KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : Literatur Titel der Sendung : "Man ist alles Gewesene" - Aus den sechs Leben der Schriftstellerin Anna Maria Jokl Autor: : Carsten Hueck Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 18.01.2011 Regie : Beate Ziegs Besetzung : Carsten Hueck (Sprecher Autorentext) : (Zitatorin) Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Musik 1 : John Zorn Filmworks XX, Nr. 1 "Shalom, Sholem" Sprecher Unterwegs nach Jerusalem. Von Tel Aviv kommend, begrüßen einen am Ortseingang die Toten. Ein riesiger Friedhof zieht sich am Hang rechts der Straße entlang. Seit 2001 grüße ich jedesmal zurück und sage "Servus Moidi". Moidi, das ist die Schriftstellerin Anna Maria Jokl - die ich zu Lebzeiten nie gewagt hätte, mit ihrem Namen aus Kindertagen anzusprechen. Zitatorin Dabei war ANNA MARIA eigentlich erst 1936 aus dem Geburtsschein auferstanden, als mein erster Verleger den gewohnten Rufnamen MOIDI als unpassend auf dem Buch seiner Autorin fand. Atmo 1 (Marktgeräusche Jerusalem) übergehend in Atmo 2 (Verkehr) dann langsam unter Sprechertext ausblenden Sprecher Ich erinnere mich, wie ich 1995 schon einmal in Jerusalem war. Es durchzog noch keine Betonmauer die Stadt, allein der spezielle Stein, mit dem hier gebaut wird, fing das Sonnenlicht auf und zog den Besucher, je nach Tageszeit, in den Bann unterschiedlicher Farben. Ich war auf Recherche für einen Film über deutschsprachige Juden. Mein Weg führte von der engen Altstadt über die belebte King George Street nach Rehavia. Anna Maria Jokl, am 23. Januar 1911 in Wien geboren, war erst 1965 nach Jerusalem gezogen und wohnte in der Balfourstraße 5, in direkter Nachbarschaft zur Residenz des israelischen Premierministers. Gut bewacht, wie sie zu scherzen pflegte, begann sie im Alter von vierundfünfzig Jahren in Jerusalem ein neues Leben. Musik 2 : Andrea Bauer Cello Songs for Silence, Nr. 1, " Song for Eli " Zitatorin Hier sitze ich an meiner Schreibmaschine in Jerusalem und schaue hinüber auf die nackten Berge Jehudas, hinter denen der Vollmond aufgeht, zu dem wir bereits vor einigen Jahren flogen. Und ich erinnere mich noch genau an den Platz im Erker in Wien, wo ich per Kristall- Radio die unerhörte Nachricht erfuhr, dass Lindbergh als erster den Ozean überflogen hatte. Damals war ich 14 Jahre alt - und der Tagesplan für morgen ist voll mit Arbeit, Besorgungen, einem Besuch von einem Freund aus meinem Leben Nr. 4 aus London während des Weltkrieges 2 und mittags eine Beschneidungsfeier für einen kleinen Jakir, der möglicherweise bis in die Mitte des 21. Jahrhunderts leben wird, abends ein Konzert mit Rubinstein, geboren 1890. Wie lange dauert eigentlich ein Leben? Sprecher ... schreibt Anna Maria Jokl in einem Text aus den 1980er-Jahren. In dieser Zeit kennt man sie nicht mehr als Schriftstellerin. Zu stark ist ihr Leben von Brüchen und Diskontinuität geprägt, zu sehr sind seine einzelnen Abschnitte voneinander getrennt, auch geographisch. Jokl nahm sie an. Zitatorin Ich hatte nie Angst. Allerdings hatte es durch das ganze Leben eine ungewöhnliche Anhäufung krasser Veränderungen gegeben - kometenhafte Verwirklichungen wie blitzartige Vereitelungen, unterbrochen von unbeweglichen Einöden. Aber ich hatte keine Angst. Ich war nicht verloren. Ich hatte mich selber. Entwurzelung macht frei. Musik 3 : Schubert, Winterreise, Nr. 20 " Der Wegweiser " " Was vermeid ich denn die Wege, Wo die andern Wandrer gehn, Suche mir versteckte Stege Durch verschneite Felsenhöhn ? " Sprecher Anna Maria Jokls Jerusalemer Wohnung war karg, doch nicht ungemütlich, mit dem Nötigsten eingerichtet. Die Wohnung eines Menschen, der sich auf Wesentliches konzentriert, dem Materielles nicht übermäßig viel bedeutet. Die Wohnung einer Lebenspraktikerin, die Vergangenes zurücklässt, weil sie weiß, dass es die Erfahrungen sind, die einem bleiben. Schubert und Mozart und Beethoven, die Klänge der Wiener Kindheit beispielsweise, trug sie lebenslang in sich. Sie hatte gern Blumen im Haus: lebendig, aber vergänglich. Pflanzen waren ihre Sache nicht. Und eine alte Schreibmaschine gab es und Zigaretten. Zitatorin Ich rauche und ich genieße es. Es hat mich durch mein Leben begleitet. Ich würde nicht einem jungen Menschen zureden, anzufangen, wozu, aber ich würde es nicht missen wollen. Es ist eine große Freude und Annehmlichkeit in meinem Leben, eine Selbstverständlichkeit wie Atmen. Eine Schachtel passt immer in eine Tasche. Sprecher Ein Plastikfeuerzeug steckte in einer Kugel, die auf dem niedrigen Sofatisch stand, damit wurden die Zigaretten angezündet. Wenn Asche neben den Aschenbecher fiel, störte das nicht. Ebensowenig wie eine tote Biene im Tomatensalat oder Krümel der Bourekas auf dem Fliesenboden. Anna Maria Jokl trug bequeme Kleider. Sie hatte kräftige Augenbrauen und widerspenstiges, dunkles Haar. Beim Zuhören hielt sie den Kopf immer etwas zur Seite geneigt. Vor dem Wohnzimmerfenster sah man die Zweige einer Schwarzpappel. Diesen Baum liebte Anna Maria Jokl. Musik 4 : Franz Schubert "String Quintet in C Major Opus 163," Nr. 1 Allegro Sprecher Die Schwarzpappel ist heute selten geworden ... Eine Baumart, die frei stehen kann. Unempfindlich gegen Übersandungen ... Am Stamm kann sie bis ins hohe Alter neue Wurzeln bilden. Zitatorin 6 verschiedene Leben. Es wurden, notgedrungen, 3 Sprachen gelernt; jede Phase war ein neuer Beginn. Ein neuer Beruf, da andere Notwendigkeiten kamen, aber auch neue Facetten entwickelt werden konnten. Die geographischen wie die andersartigen Veränderungen bedeuteten immer Verlust der Gesellschaft, in der man verwurzelt war. In jedem Land wurde man so betrachtet wie man ankam. "Wer oft das Land wechselt, verliert das Leben." Man verliert. Man gewinnt. Wer kann es sich aussuchen? Sprecher Sechs Leben an jeweiligen Brennpunkten des 20. Jahrhunderts. Im chronologischen Ablauf : Wien- Berlin- Prag- London- Berlin Ost- Berlin West- Jerusalem . O-TON 3 A.M. Jokl Ich habe so viele verschiedene Leben durch die Geschichte Europas gehabt. Und immer wieder mit einem anderen Inhalt. Und was gewesen ist, war nie interessant, nicht? Es war ja immer etwas Neues und auch schöpferisch Neues und ganz anderes zu machen. Zitatorin Wäre jede Phase eine Glasplatte, mit ihrem besonderen Zeichen eingeätzt, alle übereinander gelegt und von oben mit einem Blick durchschaut - somit der Zeitlauf aufgehoben -, mag eine Hieroglyphe der Epoche sichtbar werden. Musik 3a : Schubert, Winterreise, Nr. 20 " Der Wegweiser " " Weiser stehen auf den Straßen, Weisen auf die Städte zu, Und ich wandre sonder Maßen Ohne Ruh und suche Ruh. " Sprecher Das erste Leben endet mit siebzehn, als sie Ihre Heimatstadt Wien verlässt. Anna Maria Jokl zieht nach Berlin, an einen Ort, an dem die gesellschaftlichen Kämpfe und die geistigen und künstlerischen Auseinandersetzungen der Zeit ausgetragen werden. O-TON 4 A.M. Jokl In diesen fünf sechs Jahren, die ich dort war, da war das noch, dass man damals die große Zeit von Berlin in der Weimarer Republik erlebte. Und ich als ein junger Mensch, als ein junger Künstler ganz im Geschehen drin, im Zentrum drin. Sprecher Sie nimmt Unterricht beim renommierten Stimmbildner Oskar Daniel. Ist drei Jahre lang Schauspielelevin bei Erwin Piscator. Schreibt für die "Vossische Zeitung" und untersucht, was alles mit Sprache möglich ist: In ihren Arbeiten für den Rundfunk bringt sie das schöpferische Moment direkt vor das Mikrofon. Sie ist die einzige, der es erlaubt ist, ohne Manuskript, frei, zu sprechen. O-TON 5 Itta Shedletzky Damit hat sie auch experimentiert. Sprecher ... sagt Itta Shedletzky, langjährige Freundin und Nachlassverwalterin von Anna Maria Jokl. O-TON 5 (Fortsetzung) Itta Shedletzky Also sie hat genau in dieser Zeit vor `33 sehr viel mit Sprache eben in allen Richtungen zu tun gehabt. Sie ging ja auch zu Gefangenen ins Gefängnis, hat denen vorgelesen. Also, sie hat alles, was mit Sprache zu tun hat, das Reden, das Schreiben, das Gespräch mit Menschen, und sie hat auch immer gesagt, wenn sie einen Text geschrieben hat, musste sie ihn sich selber vorlesen, um zu wissen, ob der Rhythmus stimmt, ob die Sprache stimmt, ob der Duktus, all das. Sprecher Sie schreibt Hörspiele und Filmdrehbücher, verkehrt im "Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller" und verliebt sich in den Dichter Johannes R.Becher - da ist sie gerade mal Anfang Zwanzig. Zitatorin Das Leben geht durch mich durch. Ich stehe im Mittelpunkt der Welt. Ich habe den Anschluss gefunden. Ich stehe drin und ... lebe ... Es wird ein schwerer Kampf werden in diesem Winter, mit Becher, denn er stemmt und sträubt sich ja gegen mich und mein In-ihn-Hineinsehen; andererseits reize ich ihn als Jüdin und als Frau. Aber das ist noch eine ganz schiefe Einstellung. Ich ahne und ich glaube, dass er so zart und weich ist, wie selten ein Mann zart sein kann, dass er verstehen kann, wie selten ein Mensch. Er hat eine Frau, das weiß ich. Sie soll früher mein Typ gewesen sein. Aber ich bin jung und ich bin schön, und ich warte auf ihn seit vielen Jahren. Und ich bin schöpferisch und entwicklungsfähig und das ist sie alles nicht. Sprecher Tagebuchaufzeichnungen Anna Maria Jokls zwischen Oktober und November 1932. Nachzulesen in dem Buch "Aus sechs Leben", das zum 100. Geburtstag der Autorin im Januar, erschienen ist. Die junge Literaturwissenschaftlerin Jennifer Tharr hat den Nachlass Anna Maria Jokls gesichtet und viele ihrer bislang unveröffentlichten oder nicht mehr greifbaren Texte zusammengestellt. Darunter umfangreiches autobiographisches Material. Manches erinnert an die "Essenzen", Jokls Prosaminiaturen von 1993: verdichtete Momentaufnahmen historischer Augenblicke, Schilderungen von Menschen und Ereignissen, in denen das Persönliche und Historische zu einem so dichten Muster miteinander verwoben ist wie die verschiedenen Fäden eines Teppichs. O-TON 6 Jennifer Tharr Aufgrund der Texte, die schon veröffentlicht waren, hatte ich schon den Eindruck, dass man es da mit einer sehr eigenen Frau zu tun hat, dass sie einen sehr eigenen Stil hat, auch nicht unbedingt den Leser einwickeln will in eine angenehme weiche Sprache, sondern wirklich eine starke Meinung transportieren will. Die Texte sind nicht immer einfach, finde ich, sie sind zum Teil sperrig, aber trotzdem ganz glasklar. Sprecher Tharr hat Reflexionen der Autorin zu Kindheit, Liebe und Weltgeschehen, Kurzgeschichten und Briefe zu einer Art Lebenserzählung zusammengefügt. Sie erweitern das Bild der Autorin und zeigen ihre fortwährende Auseinandersetzung mit Sprache, auch unter den Bedingungen des Exils. O-TON 6 (Fortsetzung) Jennifer Tharr Im Nachlass kam jetzt eigentlich noch mal eine andere Seite hinzu, nämlich was sehr Weiches, was auch sozusagen dem Sentimentalen Zugeneigtes, auch zum Teil Pathetisches, aber eben dadurch, also in der Ergänzung auch, in diesen zwei unterschiedlichen Persönlichkeiten, die ich da irgendwie fast gespürt habe, eben auch sehr sympathisch in diesem Zusammenspiel. Sprecher Im Herbst 1933, die Nationalsozialisten regieren Deutschland, verlässt Anna Maria Jokl Berlin. Dass sie vor allem als Jüdin in Deutschland gefährdet ist, machen ihr Freunde aus dem Schriftstellerverband klar. O-TON 7 A.M. Jokl Ich wusste, ich bin jüdisch und das war so, da war gar nicht viel dran zu deuteln. So wie: ich hab braune Haare oder braune Augen und so bin ich jüdisch. Es hat mich nie betroffen. Ich habe es nie sozusagen negativ zu spüren bekommen. Sprecher Erste Station des Exils und Beginn ihres dritten Lebens ist Prag. Sie hält sich mit journalistischer Arbeit über Wasser, obwohl sie sich nicht als Journalistin sieht. Sie nimmt regen Anteil am kulturellen und politischen Leben der deutschsprachigen Emigration. Es ist eine durchaus schöpferische Zeit für die junge Autorin - doch im Wettlauf gegen unheilvolle politische Entwicklungen. O-TON 8 A.M. Jokl Damals war ja im Ganzen die Einstellung, das dauert ja nicht lange, das geht ja vorüber. Man hat nicht jetzt gelebt und hat also nicht geplant, es war vorläufig. Und ich habe gespürt, wie ungesund das ist, dieses Vorläufige, die Zeit vergeht. Und da habe ich mir als Gegengift sozusagen dafür selber verordnet etwas zu machen, etwas Beständiges. Also nicht nur Artikel oder kurze Sachen zu machen. Da war es in der Zeit, ich glaube ungefähr eine Weile vor München, also Frühling '38, dass ich anfing, dieses als eine kleine Geschichte zu schreiben, diese " Perlmutterfarbe ", die sich aber ausweitete, ausweitete, ich kann fast sagen, sich von selber schrieb. Ich glaub, ich hab nie in meinem Leben wieder so schnell geschrieben. Ich hab dies Buch in vielleicht vier Wochen geschrieben. Sprecher Dieses Buch sollte viele Jahre später Anna Maria Jokls Ruhm und auch ihre Wiederentdeckung als Schriftstellerin begründen: "Die Perlmutterfarbe - ein Kinderroman für fast alle Leute." Zeitlos wie Orwells "Farm der Tiere" oder Goldings "Herr der Fliegen", ist " Die Perlmutterfarbe" eine Beschreibung von Machtgier und Mitläufertum, Ausgrenzung und Gewalt. Jokl beschreibt am Beispiel zweier Schulklassen wie ein überheblicher Nobody sich geschickt Neid und Ressentiments seiner Klassenkameraden zunutze macht und andere zum Sündenbock stempelt. Im Mikrokosmos der Schulklasse setzt Anna Maria Jokl präzise wie eine Naturwissenschaftlerin ein Experiment in Gang. Das Ergebnis dieses Versuchs nimmt Erkenntnisse der Sozialwissenschaften und Psychologie vorweg. Es zeigt die Struktur autoritärer Charaktere und die Funktionsweise totalitärer Systeme. Aber auch, dass der Mensch die Möglichkeit hat, zu wählen. Musik 6 : Schubert, Winterreise, Nr. 16 " Letzte Hoffnung" " Hie und da ist an den Bäumen Manches bunte Blatt zu sehn, Und ich bleibe vor den Bäumen Oftmals in Gedanken stehn. Sprecher Auf der Münchner Konferenz im September 1938 liefern die Westmächte infolge ihrer Appeasement-Strategie die Tschechoslowakische Republik an Hitler aus. O-TON 10 A.M. Jokl Ich erinnerte mich dann daran, dass jemand mal gesagt hatte, er würde, wenn so etwas ist, in eine Gesandtschaft gehen, um Asyl bitten. Und es war nicht weit davon, in einem alten Barock Palais die französische Gesandtschaft. Musik 7 : Schubert, Streichquartett Nr. 14 d-moll, Nr. 7 "Scherzo" Sprecher Mit viel Glück und durch tätige Hilfe von Franzosen und Tschechen gelingt es Anna Maria Jokl nach kurzem Aufenthalt, als Witwe verkleidet, ... Zitatorin ... dann wirklich mit nichts, nur mit einer Tasche und Wäsche zum Wechseln und in dem schwarzen Kostüm und einem Mantel ... Sprecher ... illegal die Grenze nach Polen zu überqueren. Zitatorin Dann kam die Reise - 4 Tage - über Ostsee - durch Südschweden, dann endlich das große Meer ... Sprecher ... schreibt sie im Juli 1939 an Albert Ehrenstein in der Schweiz. Zitatorin Eine merkwürdige Reise, 150 Menschen, ohne Geld, ohne Paß, ohne Gepäck, - aber bestimmt die frohesten Reisenden, die so ein Schiff gefahren hat. In London dann zuerst Unterbringung in einem Mittelding von kleinem Hotel und Massenquartier - bis dann nach 3 Monaten zum ersten Mal der herrliche Zustand eintrat, dass ich alleine ein Zimmer hatte. Musik 2 : Andrea Bauer Cello Songs for Silence, Nr. 1, " Song for Eli " Sprecher Beginn des Lebens Nummer vier, zweite Station des Exils. Wieder von vorne: neue Sprache lernen, einen Broterwerb finden. Sie schreibt für das Exil-Kabarett Revuen, inszeniert. Leitet an der englischen Südküste ein vom Czech Trust Fund gegründetes Heim für Emigrantenkinder. Arbeitet, auch als das Heim schließt und sie nach London zurückkehrt, weiterhin mit Kindern und Jugendlichen. Zitatorin Man lebt, lebt wirklich, nicht abseits von einer Gemeinschaft, sondern mittendrin, wird gebraucht. Nicht, dass es ohne einen nicht ginge. Aber dieses Gebrauchtwerden hat einen Sinn der Gegenseitigkeit, es hat die Weite der Gemeinschaft. Diese Fessel, an Alter und Zeitvergehen zu denken, glitt aus meinem Bewußtsein. Ich konnte für den Augenblick leben, einfach als das, was ich bin, ohne Gedanken für Vergangenheit und Zukunft. Sprecher ...protokolliert Anna Maria Jokl drei Monate nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. In den kommenden Jahren ist sie mit dem täglichen Überleben beschäftigt. Sie schreibt vereinzelt für Exilzeitschriften, lebt aber in der Hauptsache vom Tippen. Regelmäßig bombardiert die deutsche Luftwaffe die britische Hauptstadt. O-TON 11 Jennifer Tharr Aber sie hat mit großen Abständen natürlich irgendwie immer an diesem Projekt des Schreiben- und Sagen-Wollens festgehalten. Das sind keine politischen Analysen, die sie macht. Es geht ihr auch schon um Befindlichkeiten, auch um ihre eigene Befindlichkeit, sich selber zu verstehen, aber eben auch so große Gefühle zu verstehen wie Hass und Liebe und grade in der Zeit des Exils, also das wirklich zu durchdringen und zu verstehen, wie sich das in der Zeit des Exils ändert, aber, was ich bemerkenswert finde, ist eben dieser Kraftakt, der im Schreiben und im Versuch des Deutens sozusagen sichtbar wird. Sprecher Anna Maria Jokl hatte in London eine Ausbildung als Psychotherapeutin begonnen. Nach Kriegsende geht sie nach Zürich, um am Institut von Carl Gustav Jung abzuschließen. Dass dieser sie durch die Prüfung fallen lässt, ist für Jokl eine große Kränkung. Sie macht Jungs Antisemitismus für seine " Bosheit " verantwortlich. Sie zieht nach Ost-Berlin. Viele ihrer Bekannten aus der Zeit des Exils sind dort und " Die Perlmutterfarbe " erscheint mit großem Erfolg im Ostberliner Dietz Verlag. Und auch ihr zweiter Kinderroman, ebenfalls noch in Prag geschrieben, " Die wirklichen Wunder des Basilius Knox " wird veröffentlicht. Ein Anknüpfen an das unter Zwang abgebrochene Künstlerleben im Vorkriegs-Berlin erscheint einen Moment lang vorstellbar. 1950 erhält Anna Maria Jokl den Auftrag, für die DEFA eine Drehbuchversion der Perlmutterfarbe zu schreiben. Kaum hat sie damit begonnen, wird ihr ohne Angabe von Gründen die Aufenthaltsgenehmigung für die DDR entzogen. Arnold Zweig, dessen Frau sie erfolgreich psychotherapeutisch behandelt hatte, verwendet sich noch bei Otto Grotewohl für sie - ohne Erfolg. Musik 6 : Schubert, Winterreise, Nr. 16 " Letzte Hoffnung" Schaue nach dem einen Blatte, Hänge meine Hoffnung dran ; Spielt der Wind mit meinem Blatte, Zittr' ich, was ich zittern kann. " Sprecher So beginnt Anna Maria Jokls fünftes Leben - in Westberlin. Sie praktiziert erfolgreich als freie Psychotherapeutin. Und stößt auf ein Phänomen, das die Psychologie erst Jahrzehnte später zur Kenntnis nimmt. " Zwei Fälle zum Thema Bewältigung der Vergangenheit " heißt ihr Erfahrungsbericht, der als Vortrag, später dann auf Anraten und mit Unterstützung der Freundin Itta Shedletzky im Bulletin des Leo Baeck Instituts und 1997 schließlich im Jüdischen Verlag veröffentlicht wird: Jokl behandelt zur selben Zeit zwei junge Männer. Einer Sohn eines SS-Sturmführers, der andere ein Jude, der, dem Ghetto entflohen, zwei Jahre in einem Erdloch unter einem Kuhstall zugebracht hatte. Jokl entdeckt, dass beide Patienten, trotz völlig divergierender Lebensläufe, vom Nationalsozialismus in ihren Wurzeln gleichermaßen geschädigt worden waren. Zitatorin Als die beiden Behandlungen begannen, war nicht vorauszusehen, dass sie zu einander ergänzenden Einblicken - tiefer als man je erwarten konnte - in dunkelste seelische Prozesse unserer Epoche führen würden ... fast überfordert fragte ich mich öfter, woher die Kraft nehmen, weiter anzuhören, woher das Recht zum Helfen, wenn die Grenzen des Durchhaltens erreicht schienen und Kummer, Mitleid, Grauen mich zu überschwemmen drohten. Aber die Antwort stand nie in Frage: Jemand musste es erfahren - das Entsetzen beider Seiten ... In beiden Fällen war ich durch die besonderen Umstände erstens Therapeut, zweitens Werkzeug der Veränderung meiner Patienten, da sie mich als solches betrachteten, und drittens ein Mensch schlechthin, betroffen von den sich ereignenden Vorgängen. Aber bewußt und dazu bereit, erlaubte ich keiner der drei Haltungen, autonom zu werden ... , sondern war bewußt bereit, als ganze Person dreifach ungeteiltes Gegenüber zu sein. Das lernte ich nicht in meinem psychologischen Training. Das lernte ich durch Martin Buber, der eine neue Dimension von Beziehung eröffnete. O-TON 12 Itta Shedletzky Sie hatte seine Erzählungen der Chassidim gelesen und diese Begegnung des Ich mit dem Du, also diese Begegnung mit Menschen als eine Basis für therapeutische Arbeit. Sie hat es vor allem in diesen chassidischen Geschichten gesehen, diese Situationen, die da beschrieben werden, wie Menschen aufeinander eingehen, diese kurzen Erkenntnisse, diese blitzartigen Erkenntnisse von Situationen, von der Situation eines Menschen in der Not usw. Diese Dinge, das war für sie ganz wichtig in ihrer Therapie. Sprecher Martin Buber ist letztlich auch der Grund, warum Anna Maria Jokl 1965 von Berlin nach Jerusalem zieht. Sie lernt den Religionsphilosophen in den 1950er-Jahren auf einer Tagung kennen. Als sie ihn einige Jahre später in Jerusalem besucht, entsteht eine innige geistige Freundschaft. O-TON 13 Itta Shedletzky Diese Begegnung muss für beide ganz wichtig gewesen sein ... irgendwie eine Begegnung ohne viel Worte. Man hatte sich einfach verstanden, das muss gegenseitig gewesen sein, dass da wirklich, eine wirkliche Begegnung im besten Buberschen Sinn zwischen diesen beiden Menschen stattgefunden hat. Sprecher Anna Maria Jokls sechstes Leben beginnt. Diesmal freiwillig gewählt. Sie praktiziert weiterhin als Therapeutin, lernt Hebräisch. Das Schreiben jedoch kommt zum Erliegen. Deutschland ist plötzlich weit entfernt - und als deutsche Schriftstellerin mochte sie ohnehin nicht gelten. Um Teil der israelischen Literatur zu werden, ist sie zu spät gekommen, allein schon wegen der Sprache. O-TON 14 Itta Shedletzky Sie gehörte nicht wirklich dazu. Es war nicht leicht für sie, glaube ich, hier zu leben, und ich denke, es wurde für sie leichter dann in späten Alter, relativ, wie sie dann doch wieder anfing zu schreiben und auch wieder ein Deutsch lesendes Publikum hatte, vor allem eben in Europa: in Deutschland, in Österreich, in der Schweiz, aber vor allem in Deutschland. Sprecher Durch Itta Shedletzky kommt Anna Maria Jokl in Kontakt mit Thomas Sparr und Nadine Meyer, die für den Jüdischen Verlag in Frankfurt arbeiten - in den 1950er-Jahren geboren sind sie fast ein halbes Jahrhundert jünger als Jokl. Ihnen ist unter anderen zu verdanken, dass " Die Perlmutterfarbe " 1992 neu aufgelegt und damit die Wiederentdeckung der Autorin Anna Maria Jokl eingeleitet wird. 1993 erscheinen die " Essenzen ", 1997 " Die wirklichen Wunder des Basilius Knox " sowie die " Zwei Fälle zur Bewältigung der Vergangenheit ". Zwei Jahre darauf einer der schönsten Texte Jokls, tiefgründige Erinnerungspassagen, die jenseits der Physik Zeiten und Räume verbinden, durch die hindurch die Autorin sich ihrer seelischen Substanz zu vergewissern sucht : " Eine Reise nach London " Zitatorin Man vergißt nichts, nichts. Man ist alles Gewesene; die Verschmelzung aller Abläufe in Gleichzeitigkeit, ein neues chemisches Element. Sprecher 1995 erhält Anna Maria Jokl den Hans-Erich-Nossack-Preis für ihr Gesamtwerk. Und in Israel wird " Die Perlmutterfarbe " als Theaterstück in der Knesset, dem israelischen Parlament, aufgeführt. Musik 8 John Zorn Filmworks IX, Nr. 7 "Sholom Aleichem" Sprecher Im Januar 2001 erhalte ich eine Neujahrskarte von Anna Maria Jokl. Später begreife ich - es ist ein Abschiedsgruß. Gesundheitlich geht es ihr seit längerem schlecht. Sie hat Schwierigkeiten zu gehen, selbst zur Hollywoodschaukel auf dem Balkon, von wo aus sie noch die Bewegungen des Windes im Wipfel der Schwarzpappel betrachtete. Eine Filipina betreut sie rund um die Uhr. Im Oktober 2001 stirbt Anna Maria Jokl. O-TON 15 Itta Shedletzky Sie muss irgendwie ne Herzschwäche oder irgend so was gehabt haben, und das war's. An dem Abend dann sind wir natürlich, mein Mann und ich, sofort hingegangen, und dann hab ich sie zuletzt, sie lag auf dem Boden, mit einem Leinentuch zugedeckt, und ich hab nur ihre Hand gesehen, und die Hand war in der Pose, wie wenn sie eine Zigarette halten würde, wie wenn sie rauchen würde. Und das hatte für mich, es hätte makaber sein können. Es war überhaupt nicht makaber. Es hatte etwas sehr, irgendwie Rührendes, es hatte so ne gewisse Grazie auch, diese Hand in dieser Haltung, wie sie ihre Zigarette immer gehalten hat, die sie bis zuletzt rauchte, und wie sie dann Sauerstoff nehmen musste, hat sie immer den Sauerstoff weg, und dann hat sie geraucht, dann hat sie wieder den Sauerstoff [lacht] an die Nase getan, und so ging das. Aber sie musste bis zuletzt rauchen. Und sie hat sich immer geärgert darüber, wenn die Leute sie darauf aufmerksam machen, dass das nicht gesund sei, aber sie ist ja, sagte: Ich bin ja 90 Jahre alt geworden. Musik 8 John Zorn Filmworks IX, Nr. 7 "Sholom Aleichem" 15