Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Veränderung durch Empowerment Oder: Die Selbstorganisierung der Abgehängten Autor: Raul Zelik Regie: Thomas Wolfertz Redaktion: Karin Beindorff Produktion: DLF 2017 Erstsendung: Dienstag, 02.05.2017, 19.15 Uhr Erzählerin Anne Müller Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Musik Miles Davis "Duran" Erzählerin Seit einigen Jahren ist viel von Politikverdrossenheit die Rede. Viele schimpfen über "abgehobene Eliten". Die Bürger, so heißt es, wendeten sich von der Demokratie ab. Seltener wird dagegen erwähnt, dass das Interesse an gesellschaftlichen Fragen stark vom Einkommen abhängig ist. Die Wahlbeteiligung liegt in Reichen-Vierteln regelmäßig zwanzig Prozent höher als in Sozialbausiedlungen. Gerade diejenigen, die ein Interesse daran haben müssten, dass sich etwas ändert, gehen nicht zur Wahl. Oft steht dahinter das Gefühl, dass sich Engagement ganz einfach nicht lohnt: Egal, wer die Wahl gewinnt - die Situation bleibt, vor allem für die sozial Benachteiligten, immer dieselbe. Lässt sich daran etwas ändern? Musik Ansage Veränderung durch Empowerment Oder: Die Selbstorganisierung der Abgehängten Ein Feature von Raul Zelik Musik Atmo Telefonat im Auto. Stimme Michael Knopp Erzählerin Michael Knopp ist Schwabe, doch seine Arbeit hat ihn ins Saarland geführt. Dort ist er in einer Mission unterwegs, die vielen Deutschen ein Gräuel sein dürfte. Denn Knopp organisiert Konflikte. Als Organizer der Industriegewerkschaft Metall kümmert er sich um den Aufbau von Betriebsräten und die Unterstützung gewerkschaftlicher Basisgruppen. Atmo Telefonat im Auto. Stimme Michael Knopp O-Ton Knopp Wenn man Organizing betreibt, sollte es darum gehen, dass man die Themen, die im Betrieb vorhanden sind, die Themen der Belegschaft sind, die Themen der Beschäftigten, dass man die Themen aufgreift und dass man die Menschen dazu bringt, selber für ihre Themen einzustehen und Lösungen für die Themen zu finden. Erzählerin Knopp ist Ende 40 und hat eine sehr eigene Biographie: durchschnittlich und doch ausgefallen. Als Jugendlicher machte er eine Lehre als Elektromaschinenbauer, landete dann aber über die Musikszene bei einer kleinen Plattenfirma. Nach ein paar weiteren Stationen arbeitete er in einem schwäbischen Industrieunternehmen im Schichtbetrieb. Dort fing er an sich gewerkschaftlich zu engagieren und wechselte schließlich 2011 zur IG Metall. Seitdem ist Knopp hauptberuflich damit beschäftigt, Menschen bei der Durchsetzung ihrer Arbeitsrechte zu unterstützen. O-Ton Knopp Der Organizing-Ansatz beruht auf einem relativ einfachen Prinzip, das nennt sich A-H-A, aus dem amerikanischen Englischen. Es bedeutet Anger-Hope-Action, das sind die drei Stufen. Anger, in dieser Stufe kommt man mit Menschen zusammen. Anger heißt ja übersetzt Ärger, und da geht es darum, was ärgert die Menschen, wo gibt es Dinge, die sie gern verändern wollen, und wo findet man erst mal ein gemeinsames Thema mit den Menschen, und das ist dann schon ein demokratischer Prozess. Da geht's nicht darum, welches Thema jetzt am schwierigsten oder am einfachsten ist, sondern welches Thema haben die Menschen, das sie verändern wollen. Wenn wir in diesem anger-Prozess was gefunden haben, soll es darum gehen, in dem hope, Hoffnung, dass man aufzeigt, wie Möglichkeiten da sind, eine Lösung zu erarbeiten. Das ist auch wieder ein gemeinsamer Prozess. Dort verstehe ich mich dann als jemand, der hauptsächlich beratend da ist, der Wege aufzeigt, der den Menschen zeigt, es kann in die Richtung gehen, in die oder in die. Die Richtung selber müssen sich die Menschen selber aussuchen, weil, sie müssen diesen Prozess ja tragen. Und schlussendlich kommt man zum letzten A. Das ist action für Aktion. Wenn man sein Thema hat, wenn man verschiedene Lösungswege aufgezeigt hat, die Menschen haben sich für einen Lösungsweg entschieden, muss man in die Aktion kommen und rangehen. Atmo Arbeitsgeräusch in einer Werkshalle Erzählerin Knopp besucht ein Unternehmen, in dem er die Mitarbeiter betreut. Es handelt sich um einen klassischen Mittelstandsbetrieb: exportorientiert, hochspezialisiert, gerade so groß, dass die Mitbestimmung aufs Unvermeidliche beschränkt bleibt. Die Unternehmensgruppe ist so aufgeteilt, dass jeder Bereich unterhalb der magischen Grenze von 500 Beschäftigten bleibt, ab der ein Aufsichtsrat mit Arbeitnehmervertretern gebildet werden müsste. Doch immerhin können die Gewerkschafter hier offen auftreten - was heute nicht mehr überall in Deutschland selbstverständlich ist. Im Rahmen des Organizing-Projekts wird der Betriebsrat Stefan Becker unterstützt. Ich frage ihn, ob die IG Metall und ihr Organizer Michael Knopp nicht künstlich Konflikte in den Betrieb getragen hätten. Becker reagiert ein wenig verwundert. O-Ton Becker Ja, vom Grundsatz war es wahrscheinlich so, dass die Leute viel zu wenig ihre eigentlichen Rechte gekannt haben. Das heißt, dass erst, wenn jemand weiß, wozu er eigentlich ein Recht hat, ist er auch bereit, dieses einzuklagen und zu fordern. Und dat war so gewesen, dass die Leute, ja man kann schon sagen: Dornröschenschlaf, die waren zu wenig informiert worden. Und irgendwann ist der Organisationsfluss immer größer geworden, auch durch die Gewerkschaft, die ist aktiv auf die Betriebsräte zugegangen, und die Betriebsräte wiederum, das ist so ne Kettenreaktion, auf die Leut' zugegangen. Und erst wenn jemand weiß, welche Rechte er hat, dann kann man gucken, dass man die gemeinsam, das ist der Idealfall, auch durchgesetzt bekommt. Erzählerin In den Gewerkschaften hat die Organizing-Methode in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen. Sie wurde vor allem in den USA entwickelt. Eigentlich verfolgt man damit ein altes Ziel: Mitglieder gewinnen und aktivieren. Früher, in Zeiten der sogenannten Sozialpartnerschaft, schien eine kompromissorientierte Stellvertreterpolitik die erfolgversprechendste Strategie für Gewerkschaften zu sein. Funktionäre handelten die Tarifverträge aus, die Belegschaften waren oft nur mäßig über den Inhalt informiert. Doch in den vergangenen 25 Jahren ist das Klima für Arbeiter und Angestellte rauer geworden. Auch kleinste Erfolge müssen mühsam erkämpft werden. Und genau an diesem Punkt setzt Organizing an: Die Beschäftigten werden immer und immer wieder darauf hingewiesen, dass sie selbst etwas tun, ihre Interessen selbst in die Hand nehmen müssen. O-Ton Becker Ja, das ist Grundvoraussetzung. Dat ist ja so ein bisschen dat sich bekennen. Wenn man sich bekennt und wenn man verlangt, dass die Leute stark auftreten, muss man auch selbst stark auftreten. Natürlich muss man auch bereit sein, den Konflikt selbst zu kämpfen, sonst kämpft den keiner mit einem. Das merkt man sehr gut auf Betriebsversammlungen. Wenn Betriebsversammlungen so ablaufen, dass schwerpunktmäßig nur der Arbeitgeber spricht, und der Betriebsrat immer applaudiert zu dem, was der Arbeitergeber gesagt hat und beendet dann die Betriebsversammlung, denke ich, so soll dat nicht aussehen. Sollte schon so aussehen, dass die Betriebsräte ganz klar Themen ansprechen und auch in aller Schärfe ansprechen. Und nur dann wird es auch Wortmeldungen geben. Wenn der Betriebsrat nicht mal dazu bereit ist, dazu - wie man bei uns so schön sagt - die Schniss aufzumachen, dann werden es die Leute auch nicht machen. Atmo Werkshalle, Unterhaltung Knopp-Becker Erzählerin Beim Weg durch die Werkshalle werden Michael Knopp und Stefan Becker immer wieder um Rat gefragt. Die größten Sorgen im Betrieb bereitet die Spaltung in Stammbelegschaft und Leiharbeiter. Denn Werkverträge und Leiharbeit sorgen für enorme Unterschiede bei Löhnen und Rechten. Umso stolzer ist Becker, als er beim Rundgang einen Mitarbeiter trifft, der diese Woche in ein festes Arbeitsverhältnis übernommen wurde. Prekäre Beschäftigung, sagt der Betriebsrat, sorgt für Ohnmacht und Passivität. O-Ton Betriebsrat Bei uns werden Leiharbeiter, die nicht mehr gebraucht werden, werden die am Tag drauf bei ihrem Verleiher, werden die gekündigt. Das heißt, ich hatt gerade jetzt, vergangene Woche, noch n Arbeitsvertrag bekommen, wo mir die Leiharbeiter, die Leiharbeiter kommen ja auch zu uns, weil sie merken, das sind Leute, die interessieren sich, kümmern sich und denen bin ich net ganz egal, und der hat mir denn seinen Arbeitsvertrag gezeigt. Der Arbeitsvertrag ging über 9 Monate und von den 9 Monaten waren 6 Monate Probezeit. Das heißt, im ersten halben Jahr bin ich ihn so schnell wieder los wie ich ihn hatt. Erzählerin Doch gerade diejenigen, die in besonders prekären Verhältnissen stecken, sind am schwersten zu erreichen, erklärt Michael Knopp. O-Ton Knopp Die Erfahrung sagt mir persönlich in meiner Arbeit schon, dass speziell mit Facharbeit und aufwärts ich die größten Erfolgschancen habe, weil die eben nicht so leicht austauschbar sind. Ich hab zum Beispiel in meiner Arbeit es auch noch nicht hinbekommen, obwohl es dort wirklich große Schwierigkeiten und Konflikte gibt, bei einem Leiharbeit- oder Zeitarbeitnehmer einen Betriebsrat zu initialisieren. Also man kann immer sagen, die Menschen, die ein unbefristetes Arbeitsverhältnis haben und eine gewisse Qualifikation haben, sind die, mit denen man am besten solche Prozesse hinkriegt. Mit dem Prekariat wird das sehr, sehr schwierig, weil diese Menschen Angst haben und sich ja immer beweisen müssen und sollen, dass sie aus dem Prekariat rauskommen in die Festanstellung. Atmo Nachbarschaftsversammlung, Autolärm, Redner spricht über Sozialmieten Erzählerin Berlin-Kreuzberg. Am Fuß einer zwölfstöckigen Sozialbausiedlung, direkt gegenüber von den Hochbahngleisen am Kottbusser Tor, nur fünfzig Meter von einer der größten offenen Drogenszenen der Hauptstadt entfernt, findet eine öffentliche Diskussion statt. Atmo Redner über Sozialmieten Erzählerin Etwa 200 Personen sitzen auf Bänken vor einem improvisierten Podium. Dahinter eine selbstgebaute Baracke. Das Holzhaus ist das Nachbarschaftszentrum von "Kotti und Co", der heute vielleicht wichtigsten Berliner Mieterinitiative. Die Gruppe kämpft seit 2011 gegen Mieterhöhungen in den anliegenden Sozialbaublocks. Durch den Verkauf von mehr als 300.000 kommunalen Wohnungen seit 1990 sind die Mieten in der Hauptstadt gestiegen - vielerorts um 50 bis 100 Prozent. Gerade für ärmere Menschen ein drängendes Problem. "Kotti und Co" besetzte deshalb 2012 den Vorplatz vor den Wohnblocks. An diesem Nachmittag haben die Platzbesetzer zu einer Diskussion geladen. Wohnungsbaupolitiker von SPD, CDU, Linken und Grünen sind gekommen, um Rede und Antwort zu stehen. O-Ton Moderatorin Also ich lese die Fragen noch einmal vor: Welche Mietgrenzen sollen im sozialen Wohnungsbau eingeführt werden und auf welche Weise? Welche von den Vorschlägen der Experten im Expertengremium setzen Sie um, wenn Sie die Wahl gewinnen? Und die dritte Frage ist: Wie geht es weiter mit dem schwindenden Bestand der Sozialwohnungen? Erzählerin Dass sich Politiker von Wählern befragen lassen, ist nichts Ungewöhnliches. Aber dieses Hearing ist denn doch untypisch. Die Mieter der anliegenden Sozialbauwohnungen treten den Abgeordneten auffallend selbstbewusst gegenüber. Man lässt die Parlamentarier spüren, dass man sich in Mietfragen mittlerweile oft besser auskennt als so mancher Berufspolitiker. Ausgerechnet am Berliner Kotti, der als einer der sozial schwächsten Orte in Deutschland gilt, dort, wo 80 Prozent der Bewohner nichtdeutsche Wurzeln haben, hat eine Nachbarschaftsinitiative demokratische Prinzipien vom Kopf auf die Füße gestellt. Aber wie war das möglich? O-Ton Kaltenborn Als diese Mieterhöhungen eintrafen, die erste Reaktion war gar nicht mal von den Leuten, von denen man das vielleicht angenommen hätte, dass die den ersten Aufschlag machen, nämlich die Aktivisten, die auch in dem Haus gewohnt haben, oder Akademiker. Erzählerin Sandy Kaltenborn ist 48 Jahre alt, Kommunikationsdesigner mit deutsch-afghanischem Hintergrund. Schon seit vielen Jahren engagiert er sich in politischen Kunstprojekten. Als Mieter in einem der Wohnblocks beteiligte er sich schließlich an der Gründung von "Kotti und Co". Jetzt ist die Mieterinitiative Mittelpunkt seines Lebens. O-Ton Kaltenborn ... es war eine Nachbarin, die auf dem Wochenmarkt am Maybachufer arbeitet, die mit einem anderen Nachbarn sich zusammengeschlossen hatte, um eine Unterschriftenliste auf den Weg zu bringen; die durch das Haus gegangen ist, von Tür zu Tür geklingelt hat, ja die erste Unterschriftenliste. Der Brief wurde abgeschickt an die Hausverwaltung. Da ist nichts passiert, und dann erst im zweiten Schritt haben dann andere Leute, andere Nachbarn wiederum gesagt: Jetzt lasst uns mal ein Treffen machen, lasst uns im Café Südblock treffen, paar Aushänge machen. Erst mal in den drei betroffenen Häusern, und so hat das Ganze dann seinen Anfang genommen. Erzählerin Ursache des Konflikts am Kottbusser Tor ist, dass das Land Berlin 2004 unter einer rot-roten Regierung 60.000 kommunale Wohnungen an private Kapitalfonds verkaufte. Heute gehören die Häuser der Deutschen Wohnen, einem großen Immobilienfonds. Der Mechanismus der Verdrängung ist allseits bekannt: Die Eigentümer wollen ihre Rendite steigern und erhöhen die Mieten der ehemaligen Sozialwohnungen. Die meisten Anwohner sind Hartz-IV-Aufstocker, können sich die Erhöhung nicht leisten und müssen ausziehen. Auf diese Weise werden sie durch finanzkräftige Hipster und Studenten-WGs ersetzt. Doch der Berliner Mieterinitiative "Kotti und Co" ist es gelungen, diesen normalerweise still und heimlich verlaufenden Prozess zu einem Politikum zu machen. O-Ton Tashy Endres Die Basis war der Protest auf der Straße ... Erzählerin Auch Tashy Endres engagiert sich seit Jahren bei "Kotti und Co". Sie ist Mitte 30 und gehört wie Kaltenborn zu den sogenannten Medienkreativen. Die sind zwar gut ausgebildet, aber gerade in Berlin verfügen sie oft nur über ein geringes Einkommen, knapp oberhalb der Armutsgrenze. O-Ton Endres ... Und natürlich muss man das dann übersetzen in (...) Sachen, die in den Haushalt reingeschrieben werden müssen, Dinge, die in einem Koalitionsvertrag verankert werden sollten, (...) man muss (...) mit WohnungswirtschaftlerInnen zusammen Konzepte erarbeiten, wie das (...) finanziert werden könnte, man muss mit Juristinnen (...) Modelle erarbeiten, wie so was verwaltet werden könnte et cetera. (...) Die Basis ist aber die Verankerung mit den Nachbarinnen hier in der Umgebung. Erzählerin Mit der Verbindung unterschiedlicher Aktionsformen - Straßenproteste, Experten-Hearings, Pressearbeit, Kampagnen in den Wohnblocks selbst, Kunstaktionen - ist es "Kotti und Co" gelungen, die Berliner Politik aufzumischen. Im Wahlkampf Ende 2016 waren alle großen Parteien gezwungen, auf die Forderung der Initiative nach einer Rekommunalisierung der ehemaligen Sozialwohnungen einzugehen. Dabei hatte die Mieterinitiative zunächst keine Unterstützung der großen Verbände. Die Berliner Mietervereine zeigten "Kotti und Co" lange Zeit die kalte Schulter, weil sie der Ansicht waren, dass das Verschwinden der Sozialwohnungen sowieso nicht aufzuhalten sei. Trotzdem sei die Gründung der Initiative eigentlich ziemlich einfach gewesen, erzählt mir Kaltenborn. O-Ton Kaltenborn Da wir in Hochhäusern wohnen, kommt man sich beim Briefkasten und im Fahrstuhl relativ schnell nahe, näher, also im doppelten Sinne. Man rückt auf die Pelle, weil, das ist ein sehr kleiner Fahrstuhl bei uns. In den 70er-Jahren durften die noch etwas kleiner sein als heute, und das war jetzt gar nicht so ein großer Schritt, dass man da groß hat etwas organisieren können, sondern man hat automatisch mit den Nachbarn im Treppenhaus darüber gesprochen - beziehungsweise im Fahrstuhl. Erzählerin Erstaunlicher als die Gründung sei gewesen, dass die Initiative nicht gleich wieder auseinander flog. Denn bei den Treffen kam eine sehr illustre Runde zusammen: konservative muslimische Familienväter, Künstlerinnen, Hausfrauen, Akademiker, Bauarbeiter ... Man sprach türkisch, deutsch, kurdisch, englisch, arabisch. Und zudem fanden die Treffen ausgerechnet im "Südblock" statt, einer bekannten schwul-lesbischen Kneipe im Erdgeschoss der Siedlung. O-Ton Kaltenborn (lacht) Das erste Bild, als wir da das erste größere Treffen gemacht haben, das war wirklich, in der Tat, visuell, von den Körpern, die sich da in den Raum reingeschoben haben, wirklich sehr divers und witzig auch in dem Sinne, also es war alles noch geschmückt von der Party am Abend zuvor, mit viel Pink, und auch die Betreiber vom Südblock hatten so kleine Käppis auf und Schürzchen, aber der Kaffeetisch war professionell gedeckt: mit Tischdecken, mit Keksen, mit Kuchen. Es gab Kaffee und Tee. Und da kamen dann ein ganzer Haufen sehr konservativer, zum Teil türkischer oder nichttürkischer Nachbarn mit Studenten, mit allen möglichen Leuten zusammen, und das war für viele Leute, die da in den Raum kamen, vielleicht auch das erste Mal in ihrem Leben, dass sie in einen so schwul-lesbischen Laden reingekommen sind. Aber man muss dazu auch sagen, dass die Betreiber von dem Café Südblock, wo das stattgefunden hat, ein extrem gutes Händchen haben, sehr sensibel mit dieser Differenzerfahrung, sage ich mal, umzugehen. Also das hat sich sehr schnell gelegt, dass man sich da ein bisschen komisch gefühlt hat in dem Laden. Erzählerin In den Folgemonaten wuchs die Mieterinitiative vor allem darüber zusammen, dass man Protestaktionen organisierte, die so angelegt waren, dass jede und jeder mitmachen konnte. Außerdem teilten alle dasselbe Problem - ob nun Bauarbeiter oder Medienkreative wie Tashy Endres: Die steigenden Mieten konnte sich niemand mehr leisten. Atmo: Lärmdemo O-Ton Endres Wir haben dann unzählige Lärmdemonstrationen organisiert, (...) ich glaube, in den ersten Monaten jede Woche, dann zwei Wochen (...) wo wir versucht haben, ganz niedrigschwellige Demonstrationen zu (...) organisieren, wo Leute, die vorher noch nicht auf einer Demo waren, keine Angst haben müssen hinzugehen, weil man sich nicht von der Polizei provozieren lässt oder solche Dinge, dass es (...) kurze Routen waren (lacht), dass es eine Form war, auf Kochtöpfe zu schlagen oder Lärm zu machen, wo alle mitmachen können und alle (...) gemeinsam in der Kakophonie (lacht) ihrem Unmut Ausdruck verleihen können. Erzählerin Und entscheidend war schließlich auch, dass man einen Ort schuf, an dem die Anwohner zusammenkommen konnten. Ein Ort, der von vielen und in Handarbeit gemeinsam errichtet wurde. O-Ton Endres Wir haben 2012, im Rahmen von einem Straßenfest, eine erst mal als Kunst deklarierte Installation aufgebaut. Das war ein Wohnzimmer, das aus Paletten zusammengebaut war, und das für uns das gecekondu ist. (...) Gecekondu heißt auf Türkisch "über Nacht erbaut" und ist nach osmanischem Recht beziehungsweise urban myth (...) das Recht, dass, wenn man über Nacht auf öffentlichem Grund ein Haus errichtet, dass man nicht wieder vertrieben werden kann. In dem Sinne "wir bleiben" haben wir gesagt, wir bleiben, bis das Problem mit den Mieten gelöst ist. Das ist jetzt, (...) vier Jahre später, immer noch nicht gelöst, und deshalb sind wir immer noch hier, (...) die Palettenkonstruktion ist mittlerweile ein kleines Haus geworden. O-Ton Kaltenborn Dieses Haus, in dem wir jetzt hier sitzen, wurde nicht von einer Architektin oder einem Bauherren errichtet, sondern von der Nachbarschaft. Und dazu gehören ganz unterschiedliche Skills: Teekochen, wo kann man die Fenster her organisieren umsonst, wer redet mit dem Bezirksamt, wer redet mit der Polizei, wer redet mit Ordnungsamt, wer holt das Wasser, wer verlegt den Strom. Also hier sind ganz viel informelles Wissen, was an die Oberfläche gekommen ist und wo wir als Gruppe, glaube ich, gemerkt haben: na ja, gut, da gibt's zwar ein paar Leute, die sind zwar politisch sehr artikuliert, aber da gibt es ganz viele andere Leute, die tragen in sich ein Wissen, wovon diese Intellektuellen oder vermeintlichen Intellektuellen gar keine Ahnung haben. Musik Erzählerin Im Frühjahr 2015 startete "Kotti und Co" gemeinsam mit anderen Berliner Organisationen ein Mietenvolksbegehren. Innerhalb weniger Wochen sammelte das Bündnis 50.000 Unterschriften und zwang die Große Koalition in der Stadt zur Verabschiedung eines Gesetzes, das zwar hinter den Forderungen des Volksbegehrens zurückblieb, aber doch zumindest einige seiner Punkte aufgriff. So können in Berlin heute Mieter, die mehr als 30 Prozent des Nettoeinkommens für ihre Wohnung bezahlen, einen Mietzuschuss beantragen, und der Bestand der landeseigenen Wohnungsunternehmen soll laut Gesetz bis 2026 wieder auf 400.000 Wohnungen steigen. Auch die sozial Schwächsten können also politische Forderungen formulieren und die Parteien unter Druck setzen - zumindest ein bisschen. O-Ton Kaltenborn Der Mietenvolksentscheid ist zu einer Zeit gekommen, wo der Senat gesagt hat: 'Wir nutzen schon alle Instrumente, die wir haben, aus. Wir machen schon ganz viel MieterInnenpolitik.' Und plötzlich kommt diese kleine Initiative um die Ecke und sagt: 'Man kann noch viel mehr machen. Man kann zum Beispiel die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften wieder sozialer ausrichten.' Die sind nämlich gar nicht sozial ausgerichtet, die werden wie ganz normale Unternehmen geführt, die werden überhaupt nicht kontrolliert parlamentarisch, die müssen nur alle halbe Jahre mal im Bauausschuss antanzen und sagen: 'Hier sind unsere Zahlen, super, lasst uns mal so weitermachen'. Also es ist ein Skandal, dass die öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften, die dem Land Berlin, also den Mieterinnen und Mietern Berlins gehören, nicht demokratisch kontrolliert werden. Musik Atmo Charité, Streikversammlung Erzählerin Herbst 2016, sechs Uhr morgens an der Charité. Einige Hundert Angestellte von CFM, Charité Facility Management, sind im Warnstreik. Die Beschäftigten hier haben auffallend viele unterschiedliche Nationalitäten. Das ist kein Zufall - die Jobs bei CFM gehören zum Niedriglohnsegment. Mit dem Warnstreik wollen die Betroffenen eine Angleichung ihrer Gehälter an die des Mutterunternehmens erreichen. Das hat seine Vorgeschichte: Die Charité gründete CFM 2006 als Tochterunternehmen. 2000 Jobs in Logistik und Infrastruktur zu schlechteren Bedingungen wurden ausgegliedert. Viele der hier beschäftigten Fahrer, Patientenbegleiter und Putzleute verdienen nur zwischen 1400 und 1700 Euro brutto für eine Vollzeitstelle. Was die CFM-Beschäftigten ermutigte, war der Erfolg eines Streiks im Jahr 2015. Damals setzte das Pflegepersonal der Charité unter dem Motto "mehr von uns ist besser für alle" einen besseren Pflegeschlüssel, also mehr Personal zur Krankenbetreuung durch. Die Pflegerin Grit Wolf war an diesem Arbeitskampf beteiligt. Ihrer Meinung nach begann das Problem damit, dass das Universitätsklinikum in ein gewinnorientiertes Unternehmen verwandelt wurde. O-Ton Grit Wolf Das bedeutet für uns, dass wir mehr Patienten versorgen pro Schicht, zeitweise (...) oder in vielen Bereichen auch allein im Nachtdienst tätig sind und wir unserem Anspruch (...) nicht mehr gerecht werden. Den Anspruch, den wir haben, gute Pflege am Menschen zu betreiben, der ist nicht mehr erfüllt. Ich sag mal, dass eine maximale Frustration unter den Kollegen erkennbar gewesen ist und die Kollegen immer mehr den Anspruch hatten, (...) ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Das war eigentlich auch (...) meine Motivation, mich gewerkschaftlich zu engagieren an der Charité. Erzählerin Vielen Kolleginnen und Kollegen, so erzählt Grit Wolf, hätten aufgrund der straffen Zeitvorgaben einfach nicht mehr gekonnt. Manche hätten gekündigt, andere seien ausgebrannt gewesen. Und irgendwann habe sich aus dem Frust dann gemeinsames Handeln entwickelt. O-Ton Grit Wolf Wir haben an der Charité eine funktionierende Betriebsgruppe, die sich auch regelmäßig trifft, und für mich war der erste Bezugspunkt, dass Kollegen von der Verdi-Betriebsgruppe durch die Station gegangen sind und uns da direkt ins Gespräch genommen haben, uns gefragt haben, wie unsere Arbeitsbedingungen vor Ort tatsächlich sich darstellen. Erzählerin Die Gewerkschafter rieten Grit Wolf und ihren Kolleginnen, einen "Notruf" zu starten. Das gewerkschaftliche "Notruf"-Konzept sieht vor, dass sich überforderte Belegschaften auch außerhalb von Tarifverhandlungen mit Forderungen an ihre Unternehmungsleitung wenden. O-Ton Grit Wolf Das war Anfang 2013. Ich selber hab gemerkt, dass ich (...) eigentlich so nicht mehr arbeiten möchte und (...) eher auch so in der Meckerecke gestanden habe, und dann für mich entschlossen habe, wenn ich hier aktiv und mit Freude bei meinem Beruf noch dabei sein möchte, dann muss ich mich aktiv dagegen wehren, was hier passiert (...), ich muss (...) für bessere Arbeitsbedingungen mich engagieren, und hab mich dann sozusagen von den gewerkschaftlichen Kollegen mitnehmen lassen, bin dann zur Tarifkommission gekommen und (...) bin dann sozusagen aktives Mitglied geworden, was sich auch aktiv vor Ort eingesetzt hat. Für mich war immer der Anspruch gewesen, ich will kein zahlendes Mitglied nur sein, auf dem Papier, sondern wenn ich mich gewerkschaftlich engagiere und in die Gewerkschaft eintrete, dann möchte ich auch was tun. Und das habe ich gemacht. Erzählerin Grit Wolf erzählt, dass ihr Verhältnis zur Gewerkschaft zunächst keineswegs konfliktfrei war. Es gibt sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, wie eine Arbeitnehmervertretung vorgehen sollte. Und bisweilen sind Gewerkschaften ja auch tatsächlich jene schwerfälligen Apparate, als die sie oft karikiert werden. O-Ton Grit Wolf Ich finde (...) dass wir auch gezeigt haben, dass gewerkschaftliche Arbeit auch ganz anders laufen kann. (...) Ich versteh diese Kritik(...), weil ich schon der Meinung bin, dass häufiger (...) in Betrieben, ja, doch: Stellvertreterpolitik betrieben worden ist und (...) das, was wir an der Charité (...) machen und umsetzen im gewerkschaftlichen Kontext, das ist sozusagen für mich, jetzt nicht unbedingt total neu, aber es ist mal wieder eine Aktivierung von neuen Elementen und eine Aktivierung von Kollegen (...), die es wahrscheinlich (...) so in anderen Häusern jahrelang nicht gegeben hat. Ja, und deswegen kann ich auch jeden anderen Kolleginnen in anderen Krankenhäusern empfehlen (...), dass der Bezug, der Zugang und (...) das Mitnehmen von den Kollegen vor Ort eigentlich das Allerwichtigste ist, um so eine große Bewegung überhaupt zu tragen. Erzählerin Die Gewerkschaftsgruppe an der Charité führte das Modell sogenannter "Tarifberater" ein: Auf jeder Station übernahm eine Pflegerin oder ein Pfleger die ehrenamtliche Aufgabe, Informationen zwischen der Belegschaft und der gewerkschaftlichen Tarifkommission hin und her zu tragen. Auf diese Weise sollte verhindert werden, dass die Tarifkommission ihre Bodenhaftung verlor. zur Demokratisierung der Gewerkschaftsarbeit. Aber der Erfolg stellte sich auch nicht sofort ein, erzählt Grit Wolf. O-Ton Grit Wolf Mitte 2013 konnten wir unseren Arbeitgeber zu Tarifverhandlungen für (...) Mindestbesetzung und Gesundheitsschutz der Beschäftigten auffordern. Und (...) das war natürlich nicht die einzige Hürde. (...) Das waren schleppende Verhandlungen, mit vielen Schleifen (...), bis hin, dass wir (...) zum Warnstreik mobilisiert hatten und unser Arbeitgeber die Schlichtung (...) angerufen hatte und dort auch noch mal (...) recht lange Schleifen gedreht hat. Und im Betrieb war das total (...) negativ. Warnstreik, dann den Warnstreik wieder absagen, dann Schlichtungsverfahren, das bedeutete Friedenspflicht, völlige Ruhe im Betrieb, (...) kein Informationsfluss mehr (...) und dann am Ende ein Ergebnis, wo die Tarifkommission zwar zur Annahme empfohlen hatte, aber (...) wir selber wussten, dass das Ergebnis nicht wirklich gut ist. Atmo Streik an der Charité, Rede eines Pflegers und Pfiffe Erzählerin Die Verhandlungen kamen über Jahre kaum vom Fleck. Als die Arbeitgeberseite auf die zentrale Forderung der Belegschaft - nach mehr Zeit für die Patienten und mehr Personal - nicht einging, rief die Gewerkschaft im Sommer 2015 zum unbefristeten Ausstand auf. Jetzt machte es sich bezahlt, dass man immer wieder versucht hatte, alle Beschäftigten einzubinden. Elf Tage dauerte der Streik an der Charité. Allerdings mussten die Pflegerinnen und Pfleger die Voraussetzungen erst schaffen. Streiks im Krankenhaus sind nämlich besonders heikel, weil Pflegekräfte den Konflikt verständlicherweise nicht auf dem Rücken von Patienten und Kollegen austragen wollen. O-Ton Grit Wolf Früher war das ja immer so, dass (...) wir uns da gewerkschaftlich beschränkt hatten. Da war eine Wochenendbesetzung definiert, und das war halt dann immer so gewesen, dass ab und an jemand rausgehen konnte ins Streikgeschehen, aber immer mit einem schlechten Gewissen verbunden, dass jetzt oben die Kolleginnen und Kollegen allein irgendwie am Arbeiten sind, gerade am Patientenbett. Erzählerin An der Charité hatte man jedoch bereits 2011 eine "Notdienstvereinbarung" ausgehandelt. Die Arbeitnehmer verpflichteten sich, Streiks mit einer Woche Vorlauf anzukündigen. Das Unternehmen darf seitdem eine bestimmte Anzahl an Betten gar nicht erst belegen, wenn ein Arbeitskampf angekündigt ist. Dank dieser Regelung und der Einbindung der Belegschaft war die Beteiligung am Streik 2015 höher als gewöhnlich. Mehrere Stationen wurden ganz geschlossen, die Charité erlitt empfindliche Verluste. Und das schließlich zwang die Unternehmensleitung zu Zugeständnissen. O-Ton Grit Wolf Wir haben dann einen Tarifvertrag für Gesundheitsschutz und Mindestbesetzung erreicht, wo sozusagen (...) ein Regulationsmechanismus (...) für Überlastungssituationen mit Leistungseinschränkungen (...) tarifiert worden ist... Erzählerin Wenn Grit Wolf über das Verhandlungsergebnis spricht, klingt das nach reinstem Fachchinesisch. O-Ton Grit Wolf Für die Intensivstationen haben wir erreicht eine durchschnittliche Besetzung von eins zu zwei, und für die stationäre Pflege, an der Charité lief immer noch die PPR, die Pflegepersonalregelung, im Hintergrund und die haben wir jetzt über alle Bereiche auf 90 Prozent angehoben, plus sogenannte Sondertatbestände plus zusätzlich noch die Nachtdienstbesetzungen. Erzählerin Praktisch bedeutet das: Die Belegschaft hat sich in der entscheidenden Frage durchgesetzt: Das Krankenhaus muss mehr Personal einstellen, die Betreuung der Patienten wird verbessert. Den Pflegerinnen und Pflegern an der Berliner Charité ist damit etwas ganz Besonderes gelungen: Sie sind nicht nur für die eigenen Interessen eingetreten, sondern haben auch die Bedingungen für die Patienten verbessert. Wie ist das gelungen? Sie haben nicht nur Forderungen aufgestellt, sondern sich auch eine Strategie überlegt, um ihre Forderungen durchsetzen zu können. Sie haben über Jahre versucht, möglichst viele Kollegen einzubinden, den Konflikt offen zur Sprache gebracht und alle an den Lösungen beteiligt. Sie haben Bündnisse mit gesellschaftlichen Initiativen aufgebaut, um auch außerhalb des Krankenhauses ein Bewusstsein für das Problem zu schaffen. Und sie haben eine Streikform entwickelt, die dem Unternehmen finanziell weh tat und somit Druck erzeugte. Atmo Reeperbahn, grölende Leute auf der Straße Erzählerin Freitagabend in Hamburg-Sankt Pauli. Touristen strömen über die Reeperbahn. Zwischen Schnellimbissen, Spielhöllen und Kabaretts steht ein kleiner, verglaster Container. Die sogenannte Planbude. Auf dem Fernseher im Schaufenster ist ein Video-Clip mit Architekturentwürfen zu sehen. O-Ton Christine Röthig Ich finde einige Sachen sehr gelungen. Erzählerin Christine Röthig ist Sozialarbeiterin und Mitinitiatorin der Planbude. O-Ton Röthig Erst mal bin ich sehr erfreut darüber, dass ifau (...) und jetzt Jesko Fezer, das Büro aus Berlin, (...) den sozialen Wohnungsbau machen wird (...). Die haben (...) ganz tolle Grundrisse und auch (...) es geschafft, immer wieder Zonen für (...) Alltagsgespräche einzubauen und Gemeinschaftsflächen, die wahrscheinlich nicht verwaisen werden, und Wohnungen, wo du (...) Räume abtrennen kannst, wo du sozusagen einzelne Zimmer planen kannst. Die Wohnungen können angeeignet werden von den Leuten. Das ist total wichtig. Erzählerin Die Planbude gehört zu jener Art von Projekten, die man zunächst wohl für utopisch halten würde. Es geht darum, die Wünsche und Träume von Tausenden von Anwohnern zur Grundlage eines Neubauprojekts zu machen - und das in einem Viertel, das als "sozialer Brennpunkt" gilt. 2013 waren die sogenannten Esso-Häuser, Plattenbauten an der Hamburger Reeperbahn mit 110 Sozialwohnungen, einem zweigeschossigen Gewerberiegel und einer Tankstelle, für unbewohnbar erklärt und kurze Zeit später abgerissen worden. An ihre Stelle sollten Eigentumswohnungen treten. Doch eine Initiative von Betroffenen, Anwohnern und Künstlern stellte sich quer. Man forderte, dass erneut Sozialwohnungen gebaut und die Anwohner am Planungsprozess beteiligt werden sollten. In Sankt Pauli hatte es in den vergangenen 30 Jahren immer wieder solche Initiativen gegeben: Anwohner, Musikszene, Hausbesetzer, Künstler und Sozialarbeiter haben hier mehr miteinander zu tun als anderswo in der Republik. Und so stellte die Initiative Planbude ihren Container an der Reeperbahn auf. In den Folgemonaten kamen hier hunderte von Anwohnern zusammen, um ihre Wünsche zu zeichnen, als Modell zu bauen oder aufzuschreiben. Viele originelle Ideen entstanden: unter anderem öffentlich zugängliche Grünanlagen auf den Hausdächern, eine kostenlos zu nutzende Kletterwand, individuell gestaltbare Sozialwohnungen. Und genau das wird jetzt gebaut. O-Ton Röthig Uns war's halt wichtig, dass möglichst viele hier mitmachen können - auch unabhängig von Sprache oder sonstigen Barrieren, die's vielleicht gibt. Und deswegen hatten wir (...) auch Sachen entwickelt wie (...) das Knetmodell oder auch das Lego-Modell. (...) Und außerdem hatten wir Karten, wo Leute Sachen reinzeichnen konnten mit den Fragen "was ist ein toller Tanke-Ersatz?" oder "was passiert auf den Dächern?", "was passiert im Keller?" (...) Leute konnten einfach vorbeikommen. Und außerdem waren wir selber auch im Stadtteil unterwegs, also haben teilweise auch Workshops hier in den Kneipen gemacht, (...) sind also schon an die Orte des Alltags gegangen. (...) Und wir hatten auch (...) Haustürgespräche, also Leute, die direkt an der Haustür geklingelt haben und (...) kurze, knackige Fragen gestellt haben (...) und auch immer wieder eingeladen haben hierher zu kommen. Das war ein sehr intensiver Prozess von Oktober bis Februar, wo die Planbude fast täglich geöffnet hatte und Leute vorbeigekommen sind. Und am Ende hatten wir über 2000 Beiträge, die wir dann alle ausgewertet haben und extrahiert // Das alles haben wir konserviert und dann schließlich (...) mit dem Bezirk und dem Eigentümer, der Deutschen Hausbau, verhandelt. Erzählerin Dabei war die Ausgangssituation für das Projekt Planbude alles andere als günstig. Das Grundstück mit den Esso-Häusern gehörte der Bayrischen Hausbau, einem Münchner Immobilienfonds. Und in der Hamburger Kommunalpolitik stand der soziale Wohnungsbau auf der Prioritätenliste auch nicht gerade ganz oben. Doch verschiedene Stadtteilinitiativen brachten die ehemaligen Mieter der abgerissenen Häuser und andere Anwohner des Stadtteils zusammen und machten politischen Druck. Christoph Schäfer gehört wie Christine Röthig zum Planbude-Team. Vor einigen Jahren war er Mitinitiator von Park Fiction - einem ebenfalls in St. Pauli gelegenen, von den Anwohnern selbst gestalteten Stadtpark. O-Ton Schäfer Wir haben hier ja wahnsinnig früh angefangen einen Beteiligungsprozess zu machen. (...) Letztlich selbstbeauftragt von einer Stadtteilversammlung. Die Stadtteilversammlung ist kein politisches Organ, was es einfach so gibt oder was von der Stadt (...) käme, sondern was Initiativen einberufen haben, also die Initiativen Esso-Häuser, SOS-St.Pauli. Das lief unter dem Motto "St. Pauli selber machen", und daraus hat sich erst mal (...) eine Arbeitsgruppe Planung gebildet, und aus dieser Arbeitsgruppe heraus haben wir dann Verhandlungen mit dem Bezirk aufgenommen, eigentlich ein Konzept entwickelt, wie wir uns vorstellen, wie Beteiligung organisiert werden müsste und (...) letztlich sind wir damit dann durchgekommen und haben die Planbude quasi dann gegründet, (...) um eine Form zu haben, eine legale Form, wie wir diesen Auftrag tatsächlich entgegennehmen (...) können und ausführen können, den wir uns quasi selbst erfunden haben. Erzählerin Die Planbude ist weder Bürgerinitiative noch eine Organisation. Es ist ein Projekt, das sich zwischen Nachbarschaftsarbeit, Stadtplanung und Kunst im öffentlichen Raum bewegt. Eine Art Service-Leistung für die aus den Esso-Häusern verdrängten Mieter und die Anwohner der Reeperbahn. Ein Kunstprojekt, das politische Mitsprache gegen die Verdrängung der Geringverdiener garantieren soll. O-Ton Schäfer Es gibt hier eine Menge ganz schön breit gestreutes Wissen. Auf der einen Seite eben starkes aktivistisches Wissen, die Leute sind in der Lage, sich selbst zu organisieren und machen das und in diesem Fall kommt auch (...) noch dazu, dass wir neue Mittel entwickelt hatten, einmal (...) künstlerische Mittel, (...) Planung (...) zu organisieren, aber eben auch Mittel des Community-Organizing, die eher aus der sozialen Arbeit kommen oder aus dem politischen Aktivismus Aber gleichzeitig verbindet alle diese professionellen Hintergründe eigentlich so ein Ansatz von "wir arbeiten alle aus dem Alltag heraus", "wir arbeiten aus einer nachbarschaftlichen Haltung heraus, letztlich auch aus einer selbstorganisierten Haltung heraus". Aber das Ganze ist natürlich sehr relevant für die Frage: Hey, wie organisieren wir tiefere demokratische Prozesse auf einer anderen Ebene, wie können wir die selbst organisieren Demokratie ist ja kein Prozess, der zu Ende ist, sondern der hier zum Beispiel zeigt, wie man mit etwas wahnsinnig Kompliziertem sehr breit mit sehr vielen beschäftigen kann. Also wie kann das Wissen der vielen da einfließen, ist für uns, glaube ich, und generell für die Zukunft eine Riesenfrage, und da ist das hier ein Vorschlag. Musik Absage: Veränderung durch Empowerment Oder: Die Selbstorganisierung der Abgehängten Ein Feature von Raul Zelik Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2017. Es sprach: Anne Müller Ton und Technik: Ernst Hartmann und Hanna Steger Regie: Thomas Wolfertz Redaktion: Karin Beindorff Musik 22 22