COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Länderreport Die Kleine Sprachgeschichte. Hessisch - Oder: Warum die da so anders sprechen Autor Julika Tillmanns Red. Claus Stephan Rehfeld Sdg. 19.05.2011 - 13.07 Uhr Länge 19.20 Minuten Spr. Thaddäus Meilinger Regie Frank Merfort Moderation Wie Hessisch auf die Welt kam? Das ist eine lange Geschichte. Sie sind beharrlich und wollen es dennoch wissen? Bitte, aber machen Sie sich auf ein babylonisches Mundartengewirr gefasst. Hessen ist sozusagen ein "Sprachlabor", ein dialektisches Experiment am lebenden Subjekt. Da wird gereddt, gebebbelt und geschwetzt, was die Mundartzunge hergibt. Sechs Mundartregionen breiten sich wie eine Patchworkdecke über das heutige Hessen. Manchmal klappt es dennoch mit der Verständigung untereinander, häufig aber auch nicht. Da hilft dann nur noch ein Stoßgebet, ein Hilferuf, die anderen zwei Ohren mögen einen bitte doch verstehen. Kein Wunder also, wenn um 825 ein gelehriger Mönch im Kloster Fulda das Vaterunser verdeutschte. Die Kleine Sprachgeschichte. Oder: Warum die da so anders sprechen. Hessisch steht auf dem Programmzettel. Und als Autorin ist Julika Tillmanns vermerkt. Bitte. -folgt Script Beitrag Script Beitrag E 01 (Hesselbachs) Jo dadrübe müßt ma sisch mal in Ruhe unterhalte. Was gibt's denn da in Ruhe zu unterhalte? Des is doch selbstverständlisch! Ei warum soll ma sisch denn net in Ruhe drübe unterhalte? Von mir aus kannst disch ja in Ruhe drübe unterhalte. Also bitte, des nennst in Ruhe unterhalte... (Tumult) SPR Ganz ruhig, Papa Hesselbach. Denn jetzt müssen wir uns wirklich mal unterhalten. Und zwar über deine Sprache: das Hessische. So selbstverständlich ist das nämlich gar nicht. Denn was die Hesselbachs da gebabbelt haben... E 02 (Heinrich Dingeldein) ...das war ne Art von Südhessisch, und zwar sogar eins, das schon ein bisschen modernisiert ist, wir nennen das manchmal Neuhessisch, das ist eine Form, die schon viele Kompromissformen hat mit der Standardsprache, das ist ne Sprache, von der man natürlich genau weiß, wo sie herstammt, aber gleichzeitig ist sie für nahezu jeden verständlich in ganz Deutschland. SPR Sagt der Herr Dingeldein, Heinrich Dingeldein, ein Sprachforscher. Was in der ganzen Republik als Hessisch erkannt wird, ist also in Wahrheit gar kein Dialekt. Papa Hesselbach und seine Gattin ... E 03 (Hesselbachs) Kall, mei Drobbe! SPR ... sie sprechen bloß eine Kompromisssprache zwischen Hochdeutsch und Südhessisch. Manche sagen: Eine regional gefärbte Umgangssprache. "Neuhessisch" bildete sich erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts heraus, und wurde von Fernsehsendungen wie der "Familie Hesselbach" und natürlich dem "Blauen Bock" popularisiert. Denn da wurde "gebabbelt", "Schoppe gepetzt" und "Handkäs' gesse" was das Zeug hielt. Mama Hesselbach alias die Volksschauspielerin Liesel Christ war 1992 jedenfalls fest überzeugt: E 04 (Liesel Christ) Bis wir mit den Hesselbachs kamen, hat keiner in der Bundesrepublik gewusst, oben im Norde oder sonst irgendwo, dass wir ein eigenständiges Land sind und eine eigenständige Sprache haben. SPR Das ist ja nun heute bekannt. Immerhin wird das Neuhessische mittlerweile im erweiterten Rhein-Main-Gebiet gebabbelt. Und mit den Pendlern, die in den Ballungsraum zur Arbeit kommen, breitet es sich immer weiter aus. Scherzhaft wird Neuhessisch deshalb auch RMV-Hessisch genannt, nach dem Rhein-Main Verkehrsverbund. Das Neuhessische kennt verschiedene Ausprägungen. Typisch aber sind bestimmte Abwandlungen von Verben, etwa von "erzählen" in "verzähle" oder von "zerschneiden" in "verschneide". Außerdem das Spezial-Adverb "als", das wahlweise "gelegentlich" oder "immer" meint, und Ortsfremden gern in der Richtungsangabe "als geradeaus" begegnet. Auch wird im Neuhessischen fast jeder Satz mit einem "ei" eingeleitet, das oft stark durch die Nase gesprochen wird. Und dann ist da noch der isch-Laut. Isch - isch - isch. Er gilt heute zwar als typisch Hessisch, ist aber - historisch gesehen - sehr jung, höchstens 130 bis 150 Jahre alt, also eher 130 als 150, denn wir wissen es etwas genauer von südhessischen Auswanderern, die noch in Sprachinseln in Ungarn und in Rumänien leben, dass dort der ich-Laut vollständig beherrscht wird, und selbst in der wissenschaftlichen Literatur finden wir speziell im Odenwald die Aussage von 1906, dass die alten Leute den ich-Laut noch können, nur die jüngeren würden ihn nicht mehr beherrschen. Demnach dürfte auch Johann Wolfgang von Goethe den ich-Laut noch beherrscht haben - anderslautenden Gerüchten zum Trotz. Seine letzten Worte waren also wohl doch nicht: "mer lischt", sondern ganz vornehm "mer licht". Aber halten wir fest: Das Neuhessische ist heute weit verbreitet und wird überregional als Hessisch identifiziert. Was aber, wenn erst die echten Hessen kommen, die Originale und Urgesteine? Denn: Echten hessischen Dialekt versteht außerhalb der Landesgrenzen kaum noch einer. Ja, nicht einmal die Mundartsprecher untereinander können sich immer verständigen. Denn: Hessisch ist keineswegs gleich Hessisch. E 08 (Collage) Dahaam schwätze mir Platt. / Isch redd, wie mir der Schnabbel gewachse is, des treibt vum Herz de Mückeschiss. / Des muss ma babbele oder bebbele. / Aisch schwätze gern Platt, da kann man sich mal so richtig die Maanung sagen. / Isch babbel so, wie mir de Schnauz gewachse ist. SPR Oder um es mit dem Schauspieler Walter Renneisen zu formulieren: E 09 (Walter Renneisen) Wem ist dieser liebliche Tonfall bekannt, welcher Bayer, Friese, Westfale versteht, und vor allem lokalisiert ohne weiteres die Wendung: "Mer hänn" oder "Mer honn" oder "Mer hunn", was ja soviel heißt wie "Mer habbe". SPR Willkommen in Hessisch Babylon - einem Land, das über eine der vielfältigsten Dialektlandschaften im ganzen deutschen Sprachraum verfügt. Kein Wunder: Früher ein Flecktenppich der Herrscherhäuser und Regionen. Durch die vielen Grenzen, die es früher einmal hier gab, entwickelte sich die Sprache sehr kleinräumig. Und so gilt: Im Hessischen kann ein Wort im einen Dorf ganz anders ausgesprochen werden als im nächsten. E 10 (Collage) Im einem Dorf reigns, im annern raants. / Die Lixfelder, die ham ganz andere Begriffe, da heißt ein Brot "Dung", oder die Hose wird schon in Hirzenheim zu einer "Bux", in Gönnern heißt sie "Hose". / In Elz sagt man "Wäjelche" für einen kleinen Wagen und zwei Dörfer weiter sagt man "Wantje". SPR Allerdings: Neben der Feingliederung der Sprache hat die Forschung auch einige größere Dialektregionen in Hessen ausgemacht. Heinrich Dingeldein, der Leiter der Arbeitsstelle Sprache in Hessen an der Philipps-Universität Marburg, unterscheidet vier solcher Regionen. E 11 (Heinrich Dingeldein) (...) Das ist das Niederhessische in der Gegend von Kassel, das ist das Mittelhessische in der Wetterau und in der Lahngegend, das ist das Osthessische in der alten Kulturlandschaft Fuldas, also dort, wo die meisten Hessen katholisch sind und das ist das Südhessische, das allerdings nicht ne eigene Sprachform ist, sondern mit dem Pfälzischen zusammen bis ins nördliche Elsass reicht, Rheinhessen mit umfasst und eigentlich Rheinfränkisch von uns benannt wird. Dazu kommt noch und das wissen die meisten (...) nicht, in der Gegend im nördlichen Waldeck um Arolsen und Korbach, in der Gegend von Wolfhagen und Hofgeismar, also nordwestlich von Kassel, echtes Niederdeutsches Sprachgebiet. SPR Plattdüütsch aus Hessen? Na Selbstverständlich: E 12 (Herbert Jacobs) Gudet Wahter hett de Menskeit schon immer gebrukt, au vör übber dausend Johren, wo der erste sine Behusunge in Bründersen gebuet hett. (etwa ab hier Sprecher drüber) ... SPR Sie hören richtig: Herbert Jacobs, der hier so liebevoll von dem guten heimischen "Wahter" spricht, mit dem seine "Omma" die ganze "Tiid" gekocht hat - er ist ein waschechter Hesse. Denn im äußersten Nordwesten Hessens durchschneidet die Benrather Linie das Land. Hier hatte sich im Zuge der Völkerwanderung im frühen Mittelalter die Grenze zwischen den Sachsen im Norden und den Franken im Süden herausgebildet. Als sprachliche Grenze blieb sie bis in die Gegenwart hinein relativ stabil und ist damit eine der wichtigsten Sprachgrenzen Deutschlands. Sie wird auch ick/ich-Linie genannt und trennt das Niederdeutsche von den südlicheren Sprachen ab. Und so kommt es, dass man sich in Hessen schon mal sprichwörtlich an die "Waterkant" versetzt fühlen kann. Das echte Niederhessisch - also das eigentliche "Hessisch" des Nordens - wird in der Gegend südlich von Kassel gesprochen. Kostprobe gefällig? E 13 (Ria Ahrend) Allen Sonndach macht me Moo de Willemshehe, se wisse doch: doo, wo's Wasser springet in de Hehe. Vier Enkelchen waren dabie und groß war's Krakeele. Mer wullt ma weeder sehn, de scheene Wasserspeele (etwa ab hier Sprecher drüber) ... SPR Genau, jetzt sind wir wieder mitten im Hessischen. Ria Ahrend, die hier mit ihrem Mann und den vier Enkelkindern aus dem südlich von Kassel gelegenen Baunatal zum Bergpark Wilhelmshöhe reist - sie spricht die "Wasser-Schbeele" gut Niederhessisch aus. Das Niederhessische ging aus der fruchtbaren Landschaft entlang der Flüsse Fulda und Eder hervor. Als zusammenhängende Sprachregion erhalten konnte es sich durch die Landgrafschaft Hessen-Kassel, die bis in die jüngste Zeit hinein als ein staatliches Gebilde vorhanden war. Im Herzen dieser Landschaft, dort wo die Eder in die Fulda mündet, reimt der Mundartdicher Reinhard Umbach: E 14 (Reinhard Umbach) (Min nem Petter kurz in Tretter es von Wetter) un min Vetter, eichentlich n netter Städter mit deme wor ich an der Edder und ich sprech zum Vetter kletter nicht zu dichte an de Edder dofür is heut net das Wetter REGIE etwa ab hier Sprecher drüber ... SPR Folgt man dem Sprachforscher Heinrich Dingeldein, so markiert genau diese Dialektregion an der Edermündung gewissermaßen das historische Kerngebiet Hessens: E 15 (Heinrich Dingeldein) Wir haben das Niederhessische, sozusagen die Sprache im Kernland des Landes Hessen, nämlich dort wo Eder und Fulda zusammenfließen, dort ist Hessen eigentlich als Begriff und als Land auch entstanden und dort lebten auch die Hessen bzw. die Vorfahren, die Chatten. SPR Tja, die Chatten. Ein germanischer Stamm, der "verfränkischt" wurde. Der Herr Renneisen wird uns das mal erläutern, denn er ist ein Hessen-Experte. E 16 (Walter Renneisen) Die Ureinwohner von Hessen waren die Kelten, dann eroberten in vorchristlicher Zeit die Chatten das Land, vermischten sich mit den Kelten, später zu der Zeit als die Römer ihre germanischen Provinzen aufgeben mussten, vermischten sich die Chatten mit dem größeren Stammesverband der Franken und danach verschwand der Name der Chatten. Aber die Wörter Hessen und Chatten sind wahrscheinlich identisch. Wenn man das gotische Wort hattjan und das altenglische Wort hätten - beide heißen hetzen, hassen, verfolgen - nimmt, also martialische Wörter, und wenn man noch das althochdeutsche Wort Hessehund, also Hetzhund dazu bemüht, so könnte der Stammesname der Hessen so viel wie Jäger, Krieger bedeuten, und das offenbar zu recht. Denn alle Kriege der Römer gegen die Germanen bis zum 3. Jahrhundert, wurden gegen die Chatten geführt. Das Kerngebiet war der Vogelsberg, net war, der Limes geht ja auch nicht weiter, dann rannten die Römer an, dann kamen die Chatten da aus dem Vogelsberg raus, druff uff die Nuss un wieder zurück in Wald, und da sitzen die heute noch... (Lacher) SPR Naja, so oder so ähnlich wird's gewesen sein. Jedenfalls breiteten sich die Chatten nicht nur im nördlichen Hessen aus, sondern auch in der Mitte. Und hier, zwischen dem Marburger Land und der Wetterau, zwischen Westerwald und Vogelsberg, entstand eine zweite Dialektregion: Die Region des Mittelhessischen. Dieses Hessisch hat einen rauen Zungenschlag. Ein bisschen erinnert es noch an die Ureinwohner dieses Landstrichs, so ruppig und urwüchsig tönt das. Aber das lässt sich natürlich wissenschaftlich überhaupt nicht belegen. Auffällig ist im Mittelhessischen jedenfalls die Verwandlung vieler Vokale in Diphtonge. Da wird aus einem "ich" ein "aich" und aus "Ruhe" "Rau". Die Vokale werden gern gedehnt. Vor allem aber wird das r kräftig gerollt. Nachzuhören in der folgenden Liebeserklärung des Hungener Mundartdichters Hans Kammer an seinen Hond, pardon Hund. E 17 (Hans Kammer) Mein bester Freund, das is mein Hond und das hat aren goure Grund schun mujens wenn aich uffstie dau do meld der sich und gibt kei Rau bis mir za zwaat zum wandern gee egal obs raant, obs Werra schii. SPR Das Zungenspitzen-r ist bis heute das Markenzeichen der Mittelhessen. Zugereiste werden hier gern mit Wortspielchen überrascht. Zum Beispiel mit der Frage nach einem Wort mit vier r. Die Lösung heißt "Rerrer". Hochdeutsch: Räder. Oder mit dem Zungenbrecher "Rure-Roiwe-Rupfmaschin", zu deutsch: Rote-Rüben-Rupfmaschine. Besonders markant wird in der Wetterau gerollt, wie zum Beispiel hier von Emma Kauschat aus Glauberg. E 18 (Emma Kauschat) Us Heimat is di Wettera, des hirt man ja uch ganz gena, bei us is alt emal was los, wirs sagens Strack und ohne Schmus, E Gewitter kimmt hei mit Donnergrolle, des r tun mir so richtig rolle die Frankfurter habe dazu kei Kraft, die habe des r längst abgeschafft, aber mir sie noch richtige Oberhesse, und des wolle mir ach in Zukunft net vergesse us Kin müsse mer wieder de Mundart lern, des mese in de Wettereau noch recht lang hern REGIE Klatschen - Sprecher drüber ... SPR Ja, vom Mittelhessischen ist vielerorts nur noch das r übrig geblieben. Die Originalsprecher sterben allmählich aus. Und auch das Verbreitungsgebiet schrumpft zusehends. Vor 150 Jahren erstreckte sich das Mittelhessische noch bis weit in den Süden. Damals zählte auch Frankfurt in diese Sprachregion. Und so wusste auch Goethe genau: Ein gutes r wird gesprochen mit vier Anschlägen der Zungenspitze. Nicht viel besser ergeht es der dritten Dialektregion: Dem Osthessischen. Auch diese Mundart, die im Fuldaer Land und in der Rhön gesprochen wird, ist heute vom Verschwinden bedroht. Heinrich Dingeldein bescheinigt ihr eine besonders altertümliche Struktur. Stichwort Kloster Fulda. E 19 (Heinrich Dingeldein) Das ist dieser alte Kulturraum um Fulda herum, der ja auch katholisch geblieben ist nach der Reformation, aus diesem Grund auch sehr deutlich als eine eigene Landschaft zu erkennen ist, mit barocken Kirchen, die sonst in Hessen eher selten sind... SPR Die Eigengeschichtlichkeit dieses Kulturraumes hat sich in einer Vielzahl von sprachlichen Überbleibseln aus dem Alt- und Mittelhochdeutschen niedergeschlagen. So wird der Bruder hier noch althochdeutsch Brooder genannt. Und auch die mittelhochdeutschen Langvokale i, ü und u sind erhalten geblieben. In dieser Hinsicht weist das Osthessische, laut Sprachforscher, eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Alemannischen auf. Darüber hinaus beginnen Fragewörter in Osthessen grundsätzlich mit einem b statt mit einem w. Es heißt also: Ber, Bie und Bas. Aber hören sie einfach selbst. Es folgt ein osthessisches Poem über der Vergeblichkeit des Lottospielens. E 20 (Richard Müller) Lotto hür ma uff, spill ja ned fell, gewinnst ja net, sowiesonet ... aber bän ich amol ä sechser hätt u genomme ban gornischt dädich annerschda mache mösst ja kainer wiss wern jo schlät würde schaffe gen als ban nüscht wer nocha ziet vielleicht amola neu auto ken größeres, so eina wi jetz nüscht, muas ja ned sei, muas ja ned und ich könnt ma gedenk, die geld hoste un nu könne se mich alle ma am oarsch geleck SPR Ach ja, nach können und mögen wird in Osthessen der Infinitiv mit ge- gebildet. Wie eben in "se könne mich am A.... geleck". Richard Müller aus Eichenzell-Welkers ist für mundartliche Drastik bekannt. Aber eine weitere Besonderheit muss hier noch erwähnt werden: Denn auch durch die Röhn zieht sich eine wichtige Sprachgrenze Deutschlands. Sie heißt bei Fachleuten Germersheimer Linie, und trennt die hessischen von den mainfränkischen Mundarten. Jenseits dieser Linie, im Mainfränkischen, spricht man ganz vornehm von einem Pfund Äpfel. Aber hören Sie einmal wie das im Hessischen ausgesprochen wird: E 21 (Collage) Gästern hom mer e Pund Äpple gekauft und mit hei genome und se gesse. SPR Genau: Der Hesse kauft kein Pfund, er kauft ein "Pund Äppel". Und deshalb heißt diese Sprachgrenze auch einfach Pund/Pfund-Linie. Tja, so klingt das in Hessen. Jedenfalls wenn man mal einen echten Dialektsprecher aus dem Osten, der Mitte oder auch dem Norden trifft. Aber das passiert ja leider gar nicht mehr so oft, wie auch der Dialektforscher Heinrich Dingeldein berichtet: E 22 (Heinrich Dingeldein) (...) Im Norden, das Niederdeutsche und Niederhessische und auch leider zum Teil das Osthessische, die sind in einem starken Niedergang begriffen, und auch im Mittelhessischen muss man sagen, das seit den 60er Jahren kaum mehr Kinder erzogen werden im Dialekt. In Südhessen sieht das anders aus. SPR In dieser Landschaft entlang des Rheingrabens war man schon immer offen für Modernisierungen. Denn der große Verkehrsweg Rhein sorgte von jeher für Wohlstand, Austausch und Lebendigkeit. Hier waren die Dialekte von schon immer stark im Wandel begriffen. Sie wurden aber auch mit größerem Selbstbewusstsein gesprochen als im übrigen Hessen. Zu den alten Dialekten im Süden zählen das Rheinhessische, mit dem vielbesungenen Rheingau ... E 23 (Rudi Jakobi) Im Norden grüne Wäldä im Süden glänzt de Rhei und um disch rum da wächst so gut der allä bestä Wei SPR ... das Riedhessische ... E 24 (Heinz Burger) Da redd ma wie eim der Schnabbel gewachse ist und des is hald die Muddersprach. SPR ... und ganz im Süden das Odenwälderische. E 25 (Philipp Bickelhaupt) Das fraat misch awwer, dass Se auremal bei uss im Ourrewald sind! SPR Das Selbstbewußtsein der Südhessen hat sich bis heute erhalten. Vor allem das Ourrewälderische wird noch immer von erstaunlich vielen Sprechern aktiv genutzt. Insgesamt aber gilt für den Süden: Seit den 70er begann man auch hier die Kinder in einer anderen Sprache zu erziehen als in den alten Dialekten. Doch auch danach war die Verkehrssprache alles andere als akzentfreies Hochdeutsch. Sondern eben das, was heute allgemein als Hessisch gilt: Das Neuhessische. Und so kam es, dass die Kinder zu Hause hörten, sie sprächen Hochdeutsch, aber von Auswärtigen erfuhren: das ist Hessisch. Walter Renneisen. E 26 (Walter Renneisen) Ich bin in einem kleinen Dorf am Main, am Untermain aufgewachsen. Die schwarze Perle am Untermain. Mit sechs Jahren eingeschult worden, damals hieß es Volksschule, ich habe natürlich in dem Dorf Hessisch gesprochen, ich freundete mich mit einem Jungen an, die hatten die einzige Fabrik in dem Ort, auch die einzige Villa und ich war da eingeladen, nach einer halben Stunde rausgeschmissen, weil ich Hessisch sprach. Meine Familie erzählt, ich hätte gefragt: wo habt ihr denn euern AB? SPR Falls jemand des Hessischen nicht mächtig sein sollte: AB ist die hessische Kurzform für Abtritt, hochdeutsch: Toilette. Ja, ja, der Mundartsprecher hat's nicht immer leicht. E 28 (Walter Renneisen) Ich war in Kanada. Vor Jahren, plötzlich ruft jemand: ei Walter, was machst dann du in Kanada? Ein Schulkamerad von mir. Schon waren plötzlich in Kanada vier Quadratmeter Heimat da. Es ist das Mittel der direkten Ansprache im vertrauen Bereich, die ersten Laute, die ein Neugeborenes vernimmt, die Sprache unter Nachbarn, unter Freunden, die Sprache, die sich für einen, der den Dialekt nicht kennt manchmal komisch anhören kann, das ist klar. Stellen Sie sich mal vor Tatort: grausamer Mord, Tragödie, alle stehen unter Schock, es wurde einer erstochen, der Mörder steht da mit dem Messer in der Hand, blutbeschmiert, die Leiche, Blut, Zeugen, ein Hesse tritt auf und sagt zu dem Mörder: du Mädä! -ENDE Script Beitrag- 1