COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR Kostenträger : P 62 300 Titel der Sendung : Das bittere Leben. Zum 100. Geburtstag der italienischen Schriftstellerin Elsa Morante AutorIn : Maike Albath Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 12.8.2012 Regie : NN Besetzung : Autorin (spricht selbst), Sprecherin (für Patrizia Cavalli und an einer Stelle für Natalia Ginzburg), eine Zitatorin (Zitate und Ginevra Bompiani) und einen Sprecher. Autorin bringt O-Töne und Musiken mit Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Das bittere Leben. Zum hundertsten Geburtstag der italienischen Schriftstellerin Elsa Morante Von Maike Albath Deutschlandradio Kultur/Literatur: 12.8.2012 Redaktion: Barbara Wahlster Regie: Musik, Nino Rota, Fellini Rota, ?I Vitelloni?, Track 2, ab 1?24 Regie: O-Ton Collage (auf Musik) O-1, O-Ton Patrizia Cavalli (voice over)/ Sprecherin Sie war schön, wunderschön und sehr elegant. Unglaublich elegant und eitel. Sie besaß eine großartige Garderobe. O-2, O-Ton Ginevra Bompiani (voice over)/ Zitatorin Sie war eine ungewöhnliche Person. Anders als alle anderen. O- 3, Raffaele La Capria (voice over)/ Sprecher An Elsa Morante habe ich herrliche Erinnerungen. Ich habe sie 1947 auf Capri kennen gelernt. Sie liebte die Gesellschaft junger Leute, und ich war damals sehr jung, also gefiel ich ihr. O-4, O-Ton Patrizia Cavalli (voice over)/ Sprecherin Mit Elsa war man nie entspannt. Gelassenheit gab es nicht, man war immer auf der Hut, jeden Moment konnte der totale Absturz passieren. Regie: Musik kurz hoch, bei 1?52, unter Autorin langsam blenden, übergehend in Atmo Autorin (auf Atmo): Testaccio, San Lorenzo, das Ghetto, Via dell?Oca, Piazza del Popolo, Campo de? Fiori. Wir sind in Rom, wo Elsa Morante am 18. August 1912 geboren wurde und ihr Leben lang zu Hause war. Ein paar ihrer früheren Freunde sind immer noch hier. Zum Beispiel am Campo de? Fiori? Mit lauter Tüten beladen, Zeitungen unter dem Arm, biegt Patrizia Cavalli um die Ecke und führt uns zu ihrem Haus. Eine Dichterin, Jahrgang 1947. Ohne Elsa Morante wäre sie vielleicht nie Lyrikerin geworden. O-5, O-Ton Patrizia Cavalli (voice over)/ Sprecherin Ich bewunderte Elsa Morante sehr und hatte schon im Gymnasium alle ihre Romane gelesen. Als ich nach Rom umzog, um hier Philosophie zu studieren, sprach ich natürlich über ihre Bücher. Ich hätte nie im Leben versucht, sie kennen zu lernen, weil ich finde, man soll anderen nicht auf die Nerven gehen, nur weil sie einem gefallen. Aber ich hatte Freunde, Amerikaner, Fulbright-Stipendiaten, Musiker und Kunsthistoriker, die sie kannten. Und sie wussten auch, wie sehr ich sie bewunderte. Eines Tages ruft mich einer von ihnen an und sagt: ?Patrizia, komm schnell, wir haben Elsa zu Besuch!? Ich habe mich wie immer verspätet und als ich endlich eintraf, verließ sie gerade das Haus. Ich weiß noch, dass sie sehr braun gebrannt war, einen Blumenstrauß im Arm hielt und einen sehr schönen jungen Mann an ihrer Seite hatte. Alan Midgett, wie ich später erfuhr. Ich sagte: ?Wie dumm, ich habe mich verfahren.? Sie antwortete: ?Ja, ich lande auch dauernd auf der Stadtautobahn.? Was nicht stimmte, denn sie fuhr gar nicht Auto. Dann meinte sie, ich solle sie anrufen. Das tat ich, und so haben wir uns kennen gelernt. Regie: Musik, Nino Rota, Rota Fellini, ?La dolce vita?, Track 6, ab 4?24 Autorin (auf Musik): Unterdessen sind wir ein paar Treppen hinauf geklettert und in einem labyrinthischen Gewirr aus lauter Zimmern gelandet. Es geht an großen Tischen mit bunten Decken vorbei, bis wir im hintersten Raum ankommen und auf Sofas voller Kissen Platz nehmen. An den Wänden hängen Bilder, vor den Fenstern liegt eine Dachterrasse. Patrizia Cavalli wohnt hier, seitdem sie mit 19 Jahren nach Rom kam, zuerst mit Freunden, später allein. In Italien hat die Lyrikerin Kultstatus. Ihre Gedichtsammlungen verkaufen sich fünftausend Mal auf einem Buchmarkt, der nicht einmal halb so groß ist wie der deutschsprachige. Damenhafte Attitüden sind ihr völlig fremd, sie hat sich die unkomplizierte, zupackende Art der 68er bewahrt. Auch deshalb mochte Elsa Morante die damalige Philosophiestudentin. O-6, O-Ton Patrizia Cavalli (voice over)/ Sprecherin Am Anfang war sie ein bisschen misstrauisch, denn sie hatte immer große Angst, enttäuscht zu werden. Sie stellte einen auf die Probe. Mich fragte sie: ?Du hast also etwas für Kunst übrig?? Ich sagte ja, und sie vertrat absichtlich die gegenteilige Meinung, einfach nur aus Lust am Widerspruch. Das war ihre Spezialität, sie wollte jedes Bild, das man sich von ihr gemacht hatte, sofort wieder zerstören, jede Einschätzung relativieren. Kaum dachte man, man habe ihre Haltung begriffen, war sie schon längst wieder darüber hinaus, und man kannte sich gar nicht mehr aus. Du musst bedenken, dass es die Phase nach 1968 war, sie hatte gerade ihr Buch Il mondo salvato dai ragazzini veröffentlicht, und ich nahm an, es enthielte auch ihre Positionen, aber nichts da, sie war mittlerweile auf einer ganz anderen Linie. Sie hat einen immer überrascht. Aber ich gefiel ihr. Ich hatte damals viel Zeit, und sie mochte Menschen, die ungebunden waren. Bald holte ich sie fast täglich zum Mittagessen ab. Durch sie habe ich dann lauter großartige Leute kennen gelernt, die heute immer noch meine engsten Freunde sind. So begann meine Beziehung mit Elsa, die sehr intensiv war, sehr schön, aber mitunter auch schwierig. Autorin: Patrizia Cavalli zerrt zwei große Koffer unter einem Schrank hervor, in denen sämtliche Fotografien Morantes verstaut sind. Vergilbte schwarzweiß-Bilder mit gezackten Rändern aus den dreißiger und vierziger Jahren, großflächige Aufnahmen aus den Fünfzigern und Sechzigern, als sie berühmt war, einige kleine Alben mit Plastikhülsen, die fast zerfallen, sobald man sie durchblättert. Es gibt auch Porträts aus ihrer Jugendzeit. O-7, O-Ton Patrizia Cavalli (voice over)/ Sprecherin Sieh nur, schon als Mädchen besaß ihr Gesicht eine ganz besondere Ausstrahlung. Es hatte etwas von einer Katze. Ihr Blick war sehr durchdringend, was damit zusammenhing, dass sie kurzsichtig war und aus Eitelkeit nie eine Brille trug. Sie schien hinter das zu gucken, was sie unmittelbar ansah. Ein großer, sinnlicher Mund. Außerdem hatte sie einen schönen Körper. Aber das, was einen sofort faszinierte an Elsa, war ihr Ernst. Ein tiefer Ernst, so wie ihn Kinder besitzen. Was nicht heißt, dass sie nicht fröhlich sein konnte, im Gegenteil. Sie war eher ein tragischer Mensch, aber sie platzte oft vor Fröhlichkeit. Man könnte sagen, dass ihr Frohsinn das Zeichen ihres Lebens war, so sehr es auch von einer dramatischen und tragischen Dimension durchdrungen war. Sie war allerdings auf ernste Weise fröhlich, es herrschte immer ein unglaubliche Intensität. Das hat mich am meisten angezogen. Sie hat nie zugelassen, dass sich die Dinge in Bedeutungslosigkeit auflösten. Und all das spiegelte sich in ihrem Gesicht. Regie: Musik, Nino Rota, Rota Fellini, ?Roma?, Track 12, ab 0?40 Autorin (auf Musik): Elsa Morante wuchs in Testaccio auf, dem ersten von Architekten geplanten Arbeiterviertel Roms, gleich beim Schlachthof gelegen. Ihre jüdische Mutter war Grundschullehrerin, der Vater Augusto Morante arbeitete als Erzieher in einer Jugendstrafanstalt. Es gab einen verstorbenen älteren Bruder und drei jüngere Geschwister. Die Mutter hatte viel für Literatur übrig, neigte aber zu Nervenzusammenbrüchen und schloss sich manchmal stundenlang im Schlafzimmer ein. Ihren Mann Augusto behandelte sie wie einen Aussätzigen: Er nahm seine Mahlzeiten allein ein, schlief in einem Kellerzimmer, durfte am Familienleben nicht teilhaben. Schon als Kind musste Elsa die Beziehung der Eltern merkwürdig vorgekommen sein, ebenso wie die regelmäßigen Besuche eines so genannten ?Onkels? Francesco Lo Monaco. Er war der leibliche Vater Elsas und aller Geschwister. In den vier großen Romanen Morantes bilden archaische Familienverhältnisse, uneheliche Kinder und undurchsichtige Beziehungen zwischen den Angehörigen den Kern. Zitatorin: Den ersten Gefallen, um den ich meine Biographen bitte (und den ich mir in diesem Falle selbst tue), ist der, mein Geburtsdatum nicht zu nennen. Nicht, weil ich ein bestimmtes Alter einem anderen vorzöge, sondern weil ich gern alterslos wäre. Und dieses Mal gönne ich mir diese Freude. Autorin: Sich der Zeit zu entziehen, war eine ihrer Obsessionen. Auch deshalb umgab sie sich gern mit jungen Menschen. Schon im Grundschulalter begann Elsa, Geschichten und Gedichte für Kinder zu schreiben, die sogar veröffentlicht und entlohnt wurden. O-8, O-Ton Patrizia Cavalli (voice over)/ Sprecherin Als Zehnjährige war sie längst im Geschäft. Ich weiß nicht, ob Du ihre Schulhefte kennst. Sie stammen aus der Zeit, als Elsa in der zweiten Klasse war, sieben Jahre alt, und sie schrieb diese Hefte voll. Vorne drauf stand: Dieses ist der erste Roman von Elsa Morante, es gab verschiedene Kapitel mit Überschriften, auf dem Umschlag stand der Preis, auch von verlegerischer Seite hatte sie an alles gedacht. Autorin: Schreiben wurde zu einer Möglichkeit, die Rollen zu wechseln, und mit fünfzehn verlagerte sich Elsa auf Erzählungen für Erwachsene. Drei Jahre später, 1930, zog sie Zuhause aus. In Rom eine ungewöhnliche Entscheidung für eine junge Frau. Regie: Musik, Nino Rota, Rota Fellini, ?La strada?, Track 3, ab 3?54 Autorin (auf Musik) Im November 1936 saß sie eines Abends in der Bierkneipe Dreher einem etabliert wirkenden Herrn in Flanellhosen und Tweedjacket gegenüber. Alberto Pincherle. Er hatte unter dem Namen Alberto Moravia Furore gemacht. Sein Roman Die Gleichgültigen, 1929 erschienen und nach fünf Auflagen von der Zensur verboten, war scharf mit dem Bürgertum ins Gericht gegangen. Elsa belieferte mittlerweile die Comiczeitschrift Corriere dei piccoli mit Geschichten. Eine weitere Einkommensquelle waren Doktorarbeiten, die sie unter der Hand für verzweifelte Examenskandidaten schrieb. Freimütig berichtete sie dem berühmten Kollegen, der für große Tageszeitungen bis nach Indien gereist war, von privaten Verwicklungen mit einem englischen Geliebten. O-9, O-Ton Patrizia Cavalli/ Sprecherin Um sich interessant zu machen, erzählte Elsa Moravia einen Haufen Lügen. Sie machte aus ihrem Leben einen Roman, eine Abenteuergeschichte voller schrecklicher Ereignisse. Zum Beispiel behauptete sie, dass sich vor ihren Augen ein Mord aus Eifersucht abgespielt hatte. Alles frei erfunden, aber Moravia fiel darauf herein. Er war sehr treuherzig, extrem treuherzig, ohne jeden bösen Gedanken. Und sie erzählte immer einen Haufen abenteuerlicher Geschichten aus ihrer Jugend, zum Teil sehr düstere, sie behauptete auch, sich eine Zeit lang prostituiert zu haben. Vielleicht für zweieinhalb Minuten. Es gefiel ihr einfach, von den extremen Bedingungen ihrer frühen Jahre zu erzählen. Autorin: Ein bitteres Leben, von dem Moravia sie erlösen sollte. Die beiden begannen eine Liebschaft. Natürlich kam es zu Turbulenzen. In ihr Tagebuch schrieb Elsa am 5. April 1938: Zitatorin: Ist mit A. wirklich alles zu Ende? Er ist abgereist, ich weiß nicht genau, wohin, vielleicht ist es ein Scherz, ein Alptraum. Ich bin krank, während seiner Krankheit hatte ich grauenvolle Träume, dass er verreisen musste, ich ihm aber nicht folgen konnte, dass er krank war. Tatsächlich ist er wieder gesund, ist gekommen und hat gesagt: ?Seit einem Jahr sind wir Geliebte und haben nur aneinander gelitten. Es ist besser, wir beenden es jetzt. Denk nicht mehr an mich. Ich verreise, und du darfst nicht mitkommen.? Ich habe ihm gesagt: ?Dann geh sofort.? Und er hat seinen Mantel genommen und ist wirklich aus dem Zimmer gegangen. Ich dachte, es sei kein Ernst, so wie die anderen Male. Doch hätte ich ihn nicht zurückgerufen, wäre er fort gegangen. Er ist noch mehrmals gekommen, dann ist er abgereist. Drei Tage lang habe ich nicht aufgehört zu zittern. Es kann nicht wahr sein. Ich warte auf ihn. Komm? bald zurück, Alberto. Maria, Du Wundertätige, lass ihn bald zu mir zurückkehren. Regie: Musik, Nino Rota, Rota Fellini, ?Amarcord?, Track 13, ab 0?17 Autorin (auf Musik): Elsa betete noch öfter zur Jungfrau Maria, und drei Jahre später, am 14. April 1941, stand das Paar vor Elsa Morantes Beichtvater in der Chiesa del Gesù und ließ sich trauen. Elsa war 28 Jahre alt, Moravia 33. Der Zweite Weltkrieg war im vollen Gange. Noch am Hochzeitstag stritt Elsa mit ihrer frisch gekürten Schwiegermutter und mied in Zukunft den Kontakt. Angewiesen auf Unterstützung waren sie und Moravia dennoch. Sie bezogen eine kleine Mansarden-Wohnung der Familie in der Via Sgambati mit einem schönen Blick über den Park der Villa Borghese, flüchteten sich oft nach Capri, wo das Leben kaum etwas kostete und sie manchmal über Monate ausharrten. Moravia war ein systematischer Arbeiter, stand morgens früh auf, produzierte unbeirrbar Textmassen, Artikel, Kolumnen, Romane, Drehbücher. Elsa Morante schrieb schubweise, manchmal über Monate gar nicht, dann Tag und Nacht. Sie begann gerade mit der Arbeit an ihrem ersten Roman, der in Süditalien spielen und Lüge und Zauberei heißen sollte. Regie: Atmo, O-Ton Mussolini, A-2 Autorin (auf Atmo): Im Juli 1943 brach nach zwanzig Jahren der Faschismus zusammen. Elsa Morante und Alberto Moravia waren in Rom. Es kam zu Luftangriffen der Alliierten. Als am 8. September der Waffenstillstand bekannt gegeben wurde, was einer Kapitulation gleich kam, spitzte sich die Lage zu. Die Deutschen besetzten die Hauptstadt. Durch einen ungarischen Journalisten erfuhr Moravia, dass ein Verhaftungsbefehl gegen ihn vorlag. Das Ehepaar wollte sich Richtung Neapel durchschlagen, das bereits von den Engländern befreit war. Länger als zehn Tage würde der Ausflug wohl nicht dauern, nahmen sie an, deshalb stopften sie nur ein paar Sommerkleider in ihre Koffer und steckten ihre Ersparnisse ein. Auf halber Strecke zwischen Rom und Neapel machte der Zug plötzlich Halt. Bombardierungen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Koffer auf einen Esel zu laden und sich auf den Weg ins Gebirge zu machen, wo sie bei einem Bauern eine Unterkunft mieten konnten. Das Dorf hieß Sant?Agata. O-10, O-Ton Patrizia Cavalli (voice over)/ Sprecherin Besonders glücklich waren die beiden damals nicht. Sie lebten in einer ganz primitiven Hütte, wo normalerweise Schäfer unterkrochen, ich habe mir das Häuschen angeschaut und fotografiert, es ist unverändert. Es gibt lustige Geschichten aus der Zeit. Sie hatten zum Beispiel kein Toilettenpapier und mussten entscheiden, ob sie für diesen Zweck lieber die Bibel oder Dostojewski benutzen sollten? Das waren grundsätzliche Entscheidungen! Autorin: Dass Elsa Morante bei ihrem Mann ausharrte, obwohl sie nicht gesucht wurde, rechnete ihr Moravia hoch an. Überhaupt sei dies die beste Zeit ihrer Ehe gewesen, meinte der Schriftsteller später. In den sechziger Jahren wurden die jungen Freunde wichtiger. O-11, O-Ton Patrizia Cavalli (voice over)/ Sprecherin Um Punkt zwölf musste ich bei ihr in der Via dell?Oca sein. Über Unpünktlichkeit hat sie sich wahnsinnig geärgert. Mit meinem Fiat 500 fuhren wir quer durch die Stadt - damals ging das, es gab praktisch keinen Verkehr -, und suchten uns eine Trattoria. Um halb eins wurde gegessen, manchmal kamen auch andere Freunde mit, oder wir verabredeten uns zum Kaffee. Durch Elsa habe ich sämtliche Restaurants und Cafés von Rom entdeckt. Hier in der Nähe, außerhalb, wir waren überall. Wir erforschten die Stadtviertel, die in ihren Romanen vorkamen. Anfang der siebziger Jahre arbeitete sie an La Storia, also aßen wir in den Kaschemmen von San Lorenzo. Später dann, als sie mit ihrem Roman Aracoeli beschäftigt war, ging es in elegante Restaurants nach Parioli. Elsa war sehr großzügig und lud immer alle ein. Anschließend mussten wir natürlich noch Kaffee trinken, meistens nicht nur einen, sondern mehrere, da wechselten wir dann noch drei, vier Mal das Etablissement. Es war ein großes Vergnügen. Und eine topographische Erziehung. Regie: Musik, Nino Rota, Rota Fellini, ?Otto e mezzo?, Track 8, ab 0?20 Autorin (auf Musik): Im dritten Winter nach Kriegsende schloss sie endlich ihren Roman Lüge und Zauberei ab. Weit über tausend Seiten. Die Schriftstellerin und Lektorin des Einaudi-Verlages Natalia Ginzburg, die Witwe des Verlagsgründers Leone Ginzburg, erinnert sich: Sprecherin (hier als Natalia Ginzburg): Achtundvierzig, ich glaube im Winter, traf ein Brief von Elsa Morante ein. Sie habe gerade einen Roman fertig gestellt, ob sie ihn mir schicken dürfe. Ich wohnte in Turin und arbeitete bei Einaudi. Elsa Morante hatte ich irgendwo in Rom kennen gelernt, wir hatten nicht sehr viele Worte gewechselt. Aber ich glaube, ich sprach davon, wie sehr ich eine ihrer Erzählungen geliebt hatte, die viele Jahre zuvor in einer Zeitschrift erschienen war. Soweit ich mich erinnere, waren unsere Begegnungen selten und kurz gewesen. Ich war allerdings im Verlag diejenige, die sie am besten kannte. So bekam ich das Manuskript von Lüge und Zauberei. Es traf per Post ein. Es gab handschriftliche Korrekturen, mit roter Tinte. Ich erinnere mich, wie verwundert ich die Kapitelüberschriften las, weil es mir ein Roman aus einer anderen Epoche zu sein schien, und wie sehr mich einige Begriffe neugierig machten, die mir beim Durchblättern ins Auge fielen: der Pockennarbige, der Cousin? Zitatorin: Fünfter Teil, Erstes Kapitel. Der Pockennarbige hat wieder Unglück in der Liebe. Eine Patrizierin demütigt sich. Kurze und flüchtige Erscheinung einer kleinen Nonne Wie ich euch im ersten Teil dieses Buches erzählte, schien nach dem Tode meiner Großmutter Cesira der heimliche Groll meiner Mutter gegen meinen Vater bitterer und unbezähmbarer zu werden. Aus der Zeit, da meine Großmutter noch am Leben war, gibt es in meiner Erinnerung noch Szenen von Vertraulichkeit oder Eintracht zwischen meinen Eltern. Ich erinnere mich zum Beispiel, sie eines Tages gemeinsam mit sacht aneinander gelehnten und über ein Papier gebeugten Köpfen gesehen zu haben. Es war ein Brief oder ein Dokument. Beim Eintritt der Alten verstummten sie wie zwei Komplizen und verbargen das Blatt. Zweifellos sprachen sie von häuslichen Ausgaben oder familiären Interessen, Fragen, von denen meine Großmutter ganz und gar ausgeschlossen war. Ich erinnere mich, als Kind lange Nachmittage allein zu Hause verbracht zu haben, weil meine Großmutter in ihrem Kämmerchen saß und meine Eltern ausgegangen waren. Ferner erinnere ich mich, meinen Vater gehört zu haben, wie er mit lauter Stimme Opernmelodien sang, zum Entzücken meiner Großmutter, der es, trotz ihrer Taubheit, gelang, die Motive zu erkennen, worauf sie dieselben sogar mit ihrer zitternden kleinen Stimme mitsang, und den Takt mit der Hand dazu schlug. Regie: Musik, Nino Rota, Rota Fellini, ?Il Bidone?, Track 4, kurz hoch, Blende Sprecherin (Natalia Ginzburg): Ich las Lüge und Zauberei in einem Zug durch und liebte es unendlich; aber ich weiß nicht, ob ich damals die Größe und Bedeutung dieses Romans begriff. Ich merkte nur, dass ich ihn liebte und seit langem nichts gelesen hatte, was mir so viel Leben und so großes Glück einflößte. Es war für mich ein unglaubliches Abenteuer, hinter den Kapitelüberschriften, die mir aus dem 19. Jahrhundert zu stammen schienen, unsere Zeit und unsere Städte wieder zu erkennen, in ihrer zerrissenen und schmerzhaften Intensität unserer Gegenwart; es hat mich tief berührt, zu entdecken, dass es in unserer Epoche, in der Romane so verwickelt und geizig sind, ein derartig lichtdurchflutetes und großzügiges Werk geben konnte. Vielleicht verstand ich, auf irgendeine Weise, die Größe dieses Buches. Autorin: Es passte zu Elsa Morante, dass sie sich für den 1933 gegründeten Einaudi-Verlag entschied: Während des Faschismus war das Haus zu einem Sammelbecken kultureller Gegenströmungen geworden. Die jungen Lektoren, die beinahe alle Schriftsteller waren, wollten das Nachkriegsitalien mit gestalten. Sie brachten unbekannte Autoren heraus, hielten ihre berühmten Mittwochssitzungen ab, die zu einem Treffpunkt der geistigen Elite wurden, und sie waren international auf der Höhe der Zeit. Es herrschte eine elektrisierende Offenheit, in die sich Elsa Morante mit ihrer ungewöhnlichen Schreibweise gut einfügte. Don Quichotte und Ariosts Rasender Roland zählten zu den Modellen ihres dickleibigen Romans, in dem jeder in Sehnsucht gefangen ist und Liebe zu einer fast kultischen Handlung wird. Mit seiner Düsternis und dem sizilianischen Schauplatz, wo sich die Geschichte um die Jahrhundertwende zuträgt, schien das Buch mehr in der Tradition der Brontë-Schwestern zu stehen. Die barocke, sinnliche Sprache und der verschachtelte Satzbau waren das Gegenteil der schlackenlosen, neorealistischen Erzählweise anderer Einaudianer wie Pavese, Natalia Ginzburg und Calvino. Doch gerade darin lag der Reiz. Zitatorin: Viertes Kapitel Neue, zu keinem Ziel führende Gespräche zwischen den spröden Liebenden. Es wird wieder von Reisen ins Ausland gesprochen, und zwar kommen dabei der Matador Manuelito, der Zarewitsch und andere vor So konnte die Liebe zwischen Edoardo und Anna, die von Cesira begünstigt und von Concetta willentlich übersehen wurde, ohne jedes Hindernis blühen. ? Liebe? Welche eine Art von Liebe überhaupt? Ich würde meinen Lesern fürwahr gern eine große und dramatische Kabale schildern, eine verfluchte und leidenschaftliche Intrige. Aber diese Liebe hier, die aus Gesprächen, aus Zeitvertreib und Trotz besteht, und die eher einem kindischen Spiel als einem Erlebnis von Erwachsenen gleicht ? was für eine Art von Liebe ist das? Sicher würden sich die Leser bei solchen Albernheiten geprellt vorkommen, wenn ich ihnen nicht verraten könnte, dass es sich auf einer solchen unbedeutend scheinenden Basis das düstere Schauspiel meiner Hauptperson erhebt und aufbaut. So wird aus einem kleinen murmelnden Bach ein wilder Strom. So folgt einem leichten durchsichtigen Allegro in der Symphonie oft ein ernstes und feierliches Andante. Regie: Nino Rota, Rota Fellini, ?La dolce vita?, Track 6, ab 3?04, langsam einblenden Autorin (auf Musik): Langsam nimmt die wundersame Handlung ihren Lauf, und genau so gemächlich entspinnt Elsa Morante ihre Satzgebilde. Lüge und Zauberei machte sie berühmt. Unterdessen begannen die fünfziger Jahre. Rom schrieb Kino-Geschichte. Nicht nur Rossellini und Antonioni arbeiteten in Cinecittà. Federico Fellini und Ennio Flaiano drehten La dolce vita, und ein bisschen dolce vita schien auch für das Schriftstellerehepaar anzubrechen. Endlich hatten sie mehr Geld. Alberto Moravia arbeitete mit Luchino Visconti zusammen. Elsa begann zu reisen, schrieb für Zeitschriften, bekam Aufträge vom Radio und verwickelte sich in eine Affäre mit Visconti, der sich aber bald wieder seiner Vorliebe für junge Männer erinnerte. Wir machen einen Abstecher zu Raffaele La Capria, Jahrgang 1923, Schriftsteller und Drehbuchautor, der damals aus Neapel nach Rom kam. Er nimmt uns in seiner Wohnung an der Piazza Grazioli in Empfang. Seiner agilen Gestalt und seinen lebhaften blauen Augen merkt man die beinahe neunzig Jahre nicht an. O-12, O-Ton Raffaele La Capria (voice over)/ Sprecher Es war die belle epoque von Rom. Rom wurde nicht nur für das Kino zu einem Anziehungspunkt, sondern auch für das Theater, die Literatur, die Kultur überhaupt, und zwar auf internationaler Ebene. Alle Diven aus Hollywood kamen hierher, an den Theatern arbeiteten Leute wie Strehler und Visconti, Schriftsteller wie Elsa Morante und Alberto Moravia waren auf dem Höhepunkt ihres Schaffens, man traf sich im Café, unterhielt sich, tauschte sich aus. Es war extrem lebendig, es gab ein echtes Kulturleben. So etwas existiert heute nicht mehr. Wir verabredeten uns um drei Uhr nachts, alle Lokale waren geöffnet, man diskutierte bis in die Morgenstunden über den neuesten Film oder das neueste Buch. Regie: Musik, wie oben, Track 6 ab 3?42 Autorin (auf Musik): 1957 sprach alle Welt über Elsa Morantes neuen Roman Arturos Insel, angesiedelt auf Procida und von einer magisch-verträumten Atmosphäre durchdrungen. Wieder geht es um Familienbande. Im Mittelpunkt steht der fünfzehnjährige Arturo. Als sein Vater zum zweiten Mal heiratet und seine junge Frau mit nach Hause bringt, verfällt Arturo der neuen Mutter. Anders als Ödipus weiß er, dass diese Liebe nicht sein darf. Zitatorin: Ich setzte unterdessen mein Leben auf dem Meer fort (in diesem Jahr zog sich die schöne Jahreszeit bis in den November hinein). Vom Tagesanbruch bis zum Sonnenuntergang war ich mit meinem Boot unterwegs. Und jetzt, da mein Vater nicht mehr da war und mich mit seiner Gegenwart an sie gemahnte, entschwand mir die Stiefmutter und ihre einsame Küche dort oben tagsüber ganz aus dem Gedächtnis. Abermals lebte ich ohne Gedanken dahin wie in den früheren Sommern. Doch kaum war die Sonne versunken und die Farben der Marina begannen zu verblassen, als unversehens meine Stimmung umschlug. Es war, als ob alle heiteren Geister der Insel, welche den ganzen Tag über mich begleitet hatten, herabsanken unter den Horizont, mir lange Abschiedszeichen zuwinkend im Strahlenkreis der Sonne. Das Erschrecken vor der Dunkelheit, welches andere Kinder erleben und später vergessen, lernte ich hingegen erst jetzt kennen. Jene grenzenlose Meeresküste, jene Straßen und Plätze verwandelten sich mir in eine trostlose Einöde. Und ein Gefühl fast von Verstoßensein rief mich zum Haus der Buben zurück, wo um diese Stunde das Licht in der Küche angezündet wurde. O-13, O-Ton Elsa Morante als Atmo (historisch, rauscht) Io vorrei, volevo scrivere con questo libro scrivere una storia che assomigli un po? a Robinson Crusoe? Autorin: Elsa Morante bekam den renommierten Premio Strega, ein mondänes Ereignis in einem römischen Salon, bei dem knapp 400 Juroren stundenlang über die besten Romane des Jahres abstimmen. Kurz nach der Wahl erwischte sie ein Fernsehreporter. (ATMO einblenden) Im ärmellosen Taftkleid erklärt die Schriftstellerin, sie habe eine Geschichte nach dem Modell von Robinson Crusoe schreiben wollen, ihr Held erlebe alles zum ersten Mal und besitze keine Vorstellungen von gut und böse, von richtig und falsch. Es sei kein Märchen, wie von manchen befunden, sondern die ?wirklichste Geschichte?, die sie sich vorstellen könne. Elsa Morante spricht ohne zu zögern, selbstsicher. Eine zarte Person mit einem dreieckigen Gesicht unter einer Masse von verwirbelten Haaren. Rom brodelte damals vor Leuten, Ideen und Projekten. O-14, O-Ton Raffaele La Capria (voice over)/ Sprecher Wie trafen uns an der Piazza del Popolo und in der Via Veneto. Man ging ins Café Rosati und in einige Restaurants auf der Via della Croce. Eines hieß Cesaretto ein anderes Il re degli amici. Zu Cesaretto gingen die Intellektuellen, bei Il re degli amici traf man die Filmleute und Regisseure, dann gab es noch das Eliseo-Theater, da waren natürlich die Theaterleute. Aber jeder begegnete jedem, nicht so wie heute, dass nur noch Schriftsteller mit Schriftstellern zusammen sind, nein, man lief Architekten über den Weg, Drehbuchautoren, Schauspielern, Regisseuren und setzte sich an denselben Tisch, die Gespräche drehten sich also nicht nur um bestimmte Dinge, sondern es gab eine unglaubliche Vielfalt. Autorin: Raffaele La Capria heiratete dann auch gleich die sagenhafte Schauspielerin Illaria Occhini, die wir aus dem Augenwinkel auf Familienfotos erspähen. Elsa Morante war er Ende der vierziger Jahre auf Capri begegnet. O-15, O-Ton Raffaele La Capria (voice over)/ Sprecher Sie mochte junge Leute, ich war damals extrem jung, also gefiel ich ihr. Und wenn ihr jemand gefiel, riss sie sich ein Bein aus, sie feierte mich, stellte mich allen vor, es war mir fast peinlich, denn sie sagte ?Dies ist der Dichter Raffaele La Capria?, nur hatte ich noch kein einziges Gedicht geschrieben? ?Dichter? war für sie ganz einfach jemand, der eine Seele besitzt, und das waren die Menschen, die ihr die liebsten waren. Auf Capri lebte damals ein berühmter englischer Schriftsteller, Norman Douglas, ein Schwuler mit einer Vorliebe für Heranwachsende, er gehörte zur Kultur-Elite der Insel, damals galten solche Leute nicht als pädophil, sondern waren ganz einfach Künstler mit bestimmten Neigungen. Wir waren einmal gemeinsam in einer Villa zu Gast, mit Elsa Morante, Moravia, Norman Douglas und noch einem Engländer. Norman Douglas band sich Weinlaub um den Kopf, so wie ein Satyr und lief Elsa durch den Garten hinterher. Sie lachte wie von Sinnen. Ich habe diese Szene vor Augen: Norman Douglas mit seinem gekrönten Haupt, Elsa, die halb erschrocken, halb belustigt vor ihm davon lief. Ich habe sie nie wieder so ausgelassen erlebt. Im Laufe der Jahre wurde Elsa dann unduldsamer, manchmal fast böse, weil sie vieles nicht ertrug. Autorin: Wir unterhalten uns noch eine Weile über die goldenen Jahre von Rom, blättern einige Briefe durch und werfen einen Blick von der Dachterrasse auf die Kuppeln der Stadt, dann wünschen wir Raffaele La Capria alles Gute und verabschieden uns. Regie: Musik, Nino Rota, Rota Fellini, ?La dolce vita?, Track 6 ab 4?24 Autorin (auf Musik): Ein paar Straßen weiter residiert der Verlag Nottetempo von Ginevra Bompiani, wo auch Raffaele La Capria mit einigen Titeln vertreten ist. Der Name ist Programm: Nottetempo ? Nachtzeit macht kleine, leichte Bücher mit hochkarätigen Inhalten für nächtliche Lektüren im Bett. Von gebundenen Büchern habe sie immer steife Arme bekommen, erklärt die umtriebige Ginevra Bompiani, die das Handwerk von ihrem Vater, dem Mailänder Verleger Valentino Bompiani erlernte. Bei Nottetempo erscheinen Klassiker wie Stevenson, Elsa Morante oder Yourcenar, aber auch zeitgenössische Autoren und Philosophen wie Levi Strauss oder Giorgio Agamben. Ihre ersten Kontakte mit dem literarischen Leben der Hauptstadt sammelte Ginevra Bompiani schon als Gymnasiastin: O-16, O-Ton Ginevra Bompiani (voice over)/ Zitatorin Ich war siebzehn Jahre alt und verbrachte einen Monat in Rom. Über die Frau meines Cousins lernte ich Pier Paolo Pasolini, Elsa Morante und Volponi kennen, wir gingen fast jeden Abend gemeinsam aus und unternahmen etwas. Alberto Moravia war ein Autor meines Vaters, er war mir seit langem vertraut. Das Nette war, dass die Freunde wegen meiner Jugend Spiele erfanden. Wir spielten ?Mörder und Detektiv?. Man bekommt einen Zettel, auf dem die Rolle steht, die man verkörpern muss, dann wird das Licht ausgemacht, jemand wird getötet, niemand weiß, wer welche Funktion hat, und anschließend geht es darum herauszufinden, wer die Tat begangen hat. Aber Pasolini fügte noch etwas hinzu, und zwar die Psychologie. Bevor wir spielten, musste jeder sagen, aus welchem Grund er jemanden umbringen würde. Wenn dann der Detektiv ermittelte, fragte er nicht nur: ?Wo warst du??, sondern suchte auch nach den Motiven. Ich erinnere mich, dass Elsa mich umbringen wollte, weil ich einen schönen Hals hatte. Autorin: Mit Mitte zwanzig kehrte Ginevra Bompiani nach Rom zurück und kam durch Giorgio Agamben, der mehrere Jahrzehnte lang ihr Lebensgefährte war, wieder in den Kreis um Elsa Morante. O-17, O-Ton Ginevra Bompiani (voice over)/ Zitatorin Sie ist der einzige Mensch, den ich kenne, der nie dieselbe Geschichte über sich erzählt hat. Sie hat sich nie wiederholt. Elsa war sehr witzig, sie hat häufig sehr schöne Dinge gesagt, aber es hing von ihrer Laune ab, sie konnte auch grausam sein. Ihr nahe zu sein, war nicht ohne Risiko. Sie war absolut direkt, es gab nichts Formales, nichts Konventionelles. Mit den Freunden ihrer Generation war das anders, die waren gleichberechtigt, aber unter den jungen Leuten war sie die Königin. Autorin: Ginevra Bompiani hat Termine, die Druckerei wartet, doch wir möchten noch ein bisschen im Hofstaat von Elsa Morante verweilen und gehen wieder bei Patrizia Cavalli vorbei. Wie es sich für einen vernünftigen italienischen Haushalt gehört, gibt es Mittagessen. Auch für Elsa Morante war das ein Ritual. O-18, O-Ton Patrizia Cavalli (voice over)/ Sprecherin Sie musste immer um Punkt halb eins essen, denn sie nahm Aufputschmittel, um schreiben zu können. Das war eine komplizierte Angelegenheit. Wenn sie merkte, dass die Medikamente wirkten, brachte ich sie gegen vier Uhr nachmittags nach Hause. Sie verschloss die Tür, versorgte ihre beiden Katzen, stellte das Telefon ab, war für niemanden erreichbar und verbarrikadierte sich hinter ihrem Schreibtisch. Sie aß nur mittags. Dann arbeitete sie bis tief in die Nacht und stand erst spät am Morgen auf. Autorin: Die Medikamente forcierten ihre launische Seite noch. Elsa Morante forderte viel. O-19, O-Ton Patrizia Cavalli (voice over)/ Sprecherin Ich war schon oft angespannt in ihrer Nähe. Mit Elsa führte man nie ein ruhiges Gespräch, nein, alles musste vibrieren. Das hatte auch etwas Abgründiges, denn jeder um sie herum sollte diese Intensität entfalten. Wenn das nicht der Fall war, wurde sie wütend, sie empfand andere Haltungen als nichtssagend oder als Verstellung. Elsa wollte, dass die Menschen sich wie ihre Figuren verhielten, dass sie in einen extremen Zustand gerieten, so wie in einem Roman. Auf der anderen Seite zog das gerade Menschen an. Sie war in der Lage, etwas in dir zu sehen, was sonst niemand sah. Es ist natürlich ein großartiges Gefühl, wenn dich jemand so wahrnimmt. Aber sie sah eben nicht nur das mögliche Gute, sondern auch das mögliche Schlechte in ihrem Gegenüber. Und das ist erschreckend. Einerseits rettet es dich, weil du plötzlich jemand sein kannst, von dem du gar nicht dachtest, dass du es bist. Andererseits ist es auch eine Verurteilung. Es ist gefährlich, wenn man mehr im anderen sieht, als dieser zu zeigen bereit ist. Ein bisschen neige ich auch dazu und ich merke, dass es zur Katastrophe führt. Regie: Musik, Nino Rota, Rota Fellini, ?Amarcord?, Track 13 ab 0?17, übergehend in Atmo Wohnung Cavalli, A-3 Autorin (auf Musik/ Atmo): Wir öffnen noch einmal die Koffer mit den Fotografien. Es gibt eine Menge Bilder von Männern, jungenhaft, mit kurzen Haaren, weichen Gesichtszügen und athletischen Körpern, Begleiter von Morantes mittleren und späten Jahren. Viele ihrer Freunde waren schwul oder fanden Gefallen an beiden Geschlechtern. Alberto Moravia lebte seit Anfang der sechziger Jahre mit der Schriftstellerin Dacia Maraini zusammen, aber scheiden ließen sich er und Elsa nie. Für ein katholisch getrautes Paar kam das ohnehin nicht in Frage. Sie hätten es vermutlich auch gar nicht gewollt. O-20, O-Ton Patrizia Cavalli (voice over)/ Sprecherin Elsa hat Moravia immer verteidigt, auch er hat sie nie im Stich gelassen. Es blieb trotz allem eine innige Verbindung. Er hatte etwas Kindliches, was Elsa mochte. Als Typ war er zwar sanft, aber eher trocken, sehr matter of fact, eilig. Das absolute Gegenteil von Elsa. Diese Haltung hat ja auch etwas Effizientes: Die Welt ist die, die sie ist, diese Sache ist wichtig, jene nicht. Obwohl er sehr witzig und schlagfertig sein konnte. Er hat mir durchaus Eindruck gemacht, wenn ich ihn bei Elsa traf. Als sie ihm sagte, dass ich eine Dichterin sei, sagte er: ?Ja, Lyrik ist wichtig. Lyrik ist wichtig. Lyrik ist wirklich wichtig.? Berühmt ist auch ein anderer Ausspruch: ?Die Liebe ist das, was sie ist?. So war Moravia. Regie: Musik, Nino Rota, wie oben, Track 13 ab 0?33 O-22, O-Ton Moravia (voice over)/ Sprecher (hist. O-Ton, rauscht, verzerrt) Alle unsere Probleme hängen damit zusammen, dass Italien nicht modern genug ist. Wenn es eine Industrienation wäre mit einer höher entwickelten Technologie, würden wir mehr produzieren, der soziale Zusammenhalt wäre größer usw., wir wären ein Land wie Deutschland, die Schweiz oder Frankreich. Wir sind halb ein Industrieland, halb ein südliches Land mit einer bäuerlichen Kultur. Diese beiden Kulturen koexistieren, aber haben sich nicht gut miteinander verbunden. Autorin: Es stimmt, der hoch gewachsene Moravia, elegant wie ein preußischer Offizier, hatte zu allem eine Meinung. Er war blitzgescheit, explodierte vor Denk- und Sprechlust. Elsa Morante gegenüber blieb er loyal und unterstützte sie auch finanziell. 1971, als Patrizia Cavalli und Elsa Morante sich beinahe täglich sahen, begann Elsa Morante mit der Arbeit an ihrem Kriegsepos La Storia. Sie sprach von einer ?Ilias unserer Zeit?. Drei Jahre brauchte sie für die Niederschrift. 1974 erschien der knapp siebenhundert eng bedruckte Seiten umfassende Roman bei Einaudi, auf ihren ausdrücklichen Wunsch als Taschenbuchausgabe. La Storia sollte für jeden erschwinglich sein. Der Roman ging zurück auf eine Zeitungsnotiz in einem Lokalblatt von 1947. Dort war die Rede von einer Mutter, die man in einer Wohnung in Testaccio vollkommen verwirrt über dem Leichnam ihres sechsjährigen Sohnes gefunden hatte, bewacht von einer bissigen Hirtenhündin. Das Schicksal der anonymen Frau wurde für Elsa Morante zum Auslöser für ihre Chronik. Ihre Heldin heißt Ida, eine sorgenzerfressene, verhärmte Lehrerin jüdischer Herkunft, verwitwet und Mutter des heranwachsenden Nino, der sich für die Faschisten begeistert. Sie wohnen in San Lorenzo in der Nähe der Stazione Termini. Eines Mittags taucht ein angetrunkener deutscher Soldat auf. Zitatorin: Der Soldat empfand den unverhüllten Abscheu, den er der unbekannten Frau einflößte, als Ungerechtigkeit. Er war es nicht gewohnt, bei Frauen Abscheu zu erregen. Und zudem wusste er, dass er sich in einem verbündeten und nicht in einem feindlichen Land befand. Er war gekränkt. Jedoch anstatt von ihr abzulassen, wurde er zornig. Ida machte übrigens keine Anstalten auszuweichen. Sie versteckte nur die Schulhefte, die sie in der Hand hielt, in einem ihrer Körbe, als seien es verräterische Dokumente ihrer Schuld. Sie sah nicht so sehr ihn als sich selbst, wie sie, gleichsam verdoppelt, vor ihm stand; als stünde sie völlig entblößt da, und er würde ihr bis ins innere Herz blicken, wo sie das Geheimnis ihrer Herkunft eifersüchtig hütete. Autorin: Ida wird Opfer einer Vergewaltigung. Neun Monate später bringt sie ein Kind zur Welt, Giuseppe, genannt Useppe, einen kleinwüchsigen Jungen, der seine gesamte Umgebung verzaubert. Panisch vor Angst beobachtet Ida unterdessen die Räumung des jüdischen Ghettos, verbirgt ihre Wurzeln, fahndet täglich nach Lebensmitteln. Der gerissene, anarchische Nino geht zu den Partisanen und wird nach 1943 Schwarzmarkthändler. Das Kriegsende bedeutet für Ida neues Unglück: Nino fällt seinem Draufgängertum zum Opfer und kommt auf der Flucht vor der Polizei bei einem Autounfall ums Leben. Useppe beginnt unter epileptischen Anfällen zu leiden. Zitatorin: Das Kind schlief noch, als Ida am Morgen früh aufstand und in die Küche ging, um Kaffee zu kochen. Da sah sie Useppe, als sie den Herd anzündete, unerwartet in seinem kleinen Schlafanzug, mit nackten Füßen und einem bestürzten Ausdruck im Gesicht, neben sich auftauchen. Er warf ihr nur einen fragenden Blick zu ? so schien es ihr wenigstens -, lief dann aber sogleich zurück. Sie wollte ihn rufen, als aus dem Schlafzimmer ein Schrei unterdrückten Grauens zu ihr herüber drang. Das war keine menschliche Stimme mehr, und sie fragte sich einige Augenblicke wie gelähmt, woher diese Stimme kommen könne. Als Ida ins Zimmer stürzte, lag Useppe mit geschlossenen Augen und ausgebreiteten Armen rücklings auf dem Boden, wie eine Schwalbe, die in der Luft vom Blitz getroffen wurde. Doch die Anfangsphase seines Anfalls, die nur wenige Sekunden gedauert hatte, war schon vorüber, und als Ida neben dem Kleinen niederkniete, schwand die hässliche Totenfarbe von seinem Gesicht, und der Atem begann wieder einzusetzen. Regie: Musik, Nino Rota, Rota Fellini, ?Giulietta degli spiriti?, Track 9, ab 0?11 Autorin (auf Musik): Morantes Helden sind Gefangene ihrer Lebensumstände und werden von den Zeitläuften zermalmt, Handlungsfreiheit entpuppt sich als Illusion. La Storia wurde zu einem literarischen Fall und provozierte breite Diskussionen. Die Gegenüberstellung von Historie und einfachem Volk sei zu naiv, warf man der Schriftstellerin vor. Vor allem von kommunistischer Seite bezog Elsa Morante Prügel ? man empfand sie als geschichtspessimistisch. Auch Pier Paolo Pasolini, früher ein enger Freund, lieferte einen gepfefferten Verriss. Beim Publikum war das Buch ein enormer Erfolg; bis heute zählt es zu den meist gelesenen Werken der Schriftstellerin. 800.000 Exemplare verkauften sich in den ersten zehn Monaten nach der Veröffentlichung. Ein Triumph für Elsa Morante. Es folgte ein tiefer Einschnitt: In der Nacht zum 2. November 1975 wird Pier Paolo Pasolini auf einem Sportplatz in Ostia ermordet. O-23, O-Ton Patrizia Cavalli (voice over)/ Sprecherin Ihre Beziehung war zerrüttet, sie hatten sich nicht wieder versöhnt. Das war für Elsa das schlimmste. Pasolinis Tod hat sie fürchterlich getroffen. Die Trauerfeier fand hier auf dem Campo de? Fiori statt, es kamen unglaublich viele Leute, Ansprachen wurden gehalten. Ich bin mit ihr hingegangen. Sie war hysterisch, vollkommen außer sich. Autorin: Nach und nach ging es Elsa Morante immer schlechter. Ihr Leben wurde bitter. 1982 erschien Aracoeli, ihr letzter großer Roman. Der Held ist vom Leben enttäuscht und sehnt sich nach seiner Kindheit zurück. Voller Schmerz muss er den Verfall seiner andalusischen Mutter mit ansehen. Zitatorin: Aracoeli war bis zu den Haaren schweißgebadet; und obwohl noch kein Licht brannte, schien sie von etwas geblendet zu werden und legte sich schützend die Hand über die Augen. Unerwartet fing sie an, in ein ordinäres Lachen auszubrechen, als ob sich unzüchtige Hände an ihrem Körper zu schaffen machten; und mit einem schrägen Blick, der den Anschein erweckte, als mache ihr mein Anblick Angst, sagte sie wütend zu mir: ?Was tust du denn noch hier? Mach, dass du fortkommst.? Als ich später an ihre Tür klopfte, um sie zum Abendessen zu holen, antwortete sie mir von innen, dass sie keine Lust zum Essen habe. Trotzdem erschien sie kurz darauf im Speisezimmer. Man sah, dass sie in aller Eile vom Bett aufgestanden war ? sie hatte sich nicht einmal richtig angezogen, ehe sie sich an den Tisch setzte. Ein solches Benehmen war bei uns tatsächlich völlig neu. Aracoeli präsentierte sich unfrisiert, barfuß und hatte nichts anderes an als einen halboffenen Morgenmantel. Sie wirkte verroht und gleichzeitig gedemütigt, wie jemand, der mit Beschimpfungen um Hilfe bitten will. Autorin: Elsa Morante schien zu ahnen, was ihr bevor stand. Sie war müde. Nach einem Hüftbruch bekam sie immer stärkere Schmerzen, litt unter Neuropathien. 1983 unternahm sie einen Selbstmordversuch. O-24, O-Ton Patrizia Cavalli (voice over)/ Sprecherin Sie wollte damals sterben. Wie es dazu kam? Ich glaube nicht, dass man aus einem bestimmten Grund sterben will. Man will sterben, weil man nicht mehr leben kann. Sie war auch nicht der Typ, der dann hinterher erklärt, weshalb sie etwas getan hat. Von da an ging es ihr schlecht. Sie war oft nicht mehr bei sich. Autorin: Bald kam Elsa Morante nicht mehr allein zurecht. Man brachte sie in einem Krankenhaus unter. Immer wieder verlor sie sich in psychotischen Schüben. O-25, O-Ton Raffaele La Capria (voice over)/ Sprecher Ich war in einer Klinik hier in Rom, in der sich meine Frau einer Kontrolluntersuchung unterziehen musste. Als ich ihr dort Gesellschaft leistete, hörte ich plötzlich eine laute Stimme, die rief ?Wie schrecklich! Wie schrecklich! Wie schrecklich!? Ich dachte, jemand sei in Gefahr, lief zur Krankenschwester und sagte, ?Dort schreit jemand, wer ist das denn?? ?Elsa Morante?, antwortete man mir. Sie litt unter dieser furchtbaren Krankheit, der ihren Geist in Mitleidenschaft zog, was ihr aber auch bewusst war. Ich bin dann in ihr Zimmer gegangen und wollte sie ein bisschen aufmuntern und fragte sie: ?Elsa, erinnerst du dich noch, wie wir damals auf Capri waren und du eine Nymphe spieltest und Norman Douglas dich durch den Garten jagte?? Sie schaute mich an und antwortete: ?Ich möchte sterben. Ich möchte sterben.? Das ist meine letzte Erinnerung an sie. O-26, O-Ton Patrizia Cavalli (voice over)/ Sprecherin Wenn man jung ist und jemanden sehr bewundert, bleibt wenig Platz für Mitleid. Man hat kein Mitleid. Mitleid bedeutet ja, Dinge nicht zu bewerten, die jemand tut. Ich war dazu nicht in der Lage, und viele andere ihrer Freunde ebenfalls nicht. Ihre Neigung, aus Beziehungen etwas Absolutes zu machen, hat zu großem Unglück geführt. Autorin: Am 25. November 1985 stirbt Elsa Morante. Ihren Freunden ist viel von ihr geblieben. Nicht nur Erinnerungen. Sondern Romane, Stimmungen und ein Gefühl für das, was das Leben ausmacht. Regie: Musik, Nino Rota, Rota Fellini, ?I vitelloni?, Track 2 ab 1?24 O-27, O-Ton Patrizia Cavalli (voice over)/ Sprecherin Sie war ein tragischer Mensch und dabei unglaublich fröhlich. Sie brach immer wieder in schallendes Gelächter aus. Elsa lachte viel. Es war nie langweilig mit ihr. Langeweile war ihr ein Graus, sie hätte alles getan, nur um sich nicht zu langweilen. Sie hätte ein Verbrechen begangen oder Lügen erzählt. Es klingt paradox, aber genauso war es. Zitatorin: Rings um unser Schiff war das ganze Meer einförmig. Die Insel war nicht mehr zu sehen. 21