COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 300 Titel der Sendung : "20. Open Mike 2012" Wettbewerb junger deutschsprachiger Literatur der Literaturwerkstatt Berlin Autor/in : Vanja Budde Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 18.11.2012 Besetzung : Autorin spricht selbst Regie : Roswitha Graf Produktion : O-Töne, Musik Deutschlandradio Kultur KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe Literatur Titel der Sendung "20. "Open Mike" 2012" Wettbewerb junger deutschsprachiger Literatur der Literaturwerkstatt Berlin Autor Vanja Budde Redakteurin Dorothea Westphal Sendetermin 18.11.2011 Regie Roswitha Graf Besetzung Autorin spricht selbst (Kommentar) diverse O-Töne und Atmos (EP) Musik: 1. "Lillies of the valley" I+K: Jun Miyake Label: Wenders Music / 380 Grad (rough trade), ASIN Boo4VBGAKI 0'10 2. " 0'05 3. " 0'10 4. " 0'10 5. " 0'10 6. "Bahamut" I: Hazmat Modine K+T: Wade Schuman Label: Wenders Music / 380 Grad (rough trade), ASIN Boo4VBGAKI 0'25 7. "Yumeji's Theme" I+K: Shigery Umebayashi Label: Virgin, LC-Nr. 03098 1'30 8. " 0'30 9. "Lillies of the valley" I+K: Jun Miyake Label: Wenders Music / 380 Grad (rough trade), ASIN Boo4VBGAKI 0'10 10. " 0'10 11. " 1'10 =========================================================== MANUSKRIPT "20. "OPEN MIKE" 2012" =========================================================== 18. November 2012, 0.05, DeutschlandRadio Kultur, Sendreihe "Werkstatt" von Vanja Budde / Redaktion: Dorothea Westphal / Produktion: Roswitha Graf Länge: 53:20 Minuten =================================================== ANMODERATION: 20 Jahre nach seiner Gründung hat er sich zum wichtigen Förderpreis für junge Autoren gemausert: Der "Open Mike" der Literaturwerkstatt Berlin. Wer hier Prosa oder Lyrik liest, zieht die Aufmerksamkeit von Verlagen, Lektoren und Literaturagenten auf sich, unabhängig davon, ob er oder sie zu den Gewinnern zählt oder nicht. Mittlerweile ist der "Open Mike" eine Pflichtveranstaltung für Talentscouts auf der Suche nach den Schriftsteller-Stars von morgen. Vanja Budde berichtet von der Jubiläumsausgabe der großen Castingshow des deutschsprachigen Literaturbetriebs: Dem 20. "Open Mike" 2012, der am 10. und 11. November stattfand. 21 Text wurden gelesen, drei ausgezeichnet. =================================================== O-Ton Julia Eichhorn "Also ich würde schon sagen, dass der Open Mike inzwischen eine der wichtigsten Nachwuchsveranstaltungen ist, für viele Lektoren, für viele Agenten. Eigentlich alle Agenten, die in Berlin sind, gehen sowieso hin, die Lektoren auch. Es ist ein großer Branchentreff und für die Autoren eine schöne Möglichkeit, sich mit ihren Texten zu präsentieren. Gleichzeitig ist es immer noch eine öffentliche Veranstaltung mit Publikum, die einfach nur kommen, um Texte zu hören und das zu genießen. Und das finde ich wirklich schön daran." O-Ton Michael Gaeb "Der Open Mike war für mich auch so der Einstieg in den Literaturbetrieb. Und das war auch meine erste Literaturveranstaltung so als Agent. Und da hatte man so das erste Mal dieses Kribbeln, dass man hier was ganz Neues erlebt. Und es ist auch tatsächlich so, dass mein allererster deutschsprachiger Autor, den ich als Agent unter Vertrag genommen habe, den habe ich aufm Open Mike kennengelernt." Text/Sprecherin Michael Gaeb und Julia Eichhorn sind Literaturagenten: Sie tragen die Texte ihrer Autoren an die Verlage heran, handeln einen möglichst hohen Vorschuss aus und übernehmen die Vertragsverhandlungen. Gegen eine Provision von meist 15 Prozent bilden sie das Bindeglied zwischen der stillen Schreibstube des Autors und dem knallharten Literaturbetrieb. Wenn eine renommierte Agentur wie beispielsweise Graf & Graf, für die Julia Eichhorn arbeitet, von den Texten eines Autors oder einer Autorin überzeugt ist, bedeutet das oft den ersten Schritt zum literarischen Erfolg. O-Ton Nina Lörken: "Sollten sich solche Perspektiven eröffnen, würde ich nicht einen Moment zögern, meine Arbeit als Rechtsanwältin an den Nagel zu hängen." Text Nina Lörken hat Jura studiert, doch ihr Herz gehört dem Schreiben. O-Ton Nina Lörken: "Ich war nie son Karrieretyp. Ich hab mir eigentlich mit allem Zeit gelassen, und es war immer wichtig für mich, dass ich solche Projekte nebenbei verfolgen kann. Deshalb habe ich auch nach meinem zweiten Staatsexamen nicht direkt Vollzeit als Anwältin gearbeitet, sondern das so eher Teilzeit gemacht, und noch nebenbei gekellnert, damit ich nebenbei schreiben kann." Text Beim "Open Mike" wird Nina Lörken zum ersten Mal an die Öffentlichkeit gehen. Aus 634 Einsendungen wurde ihre Kurzgeschichte mit ausgewählt. Nina Lörken ist Debütantin: Sie hat noch nie etwas veröffentlicht, noch nie vor Publikum gelesen. Sandra Gugic aus Österreich ist erfahrener und abgeklärter. Sie hat bereits Preise für ihre Geschichten gewonnen, hat Schreiben studiert, unter anderem am Literaturinstitut in Leipzig, hat 2009 am Klagenfurter Literaturkurs teilgenommen. Einige Tage vor dem "Open Mike" blickt sie dem Ereignis zumindest nach außen hin recht gelassen entgegen: O-Ton Sandra Gugic: "Ich denke mir, es ist gut, dort zu sein. Und es soll Spaß machen. Ich möchte den Moment genießen, dass ich dort bin. Und ich denke mal, es ist eine gute Möglichkeit, gehört zu werden. Und das ist das Wichtigste. Und alles andere ist ein schönes Plus. Es ist auch sehr schwierig, für jede Jury, Texte dann in einem Ranking zu bewerten oder zu sagen: Welcher ist der beste Text? Weil jeder Text andere Aspekte aufmachen wird, denke ich, eine eigene Stimme haben wird, unterschiedliche Stimmen. Und ich hoffe halt auf einen spannenden Abend mit verschiedenen Stimmen und literarischen Ansätzen." Trenner: Musik Kreuzblende zu Atmo: Stühle rücken, Saal herrichten für den "Open Mike", steht kurz frei, bis Ortswechsel klar, dann unter Text In seinem 20. Jahr ist der "Open Mike" wegen des immer größer gewordenen Andrangs umgezogen. Vom Kulturzentrum im Prenzlauer Berg mit dem Charme einer Schulaula aus den 70ern in einen prächtigen Ballsaal im "Heimathafen Neukölln". Dass auch der sich als zu klein erweisen wird, weiß Thomas Wohlfahrt am Samstagvormittag noch nicht. Der Leiter der Literaturwerkstatt Berlin erinnert sich an die Anfänge, während ringsum die Stuhlreihen vor der großen Bühne unter der goldenen Stuckdecke ausgerichtet werden. O-Ton Thomas Wohlfahrt "Als junge Einrichtung sahen wir uns mit was Schlimmen konfrontiert: Junge Autoren, damals junge Autoren, schrieben uns: ,Lest doch mal und sagt was dazu, wir kriegen keinen response von nirgendwo. Und sofort wuchsen die Stapel und sofort war wieder Unzufriedenheit auf beiden Seiten: Wir schafften es nicht und die Autoren kriegten wieder keine Antwort oder erst sehr viel später. Und dann war ich zum ersten Mal in den USA und sah den Open Mike dort. Das war da schon entwickelt, das kannte in Europa noch niemand diesen Begriff. Ich fand diese Form sehr intensiv: Listen, sich einzutragen und dann entschied das Publikum mit Buh oder Bravo und dergleichen. Zurück kommend haben wir es dann übersetzt auf deutsche Literaturverhältnisse und so ist der Open Mike entstanden und hat sich eigentlich nicht wesentlich verändert in all den 20 Jahren." Atmo Stühlerücken auslaufen lassen unter Text Viele literarische Karrieren haben hier begonnen: Von den 30 Preisträgern des ersten Jahrzehnts brachten 26 eines oder mehrere Bücher bei großen Verlagen heraus. Darunter so klangvolle Namen wie Karen Duve, Judith Hermann, Julia Franck, Zsuzsa Bánk und Tilman Rammstedt. Im zweiten Jahrzehnt war die Durchschlagskraft des "Open Mike" geringer. Zu Anfang waren die Verlage hungrig auf frisches Blut, eine junge Begabung wurde rasch zum Pop-Autor hoch stilisiert. Mittlerweile sind die Verlagshäuser vorsichtiger geworden, weiß auch die 31 Jahre alte Literaturagentin Julia Eichhorn. O-Ton Julia Eichhorn "Ja, ich glaube schon, dass es schwieriger geworden ist, insgesamt in der Branche, weil die Digitalisierung natürlich eine totale Herausforderung ist, weil, ja, sich einfach bestimmte Strukturen schon sehr verändern. Es gab ja mal in den 90er Jahren so wirklich nen Hype, muss man sagen, mit jungen deutschen Autoren. Das ist im Moment nicht mehr so. Es gibt natürlich wirklich auch eine Professionalisierung, also es gibt sehr, sehr viele Autoren, die eben auf diesen bekannten Schreibschulen in Hildesheim, Leipzig, Biel sind. Und vielleicht gibt es da natürlich auch einfach mehr Autoren, die professionell sozusagen in den Betrieb rein möchten." Text Stichwort Digitalisierung. In seinem 20. Jahr bloggt der "Open Mike" zum ersten Mal. Mit ein paar Kollegen wird Fabian Thomas den Wettbewerb live fürs Internet begleiten. O-Ton Fabian Thomas "Ja, ich glaube das ist die Idee, jetzt hier zum Jubiläum auch die Veranstaltung mal so ein bisschen zu öffnen und auch zu gucken: Wie kann man die Veranstaltung auch auf den Internet- und multimedialen und Web-2.0-Wegen so social-media-mäßig aufziehen? Es wird bei Facebook alles gepostet. Wir twittern. Wir machen Livestream, also wir wollen das auch wirklich komplett so gut wie möglich eins zu eins ins Internet übertragen. Ich denke, das Schreiben an sich verändert sich zurzeit ganz enorm. Und bloggen, schreiben, Bücher schreiben, das steht für mich schon nebeneinander. Ein Facebook-Status kann genauso Literatur sein, ne Twitter Post genauso wie ein Buch. Und der große Vorteil beim Bloggen oder bei Facebook oder bei Twitter ist, dass es zeitnah direkt im Internet ist. Man hat direkt Kommentare. Die Leute setzen sich direkt auseinander. Das ist der große Vorteil. Man sitzt nicht mehr so im Kämmerlein. Es öffnet sich." Atmo voller Saal, Publikum murmelt kurz vor Beginn des Open Mike Text Samstag, 14 Uhr: Schätzungsweise 400 Literaturfreunde quetschen sich im Saal. Blass und bleich haben die hoffnungsvollen Kandidaten die Startnummern für ihren je 15minütigen Lese-Auftritt gezogen. Sie dürfen nicht älter als 35 sein und noch kein Buch veröffentlicht haben. Die Schriftsteller-Jury sitzt an einem Tisch neben der erhöhten Bühne. In diesem Jahr werden Marcel Beyer, Silke Scheuermann und Thomas von Steinaecker die Sieger küren. Atmo, frenetischer Applaus, kurz frei, dann unter Text Nachwuchsautor Juan S. Guse aus Hessen macht den Anfang. Als der schmächtige Jüngling mit Pickelspuren im Gesicht in den Lichtkegel am Lesepult tritt, bejubelt das Publikum den Beginn des "Open Mike 2012": Atmo, frenetischer Applaus, kommt kurz hoch, kurz frei, dann unter Text Agentin Julia Eichhorn hat hinten links einen freien Stuhl gefunden, hört gespannt zu, als die Lektorin Natalie Buchholz den jungen Autor vorstellt. Buchholz ist für das Belletristikprogramm von Klett-Cotta zuständig und hat Guses Text aus ihrem Stapel mit "Open-Mike" -Bewerbungen ausgesucht. Anders als in den USA überlässt der deutsche "Open Mike" Verlagslektoren die Sichtung und Auswahl der 6-700 eingesandten Texte. Atmo Lektorin Buchholz stellt Guse vor: "Juan S. Guse ist 23 Jahre alt, er stammt aus Seeligenstadt am Main, er studiert Kreatives Schreiben an der Universität Hildesheim und hat, wie er mir sagte, erst mit 17 Jahren das Lesen begonnen. Und von da in einem Eiltempo alles versucht aufzuholen, was er die Jahre zuvor an Büchern versäumt hatte. Gleichzeitig mit dem Lesen begann er auch mit dem Schreiben, und es wurde mit einigen Literaturstipendien belohnt. Gerade eben erst war er Stipendiat der Walter Kempowski-Stiftung. Und er ist darüber hinaus Mitherausgeber der Literaturzeitschrift ,Bella triste'." Vorstellung leise weiter unter Text Natalie Buchholz hat mit Juan S. Guse einen typischen Open Mike-Kandidaten ausgewählt: Studium in einer der drei so genannten Schreibschulen in Leipzig, Hildesheim und Biel in der Schweiz, mehrere Stipendien, Auslandserfahrung. Atmo Lektorin Buchholz stellt Guses Text vor: "... und die Melancholie, die sich ausbreitet, wenn er trotz aller Widersprüche die Hoffnung behält, dass die Einsamkeit bald ein Ende hat, während sich etwas leicht Fantastisches in den Text einschleicht, das hat mich gefangen genommen. Juan S, Guse, ,Pelusa'" Applaus, Autor beginnt zu lesen "Seitdem Pelusa ihre Finger an einen Hund verloren hat und sie es ablehnte, sich ihre Fußzehe als Daumen transplantieren zu lassen, sammeln wir keine Früchte mehr im Wald, sondern fahren stundenlang raus in die nächste Ortschaft, um Obst zu kaufen, das wir verkochen und zu Marmelade verarbeiten. Sie klemmt das letzte Glas mit ihrer rechten Ellenbeuge fest und dreht den Deckel mit der linken Hand zu. Ich stehe hier, vor dem Fenster, und spüle. In den Innenrändern des Topfes hat sich verbrannte Marmelade eingenistet. Mit dem Scheuereisen kreise ich den Boden des Topfes ab, während Pelusa mir die Dinge nennt, die ich falsch mache. Von draußen kann man den Sturm hören, das Knacken der Äste. Der starke Fallwind bringt sie ins Wanken. Ich versuche, ihre Konturen oder den See oder wenigstens die Anden auszumachen, aber es ist schon dunkel und es spiegelt sich bloß die Küche, mein Gesicht, die grüne Schürze, die ich trage, und Pelusa, wie sie hinter mir steht und mir sagt, dass ich endlich einen scheiß Zaun um das Grundstück ziehen soll." Atmo Lesung leise weiter unter Text Eine schwierige Beziehung und eine immer bedrohlicher werdende Natur: Juan S. Guse ist auch in der Wahl seiner Thematik ein typischer Vertreter des Jahrgangs 2012, wie sich noch erweisen wird. Die düstere Sprachkraft seines Textes liefert dem "Open Mike" einen gelungenen Auftakt. Atmo, Lesung Guse, Ende: "Ich hole die massive Holzleiter aus der Garage, wuchte sie gegen die Traufe. Dann steige ich aufs Dach, als käme die Flut. Ich kann jetzt alles sehen, den Garten, den Erdhügel, den See, die Anden und alle Kronen der Bäume, die in der Steile nach unten verschwinden und den Mischwald, der sich über den Hang legt wie eine Decke und das Haus, denke ich, ist eine Landmarke am Kilometer 79. Dann drehe ich mich zum Hang, versuche, die Straße aus Erde hinaufzuschauen, fokussiere den Bogen, den sie bei den Zypressen schlägt, als würde ich darauf lauern, dass etwas aus seinem Bau springt. Ich warte auf Pelusa und auf den Fahrradmann." Atmo Jubel und frenetischer Beifall, kurz frei, dann Text Als es draußen zu dämmern beginnt, erklimmt Joey Juschka die Bühne: Kahl rasiert, Ringe in der Nase und eine originelle, witzige Geschichte im Angebot: Atmo Juschka liest: "Schaf e. V. "Hey, Tarzan! Was hast'n heut gemacht?" Bulldog kommt auf mich zu. Bulldog heißt Bulldog, weil er mal so einen Hund hatte, aber nur für eine Weile. Dann war der Hund wieder weg, aber der Name blieb. Bulldog. "Na", sag ich und grinse. "Weibern hinterher, was denn sonst." "Den ganzen Tag nichts anderes?", fragt Bulldog. "Und die halbe Nacht", bestätige ich. Bulldog lacht. "Willste nicht auch?", frag ich ihn. Bevor er antworten kann, haut mir K.C. von hinten auf die Schulter und umarmt mich dann. K.C. heißt K.C., weil wenn man's deutsch ausspricht und ohne die Punkte, klingt das wie "Katze". Also, fast jedenfalls. Und so ist er ja auch - leise, schnell, und schnurren tut er auch manchmal. Man muss ihm nur einen Joint reichen. Nicht, dass unsere ganze Truppe aus Tieren besteht oder so; ich heiß ganz normal, Tarzan eben. Und dann gibt's noch Jarro und als Letztes den Kleinen, der nur selten auftaucht und eh nicht so richtig dazugehört. (...) "Wie isn dein neuer Job so?", fragt K.C. mich da, als ob er Gedanken lesen könnte. (...) "Hab ich dir doch gesagt vorhin: Bin den ganzen Tag Frauen hinterher." Bulldog lacht und K.C. auch ein bisschen, aber nicht lange. Ich bleib nämlich ernst und kram auch noch ne Visitenkarte aus meiner Hosentasche und halt sie ihnen hin. Bulldog und K.C. starren mich an. Ich muss für die wohl aussehen wie so'n Missionar in Afrika oder von Scientology oder so, denk ich, und lache dann doch. Bulldog beugt sich vorsichtig vor und liest von der Visitenkarte ab. In die Hand nimmt er sie nicht. "Verein zum Schutz alleinlaufender Frauen", liest er, zweifelnd. "Was soll'n das?" "Schutz alleinlaufender Frauen - Sch A Eff. SCHAF e. V.", sag ich." Atmo Applaus, Saal leert sich, Gemurmel usw. kurz frei, dann unter Text Jugendsprache, Spaß am Schreiben und das Klischee von der kriminellen Kreuzberger Jugendgang kräftig gegen den Strich gebürstet: Statt Frauen zu belästigen, verdingen sich die Jungs als Ein-Euro-Bodyguards. Als die Menge nach der ersten Runde der Lesungen ins Foyer drängt oder zum Rauchen ins Freie, hat der "Open Mike 2012" seinen ersten Publikumsliebling: Joey Juschka. Sie ist Mitte 30, stammt aus Halle an der Saale, arbeitet in Berlin als Dramaturgin und Fotografin. Auf Bestellung schreibt sie "Wunschgeschichten". Perfekte Prosa ist ihr Anspruch. Mit nichts weniger gebe sie sich zufrieden. O-Ton Joey Juschka "Ich könnte auch ohne Schreiben leben, aber will ich nicht. Ich hab mich beworben, weil es was zu gewinnen gab, weil ich will, dass meine Geschichten veröffentlicht werden, dass ganz viele Leute die lesen und dadurch irgendwie angeregt werden, über Sachen nachzudenken - besonders bei der Geschichte. Die Geschichte geht drum, wie es so ist, als Frau manchmal alleine in der Stadt unterwegs zu sein und sich da schon immer überlegen zu müssen: Gehe ich jetzt da lang? Ist es hier sicher? Kann ich in diesen U-Bahnwaggon einsteigen oder nicht?" Atmo Gang durchs Gedränge im Foyer, Gemurmel usw. Text Die Gewinner des "Open Mike" teilen sich ein Preisgeld von 7.500 Euro, das ist nicht viel, wenn man seine Zeit mit Schreiben verbringen will. Doch sie gehen auch auf Lesereise, ihre Texte werden in einer Anthologie gedruckt - und vor allem stehen sie im Rampenlicht, werden wahrgenommen. Von Literaturagentinnen wie Julia Eichhorn, die auf dem Gang nach draußen Lektoren und Kollegen begrüßt. Felix Griesebach ist auch wieder da, eigens aus der Schweiz angereist. O-Ton Felix Griesebach "Zum einen ist es als Agent natürlich wichtig, hier präsent zu sein und auch den Kontakt zu jungen, neuen Talenten zu suchen. Auf der anderen Seite gilt es auch so ein wenig als Stimmungsbarometer, also wie sich auch innerhalb der jungen, deutschsprachigen Literatur die Akzente verschieben. Dafür ist der "Open Mike" doch ein sehr guter Gradmesser." Atmo, Menschenmenge draußen, kurz frei, dann unter Text Julia Eichhorn dreht sich im Hof eine Zigarette, zieht Zwischenbilanz. O-Ton Julia Eichhorn "Also ich find's toll, dass die Texte sehr, sehr vielseitig sind dieses Jahr. Also ich hab das Gefühl, dass die Kritik, die letztes Jahr so kam - ich weiß nicht, ob es daran liegt - aber dass es jetzt wirklich ganz unterschiedliche Texte sind, ganz unterschiedliche Themen, ganz unterschiedliche sprachliche Herangehensweisen. Das finde ich toll. Also das hat mich wirklich gefreut." Trenner, Musik Text Vergangenes Jahr hatte die Jury unter Wortführung der Schriftstellerin Felicitas Hoppe gerügt, die Texte der jungen Autoren seien geradezu erschreckend professionell gemacht, um in den Rahmen allgemeiner Gefälligkeit zu passen. Sie warnte die Nachwuchs-Autoren davor, zu sehr für Wettbewerbe zu schreiben und auf Vermarktungschancen zu schielen. O-Ton Michael Gaeb "Das ist natürlich immer schwierig." Text Gibt Literaturagent Michael Gaeb zu bedenken. O-Ton Michael Gaeb "Weil: Die Lektoren, die Verlage, wollen auf der einen Seite immer wieder das Neue. Wenn man mit was Neuem kommt, sagen sie: Das ist uns zu riskant. Da können wir nur 3.000 Stück von verkaufen. Also es ist ne sehr zweischneidige Geschichte. Das darf man den Autoren oft gar nicht unbedingt zum Vorwurf machen. Und das darf man wahrscheinlich niemandem wirklich zum Vorwurf machen, weil die Lektoren gleichzeitig sagen: Na ja, die Buchhändler sind schuld. Die Buchhändler sagen: Die Leser sind schuld. Und so dreht sich das Ganze dann wieder im Kreis. Es ist tatsächlich so, dass - glaube ich - vieles im Buchmarkt zu Uniformität drängt." Text Dass die Texte auch Dank der drei Literaturinstitute in Leipzig, Hildesheim und Biel handwerklich sehr gut gemacht sind, sei per se erst mal nichts Negatives, hält auch Julia Eichhorn dagegen. O-Ton Julia Eichhorn "Natürlich ist es so, dass zum Beispiel der Autor immer mehr ins Zentrum rückt und je besser der Autor sich präsentieren lässt, desto schöner für die Verlage, klar. Aber ganz am Ende zählt immer noch der Text und die Begeisterung für den Text. Solche Kriterien wie es werden bestimmte Themen gesucht oder es werden bestimmte Autorentypen gesucht - das kann es geben, dass die Trends da sind, aber mit der Erwartungshaltung würde ich nicht zum "Open Mike" gehen. Und ich glaube, dass diese Begeisterung, die man dann dem Text gegenüber hat, sich eben wie in so einer Kette auch fortsetzt, im besten Fall. Also der Agent begeistert die Lektoren. Die Lektoren und der Verlag sind begeistert und tragen das dann wieder weiter in den Vertrieb, und der trägt es weiter an die Vertreter, die an die Buchhändler und dann - im besten Falle - an die Leser. Und je größer die ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass es so funktioniert." Text Der "Open Mike" geht weiter. Sascha Kokot aus Leipzig liest seine klangvollen, aber düsteren, sehr ernsten Gedichte. Der erst 20jährige hat sich scheint's fest vorgenommen, während des "Open Mike" kein einziges Mal zu lächeln. Atmo Sascha Kokot liest "Gedichte" "Die Kinder sind uns abhanden gekommen ihre Namen kennen wir nicht es blieb keine Zeit sie auszuwählen einzustudieren ihre Zimmer bleiben unbezogen unsere Körper gehen darin brach einander ungläubig gegenüber weisen sie uns immer weiter fort sie scheinen die Routen verlässlich zu kennen auch wenn wir zunehmend nicht mehr wissen was uns hier hält in den kalten Fluren." Text Dann fällt Kerstin Schubert aus dem Rahmen: Sie hat Betriebswirtschaft studiert, ist Mutter von drei Kindern, schreibt immer dann, wenn sie mal einen Moment Ruhe hat. Die theoretischen Grundlagen für das Verfassen von Literatur hat sie sich aus Internet-Foren beschafft. Kerstin Schubert wird die zweite Publikumsfavoritin mit ihrer ebenso konsequent wie gekonnt erzählten Geschichte aus der Sicht eines autistischen Kindes. Atmo Lesung Kerstin Schubert "17, 23, 17, 23": "Es ist 15 Uhr und meine Mutter kommt herein, sie lächelt, das bedeutet, sie freut sich. Ich habe Karteikarten angelegt für die verschiedenen Gesichtsausdrücke. Ich hebe die Mundwinkel nach oben, das ist wichtig. Nein, nicht wichtig, es ist richtig und richtig zu sein, ist wichtig. Alle Menschen müssen richtig sein und was richtig ist, bestimmt die Mehrheit der Gesellschaft und an diese Richtigkeit müssen sich alle halten, sonst dürfen sie nicht mitspielen. Die Regeln muss man lernen, es ist eine eigene Ordnung. (...) Meine Mutter trägt 7 Kleidungsstücke, ich nehme meinen Notizblock und trage die Zahl und die Farben ihrer Kleidungsstücke ein. Das mache ich schon lange, schon seit 3467 Tagen. Ich tue das immer um 15 Uhr, wenn meine Mutter hereinkommt, jeden Tag um 15 Uhr, immer, wenn es Zeit ist für den Kakao und die Schokokekse. Es sind die Schokokekse von Bauernglück, die esse ich immer und zwar immer 5, Primzahlen beruhigen mich." Atmo Applaus Text An diesem starken ersten Tag hat auch der spätere Preisträger der Lyrik seinen Auftritt: Martin Piekar, ein 22 Jahre altes Riesenbaby in Gothic-Montur, lange schwarze Haare, langer schwarzer Mantel, schwarz lackierte Fingernägel. Atmo Martin Piekar liest "Bedürfnis nach dir und Kirschblüte": "Wir hörten auf Die Luft - Begannen uns zu atmen Wie die Kirschblüten Sich in Pole Position am Frühling entlangwinden Zartfarbiges Gewebe abgestimmt Sind wir Lippenblüter Wenn Kirschblüten zwischen Mündern Im Pilgern pausieren? Im Wind Sind wir Mündel von Blüten im Haar Die wir archäologisch kraulen Den Spieltrieb können wir nicht Auf Mails vertagen können wir nicht Jetzt noch schnell? Fernweh vom Fernweh Auf Parkbänken Da Internet distanzierter wirkt Als jeder Abschied Ein Introspektivversuch à la Pusteblume Trial And Error - In mir steckt wohl Noch zu viel Löwenzahn Von dir." Armo Applaus Text Der für Lyrik zuständige Lektor Christoph Buchwald hat aus 46 Einreichungen acht Dichter ausgesiebt. Wie in der Prosa so auch in der Lyrik: Einsamkeit und das Verhältnis zwischen Mensch und Natur sind häufige Themen. Der Sauerstoff im übervollen Prunksaal wird knapp, doch das "Open Mike"-Publikum ist traditionell ungemein diszipliniert, konzentriert und spendet freundlich auch dann Beifall, wenn der Text Rätsel aufgibt. Atmo Lektorin Natalie Buchholz stellt den nächsten Text vor: "Mobile Lebenswelten, Momentaufnahmen, das Spiel mit Identitäten, Perspektivenwechsel, Vergänglichkeit: All das sind Themen, die Sandra Gugic beschäftigen. Themen, die ich im Übrigen in den meisten Texten, die ich für den "Open Mike" gelesen habe, wiederfand. Übergangswelten. Das nicht Wissen wohin mit sich, mit sich in der Welt." Text Lektorin Natalie Buchholz hat ein feines Näschen bewiesen: Neben Juan S. Guse hat sie aus den Einsendungen auch den zweiten Text ausgesucht, der später von der Jury ausgezeichnet werden wird. weiter Atmo Lektorin Buchholz stellt Gugic' Text vor: "Sandra Gugic hat diese Themen wie ich finde in einer Weise literarisch umgesetzt, die mich überzeugt hat; mit einem genauen Blick fürs Detail, mit Zurückhaltung, mit Mut, Dinge nicht auszuerzählen und Fragen offen zu lassen und mit einem schönen sprachlichen Geschick. Herzlich willkommen Sandra Gugic mit "Junge Frau, undatiert". Applaus, Sandra Gugic liest "Junge Frau, undatiert": "Ich bleibe nie lange. Meine Habseligkeiten passen in einen großen blauen Koffer aus Polykarbonat sowie einen stabilen Rucksack für Laptop, Kamera und Stativ. Das Zimmer der Frau beziehe ich für zwei Monate und lebe zwischen ihren Elfen aus Speckstein, Setzkästen voller Porzellanfiguren und venezianischen Masken. (...) Als ich an diesem Tag im Laufschritt die Straße zum Park quere, ist es, als würde mir ein Blick folgen. Ich verlangsame mein Tempo vor dem Eingangstor, werfe einen Blick zurück, hoch zu den Fenstern der Wohnung, sehe die geschlossenen Vorhänge und kann mich nicht erinnern, sie beim Verlassen des Zimmers zugezogen zu haben, halte einen Moment inne, dann laufe ich weiter. Auf dem Rückweg mache ich einen Umweg über den Markt und kaufe ein gehäutetes Kaninchen. Ich positioniere meine Kamera auf dem Stativ, mich am Fenster, das Kaninchen halte ich wie die Dame mit dem Hermelin, die hinter mir an der Wand hängt. Dann drücke ich den Auslöser." Text Die genaue Beobachtung einer jungen Frau, die sich nichtfest legen will, kein Zuhause hat, sondern als Untermieterin von Wohnung zu Wohnung zieht und sich selber fotografiert. Auf der Suche nach was? Einem Leben? Einer Identität? Die Autorin lässt das offen. Atmo, laute Musik beim abendlichen Jubiläums-Empfang, steht kurz frei, dann leise unter Text Am Abend, bei der Feier zum 20. Jubiläum des "Open Mike" unterhält sich Literaturagentin Julia Eichhorn mit der Nachwuchsautorin. Das ist aber keine "Open Mike"-Neuentdeckung: O-Ton Julia Eichhorn "Sandra Gugic kenne ich schon länger, aus Klagenfurt. Deswegen saßen wir auch zusammen und haben gesprochen. Ich kenne ein paar ihrer Texte und finde sie sehr, sehr gut. Sie hat einen ganz klaren Blick und sie hat etwas zu erzählen, das merkt man. Das merkt man allen Texten an: Dass da dieses Herzblut da ist und eine Geschichte, die raus kommen muss, die erzählt werden will." Text Die Autoren des ersten Tages hatten etwas zu erzählen, Julia Eichhorn ist zufrieden. O-Ton Julia Eichhorn "Es wurde viel bearbeitet, diese Kindperspektive fand ich stark. Also ich hatte so das Gefühl gehabt, dass man da wirklich in was reingezogen wurde. Ich fand aber auch viele lustige Texte dabei. Also es war ja immer die Frage irgendwie nach dem "Open Mike"-Text, ob es so was gibt (lacht), und ich glaube, es waren so ein paar doch wirklich "Open Mike"-Texte dabei, die einfach auch wirklich zum Lachen angeregt haben. Und das war schön. Also es war wirklich vielseitig und für jeden wirklich was dabei. Es war auf jeden Fall ein guter Tag. Und ich bin gespannt, was morgen noch kommt. Und glaube, dass es auf jeden Fall eine schwierige Entscheidung für die Jury wird." Text Beim "Open Mike" zählt nicht nur die Qualität des Textes, sondern auch der Vortrag, die Performance. Die Bühne ist groß, der Saal voller Literaturmenschen, die Latte hängt hoch: Nina Lörken, der schreibenden Anwältin, die noch nie öffentlich gelesen hat, ist am Ende des ersten Tages etwas blümerant zumut. Sie hat auch noch eine unddankbare Startnummer gezogen: Die 21. O-Ton Nina Lörken "Ja, ich werde als Letzte lesen. Da bin ich natürlich ... oder ahne jetzt schon, dass sich die Nervosität ordentlich aufbauen wird, über den ganzen Tag hin. Aber andererseits denke ich mir, dann ist es vielleicht auch den Leuten schon so langsam egal (lacht) und keiner achtet mehr so sehr auf die Art des Vortrags. Denn mich hat jetzt gerade ... die letzte Geschichte hat mich ein bisschen nervös gemacht, weil ich fand, dass sie sehr gut gelesen war. Und dann denkt man sich als unerfahrener Leser, wie ich das bin, ja, ob man da irgendwie mithalten kann, zumindest ansatzweise? Und das macht einen dann natürlich schon so ein bisschen nervös." Text Sonntagmittag, der letzte und entscheidende Wettbewerbstag ist trübe und grau, kalter Regen nieselt, wenig einladend, das Haus zu verlassen. Doch der Lese-Saal ist wieder voll mit jungem Publikum. Müd und matt nach den samstäglichen Hauptstadt-Partys, doch zu hunderten versammelt. Juliane Link macht heute den Anfang: mit der Geschichte einer Liebe, die zu Ende gegangen ist. Die Hauptfigur ist verlassen worden und leidet still. Atmo, Juliane Link liest "Das Haar der Berenike" "Elise hält die Augen geschlossen und wartet auf den Schlaf oder aus Versehen auf Thomas. Aber der Schlaf kommt nicht. Nur die Stechmücken kommen und summen ihr eintöniges Lied. Elise liegt da und dreht sich und denkt an den fernen Gesang von Sirenen oder daran, wie im Winter eine einzelne Schneeflocke fiel." Text Juliane Link wirkt ebenso zart wie ihr Text. Die Brille im klaren Gesicht, die glatten Haare zurück gebunden, sieht sie verloren aus auf der großen Bühne. Sie ist 1986 in Würzburg geboren, hat Kulturwissenschaften in Hildesheim studiert. Vor unserem Interview im Vorfeld des "Open Mike" wollte sie gerne wissen, in welche Richtung die Fragen gehen werden, denn sie denke gerne nach, bevor sie spreche. O-Ton Juliane Link: "Da sind so bestimmte Gefühlszustände, die ich versuche in der Geschichte zu erzählen - über so kleine Szenen im Alltag, an denen sich dann eben zeigt, was da für Elise irgendwie passiert ist oder was in ihr vorgeht." Atmo, Juliane Link liest "Das Haar der Berenike" (das geht: Die Ansprechhaltung ist eine völlig andere) "Am Morgen zieht sie einen Teebeutel aus dem Wasser und legt ihn auf den Kuchenteller, wo er zusammensackt. Nass und kraftlos kauert der Teebeutel am Tellerrand und umgibt sich mit einer Lache grünlicher Flüssigkeit. Elise verschickt eine SMS: lieber thomas auf meinem küchentisch liegt ein ertrunkener und verblutet was soll ich tun? grüße deine elise. Goldfische schwimmen schweigend übers Handydisplay. O-Ton Juliane Link: "Ich hab da länger dran geschrieben. Und es war auch ... also ich schreib ... ganz viel von dem, was ich schreibe, hat irgendwie mit meinen persönlichen Erlebnissen zu tun. Und das Schreiben ist für mich auch eine Form von Distanznahme zu den Dingen. Oder ich versuche, das dann zu verschieben, so von dieser persönlichen Ebene auf eine andere Ebene. Ich interessiere mich oft für ein Gefühl oder einen Zustand. Also diese Frage danach: Was passiert, wenn so innere Prozesse ins Leere laufen? Das hat mich eigentlich interessiert. Für mich ist das Schreiben schon auch was, wo ich so ganz zu mir kommen kann." Text Thomas Dörschel aus Berlin war elf Jahre Musiker, Songwriter und Texter der Band "Jetzt Virginia". O-Ton Thomas Dörschel "Ich hab immer schon gern Geschichten erzählt, vielleicht kommt's daher. Diese Möglichkeit, innerhalb von drei Strophen eine ganze Geschichte zu erzählen, die hat mich gereizt. Aber irgendwann kommt dann natürlich, also kam bei mir zumindest, der Drang, auch mal Dinge etwas ausführlicher zu erzählen, ein bisschen mehr, ein bisschen das Setting zu beschreiben, vielleicht ein bisschen mehr zu psychologisieren, was man einfach in einem Popsong definitiv nicht kann, nicht auf der Kürze, weil das ja dann doch schon so eine Gedichtform hat. Und dann bin ich zum Kurzgeschichtenschreiben gekommen." Text Thomas Dörschel hat seine Geschichte "Kleine Gesten" genannt, was ein bisschen schade ist, weil damit der Titel schon verrät, um was es geht. Atmo Thomas Dörschel liest "Kleine Gesten" Hendrik kam wie immer eine halbe Stunde zu spät. Jana, meine Frau, störte das nicht im Geringsten. Aufgeregt rannte sie zur Tür, nahm den Strauß Rosen entgegen und umarmte Hendrik fest und lang. Er küsste sie auf beide Wangen, sie strich ihm mit der Hand übers Haar. Dann sagte sie, wie sehr sie sich freue. Ich stand in der Tür zur Küche. Hendrik winkte mir zu und ich winkte mit der Hand zurück, in der ich das große silberne Messer hielt. In der anderen Hand hielt ich eine Zwiebel." Text Es ist der Tag der gescheiterten Beziehungen, Sprachlosigkeit, Einsamkeit. Der Kammerspiele. Atmo Thomas Dörschel liest "Kleine Gesten" "Hendrik war inzwischen in die Küche gekommen. Er beugte sich über die Pfanne mit den Pilzen und fächerte sich den Dampf in die Nase. Er atmete tief ein, dann legte er mir seine Hand auf die Schulter und sagte "Toll", mehr sagte er nicht. Ich nickte ihm zu. Wir verstanden uns, aber wir redeten in Janas Abwesenheit nie viel miteinander. Hendrik war nicht mein Freund, er war ein Freund von Jana. Um genau zu sein war er der Freund von Jana. Und als der Freund von Jana war Hendrik fast überall dabei." Text Die Ähnlichkeit der Themen ist auffällig: Immer wieder geht es um Mann und Frau, die nicht wissen, ob sie Freunde sind oder vielleicht eventuell doch ein Liebespaar. Verzagtheit ist die Grundstimmung, Unsicherheit. Ab und zu blitzt Talent in schönen Sprachbildern auf, doch vieles ist schlapp und fad. Selbst vorgeblich dramatische Seelenzustände zerfransen im Klein-Klein. Dass die Texte junger Autoren nicht um die großen Weltprobleme kreisen, sondern viel um Familie und Beziehungen, ist dabei nach Ansicht von Literaturagent Michael Gaeb gar nicht das Problem. O-Ton Michael Gaeb "Die Geschichte ist eigentlich fast ein bisschen egal, Plots kann man immer verändern. Plots können auch Autoren immer wieder überdenken. Aber wenn die Sprache nicht funktioniert, da ist meistens dann nichts mehr zu machen. Deswegen sollte einen die Sprache überzeugen. Sie sollte irgendwas Besonderes haben. Sie sollte, sage ich mal, zu sich selbst auch sone gewisse Distanz haben. Also viele Texte sind ja oft sehr pathetisch. So sehr sentimental und man denkt: Also so ein bisschen mehr kritische Distanz zu sich selbst, auch Ironie ... ironische Distanz zu sich selbst, sich nicht ganz so ernst nehmen, täte dem manchmal ganz gut, ja." Atmo, Pause, draußen im Hof Text Diese Autoren hätten eben ihre Figuren und ihr Thema noch nicht gefunden, meint die Agentin wohlwollend. Als Mensch vermeidet sie scharfe Kritik, als Agentin sieht sie ganz genau hin. Graf & Graf nimmt keine unaufgefordert eingesandten Manuskripte an, auf viele Nachwuchstalente stößt die Agentur durch Vermittlung der Autoren, mit denen sie bereits zusammen arbeitet. Die Vermittlung eines Manuskripts an einen Verlag ist aber nur eine Seite ihres Berufes, erklärt Julia Eichhorn. Agenturen sind in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden. Kaum noch ein Autor lässt sich nicht von einem Literaturagenten vertreten. Für die Schriftsteller sei wichtig: O-Ton Julia Eichhorn "Dass man Begleitung hat. Dass man immer mal wieder auch die Möglichkeit hat anzurufen und zu sagen: ,Ich hab jetzt hier 30 Seiten, aber ich bin nicht sicher, schaut doch mal rein'. Man bietet dem Autor das Wissen über die Branche, über Verlage, über Verlagsprogramme, über Entwicklungen auch in Verlagen. Und was sich in den letzten Jahren sehr verändert hat, ist, dass es in den Verlagen natürlich immer mehr Wechsel gibt. Diese Verlegerpersönlichkeiten, die vielleicht noch vor zehn, 20 Jahren die Regel waren, die dann Autoren wirklich über ihre ganze Karriere begleitet haben, die sind sehr selten geworden. Und da ist eine Agentur manchmal eine langfristigere Begleitung und jemand eben, der immer da ist und der wirklich eben rein die Interessen des Autors vertritt und nicht auch noch daran denken muss: Was sagen die anderen Abteilungen? Wie ist das Verkaufspotenzial. Da ist man natürlich schon sehr frei in der Auswahl, was den Beruf auch toll macht. Man muss eben nicht irgendwie sich nach einem Programm orientieren, sondern man kann im Endeffekt jeden Text und jeden Autor vertreten, an den man glaubt und den man gut findet." Text Wen sie hier beim "Open Mike" favorisiert, darüber spricht die junge Agentin nicht konkret: Talente sind rar, die Agenten beobachten sich untereinander, ganz diskret werden Texte gelobt und Visitenkarten zugesteckt. Felix Griesebach ist eine Ausnahme unter den verschwiegenen Agenten. Er spricht ganz offen über seine Favoriten: O-Ton Felix Griesebach "Mir hat sehr gut gefallen der erste Leser, das war Juan Guse. Mir hat das Atmosphärische sehr gut gefallen. Er hat eine Kurzgeschichte vorgelesen, die ohne viel Handlung vorkam, aber die atmosphärisch sehr, sehr stark war. Das hat mich schwer beeindruckt. Im Gespräch mit dem Autor war ich wirklich begeistert von der Reife und Brillanz dieses 23jährigen. Des Weiteren hat mich heute sehr beeindruckt Thomas Dörschel, der ja Musiker ist und die letzten 11 Jahre mit einer Band quer durch die Lande getourt ist, die uns sogar bekannt ist. Hier hat mich besonders beeindruckt die erzählerische Reife. Hier stimmte jedes Komma, jeder Satz. Es war ein wunderschöner Bogen, der gespannt wurde. Und auch das Ende der Geschichte, die offen gelassen wurde, hat mir sehr gut gefallen." Text Da Romane sich besser verkaufen als Erzählbände, lautet des Agenten Standardfrage an Nachwuchstalente, ob sie ein solches Projekt in Arbeit haben. O-Ton Felix Griesebach "Was mich natürlich interessiert, wenn ich hier Autoren höre, ist die Frage, ob diese Autoren auch im Stande sind, einen Roman zu schreiben und ein längeres Werk zu schreiben. Es ist generell so, dass hier beim Open Mike natürlich gerade feingeschliffene Miniaturen, die wirklich auf jene 15 Minuten auch hin geschrieben wurden und vielleicht auch Lacher gezielt setzen, hier natürlich besonders gut beim Publikum ankommen. Das ist aber nicht notwendigerweise ein Kriterium dafür, ob ein Autor dann auch wirklich den Erzählbogen für einen ganzen Roman zu spannen weiß." Atmo, Saal, Gemurmel, steht kurz frei, dann unter / A 2 Text Sonntagnachmittag, draußen wird es dunkel. Der "Open Mike" neigt sich dem Ende zu. Für Debütantin Nina Lörken wird es ernst. Sie steigt die Stufen zur Bühne hinauf, setzt sich ans Pult, streicht das blonde, kinnlange Haar hinter die Ohren, schaut zur Lektorin Natalie Buchholz, die die Autorin vorstellt. Atmo, Lektorin Buchholz stellt die Autorin vor "Wir kommen zum letzten Text des 20. Open Mikes, eingereicht von Nina Lörken mit dem Titel ,Die Balz des Blaufußtölpels'. Mir ist in diesem Text die Leichtfüßigkeit aufgefallen, mit der ein Arbeitstag eines Jauchekutschers und Hobbyornithologen gezeichnet wird. Nina Lörken ist 1977 in Osnabrück geboren und aufgewachsen, studierte Jura in Trier, Madrid und Berlin und arbeitet derzeit in Berlin als Anwältin für Urheberrecht. Sie weiß also ganz genau, wie ein Autorenvertrag auszusehen hat". (Gelächter, Beifall) Atmo, Nina Lörken liest Die Balz des Blaufußtölpels "Edgar stieg aus dem Laster. Er musste durch das Tor. Das Mädchen machte sich gerade daran, es zu öffnen. Von Nahem sah er, dass sie eigentlich kein Mädchen mehr war. Sie war eine Frau, vielleicht Anfang 20. Er konnte das nicht so richtig einschätzen. Aber unter ihrem dünnen Hemdchen, unter dem sie weder BH noch Bikini-Oberteil trug, ließen sich ausgewachsene Brüste erahnen. Edgar wandte schnell den Blick ab und schaute stattdessen auf seine rechte Hand. Weil er sie voreilig zum Gruß ausgestreckt hatte, stand sein Unterarm in der Luft wie der Körper einer Libelle. Er ließ die Hand sinken und konzentrierte sich auf den Mechanismus, mit dem sich das Tor öffnete. Die Scharniere hatten mal wieder eine Ölung nötig. "Hallo", sagte sie. "Hallo", sagte Edgar. "Haben Sie gut hergefunden?" Sie siezte ihn. Dabei war er höchstens fünf Jahre älter als sie. "Ja. Ich war schön öfter hier." Sie lächelte und nickte. Ihre Zähne waren klein und gleichmäßig. Sie sahen aus wie Kandisstückchen. Wie die Kandisstückchen, mit denen er seinen Tee süßte. "Ich heiße Edgar", sagte er langsam. "Und ich mag Vögel." (Applaus), unter Text Geschafft! Keine Aussetzer, keine großen Versprecher: Das Üben mit einem befreundeten Schauspieler hat sich gelohnt. O-Ton Nina Lörken "Das war schön! Ich hab das tatsächlich einigermaßen ausgeblendet und mich einfach nur auf die Geschichte konzentriert und dann ging's. Denn ich war fürchterlich aufgeregt und das war dann aber OK." Text Gelöst und erleichtert gibt die Autorin im Hof eine Runde Sekt an Freunde und Familie aus. Ihre Eltern sind aus Osnabrück angereist, die Tochter zu unterstützen. O-Ton Ninas Mutter Anne Lörken "Oh, ich war so aufgeregt! Ich konnte vorhin nicht mal die Zigarette aus der Schachtel raus holen! Also ich bin unheimlich stolz auf sie." Interviewerin: "Gefällt Ihnen denn die Geschichte?" Mutter Lörken: (zögernd) "Jaaa. Doch, doch, sehr. Beim ersten Mal Lesen hat sie mir nicht so gut gefallen. Aber dann haben wir erst mal gegoogelt, was der Blaufußtölpel ist und was es mit dem Balzverhalten auf sich hat. Ich hab's mit Sicherheit zehn, zwölf Mal gelesen - und es wurde immer besser." Text Nina Lörken strahlt: Egal, wer gleich zum Sieger gekürt wird, sie war beim "Open Mike" dabei. Und die Visitenkarte eines Agenten hat sie auch schon in der Tasche. Gut, dass sie diverse Romanprojekte in der Schublade hat. Sollte das Schreiben in Zukunft noch mehr Raum in ihrem Leben einnehmen: Nina Lörken ist bereit. O-Ton Nina Lörken: "Ich finde diese Vorstellung herrlich (lacht). Ich bin jetzt kein unsozialer Mensch, aber ich mag es sehr gerne, auch allein zu sein. Und denke auch, dass man nicht wirklich einsam ist oder nicht alleine ist, weil man ja die Figuren aus dem Buch hat, die dann vielleicht für diesen Zeitraum, in dem man an einem Buch arbeitet, tatsächlich soziale Kontakte ersetzen können." Text Die Jury hat sich zur Beratung zurückgezogen. Autoren, Lektoren und Agenten warten gespannt, dass der Sieger verkündet wird. O-Ton Felix Griesebach "Ich muss sagen, dass ich diesen Jahrgang als ausgesprochen stark empfunden habe, auch im Vergleich zu den letztjährigen Jahrgängen." Text Literaturagent Felix Griesebach zieht schon mal Bilanz. O-Ton Felix Griesebach "Ich möchte nicht in der Haut der Jury stecken, die zu dieser Stunde gerade berät, um die drei Gewinner zu küren. Bloß das Wichtige hier beim Open-Mike-Wettbewerb ist natürlich: Es geht letztlich nicht darum, die Preise zu gewinnen, sondern wirklich hier im Literaturbetrieb Fuß zu fassen, sich zu präsentieren, Kontakte zu knüpfen zu Agenten, zu Lektoren. Und wer dann letztlich gewinnt, ist nicht wirklich entscheidend für den weiteren Werdegang eines Autors." Text Aber trotzdem natürlich spannend. Vor allem für die Autoren selber. Alles drängt mit Freunden, Fanclubs, Eltern und sonstigem Anhang in den prächtigen Saal zurück, denn die Jury ist zu einer Entscheidung gelangt. Für die Finalisten nervenzerfetzende Momente, denn zunächst hat noch Daniel Beskos das Wort - für die Lektoren, die aus 634 Einsendungen die 21 Wettbewerbs-Texte ausgesucht haben: O-Ton Daniel Beskos "Wie findet man aber seine Favoriten? Das ist ja im Grunde die alte Frage, was einen guten Text ausmacht. Und wir als Verlagslektoren sind in dieser Frage allem Anschein nach die Chefbescheidwisser, klar. Was dann schlechtestenfalls dazu führt, dass Lektoren oft vorgeworfen wird, sie würden den wirklich mutigen Texten im Wege stehen. Lektoren seien nämlich eigentlich Textverhinderer manchmal, also so eine Art Türsteher der Literaturdisco, die dann willkürlich und nach dubiosen Interessen auswählen und die wahren literarischen Perlen dabei oft unter den Tisch fallen lassen. Glaube ich aber nicht. Ein guter Text findet seinen Weg immer. Eine unserer Leseerfahrungen in diesem Wettbewerb war es - und jetzt streuen wir auch mal ein bisschen Kritik ein - dass bei vielen der eingesandten Texten das Thema da ist, die Idee - aber die Sprache und der literarische Stil sind dann nicht auf gleicher Höhe, die entsprechen dem Thema nicht. Wir hätten uns da oft eine bestimmte Rohheit gewünscht, also mehr Kanten, mehr stilistische Reibung, um den vorhandenen spannenden Themen auch eine sprachliche Entsprechung zu geben." Text Da haben wir es wieder: Deutschlands Nachwuchsautoren schreiben zu brav. O-Ton Dankeil Beskos "Politische Themen oder gewagte literarische Experimente sind in der Prosa wirklich ne Ausnahme. Und auch gute Dialoge findet man leider nur selten. Huah, schon wieder Kritik. Reicht jetzt aber auch. Wir wurden gestern mehrmals befragt, ob das nicht total altmodisch sei, dass hier in Zeiten von E-Book und Snippy-App noch Texte vorgelesen werden, ganz analog, und dann stimmt eine Jury ab und dann gibt es Texte - uäh - gedruckt auf Papier. Ich denke: kann sein. Aber auch falls es irgendwann nur noch Dateien gibt und keine Bücher mehr, wird es Veranstaltungen wie diese hier noch geben - weil es immer Geschichten zu erzählen gibt und weil die Leute Geschichten hören und lesen wollen. Und darum geht's ja eigentlich." Applaus Text Nun geht es endlich los mit der Preisverleihung. Den Anfang macht die Publikumsjury. O-Ton Jurysprecher taz Publikumspreis "Wir haben uns entschieden für eine Geschichte, die zugleich mutig und witzig ist. Die Helden, die sie beschreibt, sind zugleich Anti-Helden und Ritter. Wir freuen uns, dass wir den taz Publikumspreis verleihen dürfen an die Geschichte SCHAF e.V. von Joey Juschka." Applaus Text Der Publikumsfavorit des ersten Tages bekommt den Preis, eine Entscheidung, die nahe lag. Auch der erste Preis für Prosa kommt nicht überraschend. O-Ton Jurymitglied Thomas Steinaecker "Schon der erste Satz ist eine Wucht: syntaktisch komplex, aber klar; inhaltlich wird dabei genau jene Stimmung heraufbeschworen, die im Folgenden immer mehr verdichtet wird, am Ende zu einem surreal-kunstvollen Schlussbild, aber auf den Seiten davor ohne jeden billigen Effekt oder Klischees. Wissen Sies wer's ist? Nee. (Lachen) (..) Wir hatten alle drei nach der Lesung spontan überlegt, wie diese Handlung, sofern sie einem größeren Kontext entstammt, weitergeführt wird; was hier Traum, was Wirklichkeit ist (erster Jubel): Ich denke, eines der sicheren Anzeichen dafür, dass ein Text gelungen ist: Er hallt in uns nach. Und das ist umso erstaunlicher, als dass sein Autor dieses Jahr erst 23 Jahre alt ist. Der Preis des Open Mikes für Prosa geht an Juean S. Guse für ,Pelusa'." Jubel, Applaus, Gekreisch Atmo Guse: "Vielen Dank. Das ist sehr nett, äh, sehr freundlich."(Gelächter). Liest das Ende seiner Geschichte "Pelusa": "Als ich aufstehe, sind die Hunde da. Es klingt wie Rufe. Ich gehe zu ihnen, trete aus dem Haus auf die Straße. Es sind Tausende. Sie freuen sich über mich, formen einen Strudel, stellen sich auf ihre kräftigen Hinterbeine. Sie sind unzählig, reichen bis zum See hinunter, sitzen im Gestrüpp, in den Ästen der Bäume, auf unserem Dach, auf den Stromleitungen. Es ist warm, ich streichele ihre Kopfhaut, massiere ihre Unterkiefer, die Hunde springen mich freudig an. Sie bellen." Atmo Applaus O-Ton Laudatio Silke Scheuermann zu Sandra Gugic "Der zweite erste Prosa-Preis des Open Mike 2012 geht an den Text über eine namenlose Ich-Erzählerin, die den Bildern, die sie sich gemacht hat, nachjagt und anscheinend viele kleine Leben führt. Der Autorin gelingt es, sich in einer neuen Variation zum Thema der vorgesichteten, bewerteten und kopierten Welt als originelle und genau kalkulierende Erzählerin vorzustellen. Sandra Gulic (sic!)." Applaus Text Hoppla, Sandra Gugic wurde bislang nicht unbedingt als Favoritin gehandelt. Ein großer Erfolg für Lektorin Natalie Buchholz, die mit Guse und Gugic zielsicher die beiden Gewinnertexte aus ihrem Open Mike-Stapel gefischt hat. Auch Julia Eichhorn hat offensichtlich ein gutes Gespür. Sie war allerdings nicht die einzige Agentin in der Nähe dieser aus Serbien stammenden Autorin. Bleibt noch der Preis für die Lyrik. Auch hier ist die Jury für eine Überraschung gut: Aus dem Überangebot an guten Versen hat sie den schrillsten Dichter gefischt. Martin Piekar, Mr. Gothic mit den schwarz lackierten Fingernägeln, erklimmt die Bühne. Atmo Piekar: "Dankeschön, oder in meiner Generation auch: Scheiße, geil!" Text Anscheinend gehört Coolness zur Grundausstattung zeitgenössischer Jungdichter. Während die Prosa-Preisträger erste Interviews geben, schreibt Martin Piekar aber dann doch eine Sieges-SMS an alle, die er kennt. O-Ton Martin Piekar "Ich bin so aufgeregt, ich muss mich erstmal mit irgendwas..." schnauft heftig Text Umlagert von der Presse wirkt Hauptpreis-Träger Juan S. Guse etwas überfordert. O-Ton Juan S. Guse "Nein, ich bin ganz ... ich bin ganz ruhig. Ich ... es ist immer sehr aufregend, wenn viele Leute um mich sind. Ich bin eigentlich eher alleine und im Kreis von Bekannten." Text Ein seltsames Geschöpf ist dieser Schreiber eines düster-unheilvollen Szenarios, eines Eremiten in den Anden, der ein verletztes Tiere erschlägt, eine verschwundene Frau vermisst und in surreale Traumsequenzen abgleitet. Das Setting sei dem Haus seiner argentinischen Großmutter abgeschaut, erklärt Guse. Gefragt, warum er so lange der Literatur gänzlich fern stand, sagt er: O-Ton Juan S. Guse "Ich hatte keinen Anreiz in meiner Familie. Meine Mutter ist sehr kulturell, mein Vater ist Ingenieur. Der Fernseher ist ja sehr, sehr verlockend, weil: Mit sehr geringer Arbeit kann sehr viel Unterhaltung generiert werden. Also es ergab für mich überhaupt keinen Sinn zu lesen. Und dann kam ich eben zu einem bestimmten Buch. Der ,Tractatus' von Wittgenstein. Und in Wittgenstein fand ich eine technische Herangehensweise an Sprache, wo ich mir gedacht habe: Moment, das ist ein Feld deines direkten Umfeldes, was du noch nicht einmal in deinem Leben beackert hast." Text Auch ihn beseele der Wunsch nach Abkehr von der Welt, erzählt Juan S. Guse. Dabei ist er doch mit 23 in einem Alter, in dem man sich eigentlich ins Leben stürzt. Die Jury mochte aber diese Beklommenheit, die auch unter Guses Figuren herrscht. Preisträgerin Nummer zwei, Sandra Gugic, sagt, sie sei überrascht, dass ihr Text über eine haltlos durchs Leben Mäandernde den zweiten Preis gewonnen hat. O-Ton Sandra Gugic "Ich glaube, das ist ein Thema, das viel mit unserer Zeit zu tun hat und wahrscheinlich immer war. Man sucht nach einem Ort, an dem man bleiben kann. Man probiert Dinge im Leben aus. Und diese Figur ist bewusst ,undatiert' (lacht) und soll nicht auserklärt werden. Also diese Auslassungen, die im Text sind, sind dafür da, um nicht Leerstellen zu erzeugen, sondern eben dort zu öffnen und den Leser dann da einfach auch seine Gedanken weiterspinnen zu lassen. Man soll ja Spaß haben beim Lesen!" (lacht) Text Und dann ist der "Open Mike" plötzlich vorbei: Die Sieger versammeln sich im Café nebenan, um die schon am nächsten Tag anstehende Lesereise nach Frankfurt, Wien und Zürich zu besprechen. Die Übrigen gehen ohne große Abschiedszeremonie, in ihrer akuten Enttäuschung vielleicht getröstet von dem Gedanken, dass man den Open Mike nicht gewinnen muss, um die Aufmerksamkeit des Literaturbetriebes zu wecken. Die Aufmerksamkeit von Agentinnen wie Julia Eichhorn, die die Entscheidung der Jury für Juan S. Guse wegen dessen reifer Sprache nachvollziehen kann und sich in ihrem Interesse für Sandra Gugic bestätigt sieht. O-Ton Julia Eichhorn "Wenn man so einen persönlichen Kontakt hat, dann ist es natürlich noch mal schöner, wenn man sieht, dass sie ausgezeichnet wird." Text Der "Open Mike" hat also sein Ziel erreicht, mit dem er vor 20 Jahren gegründet wurde: Türöffner zu sein, eine Chance zu bieten für den Einstieg in den Literaturbetrieb. Was dieser Jubiläumsjahrgang an Jungautoren daraus macht, entscheidet sich in den kommenden Tagen und Wochen, wenn bei den meisten Finalisten das Telefon klingeln wird - und die Agenten dran sind. Atmo, Rollenkoffer werden vorbei gezogen, kurz frei, dann unter Text Während die Abreisenden Rollenkoffer hinter sich her zur nächsten U-Bahn- Station ziehen, zündet sich Juror Marcel Beyer im Hof eine letzte Zigarette an und schaut ihnen nach. O-Ton Marcel Beyer "Ich hab viel hier draußen rumgehorcht, wenn ich geraucht habe, und hab gemerkt: Ah, da wird ein ganz konzentriertes Gespräch über den letzten Text geführt. Da wird der Text mit dem Text verglichen. Und dieser sehr angenehme, freundschaftliche Umgang im Persönlichen, aber das Knallharte im Umgang mit dem Text, dass das funktioniert, dass es da ein Gleichgewicht gibt - ich glaube, dass ist das Erfolgsgeheimnis vom Open Mike." ENDE Beitrag: "Open Mike" 2012 Sendeplatz: Werkstatt, Sonntag, 18. November 2012, 0.05 Uhr Autorin: Vanja Budde Hörer-Info für online: Die Anthologie zum 20. Open Mike ist im Allitera Verlag erschienen: www.allitera.de. 1