. (M6 weg) (Quelle: Lukas 24) Sprecherin 1: Auf dem Lande wurde Anna geboren. Und noch heute lebt sie in einem Dorf im Bergischen Land. Überhaupt ist Anna immer geblieben - bei ihren Eltern, bei ihrem Mann, bei ihren beiden Söhnen. Und bei sich selbst. Einmal wurde ihr ein Stipendium für eine Ausbildung zur Lehrerin angeboten. Sie lehnte damals ab. Ganz im Sinne ihres Ehemannes und ihrer Familie. Wer mit Anna durchs Dorf geht, findet Weite vor. Vor zweiundzwanzig Jahren starb Annas Mann. Seitdem lebt sie allein. Gerade gestern war sein Todestag. Musikzäsur 7: Bach, Sonate 61 /Inge: Ich bringe ihm nach zweiundzwanzig Jahren noch Blumen. Ich liebe ihn nach wie vor, weil er ein wertvoller Mensch war. Ich traure auch noch um ihn, aber anders als wenn's gerade passiert oder wenn man vor die Tatsache gestellt wird, damit konfrontiert: Es kann nicht wieder besser werden. Und wenn man denjenigen dann leiden sieht, man leidet mit ihm. Und ich habe das schon mal öfter gesagt: Das ist unverzeihlicher Egoismus, wenn man dann nicht loslässt. (M7 weg) Man muss loslassen. Sprecherin 2: Sieh jene Kraniche in großem Bogen! Die Wolken, welche ihnen beigegeben Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen Aus einem Leben in ein andres Leben. (Quelle: Bertolt Brecht: Die Liebenden) M 7: unter 62 62/Inge: Glauben ist ja auch ein Geschenk. Vielleicht muss man da zunächst mal drum bitten. 63/Inge: Als Kind? Da hatte ich ja meine Eltern. ( ... ) Ich hatte immer eine Hand, wo ich nach greifen konnte. Ich denke, dass mir das viel vermittelt hat. Und später, Constanze, durchs Gebet. Ich hab immer um Kraft gebeten. ( ... ) Mein Verhältnis zu Gott oder meine Vorstellung von Gott bei mir ist nicht so, dass ich sagen kann: Er ist für mich ein Verhandlungspartner - wenn du mir, dann ich dir. Also dann braucht man sich dem Glauben gar nicht zuzuwenden. Denke ich. Meine Erfahrung ist auch, dass ich mich an Gott wende im Gebet und um Kraft bitte, mit der Situation, in der ich jeweils bin, umzugehen, fertig zu werden. Aber die Kraft, die erbitte ich mir. Und ich muss sagen, da habe ich gute Erfahrungen gemacht. Und ich bete auch schon mal: Schick mir Menschen, die mir ein Stück weiterhelfen oder von denen ich das Gefühl hab, denen kannst du Vertrauen, dass ich nicht enttäuscht werde. 64/Inge: Ich war jung. Und ich war stark. Und das hat mir schon Spaß gemacht. Das war immer auch eine Herausforderung noch. Denn ich hab immer den Eindruck gehabt, dass mein Vater gerne einen Sohn gehabt hätte. Und da hab ich gedacht: Irgendwie musst du in der Richtung ihm versuchen, doch eine Freude zu machen! Ersatz zu bringen. Und ich konnte doll, richtig zupacken auch. M 7, als Zäsur Sprecherin 1: Einer von Annas Söhnen ist mit seiner Familie im Dorf geblieben. Sie wohnen Tür an Tür. Von Annas Wohnzimmer aus ist weit ins Bergische Land hinaus zu sehen. Die Bäume stehen hoch. Das Land wirkt urwüchsig grün und rau. Der Kaffeetisch ist gedeckt. Anna trägt eine cremefarbene Seidenbluse, die leise knistert, wenn sie Kaffee eingießt oder beim Erzählen ihre Worte mit den Händen unterstreicht. Oder wenn sie, wie jetzt, ihre Aufzeichnungen nimmt und vorzulesen beginnt: 65/Inge(links): Das wichtigste aber war unser Schäferhund Prinz. Er wurde mein erster Freund. Wir waren gleichaltrig. Und wenn Prinz nicht gerade schlief oder sonst irgendwo im Dorf unterwegs war - das war ja früher so üblich, dass Hunde frei laufen konnten - folgte er mir auf Schritt und Tritt. Beim Fangenspielen mit anderen Kindern half er mir meine Verfolger abzuschütteln, indem er sie an der Jacke festhielt oder sie ( ... ) in die Oberschenkel zwickte. 66/Inge(Mitte): Und was diesen Prinz anbelangt, das war ja auch, der gehörte ja zum Hof. Und dann hatten wir Einquartierung und da stand die Feldküche bei uns auf dem Hof. Und da war er sehr befreundet mit dem Koch. Und das ist ihm nicht gut bekommen. Und darauf ist er krank geworden. Und darauf hat mein Vater gesagt: "Also, die Quälerei, das möchte ich nicht mehr." Und dann war er gut bekannt mit einem Jagdhüter, und dann ist er mit dem Hund gegangen. Wir saßen am Mittagstisch. Vater kam und kam nicht wieder. Keiner kriegte einen Bissen runter. Und schließlich kam er und brachte den Prinz wieder mit. Und - die beiden waren zu Fuß unterwegs. Haben wir gesagt: "Wie das?" "Tja", sagt er. "Er hat sich unterwegs hingelegt. Wahrscheinlich weil er auch nicht mehr konnte, und hat mich so treu angeguckt. Da hab ich gesagt: Weißt du, Prinz, wir wollen wieder nach Hause gehen!" ( ... ) So eng war die Beziehung dann. Und wenn ein Pferd wegging, dann waren wir auch alle krank. Aber mit () Kühen und Schweinen war das etwas lockerer. 67 Inge: Ich glaub doch, dass es eines Tages dann doch soweit war. Dass er den Gnadenschuss bekommen hat. Da muss ich mich mal drauf besinnen. M 7, unter Text 68 Inge: Constanze, man lebt, vielleicht gerade in solchen Breiten, Kleinstadt und Land, in unterschiedlichen sozialen Strukturen, die vielen gar nicht bewusst sind. Die einen leben ganz konkret hier. Und die anderen leben ganz konkret da. Dass ich denke, dass es möglich sein könnte, wenn einer vom anderen mehr wüsste, dass das Verhältnis der Menschen untereinander ganz anders sein könnte, viel friedlicher, viel harmonischer. Sprecherin 2: Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde; geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit; ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit. (Quelle: Salomo 3) M 7 , unter 69 69 Inge: Und das nächste war ja dann mein Mann, der ist im Krankenhaus gewesen -und da bin ich bis zum letzten Atemzug bei ihm gewesen. Und es war auch insofern für mich beeindruckend, weil - weil es so war, dass ich kurz vorher so sehr erschöpft war, dass man mir eine Liege reingeschoben hat, und gesagt hat: "Jetzt ruhen Sie sich auch mal einen Augenblick aus!" Und da bin ich dann auch eingeschlafen kurz, und als ich wach wurde, hab ich nach meinem Mann geguckt und hab gedacht: "Naja, so wie ich das jetzt - ich kannte ja schon Tote lacht vorweg - wie ich das so sehe, wird es wohl bald soweit sein." Da bin ich mal rausgegangen, ins Ärztezimmer. Da war der diensthabende Arzt. Und sagte: " Auf dem Monitor stellt sich noch gar nichts dar. Aber ich habe die Erfahrung, dass sich Menschen, die sich sehr nahe gestanden haben, sehr nahe stehen, dass die eher Bescheid wissen wie der Monitor. Gehen Sie rein zu Ihrem Mann!" M7 weg 70Inge: Ja, nun bin ich bei ihm gewesen, und da habe ich zum ersten Mal in vollem Umfang empfunden, ja, ich muss das so sagen: Wie majestätisch der Tod ist. Wie dominierend er im Raum steht. Unwahrscheinlich. 71 Inge: Ich hab das bei meiner Mutter festgestellt, im Nachhinein, denn sie ist ja später gestorben - und mein Mann ... Da hatte ich auch das Gefühl, dass ich ihn bis zu einem bestimmten Punkt noch berühren konnte, und dann nicht mehr. Und das ist bei meiner Mutter auch so gewesen. Die Hand war nicht mehr am Platz. Derjenige ist dann - tja - irgendwie - er löst sich dann. Und ich meine, es ist ganz wichtig. Das würde ich auch jedem sagen, aus dieser Erfahrung heraus, dass man nicht versuchen soll, jemand zurückzuholen. 72 /Inge: Der Tod hat seinen Platz im Leben. 73 Inge: Aber die drei Jungs, die bestanden darauf, mit zur Beerdigung zu gehen. Und dann haben sie neben mir gestanden. ( ... ) Da haben sie sich direkt neben mich gestellt. Das fand ich - hinterher habe ich noch gedacht: Wie tröstlich auch, nicht? Aber da musst ich Obacht geben, dass die nicht ins Loch reinfielen. 74 /Inge: Meine kleine Enkelin, die hat mich dann auch öfter zum Friedhof begleitet. War sie vielleicht fünf, sechs Jahre alt. Und dann sagte sie immer, guckte sie auf die Grabstelle und sagte: "Und da unten? Da liegt der Opa jetzt?" "Ja!", sag ich. Und sie: "Aber das ist doch furchtbar, dass der so tief da unten liegt." Und da hab ich gesagt: "Weißt du, es ist Folgendes: Der Mensch besteht aus Leib und Seele." Und ich sag: "Und wenn der Mensch stirbt, dann kommt Gott und holt sich die Seele. Und der Leib, die Hülle für die Seele", sag ich. "Die wird da unten beigesetzt.) Damit wir immer hingehen können und uns an ihn erinnern können." M 7 unter 75 75 Inge: Ich hab jetzt noch mal mit meinem älteren Sohn darüber gesprochen. Er rief auch an. Eben weil Todestag meines Mannes war, gestern Abend, noch spät. Und da hab ich ihm auch gesagt: "Weißt du, das ist tatsächlich so. Wir halten die Erinnerung an den Menschen vor uns. Seine Enkel hat er nicht erlebt. Aber die Erinnerung an ihn lässt den Kindern aber bewusst werden, wer ihr Großvater war. Und das ist - ich sage, das kann man nicht wiedergeben weint Atmo Meeresrauschen --- A01 --- M7 unter Text weg Sprecherin 2: Abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit. Herzen hat seine Zeit, aufhören zu Herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; (Quelle: Salomo 3) 76/Inge: Ja, er schob dann die Hand weg, zum Schluss. Das ist ganz eigenartig. ( ... ) Ja. "Jetzt nicht mehr!" Und auch diese Handbewegung. 77/Inge: Und da soll man auch keinen hindern dran. Reisende soll man nicht aufhalten! Der Punkt kommt irgendwann, wo man das auch greifbar spürt. Sprecherin 2: Wohin, ihr? - Nirgend hin. - Von wem davon? - Von allen. Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen? Seit kurzem. - Und wann werden sie sich trennen? - Bald. So scheint die Liebe Liebenden ein Halt. (Quelle: Bertolt Brecht: Die Liebenden) 78/Inge: Gerade die Todesstunde meines Mannes war für mich auch ein besonderes Erlebnis, sehr tiefgehend. Aber ich wusste, hier ist jemand, der im Augenblick stärker ist als du. Der Tod war gegenwärtig. Das kann ich dir nicht beschreiben, Constanze. Das, das muss man erleben. Und dann hab ich nachts um Zwei auf dem Parkplatz gestanden und wir haben uns ja wirklich alle erdenkliche Mühe gegeben, ihm zu helfen. Und da hab ich rumgestanden. Und da hab ich gesagt: "Alles umsonst? Alles umsonst!" Und dann fing für mich ein vollkommen neuer Lebensabschnitt an. Total. Tja. M7 81Inge: Hinter Ortsschild geht die Welt weiter! Lachen Das muss man erstmal begreifen. 82/Inge: Ich bin auch in verschiedenen Ausschüssen gewesen, unterschiedlicher Art. Als einzige Frau im Bau- und Planungsausschuss. Ich kam ja aus meiner Männerwelt mit drei Männern. Also, das war für mich gar kein großes Problem. Und ebenso im Presbyterium. Das war auch - im Kirchenvorstand - das war auch eine interessante Zeit, weil wir zu - also nicht grad zuviel - Frauen waren wie Männer. Die Kirche hat ja auch so ihre Hierarchie. Da sind ja die Männer so dominierend. Denen haben wir's auch schon mal gegeben. Ganz ordentlich. M 7 Sprecherin 2: Schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. Man mühe sich ab, wie man will. So hat man keinen Gewinn davon. Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. (Quelle: Salomo 3) (M 7) 80/Inge: Heute kann ich wieder weinen. Und hin und wieder geb ich mich dem auch wieder hin. Ich mein, man darf natürlich - man muss immer aufpassen, dass man nicht irgendwie dann in Melancholie und was weiß ich - versinkt und in sich - das geht nicht. Aber man braucht auch Tränen zum Trauern. Und die hatte ich nicht. Das war, war schrecklich! -------- Sprecherin 2: Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. (Quelle: Salomo 3) _______ M 7: Ekmaljan: Patarag (Liturgie), Fragment Aufscheinend, dann unter dem folgenden O-Ton weiter 83/Inge: Es war - er fehlte uns der Mensch. Wir haben getrauert. Also Trauer war angesagt, aber nicht befohlen. Sie ergab sich durch die Lücken. 84 Inge: Und dann hat mein Mann mir auch mit auf den Weg gegeben: Es werden sicher keine einfachen Zeiten sein, denen du jetzt entgegen gehst. Nimm dir abends ein Blatt Papier, mach zwei Hälften durch einen Strich und sei ehrlich und schau, was dir der Tag Positives und was er dir weniger Gutes beschert hat. Du wirst dich wundern: Da kommt noch einiges auf der linken Seite zustande. Das habe ich in der Form nicht gemacht. Aber ich habe mich abends hingelegt und habe mir überlegt: Da war doch noch einiges an Gutem, nicht? ----Atmo Meeresrauschen - A01 Zug--- M1, darauf: Sprecherin 1: Wir treffen uns ein-, zweimal im Jahr. Meine drei Freundinnen Käthe, Ute und Inge sind viel Jahre älter als ich, Käthe vierzig, Ute zwanzig, Inge dreißig Jahre älter. Käthe, Ute und Inge. Meine drei weisen Frauen. Wie ist das mit dem Leben? Mit dem Alleinsein? Und wie mit dem Sterben und dem Tod? 86Ute: Und wir waren oft stundenlang jeder mit dem Seinen beschäftigt, sonst hat man auch nichts zum Austausch, haben mal reingeguckt, haben uns gefreut, dass der andere da ist. 88 Inge: Ich hatte kurz vorher mal zu meiner Mutter gesagt - ich war ja auch im Begriff Siebzig zu werden. Und da hab ich gesagt: "Mama, wir können beide nicht mehr." Schwieg sie einen Augenblick, guckte mich freundlich an und sagte: "Du bist ja noch so jung!" 32/ Käthe: Ja, ich schreibe gerne über Liebe. Ich würde gern noch ein par Jahre leben, ein bisschen schreiben. M1 weiter, darauf:: Absage: Ich schlafe nicht. Leben mit dem Tod. Sie hörten ein Feature von Constanze John Mit Texten von Bertolt Brecht, Johannes Büning, Constanze John, Käthe Seelig, Nelly Sachs, Arthur Schopenhauer sowie aus der Bibel und aus der "Weisheit der Indianer". Es sprachen: Renate Fuhrmann und Camilla Renschke Ton und Technik: Hans-Martin Renz und Gabriele Traichel-Lahme Redaktion und Regie: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2008 1 1