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Sprecherin: Der irische Schriftsteller George Bernard Shaw. O-Ton 1: Gebauer Wenn man manche Gesänge hört, denkt man, die Leute würden am nächsten Tag nach England einmarschieren oder nach Frankreich und als würde das Dritte Reich wieder auferstehen oder ähnliches, aber das wäre natürlich eine vollkommen falsche Einschätzung, es ist oft so, dass man im Fußball, in einer Situation des Enthusiasmus und des Außersichseins zu Übertreibungen greift. Regie: Musik Sprecherin vom Dienst: Völkerball - Nationalismus und Fußball Ein Feature von Andrea und Justin Westhoff O-Ton 2: Lahm Wir hoffen, es wird ein tolles, unvergessliches Fußballfest im Zeichen der Freundschaft / Stadionatmosphäre Regie: auf Atmo Zitator: Anstoß - ein großes Nationaltheater O-Ton 3a: Ertel Gesellschaften sind eigentlich sehr heterogene Gebilde. Nun, damit aber das Leben auf der Welt irgendwie wirtschaftlich, politisch, kulturell funktioniert, braucht man Strukturen. Sprecherin Dr. Erhard Ertel von der FU Berlin betrachtet die Darbietungen auf grünem Rasen nicht nur als Sportfan, sondern auch als Theaterwissenschaftler. O-Ton 3b:Ertel ff Man muss mehr oder weniger künstlich auf der Basis von Ideen zunächst Gemeinsamkeiten postulieren, und diese Funktion hat im 20. Jahrhundert der Sport und der Fußball im Besonderen übernommen. Musik Sprecherin Als sich im 18. und 19. Jahrhundert die modernen Staaten bilden, tritt an die Stelle der alten Herrschaftsformen die Nation - und diese wird im Fußball immer wieder inszeniert: Der Einzelne wird Teil eines Kollektivs, unabhängig von seiner sozialen Herkunft, man teilt - für die Zeit des Spiels - die gleichen Werte, hat ein gemeinsames Ziel, den Sieg der eigenen Mannschaft. Und vor allem: O-Ton 4: Ertel Es müssen große Rituale entfaltet werden, die diese beschworene Gemeinschaft erlebbar machen, und an diesem Ritualtheater sind alle beteiligt, und da es sich auf einer sehr emotionalen Ebene abspielt, spielen zwei Sachen eine wichtige Rolle: das Singen und das choreografische sich bewegen, wo man quasi in der choreografischen Gleichschaltung die Gemeinschaft darstellt, und für sich aber, durch Mitmachen, auch erlebt. Regie: Nationalhymne Deutschland Sprecherin Ein wichtiges Requisit im Fußball-Nationaltheater sind, neben der Flagge, die Hymnen. Die Spieler stehen in einer Reihe, einige fassen sich an den Händen oder stehen Arm in Arm, andere legen die Hand aufs Herz, manche singen voller Inbrunst mit, manche schweigen. Es gibt zwar ein paar friedliche Nationalhymnen, beispielsweise die von Welt- und Europameister Spanien, aber viele sind ziemlich blutrünstig, erzählen von Revolution, von Gewalt. Bei der EM 2012, beim Eröffnungsspiel in Warschau, wird der polnische Gastgeber zum Beispiel singen: Regie: Nationalhymne Polen Zitator: Noch ist Polen nicht verloren, Solange wir leben. Was uns fremde Übermacht nahm, werden wir uns mit dem Säbel zurückholen. Sprecherin Früher waren auch die Spielstile der Mannschaften Teil der nationalen Inszenierung: die "tänzerischen Brasilianer", die "deutschen Fußballarbeiter " oder die "holzenden Kicker" aus Uruguay. Heute sind die Konturen der multikulturellen Teams eher verschwommen, den Part haben jetzt die Fans übernommen. Die Idee, dass die Zuschauer selbst auch Akteure eines Fußballspiels sein können, stammt aus Brasilien: Schon in den 50er Jahren lieferten sich dort Samba-Schulen stellvertretend für ihren Verein einen Kostüm- und Trommelwettkampf auf den Rängen. Später wurde daraus in Europa ein Spektakel der Fan-Nationen, erzählt Professor Gunter Gebauer, Fußballliebhaber und Sportphilosoph an der FU Berlin. O-Ton 5: Gebauer Das begann mit den holländischen und dänischen Fans, die ihre Gesichter bemalten, die Holländer kamen mit orangefarbenen Perücken, mit bemalten Gesichtern ebenfalls, und die Dänen mit Kuhhörnern, als Wikinger, im Grunde genommen starke karnevalistische Elemente, die jetzt gerade von den kleinen Ländern ausgingen, wobei man sagen muss, kleine Länder mit besonders begabten Fußballspielern, die also eigentlich einen viel hinreißenderen Fußball spielten als Nationen wie Deutschland und England, und die im Grunde genommen den erstaunten deutschen Zuschauern klar gemacht haben, dass Fußball nicht nur Maloche ist, nicht nur Arbeit auf dem Rasen, sondern auch etwas zu tun hat mit karnevalistischer Freude, also das ist etwas, was von anderen Ländern reingeholt worden ist. Regie: Musik "Schwarz und weiß" Sprecherin Zudem, als relativ neues Element im Fußball-Nationaltheater: das "Public Viewing", groß eingesetzt erstmals bei der WM 2006 in Deutschland. 100.000 und mehr Menschen kommen hier zusammen, um dieses "Wir-Gefühl" zu zelebrieren. Zitator: "Nachdem Religionen, Weltanschauungen und Gebräuche in der Erlebnisgesellschaft ihre Verbindlichkeit verloren haben und die Menschen der unterschiedlichen Milieus und Gehaltsklassen in streng voneinander getrennten Lebensbereichen zu Hause sind, eint sie alle - vom Kanzler bis zum Penner - nur mehr der Fußball." Sprecherin ...schreibt der FAZ-Journalist Dirk Schümer in seinem Buch "Gott ist rund - Die Kultur des Fußball." Solche Veranstaltungen tragen bisweilen tatsächlich religiöse Züge: das Schalspannen etwa, die Arme gen Himmel gereckt, man wiegt sich zur Musik in Verzückung oder auch in tieftraurigem Schmerz. Selbstverständlich ist der Fußball-Nationalismus auch Teil einer gigantischen Kommerz-Maschinerie mit Fan- Artikeln von riesigen Fahnen bis zu schwarz-rot-goldenen Gummibärchen. Und das vor allem bierselige "Deutschland"-Gegröle mancher Fans wurde mittlerweile ironisiert. Regie: Musik Schland o Schland Sprecherin Fußball hat eine ambivalente Funktion: Im positiven Sinne fördert er das nationale Wir-Gefühl, aber er ist auch ein Kampfspiel. Das bedeutet, die Kehrseite, das Abgrenzen von den anderen, fremden Nationen wird hier spielerisch zwar, aber aggressiv bis feindselig ausgetragen. George Orwell nannte den Fußball "war minus the shooting", und nicht umsonst hießen Fans früher "Schlachtenbummler". Atmo Zitator: Einwurf: Kein Spiel ohne Grenzen Regie: Musik We are the Champions/Stadionjubel Sprecherin Fußball eroberte von England aus die Welt, weil die Regeln so waren, dass man ihn überall spielen konnte. Zugleich aber versuchten viele Länder, das Spiel als eigenes, nationales in Besitz zu nehmen. In Deutschland, wo Turnen Nationalsport war, setzte sich diese "Fußlümmelei" erst spät durch, galt lange als "englische Krankheit": O-Ton 7: Schulze-Marmeling Als man den DFB 1900 gegründet hat, hat man als eine der ersten Aufgaben des Verbandes formuliert, die englischen Fachausdrücke auszumerzen. Also auch der Versuch, es möglichst von diesen englischen Ursprüngen zu befreien, von diesem Geruch, etwas Fremdes zu sein und als deutsches Ereignis zu interpretieren. Sprecherin ...erzählt Dietrich Schulze-Marmeling, Autor zahlreicher Fußballbücher und Experte für die Geschichte dieses Sports. 1904 - mit Gründung der FIFA - bekam die weltweite Fußballfamilie eine gemeinsame Organisation, um die strukturellen Voraussetzungen für regelmäßige Nationen-Wettkämpfe zu schaffen. Aber von Beginn an gab es Auseinandersetzungen, wer überhaupt als Nation zu definieren war und wie das Kräfteverhältnis im Weltfußballverband aussehen sollte. 1930 fand dann die erste Weltmeisterschaft statt, und damit wurde das politische Potential dieses Sports offenkundig: O-Ton 8: Schulze-Marmeling Hinter jedem Turnier, hinter jeder Bewerbung für ein Turnier, steht ein Staat, und dieser Staat hat politische Interessen. Das war schon 1930 bei der WM in Uruguay so, diese WM korrespondierte ja damals mit der 100-Jahresfeier von Uruguay, und die Regierung hatte ein manifestes Interesse daran, mittels dieses Turniers Uruguay auf die politische Landkarte zu setzen. Und 1934 hat es dann Mussolini in Italien gewissermaßen noch viel besser gemacht, und das Ziel war ganz klar, mittels dieser WM die Dynamik, die Kraft, die Modernität, die Überlegenheit der faschistischen Ideologie zu demonstrieren. Sprecherin Gerade bei den Weltmeisterschaften zeigt sich bis heute, wie wichtig es vor allem für kleinere afrikanische Staaten ist, europäische Mannschaften zu besiegen. Ferhat Abbas, ein führender Politiker im Kampf um die algerische Unabhängigkeit, sagte in den 1950er Jahren: Zitator: Die Franzosen beherrschen uns mit Gewehren und Maschinen; wenn es jedoch auf dem Fußballfeld Mann gegen Mann geht, zeigen wir, wer wirklich überlegen ist. Regie: Atmo "Auspfeifen der franz. Nationalhymne Sprecherin Nationale Spannungen sind nach wie vor regelmäßig bei Spielen der Franzosen gegen nordafrikanische Mannschaften hörbar: Tunesische, algerische oder marokkanische Migranten in den Pariser Stadien begleiten die Marseillaise mit Buhrufen und Pfiffen. Aber es geht nicht nur um alte Feindschaften: Beim WM- Qualifikationsspiel zwischen der Schweiz und der Türkei 2006 wurden beide Nationalhymnen ausgepfiffen und es kam zu schweren Tumulten im Stadion. In Südamerika oder im ehemaligen Jugoslawien münden Fußballspiele nicht selten in gewalttätigen Auseinandersetzungen, auf den Rängen und auf dem Platz. Regie: Musik 54, 74, 90, 2006 Sprecherin Auch in Deutschland hatte Fußball immer eine politisch-nationale Komponente, meint der Sportphilosoph Gunter Gebauer. O-Ton 9:Gebauer Es hat immer wieder Perioden gegeben, wo der Fußball in Deutschland eine Antwort gegeben hat auf die Frage, die sich viele Deutsche gestellt haben, eher unbewusst gestellt haben, nämlich: Wer sind wir? Welche Rolle spielen wir, in Europa, in der Welt, dass man so etwas spürte wie eine Anerkennung vor sich selbst. O-Ton 10: "Wunder von Bern"/ Zimmermann-Reportage "Aus, aus, das Spiel ist aus - Deutschland ist Weltmeister!"/ Stadionatmo abgeblendet O-Ton 11: Gebauer Und die erste Antwort, die da gegeben worden ist, ist eben das Endspiel in Bern mit dem Sieg der deutschen Mannschaft, wo schlagartig klar wurde, dass Deutschland zurückgekehrt war in den Kreis der anerkannten Völker, das darf man nun nicht übertreiben, das wird manchmal zu sehr hochstilisiert, das war etwas, was von anderen Ländern mit einer gewissen Hochachtung, vielleicht auch ein bisschen Unbehagen wahrgenommen worden ist, 1954, dieser außerordentlich begehrte Titel war so etwas wie eine Satisfaktion, eine Beruhigung, eine Befriedigung, dass man das Gefühl hatte, Deutschland ist vor den Deutschen selber anerkannt. Sprecherin "Das Wunder von Bern" vom 4. Juli 1954 wurde zur zweiten Geburtsstunde der Bundesrepublik verklärt - allerdings erst später; in der Zeit selbst und von der Politik wurde die "wiedererwachte Nation" gar nicht thematisiert. Vielleicht auch, weil nach dem Abpfiff deutsche Zuschauer ihre Nationalhymne angestimmt hatten - mit der ersten Strophe. O-Ton 12: Reportage Oertel zum Sparwasser-Tor Sparwasser, Sparwasser, Tor! - Jürgen Sparwasser aus Magdeburg. (Stadionatmo) Sprecherin Zur Weltmeisterschaft 1974 in Deutschland, es war Höhepunkt der Entspannungspolitik, begegneten sich zum ersten und einzigen Mal zwei deutsche Nationalmannschaften. Der Sieg stärkte zweifellos den Nationalstolz der DDR, aber es war nur eine gewonnene Schlacht. Weltmeister wurde die Bundesrepublik. Dass das wiedervereinigte Deutschland 1990 den Titel holte, stärkte zwar noch einmal das nationale "Wir-sind-wieder-wer-Gefühl", schürte aber durchaus auch Ängste vor der neuen mächtigen Nation mitten in Europa... Regie: Musik Zeit, dass sich was dreht Sprecherin ... umso wichtiger war es, dass sich das Land als freundlicher Gastgeber der WM 2006 präsentierte. Und dazu gehörte, dass junge Leute - frei von der Skepsis und den Skrupeln der Nachkriegsgeneration - ihren Platz im friedlichen Wettstreit der Nationen bewusst einnahmen. Fußballbuch-Autor Dietrich Schulze-Marmeling: O-Ton 13: Schulze-Marmeling Mein Sohn, der nun wirklich frei von jedem Nationalismus ist, ist dem so begegnet, dass er zu mir gesagt hat: "Pass mal auf, hier kommen junge Menschen aus allen Ländern nach Deutschland rein, in den Trikots ihrer Ländern, mit den Fahnen ihrer Länder, usw. und feiern ein großes Fest. Und ich soll da in Sack und Asche gehen und darf nicht Schwarz-Rot-Gold zeigen?" und dazu kam bei ihm noch, und das ist bei mir so ein bisschen ähnlich gewesen, er hat sich nicht für die deutsche Nationalmannschaft begeistert primär deswegen, weil es eine deutsche Nationalmannschaft ist, sondern für diese ganz spezielle Mannschaft, für den Fußball, den sie gespielt hat, und da hat er dann gehofft, und da hat natürlich auch eine Rolle gespielt, dass er Bürger dieses Landes ist, dass sie möglichst weit in diesem Turnier kommt. Regie: Musik ...werden wir Weltmeister sein Sprecherin Mit dem ganz großen Sieg ist es 2006 zwar nichts geworden, aber die Nation stand voller Stolz hinter ihrer Mannschaft. Deutschland als schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer, das schien plötzlich kein Problem mehr, der neue unverkrampfte Patriotismus wurde im In- und Ausland begrüßt. Aber in den Jubel mischten sich auch warnende Stimmen: Der "Fußballnationalismus" lenke von den sozialen Problemen ab, meint zum Beispiel der Bielefelder Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer. Er hat in seiner Langzeitstudie "Deutsche Zustände" das nationale Bewusstsein ebenso untersucht wie Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in Deutschland, und schon nach der WM 2006 davor gewarnt, den Nationalismus zu "verharmlosen": Zitator: "Nationales Zusammengehörigkeitsgefühl und Chauvinismus sind zwei Seiten einer Medaille. Kampagnen, die darauf abzielen, nationalistische oder patriotische Einstellungen zu schüren, bergen die Gefahr, die Abwertung von anderen Gruppen zu fördern." Sprecherin Der Berliner Fußballfan und -forscher Jonas Gabler ist aus eigenem Erleben zumindest skeptisch, was den fröhlichen Patriotismus angeht: O-Ton 14: Gabler Gerade das Ausscheiden und was danach passiert ist - und ich hatte damals eben auch viele gute italiensche Freunde und hab da mitbekommen, wie diese Stimmung sehr schnell umschlug. Und wie von der "Welt zu Gast bei Freunden" dann innerhalb von wenigen Minuten nicht mehr viel übrig war und dann plötzlich die Italiener eben doch zu Feinden wurden und dass es auch viele da tatsächlich sehr persönlich genommen haben und das z.B. nicht verstehen können, dass ich zum Finale schon wieder für die Italiener war, das wird dann als Verrat stilisiert, das ist halt tatsächlich ein sehr schmaler Grat. Regie: Musik/Atmo Sprecherin Wenn man sich den Fußball heute ansieht, das weltweite Geschäft, die internationalen Verflechtungen, die multi-kulturellen Mannschaften - dann scheint er weniger denn je ein Ort nationaler Befindlichkeiten, eher das Beispiel für Globalisierung. Aber eigentlich war das schon immer so, sagt Fußballhistoriker Dietrich Schulze-Marmeling: O-Ton 15: Schulze-Marmeling Fußball ist dort immer stark geworden, wo Migration stattfand, sei es auf der Elitenebene, dass Schweizer Kaufleute nach Italien gingen und dort Fußballclubs gründeten und dominierten, wie beispielsweise "Internationale Mailand", kurz Inter Mailand, oder Manchester wäre nie zu einer Fußballmetropole geworden ohne seine Einwanderung, also große Fußballmannschaften, ich spreche jetzt von Vereinsmannschaften, sind doch ab einem bestimmten Moment immer international komponiert. Und dann haben wir die Nationalmannschaften, aber auch dort befinden wir uns ja mittlerweile in einem Auflösungsprozess. Regie: Atmo "Özil-Tor! Tor für Deutschland ! Sprecherin Inzwischen gibt es in fast allen Nationalmannschaften Spieler mit Migrationshintergrund, manche müssen dann eine Entscheidung über ihre nationale Zugehörigkeit treffen: Mesut Özil etwa, der, als er nicht für die Türkei spielen wollte, dort von einigen als Verräter beschimpft wurde. Aber auch hierzulande nannten ihn ein paar Verbohrte einen "Plastik-, oder Ausweisdeutschen". In Sachen "Multikulti" ist der Fußball weiter als die Gesellschaft, meint Dietrich Schulze-Marmeling: O-Ton 16: Schulze-Marmeling Nehmen wir doch mal WM 2010, Deutschland: einige Monate, nachdem wir diese multikulturelle Nationalmannschaft auch als Aushängeschild eines neuen modernen Deutschlands abgefeiert haben, bringt Herr Sarrazin ein Buch auf den Markt, das zum Bestseller avanciert. Ähnliche Situation haben wir auch in Frankreich gehabt 98, wo alle gesagt haben, diese Nationalmannschaft verkörpert eine neue moderne Republik, und später feiert dann die Front National große Wahlerfolge. Regie: Atmo rhythm. Sieg! Sieg! Zitator: Foul: Die nationalistische Kehrseite Sprecherin Fußball mag ein weltweites, internationales Spiel sein, automatisch Völker verbindend ist es trotzdem nicht. Gerade bei den organisierten Fans zeigen sich heute oft Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz, Aggression und Rassismus besonders deutlich. Axel Pannicke vom Fanprojekt Berlin weiß um die schwarzen Schafe: O-Ton 17: Pannicke Natürlich ist ein großes Problem die Diffamierung und die Beleidigung von andersfarbigen Spielern beispielsweise. Das sind Dinge, die aus unserer Sicht zumindest deutlich zu kritisieren sind, und es wird auch kritisiert in der Szene. Aber es gibt in letzter Zeit immer wieder Leute, die teilweise eben im Stadion stehen und den rechten Arm dabei heben oder eben die erste Strophe der Nationalhymne anstimmen. Sprecherin Besonders in den 1980er und 90er Jahren machten rechtslastige Fangruppen wie Borussenfront, Frankenterror oder - extrem widerlich - Zyklon B bei Hertha von sich reden. Inzwischen ist deren Auftreten etwas zurückgegangen, auch durch stärkere Kontrolle und Sanktionen. Vor allem in den unteren Ligen - wo die öffentliche Aufmerksamkeit geringer ist - gibt es sie aber weiter. O-Ton 18:Schulze-Marmeling Solche Randerscheinungen haben auch immer die Tendenz, so ein bisschen in die Mitte reinzustrahlen, also ich finde es beispielsweise als unangenehm, diese "Sieg!Sieg!-Stakkatos, die waren zeitweise verpönt, die sind aber mittlerweile wieder in die deutschen Stadien zurückgekehrt, mag sein aus einer gewissen Naivität heraus, weil man diese Debatte um diese Stakkatos aus den frühen 90ern nicht mehr kennt, aber nichts desto trotz, man sollte das mal wieder thematisieren und bekämpfen. Sprecherin Diese "Sieg! Sieg! -Schreie sind keine bloßen Begeisterungsrufe, sondern sie klingen wie "Sieg-Heil" - und das ist auch die Absicht. Regie: Atmo Klatschen/Deutschland-Rufe Sprecherin ... aber auch "Otto Normalverbraucher" versetzt der Fußball in einen Ausnahmezustand. Sportphilosoph Gunter Gebauer: O-Ton 19: Gebauer Wenn wir an die Zuschauer denken, dann ist es ja eher so, dass wir eine Situation der Freilassung bestimmter Wünsche, Lüste und Befriedigung haben, die sonst nicht eingelöst werden können, im Grunde genommen eine karnevalistische Situation, man darf also auch auf dem Fußballplatz ganz unflätige Beschimpfungen von sich geben, also Sachen, wo ganz wohlsituierte Herren - und Damen im Übrigen auch - in feiner Kleidung aufspringen und den Schiedsrichter als "dumme Sau" bezeichnen und beschimpfen und mit Gegenständen werfen, wo man sich fragt, wie das möglich ist, dass normale Menschen so etwas tun können, aber sie beruhigen sich natürlich auch wieder sehr schnell und das macht niemanden wirklich unglücklich, weil es in dieser Zeit auch erlaubt ist. Sprecherin Außerdem verlangt das Kampfspiel Fußball ein klares Freund-Feind-Denken - zumindest von "echten" Fans. Neben "normalen" Fußballbegeisterten gibt es bei jedem Verein auch eine spezielle "Fan-Szene". Dazu zählen "Hooligans", die Fußball vor allem als Anlass für Gewalt nutzen. Diese Gruppen sind inzwischen weitgehend abgelöst worden von tatsächlich am Sport interessierten "Ultras", die in letzter Zeit immer wieder, unter anderem durch den Einsatz von bengalischem Feuer, für Aufregung sorgen. Jonas Gabler beschäftigt sich seit Jahren mit dieser ganz eigenen "Fußball-Gesellschaft": O-Ton 20: Gabler Meistens weiße, heterosexuelle Männer, alteingesessen, also Leute, die aus diesem Land kommen beziehungsweise genauer gesagt sogar aus der Region, aus der Stadt, in diesem Fankosmos spielen traditionelle Männlichkeitsvorstellungen eine ganz wichtige Rolle, ein rauer Umgangston, man etabliert schnell Hierarchien, Aggressions- und Gewaltschwelle liegen auf jeden Fall niedriger als sonst, sie entwickeln ihre eigenen Normen, ihre eigenen Rituale, und es ist völlig egal, was für einen sozialen, was für einen Bildungshintergrund sie haben, entscheidend ist, man ist für den Verein, und alles, was da nicht reinpasst, ist potentiell zumindest ein Ziel von Diskriminierung. Sprecherin In der Mehrheit verstehen sich Fangruppen als unpolitisch, sie wollen in ihrer Kurve keine rechten Parolen, aber auch keine anderen politischen Bekundungen. Die einzige dezidiert antirassistische, antinationalistische Fanszene findet man beim FC St. Pauli. Aber alles, was nicht zum eigenen Verein gehört, wird bekämpft, besonders bei Lokalderbys. Aber warum greifen Fußballfans überhaupt so häufig auf fremdenfeindliche, rassistische Diskriminierungen zurück? Jonas Gabler: O-Ton 22: Gabler Es sind Rassisten unter dem Fußballpublikum, die initiieren das, und die anderen machen aus - ja - Gleichgültigkeit oder weil sie einfach in diesem Bereich nicht sensibilisiert sind, dann einfach mit. Und denken, es wäre gerechtfertigt, weil: im Fußball ist alles erlaubt, erstens, und zweitens: Jede Abwertung des Gegners - und umso schlimmer sie ist, umso besser ist sie - ist legitim, und dazu kann natürlich auch noch so eine rassistische Diskriminierung auch noch mal zusätzlich provozieren. Also es geht ja auch immer um gesellschaftliche Provokation. Sprecherin ... und da wird oft auf "Altbewährtes" gesetzt: Beim Pokalspiel zwischen dem 1. FC Lok Leipzig und der zweiten Mannschaft von Erzgebirge Aue skandierten die Leipzig-Fans: "Aue und Chemie - Judenkompanie"; außerdem schwenkten sie Fahnen mit Reichsadler-Emblemen. Dazu Gunter Gebauer: O-Ton 23: Gebauer Im Fußball werden eben auch niedere Instinkte mobilisiert, und im Fußball treiben sich natürlich auch viele Leute rum, die vielleicht Fußball lieben, aber gleichzeitig auch miese Charaktere sind und hier eine Spielwiese erhalten, und die auch gnadenlos nutzen, dass ist schon wahr. Es ist aber interessanterweise jetzt nicht nur in Deutschland so, also das gibt es eben auch in Amsterdam und in Rotterdam, also ich denk jetzt gerade an Ajax, dem unterstellt wird von den Fans von Feyenoord Rotterdam, Erzfeinde, dass sie ein "Judenverein" sind und dann Dinge tun, die man sich in Deutschland nie im Leben erlauben könnte, wo also das Geräusch von einem Zischen von den Fans von Rotterdam produziert wird und dazu dann aus dem Hintergrund leise gesagt wird "Gas, Gas". Und man muss sich fragen jetzt, sind denn die Holländer jetzt die Ober-Antisemiten in Europa oder ist das ein widerliches blödsinniges Spiel völlig wild gewordener Fans. Ich tendiere eher zu dem Zweiten. Regie: Atmo Ultras-Trommeln und Brüllen Sprecherin Rassismus und Nationalismus im Fußball gibt es in der Tat in ganz Europa, deshalb kann man durchaus mit Sorge auf die kommende Europameisterschaft in Polen und der Ukraine blicken. In beiden Gastgeberländern sind bei Ligaspielen antisemitische und rassistische Schmähungen der Fans fast Alltag, werden regelmäßig Fahnen mit SS-Zeichen geschwungen. Zwar verspricht Adam Olkowicz, der polnische Turnierdirektor, die EM werde ein Fest sein "frei von Intoleranz und rassistischen Symbolen", aber Fachleute sagen, das werde nicht gelingen. Steht also zu befürchten, dass nationalistische deutsche Fans die Gelegenheit nutzen werden, "Flagge zu zeigen"? O-Ton 24: Gabler Das Fanpublikum bei internationalen Turnieren ist ja immer noch ein bisschen was anderes als das, was bei den Bundesligaspielen auftritt. Also die heute aktivste Fanszene, nämlich die Ultras, die spielen bei den Nationalmannschaftsspielen praktisch kaum eine Rolle, es gibt auch spezielles Publikum, was nur zu Länderspielen fährt, was sich tatsächlich auch eher so aus dem eher rechten Spektrum rekrutiert, und für die sind solche Spiele in Osteuroopa durchaus interessant. Sprecherin Unbestreitbar gibt es besonders in Polen viele gewaltbereite Fans, wie sie in den 80er Jahren auch in Deutschland ihr Unwesen trieben. Solche Hooligans liefern sich ihre Schlachten vor allem außerhalb der Stadien. Und einige haben bereits lautstark angekündigt, dass sie sich freuen "die Deutschen anzugreifen, weil wir sie schon immer hassen". Regie: Atmo Zitator: Abpfiff O-Ton 25: Lohmeier (Stadion-Atmo ) In manchen Momenten hast Du das Gefühl, alle 60.000 im Stadion sind sich einig - ich liebe dieses Spiel, die Atmosphäre im Stadion, die Fans - obwohl: Einige haben's ja offenbar immer noch nicht kapiert, was haben die hier eigentlich verloren? - Hey, das ist unser Spiel, und es ist nicht weiß, nicht schwarz und schon gar nicht braun; Fußball ist bunt. Sprecherin Der Schauspieler Peter Lohmeier in einem Spot des Deutschen Fußballbundes. Die nationalen und internationalen Vereine und Verbände wissen, dass sie etwas tun müssen, damit sich das schöne "Wir-Gefühl" beim Fußball nicht zu einer "Ihr-Nicht- Welle" aufbaut. Und es passiert auch einiges: 2006 richteten der Deutsche Fußballbund und die Deutsche Fußballliga eine Task Force gegen Gewalt, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ein. Umso unverständlicher ist es, dass der DFB für diese Sendung keine Stellungnahme abgeben wollte. Dabei gibt es dort doch auch noch einen Integrationsbeauftragten oder die Initiative "Verein(t) gegen Rechtsextremismus". Der Berliner Fanforscher Jonas Gabler betont aber ohnehin, dass es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt. O-Ton 26: Gabler Der Fußball hat den Rassismus nicht - oder die Fremdenfeindlichkeit - nicht auf die Welt gebracht, sondern klar, es manifestiert sich vielleicht auch besonders stark, weil es eben dort noch keine gesellschaftliche oder noch nicht so stark eine gesellschaftliche Konvention verbreitet ist, dass es eben geächtet ist, letztendlich ist der Fußball immer nur in gewisser Weise ein Spiegel der Gesellschaft, ein Zerrspiegel, weil er natürlich bestimmte Sachen besonders betont, aber er ist zugleich eben auch ein Indikator, der uns zeigt, wie in einer Gesellschaft mit solchen Phänomenen umgegangen wird, und das spiegelt der Fußball auch wieder, ja. Sprecherin "Fußball ist nicht per se hässlich, gibt aber dem Hässlichen eine Bühne", war kürzlich in einem Blog zu lesen. Regie: Bushido /Kay one Fackeln im Wind WM 2010 Sprecherin vom Dienst: Völkerball - Nationalismus und Fußball Ein Feature von Andrea und Justin Westhoff Es sprachen: Eva Kryll und Helmut Gauß Ton: Inge Goergner Regie: Klaus-Michael Klingsporn Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2012 Am nächsten Montag hören Sie an dieser Stelle: Feind, Todfeind, Parteifreund? Die Intrige in der Politik 1