Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 21. Mai 2016 - 11.05 - 12.00 Uhr "Vom Nebenkriegsschauplatz zur alpinen Legende - Die Dolomitenfront im 1. Weltkrieg" Mit Reportagen von Gerwald Herter Am Mikrofon: Johanna Herzing Musikauswahl: Simonetta Dibbern (DLF 2015) Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Ich dachte an den Augenblick, als sie von zuhause aufbrachen. Wir fanden ein paar blonde Haarsträhnen. Ich habe mir vorgestellt, wie ihre Mütter sagten, 'Kommt bloß wieder gesund nach Hause!' Doch zurück kamen sie nie. Ein Archäologe über den Moment, in dem Eis und Schnee die sterblichen Überreste zweier Soldaten freigaben. Und ein Historiker über langlebige Geschichtsbilder: Diese Fotos vermitteln im Prinzip so eine Art idyllisches Kriegsbild, als sei der Gebirgskrieg eine Front gewesen, in der es relativ gemütlich zur Sache ging. Was in all diesen Fotos teilweise verschwiegen wird, ist das massenhafte Sterben, die Gewalt und teilweise auch die großen Zerstörungen. "Vom Nebenkriegsschauplatz zur alpinen Legende - Die Dolomitenfront im 1. Weltkrieg". Gesichter Europas mit Reportagen von Gerwald Herter. Am Mikrofon: Johanna Herzing. Es ist ein Stoff für Legenden, für Heldenepen und Abenteuer-Geschichten. Überleben in schwindelerregender Höhe, waghalsige Klettertouren zur nächsten Stellung an der schroffen Felswand, Stollen tief in Berge, Gletscher und Eispanzer gehauen. Vor gut hundert Jahren, am 23. Mai 1915, erklärte Italien der K.u.K.-Monarchie den Krieg, kündigte den sogenannten Dreibund auf, also den Bündnis-Vertrag mit Österreich-Ungarn und dem Deutschen Reich, und trat auf Seiten der Entente in den Ersten Weltkrieg ein. Die Folge: eine neue Front, die sich über mehr als 700 Kilometer mitten durch die Alpen zog - von der Schweiz bis an die Adria. Klangvolle Namen sind mit diesem Gebirgskrieg verbunden: Die berühmten Isonzo- und Piave-Schlachten, aber auch kleinere Kriegsschauplätze, die sogar in die Literatur- und Filmgeschichte eingegangen sind. Und doch waren die Alpen eben nur ein Nebenkriegsschauplatz. In den Dolomiten lieferten sich die verschiedenen Regimenter und Einheiten einen jahrelangen Stellungskrieg. Viele Soldaten wurden nicht Opfer des Gegners, sondern der Natur: Kälte, Lawinen, Steinschlag, ein falsch gesetzter Schritt auf einem wenige Zentimeter breiten Gebirgspfad. Wie viele Opfer genau diese Kämpfe forderten, lässt sich bis heute nicht eindeutig feststellen - viele Soldaten wurden verschüttet oder sie starben in schwer zugänglichen Gebieten. Weit über dem Ort Peio, nordwestlich von Trient, haben italienische Archäologen eine der höchsten Stellungen der österreichisch-ungarischen Truppen ausgegraben, das Gletschereis mit Heißluft-Gebläsen weggeschmolzen. Zum Vorschein kam die Bergstation einer alten Seilbahn, angelegt in einer Art Tunnel an der Punta Linke, einem Berggipfel im italienischen Ortler-Massiv. Der Fundort in mehr als 3600 Metern Höhe ist im Frühjahr nicht leicht zu erreichen. Reportage 1: Der Geruch des Kriegs Der Hubschrauber ist gerade noch zu erkennen, die Piloten haben abgedreht und fliegen wieder ins Peio-Tal hinunter. Nun geht es zu Fuß über den flachen Gletscher an der Punta Linke. Noch hat die strahlende Frühjahrs-Sonne dem Schnee wenig anhaben können, alles ist hartgefroren. Spalten sind nicht zu sehen, der Blick fällt ohnehin auf die Gipfel, die sich im Norden erheben - bis zum Cevedale und dem fast 4000 Meter hohen Ortler. Der kleine Anstieg bringt alle außer Atem, auch den italienischen Archäologen Franco Nicolis, er stützt sich auf seine Skistöcke. Sein Kollege Maurizio Vincenzi geht voran, folgt sicher und schnell den frischen Spuren im Schnee. Sie führen auf eine weiße Kuppe. Noch ein paar Meter weiter - an einem steilen Abhang klebt der Eingang zur Weltkriegs- Stellung. Sie liegt unter einem meterdicken Panzer aus Eis und Schnee. Viel ist von hier aus nicht zu sehen, nur der Eingang zu einem Stollen. Die Archäologin Cristina Bassi und der Bergführer Mauro sind schon eine halbe Stunde früher hier herauf geflogen, sie haben bereits Stufen in den Schnee gegraben und den Eingang freigeschaufelt. Nun setzten sie uns Helme auf und nehmen die Gruppe ans Seil, sicher ist sicher. Von Anfang an wollten wir, dass Besucher hierher kommen können und das haben wir geschafft. Zwischen Mitte Juni und Mitte September können sich Interessierte im Museum von Peio melden. Hier ist es möglich etwas vom Krieg zu erfahren und ihn sogar zu riechen. Balken umrahmen den Eingang. Der Stollen führt 15, 20 Meter in den Berg. An den Wänden kleben Eiskristalle, Franco Nicolis erklärt, dass Fenster im Stollen freigelassen wurden, um Besuchern Blicke auf das gefrorene Erdreich zu eröffnen. Drei, vielleicht vier Soldaten hatten hier an der Grenze der Donaumonarchie während des 1. Weltkriegs die Stellung gehalten. Mit der Seilbahn brachten die Truppen Kanonen, Munition und Verpflegung hinauf. Der größte Teil der Einheit war in der nahen, aber niedriger gelegenen Vioz-Hütte untergebracht. Wer oben an der Seilbahn Dienst tat, musste besonders viel ertragen: die bittere Kälte, die Dunkelheit und die ständige Angst unter dem Eis begraben zu werden. Hundert Jahre später drohen der Stellung zwar keine Bombardements mehr, der Beklommenheit kann man sich trotzdem nicht entziehen. Die Höhenluft, die Enge, das spärliche Licht: Franco Nicolis hat mit vorsichtigen Schritten den größten Raum der Stellung erreicht, nun steht er vor der alten Seilwinde. Am Ende des Tunnels haben wir sie gefunden. Wir haben alles wieder zusammengebaut und sie hierhin gestellt. Die Winde funktioniert nicht, weil einige Teile fehlen, aber es wäre mein Traum den Motor noch einmal zu starten. Und dann würde Franco Nicolis mit der Seilbahn ins Tal hinabfahren. Allerdings stehen die Stahlseile und Stützpfeiler längst nicht mehr. An der Wand hängt ein Medaillon mit dem Porträt des Kaisers von Österreich-Ungarn sowie den verbündeten Herrschern, außerdem die handgeschriebene Bedienungsanleitung für die Winde und ein Titelblatt des "Wiener Journals" von 1916. Darauf sind Menschen zu erkennen, die in einer langen Schlange vor einer Bäckerei auf Brot warten. Noch eine Postkarte - das ist alles. Schautafeln und Vitrinen gibt es in dieser Stellung nicht, dafür etwas ganz anderes: Ein Ort der Erinnerung - ich nenne es weder Museum, noch Ausgrabungsstätte. Die Erinnerung hat hier ihren eigenen Raum, ihre eigene Stofflichkeit, ihren eigenen Geruch. Denn das Gletschereis habe alles perfekt konserviert erklärt Nicolis - sogar den Geruch. Vor allem riecht es im Stollen muffig. Darum, sagt er, holt dich die Zeit von vor hundert Jahren hier unweigerlich ein. Du gehst nicht zum Krieg, er kommt zu dir. Das unterscheide diesen Ort von den vielen Weltkriegsmuseen und alten Schützengräben in den Tälern weiter unten. Genau diese Erfahrung, davon ist der italienische Archäologe Franco Nicolis überzeugt, eröffne einen ganz neuen Blick auf diesen Krieg in den Bergen, der vor hundert Jahren begann. Filomena Prinoth, Arztgattin aus dem Südtiroler Grödner-Tal, führte jahrelang Tagebuch. Auch als 1915 in ihrer Heimat der Krieg Einzug hielt und wenige Kilometer entfernt die Frontlinie zwischen Österreich-Ungarn und Italien verlief. Ihre Urenkelin, Margreth Rungaldier-Mahlknecht, liest aus Filomenas Aufzeichnungen: Literatur 1: Alles scheint großartig: der Krieg großartig, der Schnee großartig, und jetzt auch noch die Mehlnot großartig, denn mehr als fünf Kilo bekommt man nicht zu kaufen. Die Gemeinde verkauft jetzt Mehl, aber sehr teuer, und mit allem wird es eine Not. Am 18. Februar soll der deutsche Kaiser an Italien ein Ultimatum stellen. Die Regierung möchte neutral bleiben, aber doch herrscht eine Kriegshetze unter den Irredentisten und Freimaurern. Der italienische König Viktor Emanuel hat jetzt nichts Gutes, er muss fürchten, abgesetzt zu werden, eine Partei will nämlich den Krieg. Der Papst bittet nun wieder um Ruhe und Waffenstillstand für die letzten Tage der Karwoche. Ob er auch diesmal auf taube Ohren stößt? Der österreichische Kaiser Franz Joseph I. sprach noch am Tag der italienischen Kriegserklärung vom "Treubruch, dessengleichen die Geschichte nicht kennt". Das bislang neutrale Italien habe seine Verbündeten im Stich gelassen und sei zum Feind übergelaufen. Lange hatten die Entente wie auch die Mittelmächte um Italien geworben. Großbritannien, Frankreich und Russland boten große territoriale Zugewinne: Im Falle des Sieges sollte Italien reich belohnt werden, unter anderem mit Tirol - zumindest bis zum Brenner. Und so geschah es dann auch. In Österreich hält sich deshalb bis heute hartnäckig das Vorurteil von der "Feigheit der Italiener". Doch das ist nicht das einzige Narrativ aus der Zeit des Ersten Weltkriegs mit erstaunlich langer Haltbarkeit. Bis in die 1990er Jahre waren es vor allem die Überlieferungen und Selbstzeugnisse der Offiziere, die das Geschichtsbild vom Krieg in den Bergen prägten. Die beteiligten Soldaten wurden verklärt und zu Helden stilisiert - ob nun die 'Alpini' auf italienischer Seite oder die sogenannten 'Kaiserjäger' oder Tiroler 'Standschützen' auf österreichisch-ungarischer Seite. Und auch Andreas Hofer, Anführer in den Tiroler Freiheitskämpfen im 18. und frühen 19. Jahrhundert, musste herhalten im Kampf um historische Wahrheit und politische Interessen: Reportage 2: Kaiserjäger und andere Tiroler Legenden - der Südtiroler Historiker Oswald Überegger will mit Klischees brechen Schützentag in Innsbruck: Kaiserjäger, Kaiserschützen, Landesschützen und weitere Gruppen haben einige hundert Frauen und Männer aufgeboten. Sie tragen ihre traditionellen Uniformen, dazu Säbel und Flinte. Militärisch spielt der Bund der Tiroler Schützenkompagnien zwar längst keine Rolle mehr, seiner gesellschaftlichen Bedeutung tut das aber keinen Abbruch. Mehr als 17.000 Menschen gehören dazu, darunter etwa 1.500 Frauen. Sie sind allerdings keine Schützen, sondern werden als "Marketenderinnen" oder "Jungmarketenderinnen" bezeichnet. In früheren Kriegen kümmerten sich Marketenderinnen um die Versorgung der Soldaten. Hoch über der Innsbrucker Altstadt, auf dem Bergisel, ist das Museum der Kaiserjäger in einer alten Villa untergebracht, die in einem kleinen Park steht. Es wird vom Kaiserjäger- Verein bestückt und wurde schon 1880 eröffnet. Für den Südtiroler Historiker Oswald Überegger zeigt sich hier, wie einseitig der Blick auf den 1. Weltkrieg und andere Konflikte immer noch sein kann. Hier am Bergisel hatten die Tiroler Schützen 1809 Franzosen und Bayern besiegt: Andreas Hofer - Das ist jetzt wirklich das Kaiserjägermuseum, ein traditionelles Regimentsmuseum, genauso wie man es sich vorstellt. Hier eine Art Ahnengalerie mit repräsentativen Porträts von Kaiserjägeroffizieren. ....in einer fast erdrückenden Fülle. Oft hängen die Bilder in mehreren Reihen übereinander. Die Sonderausstellung zum 1. Weltkrieg ist deshalb nicht leicht auszumachen: Der ursprüngliche Eingang, ich glaube das war der ursprüngliche Eingangsbereich und ich glaube es gibt hier eine Sonderausstellung teilweise zu. ... Ah ja ich glaube, das ist schon 1. Weltkrieg. Hier hängen Fotos in Schwarz-Weiß. Vor der Gebirgskulisse sind Kanonen und andere Waffen zu sehen, oft posieren Soldaten nebeneinander und blicken in die Kamera - Erinnerungsbilder: Diese Fotos sind sehr häufig und vermitteln im Prinzip so eine Art idyllisches Kriegsbild, als sei der Gebirgskrieg eine Front gewesen, in der nicht allzu viel los war, in der es relativ gemütlich zur Sache ging. Was in all diesen Fotos teilweise verschwiegen wird, ist das massenhafte Sterben, die Gewalt, die hier auch zum Ausdruck kommt und teilweise auch die großen Zerstörungen. Denn auch der Krieg in den Bergen war, so Überegger, ein industrielles Gemetzel. Im Kaiserjägermuseum werden einige Luftaufnahmen ausgestellt, schon im 1. Weltkrieg wurden Flugzeuge zu Aufklärungszwecken eingesetzt. Wie auch - trotz der Höhe des Kriegsschauplatzes - modernste Waffentechnik: Maschinengewehre oder besonders schwere Geschütze. Dass an der Gebirgsfront, anders als etwa in Flandern, noch Mann gegen Mann kämpfte - auch das ist eine Legende, die sich erstaunlich lange gehalten hat: Es bleibt gewissermaßen uns Historikern überlassen auch diese wichtige Facette des Krieges in das Rampenlicht zu rücken. Ebenso wie einfache Fakten, die immer noch unbekannt sind: Zum Beispiel die Sache mit dem "italienischen Verrat": Wie das deutsche Kaiserreich und Österreich-Ungarn war Italien tatsächlich Mitglied des Dreibunds. Das Land verließ ihn mit der Kriegserklärung. Über das Ultimatum an Serbien war Italien im Jahr zuvor allerdings nicht unterrichtet worden. Zudem entfalteten die Verpflichtungen des Dreibunds auch in Österreich-Ungarn eine nur begrenzte Wirkung: Conrad von Hötzendorf, der österreichisch-ungarische Generalstabschef, ist felsenfest davon überzeugt, dass es früher oder später zu diesem Krieg gegen Italien kommen wird. Und nicht zuletzt deshalb fordert er schon vor 1914 viele viele Male einen Präventivkrieg gegen Italien. Dass das Kaiserjägermuseum kein Geschichtsbild bietet, das auch nur halbwegs vollständig ist, hat offenbar auch das Land Tirol erkannt. Das Konzept "Museum im Museum" soll das unterstreichen. Für die Besucher bedeutet das, dass sie nur über ein anderes Museum, das Tirol-Panorama in die Räume gelangen können. Auch der Rückweg führt deshalb daran vorbei. Im Tirol-Panorama ist das berühmte Rundgemälde zu sehen, das die dritte Schlacht am Bergisel, also den Sieg von 1809 zeigt: Speziell nach dem Kriegseintritt Italiens baut die österreichische Kriegspropaganda in ganz massiver Weise auf dieses Jahr 1809, der Kampf gegen Italien, und jetzt gelte es wieder seinen Mann zu stehen mit Hilfe der Tiroler Landesverteidiger, der Schützen und in gewisser Weise baut dieser Mythos des heldenhaften Schützen, des Standschützen, des Bergsteigerstandschützen, also Sepp Innerkofler, usw. baut auf dieser Tradition der Wehrhaftigkeit auf und es ist immer in der Rückerinnerung mit im Spiel: Andreas Hofer. Dann wollen wir den weiteren Weg gehen. Wunderbarer Blick auf die Autobahn. Das ist ja fast ein bizarrer Erinnerungsort, dieser Bergisel mit Andreas Hofer-Denkmal auf der einen Seite und auf der anderen Seite dieses moderne Bergisel-Museum oder auch die Skisprungschanze. Ein Ensemble würde ich sagen zwischen gestern und heute, zwischen Tiroler Heldentum unter Anführungszeichen und modernem Tourismusmanagement. ...und mit einem großen Parkplatz draußen, zwischen Brenner-Bundesstraße und Brenner-Autobahn. Die meisten Bustouristen, die nach Innsbruck kommen, besichtigen wohl auch den Bergisel. Dass österreichische Touristiker zwischen den "heldenhaften" Skispringern, dem "Helden" Andreas Hofer und den "Helden" anderer Kriege großzügig Gemeinsamkeiten ausmachen, kann Oswald Überegger nur entsetzen: Von heldenhafter Geschichte zu sprechen in diesem Kontext, wenn man von Krieg und leidvoller Erfahrung, von Gewalt und Krieg spricht, finde ich wirklich deplatziert. Literatur 2: 24. Mai 1915, Pfingstmontag Kriegserklärung Italiens an Österreich! Die Würfel sind gefallen. Was man seit einem halben Jahr befürchtete, ist eingetroffen. Der Freundschaftseid des Dreierbundes ist gebrochen, unfassbar! Heute zehn Uhr kam das Telegramm, die Leute sind erschrocken, einige hatten noch immer etwas Hoffnung. In Südtirol ist der Welsche schon eingefallen, einige Dörfer sind besetzt. Jetzt müssen wir uns gefasst machen auf etliche Schrecken, aber ich hoffe es bestimmt, dass sie nicht hier herein ins Tal kommen werden, weil die Gebirgsgrenzen für den Feind einfach nicht zu überwinden sind, fast alle Männer sagen es. Es gibt bestimmte Details des Kriegs in den Bergen, über die in Tirol lange Zeit nicht so gern gesprochen wurde. Oder die von den vielen Mythen überlagert wurden. Dazu zählt auch das Leid der vielen Kriegsgefangenen, die in Tirol eingesetzt wurden: italienische, serbische, vor allem aber russische Kriegsgefangene. Sie transportierten Kanonen, Munition und Lebensmittel bis auf Höhen von fast 4000 Metern. Sie arbeiteten in Fabriken und auf Höfen, bauten strategisch wichtige Eisenbahnen, Seilbahnen und Passstraßen. Die Gefangenen litten meist große Not, viele hungerten. Sie versuchten selbstgemachte Schachteln oder Gehstöcke gegen Lebensmittel einzutauschen. Bei Ausgrabungen in Tirol wurden immer wieder Schnitzereien und andere Gegenstände gefunden, auf denen kyrillische Buchstaben zu sehen sind. Historiker haben diesem Thema verhältnismäßig spät Beachtung geschenkt, dabei sind die Spuren gerade der russischen Kriegsgefangenen an vielen Orten in Nord- und Südtirol zu sehen - zum Beispiel auf dem Weg von der Brennerautobahn ins Grödnertal. Reportage 3: Die russischen Kriegsgefangenen Rechts und links der Straße zwischen Klausen und Sankt Ulrich liegen Obstplantagen an den steilen Hängen. Das Bewässerungssystem zischt vor sich hin. Die meisten Grödner wissen, dass diese Trasse im 1. Weltkrieg nicht für diese Straße, sondern für eine Schmalspurbahn erbaut worden ist. Österreichisch-ungarische Soldaten und Kriegsgefangene schufteten hier, um die Bahn rasch in Betrieb zu nehmen und so die Versorgung der Kämpfer an der Dolomitenfront zu sichern. Eine kleine Eisenbahnbrücke ist noch erhalten geblieben, weil die Straße daneben verläuft. Ein paar Teile des alten Geländers rosten vor sich hin, etwa zwanzig Meter weiter oben, am Rande eines kleinen Walds, ist ein Denkmal zu erkennen. Ein großer Adler - die Inschrift würdigt die Verdienste der k.u.k.-Militärs und des Generalstabschefs Conrad von Hötzendorff. Dieses Monument wurde noch in den Kriegsjahren eingeweiht - angeblich das erste Betondenkmal in ganz Südtirol. Später ist es durch eine Bronzetafel ergänzt worden. Auf Deutsch, Italienisch, Ladinisch - und auch auf Russisch wird immerhin hier an die 6000 Kriegsgefangenen erinnert, von denen viele während der Arbeiten an Erschöpfung, Unterernährung und bei Unfällen starben. Die Bahn fuhr genau zwischen dem Pfarrhaus und der Kirche durch und da gab's große Probleme... Das Pfarrhaus hatte Risse bekommen, die Geistlichen mussten ausziehen, es war baufällig geworden und und und.... Die 70-jährige Margreth Rungaldier-Mahlknecht kennt diese Geschichte nur aus dem Tagebuch ihrer Urgroßmutter, aber immerhin hat sie die Schmalspurbahn noch gesehen, als sie ein Kind war. Die Grödnerin erinnert sich daran, wie sie mit ihren kleinen Geschwistern zum Beispiel Nägel auf die Eisenbahn-Schienen legte und wie sie dem Lokführer immer nachmittags um drei zuwinkte. 1960 wurde der Betrieb der Bahn eingestellt. Rungaldier-Mahlknecht weiß bis heute, wo die Eisenbahnstrecke durch Sankt Ulrich verlief. Das Haus ihrer Urgroßeltern steht ganz in der Nähe: Wenn Sie diese gelbe Front sehen, rechts davon, das ist das Arzthaus. Und das hatten sie in den 80er Jahren gebaut und sind dann 1890 da eingezogen und die Bahn fuhr genau unter dem Haus vorüber. Sie sehen jetzt so einen Weg leicht erkennbar. Das ist jetzt ein Promenadeweg, eine Luis-Trenker-Promenade, und die führt dann immer geradeaus mit einer ganz geringen Steigung bis dann weiter Sankt Christina und Wolkenstein und Plan ist die Endstation. Im 1. Weltkrieg luden Soldaten und Zivilisten Ausrüstung und Munition dort auf Seilbahnen um. Sie führten bis aufs Grödner- und aufs Sellajoch hinauf - und dann ging es weiter zur Front. Filomena Prinoth, die Urgroßmutter von Margreth Rungaldier-Mahlknecht, war in ihrem Haus nahe der Versorgungslinie Augenzeugin des Geschehens. Sie war über die politische Lage besonders gut informiert. Hinzu kamen die Berichte ihres Ehegatten, der der einzige Arzt im ganzen Tal war. Prinoth hielt vieles davon in ihrem Tagebuch fest, ihre Urenkelin hat es vor kurzem veröffentlicht. Die Schilderungen des Elends der Kriegsgefangenen, die die Eisenbahnlinie bauten, sind besonders erschütternd: Das hat mich persönlich am meisten beeindruckt und ich denke jetzt immer daran, wenn ich jetzt gemütlich da herauf kutschiere oder mit meinem Mountainbike da herauf fahre, dann denk' ich 'Du, das haben die armen Leute damals ohne Schuhe, ohne Essen im Magen, in der Kälte mit Schaufel und Hacke ausgehoben.' Also das ist ein Wahnsinn. In ihrem Haus in Sankt Ulrich erzählt Margreth Rungaldier-Mahlknecht, dass sich russische Wintersport-Touristen von heute kaum für das Schicksal ihrer Landsleute interessieren, obwohl sie hier während des 1. Weltkriegs im Einsatz waren. Allerdings sind Historiker auf das Tagebuch aufmerksam geworden, weil es eine sehr wichtige Quelle für den Alltag der Kriegsjahre ist - und im Gegensatz zu den Zeitungsberichten ist das Tagebuch der Filomena Prinoth nicht zensiert worden. Rungaldier-Mahlknecht hat sich auch zur Veröffentlichung entschlossen, weil sie damit eine Botschaft verbindet: Ich hoffe, dass so ein Bericht von einer Frau und Mutter doch Eindruck macht und doch mancher sagt, wir müssen bescheidener werden und wir müssen vor allem den Frieden pflegen. Wenn man sieht, was aus Kriegen herauskommt, also, wenn man die ganzen Konsequenzen summiert. Dann ist das eine einzige Tragödie. Bitte in 200 Metern rechts ab in dis Straße Pfaffenthal, jetzt rechts abbiegen, glaube i eh, bitte in 150 Metern und der Straße Pfaffenthal abbiegen. Soll mer anhalten.... Im Inntal, also in Nordtirol sind die Spuren der Kriegsgefangenen nicht überall leicht zu finden. Corinna Zangerl, eine Historikerin und Lehrerin sowie der Doktorand Matthias Egger sind in Kramsach, östlich von Innsbruck unterwegs. 1918 als der Krieg aus war, sind die Gefangenen abtransportiert worden und die Baracken hat man der Gemeinde als Pfand überlassen. Eine der Baracken wurde der Musikkapelle als Probelokal übergeben. Da ist dann im nächsten Winter gleich das Dach eingebrochen und sie haben dann Feuerwehr, der Gesangsverein und die Kapelle haben sich zusammengetan und dann mit dem Material der Baracke eben dieses Volksspielhaus errichtet. Welche Teile noch zur Baracke gehörten, was später hinzukam, ist kaum noch auszumachen. Corinna Zangerl hat alte Fotos mitgebracht, um zu vergleichen. In Kramsach waren viele russische Kriegsgefangene untergebracht, weil sich in diesem Ort eine Messingfabrik befand, wo wahrscheinlich auch Munition hergestellt wurde. Extrem gut erhalten... Noch in der Kriegszeit starben etliche Kriegsgefangene in Kramsach, viele durch Krankheiten. Ihre Gräber liegen auf einem gut gepflegten Friedhof. Das sind jetzt Kriegsgefallene und die, was ab 1916 während der Zeit des großen Hungers dann gestorben sind, weil sie keine Leute mehr haben versorgen können, auch im Dorf selbst. Teilweise müssten aber auch Grabsteine zu sehen sein, wo unbekannt drauf steht, ah ja da! Die Versorgungslage der Kriegsgefangenen wurde - wie auch die der Tiroler Bevölkerung - immer schlechter. Mattias Egger sagt, dass es den Männern meist besser erging, wenn Sie auf den Höfen eingesetzt waren. Entweder hatten hier alle etwas zu essen oder niemand. Dort, aber nicht nur dort kam es bemerkenswert häufig zu engen, ja intimen Kontakten zwischen russischen Kriegsgefangenen und Tirolerinnen. Russenkinder - und das ist eigentlich ein Tabuthema, nach wie vor in manchen Familien. Ist auch kaum erforscht, lässt sich auch kaum erforschen. Weil man eben angewiesen ist auf Familien, die dieses Thema angehen oder auch Quellen zur Verfügung stellen. Ein Fall ist hingegen gut dokumentiert, ein russischer Kriegsgefangener blieb der Liebe wegen in Osttirol, kehrte also nicht in seine Heimat zurück: Dieser Herr ist dann wirklich dageblieben. Der hat sich verheiratet und es sind auch zwei Kinder dokumentiert. Das ist das einzige, was ich gefunden hab, wobei es sicher mehr sind. Literatur 3 2. September 1915 Es gibt Probleme mit den 4.000 Russen im Tal. Sie streiken, weil sie geschworen hatten, nicht für den Feind - zum Schaden Russlands - zu arbeiten. Es ist freilich wahr, dass Straßen und Bahnen in Kriegszeiten aus rein strategischen Gründen gebaut werden. Es wird halt alles drunter und drüber gekehrt. Dafür werden keine Schuhe mehr geflickt, es gibt nur wenig und schlechtes Brot, das man sich fast herbetteln muss, die Not wird immer größer, der Alltag in jeder Hinsicht immer schwieriger. Conrad hat keine ganzen Schuhe mehr und muss so viel gehen. Unser Schuster muss fast nur fürs Militär arbeiten, überhaupt muss alles zurückstehen, was zivil ist. Das Militär hat absolute Priorität. Die Folgen der Teilung Tirols in einen österreichischen und einen italienischen Part - sie sind auch rund hundert Jahre nach Ausbruch des ersten Weltkriegs noch spürbar. Spannungen zwischen den Sprach- und Bevölkerungsgruppen bestehen in Südtirol bis heute. In Städten wie Bozen gibt es nach wie vor "italienische" und "deutsche Schulen", "italienische" und "deutsche" Kinos und Theater. Besonders hart war für viele Tiroler die Zwischenkriegszeit. Das italienische faschistische Regime wollte damals mit aller Macht Fakten schaffen und dem Gebiet eine eindeutig italienische Prägung aufzwingen. Heute hat Südtirol hingegen weitgehende Sonderrechte. Die Grabenkämpfe sind längst nicht mehr so erbittert und militant, wie zum Beispiel noch in den 1960er Jahren. Und obwohl die Flüchtlingskrise für den Zusammenhalt in der Grenzregion auch eine Bewährungsprobe ist: Rund 100 Jahre nach der Teilung soll aus dem Gegen- und Nebeneinander ein Miteinander werden. Letizia Ragaglia, die Direktorin des Museion, des Museums für moderne Kunst in Bozen, vereint in ihrer Person beide Kulturen. Mit ihrem Ausstellungs-Programm will sie Südtirol, Italien und der Kunst gerecht werden: Reportage 4: Spuren der Vergangenheit - Das geteilte Tirol Eigentlich ist es kein guter Tag für Museen, aber für das Museumscafé: die Frühlingssonne scheint in Bozen, die Kellner eilen auf dem Steinboden vor dem Museion hin und her. Andrang und Nachfrage sind groß, sie haben Mühe den Wünschen ihrer Gäste nachzukommen: Italienisch, Deutsch und auch Englisch - offenbar sind das hier die gängigsten Arbeitssprachen. Das Museumsgebäude - hoch, hellgrau, viel Glas - ragt über die benachbarten Bauten hinaus. Es fällt auf, fügt sich aber zugleich in die kleinstädtische Umgebung. Auf mehreren Etagen sind viele Installationen zu sehen. Das Wetter sorgt an diesem Vormittag dafür, dass man im Museion Ruhe hat, um Bilder und Objekte tief auf sich wirken zu lassen. Visuell und akustisch - Kunst ertönt selbst im Fahrstuhl. Letizia Ragaglia hat Humor, sieht nicht alles ganz so eng und ist trotzdem eine entschlossene Frau. Dass der 1. Weltkrieg trotz des Jahrestags im Museion keine besondere Rolle spielt, gibt sie unumwunden zu. Eine Flucht ins politisch Belanglose ist das aber nicht, ganz im Gegenteil: in ihren Installationen setzt sich zum Beispiel die Künstlerin Rosella Biscotti mit der Zeit des Faschismus auseinander. Ragaglia weiß sehr genau, wie provokativ so etwas gerade in Südtirol wirken kann, dennoch hat sie Biscotti viel Raum gegeben: Bei Rosella Biscotti geht es sehr oft darum, die Raster, sagen wir, die Interpretationen der jüngeren Geschichte aufzubrechen. So zeigt Biscotti hier Abgüsse von Skulpturen, die für die Weltausstellung 1942 angefertigt worden waren - darunter auch ein riesiger Mussolini-Kopf. Die Künstlerin hatte ihn in einem römischen Magazin entdeckt. Aus der Weltausstellung wurde nichts, die Köpfe des "Duce" und auch des italienischen Königs aber überdauerten. Seit Jahrzehnten werden sie in Rom aufbewahrt. Niemand weiß so genau, was mit den Skulpturen geschehen soll. Biscotti hat diesen Verlegenheits-Zustand öffentlich gemacht, den Finger in die Wunde gelegt. Sie macht deutlich, wie unentschieden Italien oft mit seinem faschistischen Erbe umgeht. Es ist die erste Ausstellung der Künstlerin "in Italien". So steht es auf der Website des Museion. "Italien" - ein Wort, das in Südtirol immer noch Widerspruch erzeugt. Das Leben von Letizia Ragaglia ist mit diesen Widersprüchen eng verbunden. Ihre Mutter ist Südtirolerin, ihr vor einigen Jahren verstorbener Vater war Italiener: Ich hab das eben in Erzählungen gespürt, denn für meinen Vater war es ganz normal, dass seine Verwandtschaft hier in Urlaub war. Und wenn dann natürlich eben die Autoreifen aufgeschlitzt waren von den Verwandten, weil die nicht willkommen waren, die italienischen Touristen, das hat meinen Vater geprägt. Ragaglias Großvater war beim italienischen Militär, diente noch in der Kolonie Libyen und wurde später nach Norditalien versetzt, wo sein Sohn eine Südtirolerin heiratete. Die Eltern von Letizia Ragaglia lebten in einer so genannten "gemischten Ehe", sie legten Wert darauf, dass ihre Tochter zweisprachig aufwuchs. Letizia besuchte in Südtirol "deutsche" und "italienische" Schulen. Ansätze der Diskriminierung blieben ihr hier wie dort nicht erspart. Sie sei aber weder gemieden, noch gemobbt worden, sagt Ragaglia. "Südtirol" und "Italien" - dass das auch Gegensätze sind, damit muss sie immer noch zurechtkommen, obwohl und gerade weil sie Direktorin des Museion ist. Was stellt sie aus, südtiroler oder italienische Kunstwerke? Ich hab die Quote nicht im Kopf, aber ich will ganz ehrlich sein, ich versuche die Quote auch zu berücksichtigen. Aber das macht jede kulturelle Institution, die auch irgendwie ein Auge auf das Territorium werfen muss. Italienische Besucher des Museion haben gerade eines der Kunstwerke von Biscotti betreten, was natürlich nicht erwünscht ist - sie verlassen die Platte mit der Inschrift und entschuldigen sich. Letizia Ragaglia steht an der großen Glasfront, am Rand der Ausstellungsfläche. Das Museion befindet sich gerade noch im alten, so genannten "österreichischen" Teil von Bozen, die Häuser und Verwaltungsgebäude könnten auch in Innsbruck stehen. Auch zwei Brücken gehören zum Museum. Sie führen über den Fluss, erreichen den bis zum Ersten Weltkrieg kaum bebauten, neuen Teil der Stadt. Nach der Teilung Tirols haben die Faschisten dort mit der Architektur viele Zeichen gesetzt. Das sorgt wieder und wieder für Kontroversen: wenn ein Mussolini-Porträt in einem Wandfries entdeckt wird, wenn es um das italienische "Siegesdenkmal" geht oder auch nur um den Umbau des Bozener Hauptbahnhofs, weil er in der faschistischen Zeit im Stile des so genannten "Rationalismus" gebaut worden war. Jedes Mal wenn wir jemanden einladen für uns zu arbeiten, dann ist eben dieser krasse Unterschied sofort, eben macht sich bemerkbar und das fasziniert natürlich Leute. Für uns ist es der Alltag. Hundert Jahre nach dem "Intervento", dem Kriegseintritt Italiens, hat sich vieles im Zusammenleben von Südtirolern und Italienern zum Besseren gewandt. Schwierigkeiten bleiben, Brücken sind vorhanden, aber nicht jeder will darüber gehen. Im Kaiserreich Österreich-Ungarn soll es das höchstgelegene Dorf gewesen sein: Die Ortschaft Peio, am Fuße der Punta Linke, liegt auf knapp 1600 Metern Höhe. Seit Abschluss der Pariser Vorortverträge 1919 gehört Peio zu Italien. Ganz in der Nähe: ein großes Skigebiet. Viele der Touristen wissen gar nicht, dass hier vor rund hundert Jahren erbittert gekämpft wurde. Im Ort selbst gibt es ein kleines Museum, das an den Krieg in den Bergen erinnert. Dort sind Waffen, Uniformen und andere Gegenstände zu sehen, viele davon Fundstücke von der Ausgrabungsstelle an der alten Seilbahnstation. An den "Großen Krieg" in den Alpen erinnert in Peio aber noch mehr: ein paar Gräber, die auf einem Bergrücken oberhalb des Dorfes liegen. Erst vor wenigen Jahren sind die sterblichen Überreste von österreichisch-ungarischen und italienischen Soldaten hierher gebracht und dann bestattet worden - knapp hundert Jahre nach ihrem Tod: Reportage 5: Der Friedhof in Peio Der Hubschrauber landet auch in Peio nicht, die Piloten lassen ihn stattdessen knapp über dem Boden in der Luft stehen. Tief genug, damit die Archäologin Cristina Bassi, ihr Kollege Franco Nicolis und Maurizio Vincenzo heraus springen können. Sie drücken sich dann auf die Rucksäcke und das andere Material, bis der Hubschrauber weit genug weg ist und nichts mehr von den Rotoren in die Luft gewirbelt werden kann. Im Dorf ist es fast so ruhig wie noch wenige Flugminuten zuvor, 2000 Meter weiter oben an der eisigen Punta Linke. Die Ski-Saison ist vorbei, so etwas wie Frühjahrsmüdigkeit scheint den kleinen Ort befallen zu haben. Franco Nicolis hatte schon unterwegs vom Friedhof erzählt, der jahrzehntelang eigentlich keiner mehr war. Noch während des 1. Weltkriegs musste er angelegt werden, um Soldaten und russische Kriegsgefangene bestatten zu können. Hier in Peio und weiter oben im Eis hatten sie gekämpft oder geschuftet. Viele wurden von Lawinen verschüttet, andere starben völlig unterernährt an Krankheiten, manche durch Beschuss - Granatsplitter und Gewehrkugeln. Nach dem 1. Weltkrieg wurden alle Leichen exhumiert, von diesem Friedhof weggebracht und anderswo, auf größeren Friedhöfen bestattet. Die Kapelle, ein Mahnmal und die Begrenzungsmauern blieben. Die Gräber, vor denen Franco Nicolis jetzt steht, sind noch nicht sehr alt. Hier liegen die Überreste zweier italienischer und dreier österreichisch-ungarischer Soldaten. Leichen, die die Gletscher der Gegend in den letzten Jahren freigegeben haben. Immer dann, wenn in den Wintern wenig Schnee fiel und es in den Sommern besonders warm wurde: Ein Leben nach dem Tod kann ich mir schwer vorstellen, aber für unsere Seelen ist es doch wichtig, dass diese jungen Leute hier ihren Frieden finden und nicht in irgendeiner Gletscherspalte liegen. You are looking to the death. This is the real face of the war. Das wahre Gesicht des Krieges ist dem italienischen Archäologen nicht verborgen geblieben. Franco Nicolis war dabei, als diese Leichen auf den Gletschern geborgen, wie er es nennt "ausgegraben", wurden. Zwei der Kaiserschützen, das konnte ein Pathologe noch feststellen, müssen schnell gestorben sein: Sie hatten ein Loch im Schädel. Darin fanden wir Teile eines Geschosses. Das erste Ziel dieser "Kriegsarchäologie", wie Nicolis sagt, ist es, die Toten zu identifizieren, ihre Namen in Erfahrung zu bringen. "Keine unbekannten Soldaten mehr", diese Forderung stellt Franco Nicolis an sich selbst und seine Kollegen, um dann sofort zuzugeben, dass es unmöglich ist dieses Ziel zu erreichen. Auch die Toten, die hier bestattet wurden, haben keine Namen mehr. Für den italienischen Archäologen sind es aber trotzdem keine unbekannten Soldaten: Ich dachte an den Augenblick, als sie von zuhause aufbrachen. Wir fanden ein paar blonde Haarsträhnen. Ich habe mir vorgestellt, wie ihre Mütter sagten, kommt bloß wieder gesund nach Hause. Doch zurück kamen sie nie. Ihre Familie hat nie mehr etwas von ihnen gehört. Sie verschwanden einfach. Den Schmerz ihrer Angehörigen kann man sich nicht vorstellen, die beiden waren vermutlich nicht älter als 17 oder 18 Jahre. Auch in vielen Truppenberichten aus dem 1. Weltkrieg kommen die Toten nicht vor. "Angriff fehlgeschlagen", vielmehr sei allzu oft nicht zu lesen, erklärt Nicolis. Er sagt, dass er mit seinen Kollegen am und für das Gedächtnis der Menschheit arbeitet. If you lose the material witness, silent witness, you are losing your memory. Ohne materielle Zeugnisse, stumme Zeugen, verliere man seine Erinnerung, sagt Franco Nicolis und ohne Erinnerung könne es keine Wahrheit geben. Nicolis wendet den Blick von den Gräbern ab. An diesem Frühlingstag liegt in den Tälern links und rechts des Friedhofs noch viel Schnee. Die Wahrheit des Krieges hat für den italienischen Archäologen auch eine sehr persönliche Seite. Dass hier die sterblichen Überreste von Soldaten liegen, die auf beiden Seiten der Front kämpften, ist ihm auch deshalb wichtig: Mein Großvater kämpfte in der italienischen Armee, die Großväter meiner Frau, weil ihre italienischen Familien in Trient lebten, für die Österreicher. Literatur 4: 9. November 1918 Jetzt, da der Krieg zwischen uns und Italien beendet ist, bekommen wir plötzlich allerlei zu kaufen, heute sogar Kartoffeln und guten Kaufwaren-Kaffee, welche Freude! Aus der Misere ist doch schnell etwas Gutes geworden, Gott sei Dank, dann werden wir wohl auch noch ein Vaterland finden, sei es im Norden, sei es im Süden - wie Gott will! "Vom Nebenkriegsschauplatz zur alpinen Legende - die Dolomitenfront im 1. Weltkrieg". Das waren Gesichter Europas mit Reportagen von Gerwald Herter, eine Sendung aus dem Jahr 2015. Die Literaturauszüge stammten aus dem Buch "Wenn doch endlich Frieden wäre - Aus dem Tagebuch der Filomena Prinoth-Moroder", herausgegeben und gelesen von Margreth Rungaldier-Mahlknecht. Erschienen im Folio Verlag. Musik und Regie: Simonetta Dibbern. Ton und Technik: Michael Morawitz und Oliver Dannert. Am Mikrofon war: Johanna Herzing. ----------------- 2