"Nachspiel" Deutschlandradio Kultur COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Nach dem Massaker, vor dem Spiel In Ägyptens Fußball ist nichts mehr wie es war Sendetermin: 3. Februar 2013 Redaktion: Jörg Degenhardt und Johannes Ostermann Autorin: Cornelia Wegerhoff Fans "Ooooooohhhhh...." Autorin Tausende Hände gehen in die Höhe. Sie beschwören den Sieg. So wie sonst, wenn unten auf dem Rasen einen Eckball getreten wird oder ein Freistoß vor dem Tor des Gegners. Fans "... Hey", geht über in Gesang Autorin Doch die Ultras Ahlawy, die treuesten Fans des Kairoer Fußballvereins Al Ahly, stehen gar nicht im Stadion. Sie ziehen vom Club in einem Protestmarsch Richtung Innenstadt. "Gerechtigkeit oder Rache", steht drohend auf einem Spruchband. Heute singen die Ultras nicht für Tore. Heute singen sie für ihre Toten. Fan-Gesang weiter Sprecher (Übersetzung eines Teils des Gesangs) Ich trug mein rotes T-Shirt und ging nach Port Said. Doch zurück kam ich im weißen Leichentuch. Jetzt bin ich Märtyrer. Klatschen/Gesang /Rufe Autorin "Märtyrer", so nennen die Ultras respektvoll ihre Freunde aus der Nordkurve, die sie nach den schweren Ausschreitungen beim Auswärtsspiel in Port Said nur im Sarg mit zurück nach Hause bringen konnten. Einer ihnen von war Amr Ahmed. O-Ton 1 Mutter Er war seit 2005 Ahly-Fan. Er ist immer mit gefahren, wenn sie irgendwo gespielt haben. Autorin ... berichtet seine Mutter. Im schwarzen Trauerkleid geht die Ägypterin im Protestzug der Ultras mit. Jeder Schritt fällt ihr sichtlich schwer. Verwandte müssen sie stützen. Aber trotz allem hält die Mutter anklagend ein Foto ihres toten Sohnes in die Höhe. O-Ton 2 Mutter Ich habe ihn auf die Welt gebracht, ihn groß gezogen. Er hat gelernt, er hat gearbeitet. Und dann haben sie ihn umgebracht. Sie haben ihm zuerst den Oberschenkel zertrümmert. Er hat Polizisten um Hilfe gerufen: Ich sterbe vor Schmerzen, bitte helft mir! Aber die Polizei hat nicht geholfen, sondern andere Schläger geschickt. Sie haben ihm auf den Kopf gedroschen. Er starb an Blutungen im Hirn. Hier ist der Totenschein. Gott schicke uns Gerechtigkeit. Autorin Die Mutter bricht in Tränen aus. 3 Mutter weinend Ich hatte nur den einen Sohn. Er war erst 27 Jahre alt. Fangesang Autorin Die Ultras ziehen singend weiter. Auch die "roten Teufel", wie sie sich nennen, tragen heute schwarz, eigens angefertigte Trauer-Trikots. Statt der Rückennummer ihrer Lieblingsspieler haben sie sich die Zahl "74" auf die Shirts drucken lassen. "Vergiss niemals", steht darunter, dann folgen die Namen der 74 Toten. Sie alle wollten sich am 1. Februar 2012 eigentlich nur ein Fußballspiel ansehen... Mitschnitt Live-Berichterstattung vom Spiel Masry-Ahly Sprecher Mit 3:1 siegen die Gastgeber vom El Masry Club Port Said. Der ägyptische Rekordmeister Al Ahly hat damit nach 17 Wochen erstmals eine Niederlage kassiert... Mitschnitt Live-Berichterstattung Autorin Das Spiel wurde live im Fernsehen übertragen. Nach dem Schlusspfiff begann der Reporter wie üblich mit dem sportlichen Resümee der Begegnung. Doch schon im selben Augenblick stürmten Hunderte Al Masry-Anhänger von den Rängen auf das Spielfeld. Etliche Al Ahly- Fußballer und ihre Betreuer wurden angegriffen, in Handgemenge verwickelt. In Panik flüchteten sie in die Umkleidekabinen unter den Rängen. Der Reporter konnte sich den Gewaltausbruch nicht erklären. Sprecher Al Ahly hat doch verloren. Was wollen die Fans von Al Masry noch mehr? - Ich versteh das nicht. - Das hat doch nichts mit Sport zu tun. - Nein! Nein! Atmo Stadion Autorin Vor laufenden Kameras begann im Stadion von Port Said ein Massaker. Mit Eisenstangen und Holzknüppeln prügelten die Angreifer auf die Fans aus Kairo ein. Andere stachen mit Messern und zerbrochenen Glasflaschen Menschen nieder. Auf der Tribüne wurden einige Ahly-Zuschauer, darunter eine schwangere Frau, mit Gewalt über Brüstungen hinweg in die Tiefe gestoßen. Brandsätze flogen. In einer Massenpanik drängten Tausende auf einmal zu den Ausgängen, um dem Blutbad zu entkommen. Doch die Tore waren verriegelt. Die schmalen Korridore wurden zur tödlichen Falle. Menschen wurden zertrampelt, erdrückt. Manche erstickten. Das jüngste Todesopfer: Ein 15-Jähriger. Inzwischen war das Drama auf nahezu allen ägyptischen Kanälen live zu sehen. Die Sender hatten ihre regulären Programme unterbrochen. Selbst die Moderatoren mussten beim Anblick der grausamen Szenen um Fassung ringen. Manche verloren sie... Mitschnitt Sportkanal mit weinendem, hysterisch schreiendem Moderator Sprecher Wie kann das passieren? Leute sterben beim Fußball - warum? Autorin Ahmed Shobeir ist einer der populärsten Fußballkommentatoren in Ägypten. Er war selbst Profifußballer, National-Torwart, eine Legende. 16 Jahre lang stand er bei Ahly zwischen den Pfosten. Sieben Jahre lang war er Kapitän der Mannschaft. An diesem 1. Februar 2012 ist für ihn die Welt zusammengebrochen, sagt Shobeir. Ahmed Shobeir Und das ist sie bis heute, bei Gott. Denn bis heute sehe ich in meinen Träumen diese Jungs, die gestorben sind. Ich habe mit Müttern und Vätern gesprochen. Bis jetzt schockt mich das. Die Ägypter sind sehr sanfte Leute. Ich frage mich immer noch warum. Es ist Fußball! Es ist Ahly gegen Masry. Es geht doch nur darum, seinen Club anzufeuern. Ich konnte nicht verstehen, wie so etwas passieren kann. Also weinte ich, ich schrie, wie alle Ägypter. Aber ich hatte so etwas erwartet... Ich hatte davor gewarnt. Autorin Port Said ist nur der tragische Höhepunkt einer negativen Entwicklung gewesen, glaubt Ahmed Shobeir. Ahmed Shobeir Über die Jahre habe ich Tag für Tag beobachtet, insbesondere nach der Revolution, dass wir uns auf diesen Punkt zubewegen. Die Fans haben sich komplett verändert. Die Polizei ist sehr schwach. Das Gesetz zählt nicht mehr. Es gibt keine Rechtssprechung. Jeder macht einfach, was er will, ohne bestraft zu werden. Und deshalb hatte ich so etwas erwartet. Ich sagte: Seid vorsichtig. Autorin Seit der ägyptischen Revolution 2011 und dem Sturz des Mubarak-Regimes gibt es immer wieder Unruhen am Nil. Die Polizei, der vom Volk verhasste, verlängerte Arm des über 30 Jahre regierenden Diktators, hat sich zum Teil zurückgezogen. Zum Zeitpunkt der Stadion- Katastrophe standen überall in Ägypten Panzer auf den Straßen. Das Land wurde übergangsweise vom Obersten Militärrat regiert. Bereits bei anderen Begegnungen der ägyptischen Fußball-Liga gab es vorher Ausschreitungen. Al Ahly und Al Masry galten ohnehin als Erzrivalen. Zeitungen bezeichneten das Aufeinandertreffen schon im Vorfeld als "Treffen der Vergeltung". Die Kairoer Fußballspieler fuhren mit keinem guten Gefühl in die Hafenstadt am Mittelmeer. Mohammed Abutrika Wir hatten vor dem Spiel mit einander abgesprochen, dass wir uns nach dem Abpfiff in der Platzmitte versammeln und von da aus schnell in die Kabine laufen, damit es nicht zu Streitereien kommt, weder mit den Fans, noch mit der gegnerischen Mannschaft. Zwischen Ahly und Masry gab es immer Spannungen, aber nie in dieser extremen Weise. Autorin Der ägyptische Rekordnationalspieler Mohammed Abutrika ist im Team von Al Ahly der absolute Superstar. Vor allem dank seiner Tore gewann der Club die letzten sieben Meisterschaften, fünf Mal den Pokal und vier Mal die afrikanische Championsleague. Im Stadion von Port Said erlebte er den schwärzesten Tag seiner Fußballkarriere. Mohammed Abu Trika Das war ein schrecklicher Tag. Ich werde ihn nie vergessen. Da sind Menschen in unseren Armen gestorben. Zwei haben den letzten Atemzug in meinem Arm gemacht... In der Umkleidekabine... Autorin Gut drei Stunden lang saßen Spieler und verwundetet Fans in der Kabine fest. Die Teamärzte versuchten die Schwerverletzten zu versorgen. Auch für Mohammed Barakat, den Spielmacher im Erfolgsteam von Al Ahly, ein Albtraum: Mohammed Barakat Sie sind direkt neben uns gestorben. Mehrere Leute. Es war schrecklich, das mit anzusehen. Das war nicht mehr Fußball. Autorin Das war Krieg, erklärte der Mannschaftsarzt. Manuel José, der damalige portugiesische Trainer von Al Ahly, warf der Polizei völliges Versagen vor. Mindestens 3000 Beamten sollen im Stadion gewesen sein. Aber die Fernsehbilder dokumentieren, wie ganze Hundertschaften regungslos am angeordneten Platz verharrten, während um sie herum, getötet wurde. Mit Militärhubschraubern wurde die Mannschaft von Al Ahly schließlich ausgeflogen, zusammen mit Dutzenden Schwerverletzten. Mohammed Barakat: Mohammed Barakat Die Polizei? Vergiss es! Wir haben überhaupt keine Polizei gesehen. Autorin Als die Ultras aus Port Said zurückkehrten, versuchten sie aus Rache das ägyptische Innenministerium zu stürmen. Bei den Straßenschlachten in der Kairoer Innenstadt starben in den Tagen darauf erneut über 20 Menschen. Fans, Klatschen - Gesang Autorin Die Ultras Ahlawy glauben nicht an ein Versagen der Sicherheitskräfte im gegnerischen Stadion. Sie glauben an ein Komplott, an eine gezielte Racheaktion ihrer politischen Gegner. Denn spätestens seit dem ägyptischen Volksaufstand sind die Ultras mehr als nur eine besonders fanatische Gruppe von Fußballanhängern, die in den Stadien durch ihre genau einstudierten Choreographien und bengalisches Feuer auffallen. Auf ihren Internetseiten bezeichnen sich die Ultras Ahlawy als "Speerspitze der Revolution". Sie nehmen an politischen Demonstrationen teil, haben sich den Kampf für Freiheit und Demokratie mit auf ihre Fahnen geschrieben. Sogar ihre alte Rivalität mit den "weißen Rittern", den Ultras des Kairoer Derbykonkurrenten Zamalek, haben die roten Teufel überwunden. Bei Auseinandersetzungen mit der Polizei stehen sie inzwischen Seite an Seite. Offizielle Interviews geben die streng organisierten Fangruppen nicht. Es gehört zur Ideologie der weltweit verbreiteten Ultra-Bewegung, gegenüber den Medien auf Distanz zu bleiben. Doch die weniger radikalen Al Ahly-Fans lassen sich gern mit dem Mikrofon ansprechen. Ihre Aussagen zu den Ereignissen in Port Said sprechen Bände: Junger Mann Die Anhänger des ehemaligen Innenministers Al Adly und die Leute von Mubarak haben das alles geplant. Jugendlicher Das war genau vorbereitet. Es ging überhaupt nicht darum, ob unsere Mannschaft gewonnen oder verloren hatte. Mann Als wir mit den Bussen ankamen, war schon abzusehen, dass irgendetwas passieren würde. Schon als wir ins Stadion gingen, wurden wir geschlagen und die Tore hinter uns verschlossen. Wir saßen in der Falle.) Jugendlicher Das war alles organisiert. Sogar die Stöcke, mit denen auf die Leute eingeprügelt wurden, waren alle einheitlich. Das hatte einen politischen Hintergrund. Jugendlicher 2 Logisch: Am 1. Februar 2011 sind die Ultras auf den Tahrir-Platz gegangen, um das alte Regime zu stürzen. Und am 1. Februar 2012 sterben 74 von uns. Genau am gleichen Tag. Autorin Auch Raafat Amin glaubt nicht an Zufall. Der Aktivist der Demokratie-Bewegung 6. April beteiligte sich am Volksaufstand 2011 auf dem Kairoer Tahrir-Platz. Hautnah erlebte er dabei mit, wie die jungen Männern von den Ultras in vorderster Reihe standen, als es galt die Demonstranten gegen die Sicherheitskräfte und die Schlägertrupps Mubaraks zu verteidigen. Raafat Amin Die haben eine der wichtigsten Rollen bei der Revolution gespielt, vor allem an der sogenannten Kamel-Schlacht. Ultras sind diejenigen, die den Platz richtig gegen Pro- Mubarak beschützt haben. Und die sind ein Grund, warum die Polizei zurückgegangen ist und auf dem Platz verloren hat. Und deshalb die Polizei findet Rache. Autorin Denn zu auffällig hielten sich die Einsatzkräfte in Port Said zurück, so der studierte Germanist. Nur durch zu nachlässige Sicherheitskontrollen hatten die zahlreichen Waffen ins Stadion gelangen können. (Allein durch Fanrivalitäten lässt sich das Ausmaß der Gewalteskalation nicht erklären, sagt Rafaat Amin. Rafaat Amin Also dass zwei Ultragruppen gegeneinander streiten, also die Ideologie, wenn ich was gegen den anderen habe, ich gehe zu ihm, vielleicht eine Ohrfeige, aber die Hauptsache, ich nehme seine T-Shirt, das ist das größte. Aber dass Leute einfach von oben runter geworfen werden und das welche mit Messer erstochen werden, das ist nicht normal. Und 74 auf einmal. Das war ein Plan. Autorin Rafaat Amin ist selbst Fußball-Fan. Seit Jahren ist er Mitglied im Al Ahly-Club. Er kennt viele Ultras, ihre "Capos", die Anführer, auch wenn er selbst kein Mitglied der Bewegung ist. Sie hat sich ab 2006 mehr und mehr am Nil etabliert. Nach dem damaligen Sieg der ägyptischen Nationalmannschaft beim Afrika-Cup war das ohnehin ballverrückte Land im Fußballrausch. Die Zahl der hauptsächlich jugendlichen Fans in den verschiedenen Vereinen nahm quasi über Nacht sehr stark zu. Rafaat Amin Das Problem: Sie waren teilweise aggressiv einander gegenüber. Die haben diese Feuerraketen und so weiter. Das störte die Polizei. Und die Polizei damals, das war keine Polizei, sie sind Verbrecher eigentlich. Die haben die mit Feuer und Schwert behandelt. Und die sind auch zu ihren Häusern hingegangen und haben die verhaftet, vor den Spielen. Da ist Hass entstanden. Und sowieso die Polizei war in den letzten Jahren sehr gehasst, weil sie nur eine Waffe in der Hand des politischen Regimes und von Mubarak Leute. Autorin Aber - so muss selbst der Fan Rafaat Amin zugeben: Auch der Fußball war eine Art Waffe in der Hand des politischen Regimes. Rafaat Amin Das war Betäubungsmittel. Das Volk ist die ganze Zeit beschäftigt mit Fußball: Ägypten gegen Algerien, Ägypten gegen Libyen, Ahly gegen Zamalek, Zamalek gegen Ismaily. Jetzt sind alle Ägypter Politikexperten. Die waren alle vorher Trainer und Coach, die waren alle Fußballexperten. Also das war Betäubungsmittel, damit Mubarak und seine Leute und seine Partei in alle Ruhe leben. Deshalb hat er selber immer empfangen. Autorin Amin meint die ägyptischen Fußballstars, die nach ihren großen Siegen stets von Staatspräsident Mubarak und dessen Söhnen persönlich beglückwünscht wurden. Und er meint die Funktionäre. Rafaat Amin Die waren nicht in der NDP, nicht in der Nationaldemokratischen Partei, aber die hatten enge Beziehungen.. - Ich verallgemeinere nicht. Es sind nicht alle.- Aber die haben untereinander viele Geschäfte gemacht. Durch sie haben sie viel Geld gekriegt. Ich möchte gerne ein wunderschönes Stück am Meer in Hurghada, Sharm el Scheich oder so was haben. Die Genehmigung ist nur ein Foto mit dem Sohn von Mubarak. Das ist Korruption und die sind ein Teil davon. Autorin Der ägyptische Fußball war also schon lange vor der Revolution politisch. Nur mit umgekehrten Vorzeichen, indirekt als Machtinstrument des Mubarak-Regimes. Fußball-Platz Training Autorin Schnelles Dribbling, Zuspiel... Nachmittagstraining der ersten Mannschaft von Al Ahly im clubeigenen Fußball-Stadion. einer zählt auf Arabisch Autorin Die Spieler treten in kleinen Gruppen gegeneinander an. Die Jungs im gelben Leibchen sollen den anderen das Leder abluchsen. Die Trainerassistenten zählen die Ballkontakte. weiter mit Rufen Autorin Vom Spielfeldrand aus beobachtet heute auch Tomek Kaczmarek die Ahly-Kicker. Der 28- jährige Kölner kennt sie alle persönlich. Er ist Co-Trainer der ägyptischen Nationalmannschaft. Tomek Kaczmarek Die Spieler haben eine sehr gute Einstellung und extremen Stolz für ihr Land zu spielen. Also jedes Mal, wenn die zu uns zur Mannschaft kommen, können wir direkt anfangen, mit denen zu arbeiten. Macht Spaß mit den Jungs, sind gute Jungs. Und trotzdem haben wir eine verdammt schwierige Situation. Nur unsere Aussage ist auch immer: Egal, was hier in dem ganzen Land passiert, Drumherum , wir lassen uns von nix ablenken. Autorin Als sich das Stadionunglück in Port Said ereignete, hatte Tomek Kaczmarek gerade erst zwei Wochen vorher seinen neuen Job angetreten. Für den Trainerstab der Nationalmannschaft rund um den amerikanischen Chefcoach Bob Bradley hieß es plötzlich trösten statt trainieren. Die Spielerikone Mohammed Abutrika sowie auch Mohammed Barakat und andere Spitzenspieler aus dem Team von Al Ahly erklärten zunächst sogar ihren Rücktritt vom Profisport. Tomek Kaczamarek Wir wussten natürlich einzuschätzen, dass das zuerst auch eine extrem emotionale Reaktion ist, und dass das auch Zeit brauchen wird. - Dem Abutrika ist wohl halt ein Kind in den Armen gestorben oder ein Jugendlicher und die letzten Worte, die er gesagt hatte, waren halt: Käptn, ich wollte dich schon immer mal treffen. Und dann macht der Junge wohl die Augen zu und stirbt. Und da sind halt Momente und Emotionen, die, glaube ich, einen nicht so schnell los lassen. Platz Training Autorin Inzwischen spurten Abutrika und die anderen wieder über den grünen Rasen. Al Ahly gewann im Krisenjahr 2012 sogar noch die afrikanische Champions-League und kam im Dezember bei der FIFA-Club-Weltmeisterschaft in Japan auf den vierten Platz. Erfolge, die die Fußballer jedoch den Port Said-Opfern widmeten. Und auch sonst blieb im ägyptischen Fußball nichts mehr wie es war: Die restliche Saison wurde abgesagt, der Spielbetrieb der Liga ausgesetzt. Nicht für Wochen, nicht für Monate, sondern für ein ganzes Jahr. Tomek Kaczmarek In manchen Ländern wird dann halt gesagt: So, das ist passiert und das ist tragisch. Aber jetzt muss es weitergehen. Wir sind die ersten, die Zeichen setzen können. Und hier ist halt von den Spielern auch erwartet worden extrem lange zu trauern. Und das sind dann die ersten kulturellen Unterschiede, auf die man stößt. Autorin Die Ultras Ahlawy forderten die Trauer unter Androhung von Gewalt ein. Vom ägyptischen Fußballverband verlangten sie, dass so lange kein nationaler Fußball mehr stattfindet, bis sämtliche Mörder der 74 getöteten Fans von Port Said ihr gerechtes Urteil gefunden haben. Als Al Ahly im September 2012 trotz aller Warnungen zum ägyptischen Supercup-Finale gegen den ENPI-Club antrat, - in einem hermetisch abgeriegelten Militärstadion, ohne Publikum - schreckten die Ultras nicht davor zurück, sogar die Busse ihre bisherigen Fußballidole mit Steinen zu bewerfen. Ein Risiko, dass der Präsident des ägyptischen Fußballverbandes nicht noch mal eingehen möchte. Gamal Allam Die Verzögerung des neuen Ligastarts ergaben sich ausschließlich aus Sicherheitsgründen. Ja, im Prinzip sind die Ultras Ahlawy der Grund, warum die Spiele verschoben wurden. Aber, so Gott will, wird sich die allgemeine Sicherheit wieder erhöhen. Am Anfang spielen wir ohne Zuschauer. Danach wollen wir stufenweise Publikum zulassen, bis wir wieder zum normalen Spielbetrieb zurückkehren. Trainingsspiel Pfiff Autorin Normalität, das wünscht sich auch Tomek Kaczmarek für seine Arbeit als Co-Trainer der ägyptischen Nationalelf. Aufgrund der angespannten Sicherheitslage in Ägypten trauen sich andere Nationalmannschaften nicht mal mehr zu Freundschaftsspielen nach Ägypten, klagt er. Tomek Kaczmarek Im letzten Jahr, bis auf die beiden Pflichtspiele, die ohne Zuschauer in Alexandria stattgefunden haben, haben wir alle Spiele komplett im Ausland ausgetragen. Das Gefühl vor einem ausverkauften ägyptischen Haus zu spielen, habe ich noch nie erlebt. Training, Spieler begrüßen Co-Trainer im Stadion, "Tomek!" Autorin Kurze Trainingspause bei Al Ahly. Die Betreuer bringen den Spielern Getränke. Die Nationalspieler im Teams laufen aber erst mal zum Spielfeldrand, um ihren jungen Kölner Fitnesstrainer zu begrüßen. Die Atmosphäre ist herzlich. Es werden Späße gemacht. Doch in Wahrheit sind viele Spieler deprimiert, weiß Kaczmarek: Tomek Kaczmarek Weil die Spieler keinen regelmäßigen Ablauf haben. Es gibt nicht genug Wettkämpfe. Wie will man als Trainer seine Spieler ständig motivieren und bei Laune halten, wenn keine Ziele vor Augen sind, wenn der Ligastart schon sechsmal verschoben wurde. Dann hören die Spieler hören auch nicht mehr zu. - Das andere extrem große Problem, was damit verbunden ist, worüber man noch am wenigsten spricht, ist einfach das finanzielle Problem. Weil einfach die wenigsten Vereine seit einem Jahr keine Gehälter mehr auszahlen. Weil die Mentalität hier zum Teil auch nicht so ist, dass alle Spieler schön Geld zur Seite gelegt haben und viele Fußballer einfach im Moment auch existenzielle Probleme haben. Autorin Mangelnde Spielpraxis, private Probleme - prompt verließ die ägyptische Nationalmannschaft da auch sportlich das Glück. Bei der Qualifikation für den Afrika-Cup 2013 scheiterte man in der Play-Off-Runde. Nachdem die Ägypter zuvor gleich dreimal hintereinander beim Afrika-Cup triumphiert hatten, durften sie dieses Mal erst gar nicht antreten. Geläutert setzen alle im Team der ägyptischen Nationalmannschaft nun ihre ganze Hoffnung auf die Qualifikation für die WM in Brasilien. Tomek Kaczmarek Inshaallah. Es ist das einzige Ziel und auch das, was uns jeden Tag am Leben hält in diesem ganzen Schlamassel hier, was uns hier hält. Weil wir wirklich fest dran glauben, dass wir 2014 in Brasil sind. Und das andere, warum wir immer noch hier sind, ist, dass wir im Trainerstab das Gefühl haben, dass für das ägyptische Volk eine Teilnahme an der Weltmeisterschaft eine Sache wäre, die dem ganzen Land sehr, sehr viel Hoffnung geben würde, auch sehr viel Freude. Wo man auch alles vergessen könnte, was hier in den letzten Jahren passiert ist. Autorin Ein schöner Wunsch... Doch noch ist die Wirklichkeit weit davon entfernt. Ahmed Shobeir Die haben den ägyptischen Sport getötet! Ich bin traurig. Ich will Fußball sehen, die Liga. Das ist das Leben. Die Ägypter sind verrückt nach Fußball. Aber die haben den Fußball getötet! Autorin Das tiefe Entsetzen des Fußballkommentators Ahmed Shobeir nach dem Blutbad in Port Said hat sich inzwischen mit reichlich Wut vermischt. Wut vor allem auf die Ultras, die einfach keine Ruhe geben wollen. Ahmed Shobeir Englisch Sicher. Denn die machen Politik und nicht Fußball oder Sport. Ich akzeptiere sie als Menschen, wenn sie ihren Club unterstützen, wenn sie rufen, das ist ok. Aber mehr nicht. Vorher gab es nie Ärger im ägyptischen Fußball. Aber Politik und Sport - nein! Wir müssen das trennen. Wenn ihr was Politisches wollt, dann geht zum Tahrir-Platz. Das ist euer Platz, geht auf die Straße. Aber wenn es um Sport geht, wenn ihr in erster Linie ein Zuschauer sein willst, dann könnt ihr auf den Fußballplatz. Autorin Doch auch Ahmed Shobeir hat einst selbst Politik und Sport vermischt. Nach Beendigung seiner aktiven Karriere als Torwart für Al Ahly und die Nationalmannschaft saß er als Abgeordneter im ägyptischen Parlament. Für die NDP, die Partei Mubaraks. Shobeir war als genau einer jener Fußballstars, die der ägyptische Präsident zu seinen Unterstützern gemacht hatte. Für Shobeir lange her... Sein Rückblick fällt knapp aus. Ahmed Shobeir Wir hatten eine Menge Probleme unter Mubarak, vor allem in der letzten Zeit. Wir müssen das sagen. Autorin Viele andere ägyptische Fußballstars distanzieren sich hingegen nicht. Mohammed Emara Ich sage: Ich liebe Mubarak. Autorin Auch Mohammed Emara war Profifußballer, spielte unter anderem bei Al Ahly in Kairo und in Deutschland. Mohamed Emara Ja, ich hab mit Hansa Rostock gespielt vier Jahre: 98 bis 2002. Autorin Dass die Nationalspieler nach besonderen Siegen dem Präsidenten die Hand schütteln, gehört doch dazu, sagt Mohammed Emara. Mohammed Emara Ich hab 98 nach dem Gewinnen von Afrika Cup, wir gehen zu Mubarak und sagen Hallo und Glückwunsch. Und ich kenne auch die Söhne von Mubarak. Ist auch gute Mensch. Weil da hat gute Herz. Ich weiß nicht, warum die Leute sagen ganz andere. Das ist nicht gut. Beste Zeit vom Fußballspielen mit Mubarak. Ahmed Shobeir Damit bin ich nicht einverstanden. Wir müssen sagen, dass die Vergangenheit nicht gut war. Autorin ...stellt unterdessen Mohammed Shobeir klar. Ahmed Shobeir Aber jetzt ist es leider auch nicht gut. Es gibt keinen Unterschied. Vorher hatte die NDP das Sagen, jetzt sind es die Muslimbrüder. Autorin Auch die Muslimbrüder benutzen den Fußball für politische Zwecke, sagt Shobeir. Sie haben sich im Wahlkampf Unterstützung von den Ultras geholt. Und sogar vom berühmtesten Fußballer Ägyptens persönlich, von Mohammed Abutrika. Ahmed Shobeir Na klar. Der ist populär. Eine Menge Leute lieben ihn. Er ist die Nummer eins in Ägypten, die Nummer eins im Ahly Club. Er ist in der ganzen arabischen Welt sehr berühmt. Und wir haben viele einfache Leute, die ihm vertrauen, die ihm glauben. Also benutzen die Abutrika natürlich. Autorin Der Kölner Tomek Kaczmarek kann nur den Kopf schütteln, wenn er den politischen Debatten am Rande des Fußballplatzes verfolgt. In den Trainingscamps der ägyptischen Nationalmannschaft fanden diese Debatten sogar auf dem Rasen statt, erzählt er. Tomek Kaczmarek Ja, ja, das war auch bei uns in der Nationalmannschaft immer ein Thema, wer wen wählt und da haben sich die Jungs gestritten und zum Teil auch gegenseitig aufgezogen. Ich meine, Abutrika war ja eines der größten Gesichter in der Wahlkampagne von den Muslimbrüdern. Und das ist hier einfach eine komplett andere Kultur als in Deutschland. Ich glaub, in Deutschland würde mir noch nicht mal meine Schwiegermutter verraten, wenn sie wählt. Und hier geht man damit hausieren. Autorin Mohammed Abutrika selbst sieht es unterdessen als seine Pflicht an, sich auch politisch zu äußern. Der 34-Jährige gilt als fromm. Er ist zurückhaltend, bescheiden, trotz seiner genialen Spielerqualitäten. Mit seiner Parteinahme für Präsident Mursi verärgerte er die alten Mubarak-Anhänger, die im ägyptischen Fußball sonst noch überall in der Mehrheit zu sein scheinen. Manche Ultras verehren Abutrika deshalb jetzt besonders. Mohammed Abutrika In einem Land, in dem die Demokratie noch sehr jung ist, so wie in Ägypten, muss man seine Meinung sagen. In einer Demokratie muss man auch die Meinung der anderen akzeptieren, aber leider passiert das nicht. Dass es Ärger gibt, nur weil man seine Meinung sagt, finde ich nicht richtig. Es geht um Ägypten und nicht um einzelne Personen. Das Land steht für mich an erster Stelle. Autorin Doch dieses Land kommt nicht aus Krise. Fan- Gesänge Ultras, Jubel Autorin 26. Januar 2013. Die Ultras Ahlawy singen wieder. Dieses Mal vor Freude. Ein Kairoer Gericht hat die ersten 21 Angeklagten, die für die Stadionkatastrophe von Port Said mit verantwortlich sein sollen, zu Tode verurteilt. Es ist ein erster Sieg der Gerechtigkeit, jubeln die Fußballfans in Kairo. In Port Said brechen zeitgleich schwere Unruhen aus. Schießereien Die Ultras von Al Masry versuchen aus Protest gegen die Todesurteile Gefängnis und Polizeistationen zu stürmen. Sie liefern sich blutige Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften. An ihrer Seite kämpfen aufgebrachte Angehörige der Verurteilten. Jetzt sehen sie sich als Opfer eines politischen Komplotts. Sie glauben, ihre Söhne wurden vielleicht nur deshalb mit drakonischen Strafen abgeurteilt, um im angespannten Kairo den "Straßenkrieg", mit dem die Ultras gedroht, abzuwenden. Schießereien weiter Autorin Die Lage eskaliert. Es gibt Schießereien. Dutzende Menschen sterben. Panzer rücken ein. In Port Said wird der Ausnahmezustand ausgerufen. Die Stadt erlebt ihr zweites Blutbad. Und schon lange geht es nicht mehr nur um Fußball.