COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Die Reportage 8. Januar 2012 Ausgeblendet Die Gefangenen von Guantánamo Bay von Katja Schlesinger (Atmo Musik, erst frei stehend, dann drunter legen) Karaoke am Strand von Guantánamo Bay. Rund 20 Philippinos sitzen im Schatten um vier Holztische herum, vor ihnen stehen leere Plastikteller und halbvolle Bier- und Colaflaschen. Sie haben Hühnchen mit Reis gegessen, und jetzt singt einer von ihnen. Er hält ein Mikrofon in der Hand, den Text liest er vom Bildschirm der Karaokemaschine ab. Die Konzentration ist ihm anzusehen - er darf seine Einsätze nicht verpassen. (Musik noch einmal hochziehen) Drei Tage bin ich jetzt schon in Guantánamo Bay. Drei Tage, in denen ich gelernt habe: für die Mehrheit der Leute spielen die Gefangenen überhaupt keine Rolle. Das ist auch bei den Philippinos so. Hunderte von ihnen leben auf der US-amerikanischen Militärbasis. Als billige Arbeitskräfte - in der Küche, im Straßenbau, im Garten. (Atmo Wellenrauschen, Steine klimpern) Ich setze mich ans Wasser, an den steinigen Strand. Meine beiden ständigen Begleiter vom Militär, die mich von früh bis spät überwachen und mich von einem Termin zum nächsten chauffieren, sind auf dem Parkplatz geblieben. Sie haben mich im Blick - das reicht ihnen diesmal. Normalerweise nehmen sie jedes meiner Gespräche mit einem kleinen Mini-Recorder auf. Weil ich jetzt allein bin, halten sie Abstand. Luxus ist das, ein bisschen Privatsphäre. Zeit, um einige Erlebnisse des Tages Revue passieren zu lassen. (Atmo, Marathonläufer, Familien stehen vor der Turnhalle und unterhalten sich) Für die Amerikaner ist es ein besonderer Tag: Thanksgiving. Wie auf vielen anderen amerikanischen Militärbasen wird dieser Feiertag auch in Guantánamo Bay mit dem Turkey Trot Fun Run eingeläutet, einem Kurzmarathon über 10 Kilometer, bevor das große Truthahn-Essen beginnt. Treffpunkt ist das Fitness- Center, um 8 Uhr. Als ich ankomme, haben sich vor der Turnhalle schon kleine Grüppchen gebildet. Die meisten Leute unterhalten sich, einige strecken dabei ihre Arme in die Luft, lassen ihre Schultern kreisen oder machen Dehnübungen. Ein Vater spielt mit seinem Sohn fangen, eine Frau springt auf der Stelle. Sie wirken alle entspannt und fröhlich. Und ich wittere meine Gelegenheit. Alle Gespräche, die ich bislang geführt habe, waren organisiert und angemeldet, die meisten davon mit ranghohen Angehörigen des Militärs. Jetzt, so denke ich, kann ich endlich spontan mit Leuten ins Gespräch kommen. Ich steuere eine junge Frau an, die - wie sie mir erzählt - als Sachbearbeiterin arbeitet. . O-Ton Zivilistin 1 Ich liebe es, es ist ein wunderschöner Ort, das Wetter ist immer toll, es ist immer etwas los, ich mache gerne Wassersport, das Wasser hier ist einfach fantastisch. Ob sie ab und zu auch an die Gefangenen denkt, will ich wissen? O-Ton Zivilistin 1 Ich weiß, dass sie hier sind, aber es berührt mich nicht, ich kann sowieso nicht dorthin, ich habe damit nichts zu tun. Erica, meine Begleiterin vom Militär, wie immer in Navy-Uniform und Käppi auf dem Kopf, tritt an mich heran. Ihre Blicke sprechen Bände: Sie ist sauer. Sie hat mein Gespräch zu spät mitbekommen. O-Ton Erica-1 Wir müssen fragen, ob sie mit Ihnen sprechen wollen. Es muss offiziell aussehen. Sie sollen keinen Druck empfinden, wenn sie mit Ihnen sprechen. Ich protestiere, aber es ist zwecklos. Erica, die von allen nur MC1 gerufen wird, also bei ihrem militärischen Navy-Dienstgrad, ist seit einem Jahr in Guantánamo Bay. Sie ist Ende 30 und hat sich vorgenommen, auf der Hierarchieleiter noch ein paar Sprossen nach oben zu klettern. Schon ihr Vater war beim Militär, sie ist sogar auf einer Militärbasis geboren. In Rammstein, in Deutschland. Sie ist professionell höflich. Wenn sie will, kann sie witzig sein, aber wenn es um Regeln geht, versteht sie keinen Spaß. Regeln sind da, um befolgt und nicht um hinterfragt zu werden. Bei meinem nächsten Interview-Wunsch lasse ich ihr also den Vortritt... O-Ton Erica-2 (ohne voiceover) --- Ma'am, do you mind talking to a journalist? (Beginn des Gesprächs, drunter legen) Ich komme mit Dawn ins Gespräch, Frau eines Militärjuristen. Bis zum Sommer hat sie noch in Washington gelebt. Zusammen mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter ist sie nun für zweieinhalb Jahre in Guantánamo Bay. O-Ton Zivilistin 2 Es gefällt uns, es ist ein toller Ort für Familien und Kinder, es ist ruhig und sicher, man kann viel machen mit den Kindern. Auch Dawn sagt: An die Gefangenen von Guantánamo Bay denkt sie kaum. Ich stelle ihr die Frage, die mich seit meiner Ankunft umtreibt: Wie kann man hier leben und die Existenz der Häftlinge ausblenden? O-Ton Zivilistin 2 Auch in Washington passieren Dinge, die einem Angst machen können. Aber das berührt einen nicht. Man hat das vielleicht im Hinterkopf, aber man geht trotzdem raus und macht seine Besorgungen. Die Gefängnisse hier - man hört nichts und man sieht nichts. In gewisser Weise hat Dawn Recht. Die Militärbasis ist weitläufig - eine Fläche von rund 70 Quadrat-Kilometern - und außerdem: zwei geteilt. Um auf die Gefängnisseite zu kommen, muss man einen Checkpoint durchqueren. Rund 5.700 Bewohner leben in Guantánamo Bay, und nur ein knappes Drittel von ihnen, rund 1.800 Personen, haben überhaupt Zugang zur Gefängnisseite. Die anderen haben die großen Stacheldraht-Areale noch nie gesehen. Auch Dawn, die Frau des Militärjuristen nicht. Sie bückt sich und bindet einen ihrer Turnschuhe zu. (O-Ton Marathon-Koordinator-1, mit Megaphone, englisch frei stehend) "All runners inside for your briefing! Now." Alle Läufer müssen jetzt in die Turnhalle gehen. Dort bekommen sie genauestens den Streckenverlauf beschrieben. Zeit für Erica, mich noch einmal zurechtzuweisen. Ich hätte die Frau des Militärjuristen nicht nach den Gefangenen fragen dürfen, erklärt sie mir. Denn davon hat sie schließlich keine Ahnung. O-Ton Erica-3 Das reißt alles aus dem Zusammenhang. Wir sind hier, um transparent für Sie zu sein, aber nicht, um ihnen Fehlinformationen zu geben...; Über Gefangene dürfen Sie nur mit Leuten reden, die tatsächlich mit ihnen zu tun haben. Transparenz ist das Zauberwort dieser Tage. Es fällt in fast jedem offiziellen Gespräch. Die Regeln für diese Transparenz aber legt die Militärführung fest, und all zu häufig stoße ich mit meinen Fragen gegen eine Mauer. (O-Ton Marathon-Start, englisch, ohne overvoice) Auf die Plätze, fertig los.... Der Turkey Trot Fun Run beginnt. Rund 150 Leute setzen sich in Bewegung. Es ist mittlerweile 9 Uhr, die Sonne brennt schon jetzt heiß auf der Haut. Ein Mann um die vierzig fällt mir auf - wegen seines T-Shirts. Auf dem Rücken steht ein Spruch, den ich einfach nur geschmacklos finde: Camp X-Ray - 5 Sterne Hotel. Camp X-Ray - das sind die Käfige, in denen die Gefangenen von Guantánamo die ersten Wochen eingesperrt waren. (unter dem Text noch Atmo vom Marathon) Der Mann läuft in der Menge davon. Ich habe von solchen T-Shirts gehört, die Guantánamo verniedlichen. Früher wurden sie im Supermarkt auf der Basis verkauft - die Nachfrage soll groß gewesen sein - aber inzwischen ist das verboten. Bei einem Rundgang durch die Souvenir-Abteilung habe ich mich davon schon überzeugt. Nur auf ein Überbleibsel bin ich gestoßen, was bei der Überprüfung offenbar durchgefallen ist: "Guantánamo Bay - Better dead than alive" - "Lieber tot als lebendig". Ein Spruch, der die Gefühle einiger Gefangener vielleicht sogar treffend beschreibt. Von Anwälten weiß ich, dass mehrere ihrer Mandanten versucht haben, sich das Leben zu nehmen. Zum Beispiel, indem sie ihren Kopf immer wieder gegen die Zellwand gerammt haben. Der letzte Selbstmord hat sich im Mai ereignet. 6 Leute haben es insgesamt geschafft in den zurückliegenden zehn Jahren - trotz angeblich ständiger Überwachung. Wie ist das denn möglich? frage ich bei einem meiner Treffen den Kommandeur der Haftanstalten, aber Colonel Thomas antwortet nur ausweichend. (O-Ton Thomas englisch, overvoice) Wenn sich jemanden umbringen will, dann kann man das nicht verhindern. Ich kann nicht in die Details gehen, ich bin aber nicht glücklich darüber. Wir müssen weiter machen, und wir versuchen es zu verhindern. Es ist eine dieser Fragen, mit denen ich an die Grenze der Transparenz stoße. (Atmo Auto-Anlasser, Anschnall-Geräusche, später Autoradio: Michael Jackson: "Man in the mirror") Mein nächster Programmpunkt auf dem vom Militär fest gelegten Terminplan: Camp X-Ray. Während im Autoradio Michael Jackson läuft, fahren wir an McDonalds und einer Autowerkstatt vorbei. Wir passieren das Krankenhaus, die Schule und mehrere Wohnsiedlungen. Little America in Guantánamo Bay. Die Häuser sind pastellfarben angestrichen - in hellblau, hellgrün oder in schlichtem Weiß. Gepflegte Gärten, Doppelgaragen, ab und zu ein Spielplatz, hier sieht es aus wie in einer typischen US-amerikanischen Vorstadt. Irgendwann ändert sich das Straßenbild. Erst sind nur Wiesen und Gestrüpp zu sehen und dann die seit Jahren verwaisten Käfige von Camp X-Ray. Das Lager befindet sich in einer Art Dornröschenschlaf. Um den Stacheldraht ranken sich Blätter, kleine Bäume ragen zwischen den Gitterstäben hervor. Die Natur hat sich ein Stück Land zurückerobert und jetzt wächst im wahrsten Sinne des Wortes Gras über die Sache - ein bizarrer Anblick. Michael Jackson singt gerade davon, wie man die Welt verbessern kann. (Musik hochziehen) Ich habe nicht gewusst, dass Camp X-Ray auf der zivilen Seite von Guantánamo Bay liegt, zwar abseits, aber für jeden erreichbar. Ich habe es, wie alle anderen Lager auch, auf der Gefängnisseite vermutet. Wir halten auf einer Anhöhe an. (Atmo Grasrascheln) Durch hohes Gras laufe ich bis zu einem Zaun aus Stacheldraht. Das Lager- Gelände ist zu militärischem Sperrgebiet erklärt worden. Näher als 200 Meter komme ich nicht ran. (Atmo Stille, Sirren) Hierhin also wurden am 11. Januar 2002 die ersten 20 Terrorverdächtigen gebracht. Hier ist das berühmte Foto von den Häftlingen in orangefarbenen Anzügen entstanden - kniend, gefesselt, mit Augen- und Ohrenklappen ihrer Sinne beraubt und mit Mundschutz. Ich muss an Murat Kurnaz denken, den Deutsch-Türken aus Bremen, der hier eingesperrt war. Er hat von Rockmusik erzählt, die aus Lautsprechern dröhnte, von Wärtern, die auf ihn eingeprügelt und ihn angebrüllt haben, die mit Eisenstangen immer wieder gegen die Gitterstäbe der Käfige gehämmert haben. Jetzt ist alles still und wirkt friedlich: (O-Ton Erica-4, englisch frei stehend) Die Anlage ist damals 92 Tage benutzt worden, jede Zelle acht mal acht Fuß groß, 2,4 mal 2,4 Meter sind das. Erica spricht jetzt wie eine Touristenführerin, sie deutet auf ein Tor gleich neben einem Wachturm aus Holz. O-Ton Erica-5 Gleich hinter dem Eingang wurden die Gefangenen untersucht, es wurde gekuckt, ob sie Läuse haben, irgendwelche Krankheiten, sie wurden geduscht, dann bekamen sie Anziehsachen und dann wurden sie in ihre Zelle gebracht. Damals gab es allerdings noch keine richtigen Duschen, das Wasser kam aus Eimern. Durch den Sucher meiner Kamera zoome ich die Käfige näher heran. Sie sind nach allen Seiten offen, bedeckt mit einem dünnen Flachdach, was nur wenige Zentimeter über die Gitterseiten hinausragt. Die meiste Zeit des Tages konnten sich die Gefangenen der brennenden Sonne nicht entziehen. Erica besteht darauf: O-Ton Erica-6 Es war schattig. Es gab Abdeckungen. Es war nicht so, dass sie in einer extremen Situation leben mussten. Das war nicht der Fall. (O-Ton endet mit Atmo von lautem Auto) Sie fährt in ihrem Vortrag fort. O-Ton Erica-7 Es gab damals noch keinen Freizeitbereich. Die Gefangenen wurden auf Tragen transportiert, weil das am einfachsten war. "Keine extreme Situation, kein Freizeitbereich...." Was Erica sagt, wirkt gedankenlos und auswendig gelernt. Viele Häftlinge damals waren verletzt. Sie hatten einen mehr als 20stündigen Flug hinter sich. Nicht auf Sitzen, sondern an den Boden gekettet und zusätzlich gefesselt, so dass sie Arme und Beine nicht bewegen konnten. Viele waren bei ihrer Ankunft so erschöpft, dass sie nicht mehr laufen konnten. O-Ton Erica-7 Es war eine Übergangslösung. Es wurde nur für kurze Zeit genutzt, bis die Lager 1-4 fertig waren. (Atmo Schritte) Die Lager 1-4, bekannt auch unter dem Namen Camp Delta, sind inzwischen ebenfalls Geschichte. Heute sind die Häftlinge in den Lagern 5-7 untergebracht. Zu Lager 7 haben Journalisten keinen Zutritt. Dort werden die so genannten high-value detainees in Isolationshaft gehalten, Häftlinge von hohem Wert. Erst vor circa fünf Jahren wurden sie aus CIA-Geheimgefängnissen nach Guantánamo Bay überstellt. Darunter auch Khalid Scheich Mohammed, einer der mutmaßlichen Drahtzieher der Anschläge vom 11. September. (Atmo Gefängnistor Gate open", Sicherheitscheck, Soldaten unterhalten sich über Funk) Die Lager 5 und 6 darf ich besichtigen. Sie sind Teil der Transparenz-Offensive des Militärs. Rund 10 Auto-Minuten liegen sie von Camp X-Ray entfernt auf der Gefängnisseite von Guantánamo Bay. Es sind fest gemauerte und klimatisierte Hochsicherheitstrakte. Kein Vergleich zu den Käfigen der ersten Monate. (Atmo Soldaten und Tore, Schlüssel...) Von der Straße aus sind die Gefängnisse nicht zu sehen. Sie verbergen sich in einem Irrgarten aus meterhohen und mit grünen Planen verdeckten Zäunen und Toren. Die Zahl meiner Militär-Begleiter ist inzwischen auf sechs angewachsen. Wir passieren mehrere Sicherheitsschleusen, irgendwann erreichen wir ein weiß angestrichenes Gebäude: (O-Ton Kommandeur, Lager 5-1) Welcome to Camp 5... (englisch, freistehend, dann drunter legen) Der Kommandeur des Lagers 5 heißt mich willkommen und erzählt von der Baugeschichte des Hauses, obwohl ich ihn danach gar nicht gefragt habe. Viel interessanter: Dieses Gefängnis dient als Bestrafungsanstalt; hier sind die so genannten nicht-folgsamen Häftlinge untergebracht. Wer Regeln bricht, beispielsweise in den Hungerstreik tritt, der kommt hier in eine kleine Zelle in Isolationshaft, und wenn er zu viel Gewicht verloren hat, wird er zwangsernährt. Einen solchen Gefangenen bekomme ich aber nicht zu sehen. Ich werde in einen Trakt geführt, der komplett leer steht. O-Ton Kommandeur, Lager 5-2, Die Zelle bekommt Licht von außen, die Zelle ist aus unzerstörbaren Material, der Spiegel aus poliertem Metall, der Haken hält nur 40 Pfund aus, ansonsten bricht er aus der Wand, als Vorsorge, damit der Häftling sich nichts antun kann. Der Kommandeur spult seinen Text ab, während er mir eine typische Zelle mit Waschbecken, Toilette und Schlafgelegenheit zeigt, eine Dusche und einen Fernsehraum, der ein Mal pro Woche für zwei Stunden genutzt werden darf. O-Ton Kommandeur, Lager 5-3, das waren jetzt also Beispiele für einen typischen Flügel in Lager 5. Irgendwelche weiteren Fragen an mich für dieses Mal? Ich merke aber deutlich, dass er - bei aller Höflichkeit - keine weiteren Fragen mehr hören will. Einige darf er ohnehin nicht beantworten, zum Beispiel wie lange seine Schicht dauert. (O-Ton Kommandeur, Lager 5-4, englisch, frei stehend) (2-1030) Das ist eine Frage für die Presse-Abteilung. Dafür ist die Presse-Abteilung zuständig. Auch im Lager sechs ernte ich bei einigen Fragen nur Kopfschütteln. Wie viele Gefangene hier leben und wie viele Wärter sie bewachen, möchte ich von der Dienst habenden Offizierin wissen. (O-Ton Offizierin, Lager 6-1, englisch, frei stehend) Was Zahlen anbelangt, da kann ich ihnen wirklich keine exakten Angaben machen. Was Zahlen anbelangt - keine Angaben. Im Lager 6 sehe ich das einzige Mal einige der Gefangenen. Es sind die regeltreuen Gefangenen, die wegen guter Führung in großen Gemeinschaftszellen leben dürfen. Von meinem Besuch bekommen sie aber nichts mit. Jede Zelle hat zwar ein großes Fenster zum Gefängnis-Gang hin, doch es funktioniert nur in eine Richtung. O-Ton Offizierin n, Lager 6-2, Das ist der Bereich wo sie essen und beten. Und jeder Gemeinschaftsraum hat auch kleine Küche und Bibliothek. Acht weiß gekleidete Häftlinge sitzen an einem Tisch. Die meisten tragen kurz gestutzte Vollbärte, alle haben Kopfhörer auf und blicken schräg nach oben. Der Fernseher hängt dort. Hinter dem Tisch führt eine Treppe zu einer Galerie hinauf, und von dort gehen kleine Zellen ab zu den Schlafplätzen der Gefangenen. In der nächsten Großraumzelle, in die mir Einblick gewährt wird, ist ein Mann gerade damit beschäftigt, den Boden zu wischen. Auch das ist ein Häftling. O-Ton Offizierin, Lager 6-3, Sie haben Leute, die putzen, die Küchenaufgaben erledigen. Es gibt auch einen Zellen-Anführer. --- Wir sind nur für die Bewachung zuständig, so dass sie und wir sicher sind. Alles, was drinnen passiert, die Aufgaben, das legen sie selbst fest. Die Haftbedingungen sind viel besser geworden, das haben mir auch Anwälte erzählt. Sie sagen aber auch: das Schlimmste, was diese Menschen erleiden müssen, ist die Ungewissheit: Kein Licht am Ende des Tunnels. Keine Anklage, kein Gerichtsprozess, keine zeitlich begrenzte Haft. Nur große Hoffnungslosigkeit. Die Hälfte der 171 Gefangenen könnten frei gelassen werden, die Parlamentarier in Washington haben das aber verhindert. Die Gefangenen von Guantánamo Bay - sie wissen, dass sich ihre Lage auf absehbare Zeit nicht verändern wird. Daran muss ich denken, während die Offizierin von den 20 Fernseh- und Radiokanälen erzählt, vom Außenbereich, wo die Häftlinge Fußball spielen können, von Terminen beim Physiotherapeuten. Sie zeigt mir auch den Raum, wo die Gefangenen Englisch- Unterricht haben - und Malunterricht. Die Bilder der Gefangenen hängen im Eingangsbereich der Häftlingsbücherei. Gleich an meinem ersten Vormittag in Guantánamo Bay bin ich dort gewesen. Der Besuch gräbt sich tief ins Gedächtnis ein. (O-Ton Chefin der Bücherei-1, englisch frei stehend) Welcome to the Detainees library... Nach der freundlichen Begrüßung macht mich die Chefin der Bücherei, Rosaria, sofort auf die Gemälde der Gefangenen aufmerksam. An der einen Wand sind Zeichnungen aus der Anfängerklasse zu sehen, an der anderen Wand die wirklich prachtvollen Gemälde der Fortgeschrittenen. Stilleben und Landschaften. (O-Ton Chefin der Bücherei-2, englisch frei stehend) ...the ones on this side of the wall are students of the advanced class... Ich frage Rosaria, ob sie ein Lieblingsbild hat. O-Ton Chefin der Bücherei-3, Ich? In der Tat, ja. Dieses hier, das Segelschiff auf See. Die hohen Wellen während eines Sturms. Wunderschön. Vielleicht hat der Häftling gerade dieses Motiv gewählt, weil er selbst gerne auf dem Schiff wäre, gebe ich zu Bedenken. O-Ton Chefin der Bücherei-4, Ich weiß nicht, ich bin aus der Karibik, ich mag einfach alles, was mit Wasser zusammenhängt. (lacht) Sie sind aus der Wüste, vielleicht malen sie das, weil es anders ist, etwas, was sie nicht kennen. Wer weiß. Sie müssen das die Gefangenen fragen. Ich bin nur aus der Karibik. Und liebe Wasser. Die Gefangenen aber kann ich selbstverständlich nicht fragen. Eine der wichtigsten Militärregeln: Journalisten dürfen Häftlinge nicht sprechen. Die Bibliothekarin zeigt mir jetzt die vielen Bücher. Rund 18.000 in 18 verschiedenen Sprachen. Sie führt mich auch zur deutschen Sektion. Es sind nur ein paar Bücher, darunter alle Bände von Harry Potter - Murat Kurnaz hat mir erzählt, dass er die gelesen hat. Mir fällt ein lila-farbener Einband auf, ich ziehe das Buch heraus und kann es kaum fassen: Kafka - Ein Band in deutsch und englisch. Ich knie mich hin, fang an zu blättern und finde auch die Erzählungen, die die Situation der Gefangenen hier in Guantánamo Bay ganz gut beschreiben: Das Urteil, Der Prozess, In der Strafkolonie... Weil niemand in der Bücherei Kafka kennt, erzähle ich ein bisschen von seinen verstörenden Geschichten. Und ich frage auch, wie dieses Buch wohl hier hergekommen ist. Doch das lässt sich nicht klären. Rosaria zuckt mit den Schultern und hakt das Thema schnell ab. Mir aber geht es nicht mehr aus dem Kopf. (Atmo Wellenrauschen) Kafka in Guantánamo - das ist mindestens so bizarr wie die Karaoke singenden Philippinos am Strand. (Atmo Karaoke-Musik) Von ihnen habe ich Fotos gemacht. Fotos, die meine Militärbegleiter später löschen. Keine Bilder von Ausländern, heißt es zur Begründung, eine weitere Militärregel in Guantánamo Bay. 4