Manuskript Kultur und Gesellschaft Reihe : Forschung und Gesellschaft Titel : Klimafolgen, Klimakulturen, Klimakriege. Die Sozialwissenschaften und das Wetter Autor : Conrad Lay Redakteur : René Aguigah Sendung : 28. Juli 2011 / 19:30 Uhr Regie : Stefanie Lazai Besetzung : Sprecher; Zitator Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Musik Spr. Die Natur, die Umwelt, das Klima wandeln sich seit langem. Doch deutsche Sozialwissenschaftler schwiegen zu diesem Problem. Alle bis auf einen: den Münchener Soziologen Ulrich Beck. TAKE 1 Welzer 5'28 "Die Person Ulrich Beck beispielsweise als einer der ganz wenigen, der hinsichtlich solcher Risikolagen und Katastrophenerscheinungen immer auch in den Feuilletons aufgetreten ist und auch als Berater von Politikern herangezogen worden ist, stellt ja fast die Ausnahme von der Regel dar und hat entsprechend aus der Sicht der soziologischen Wissenschaftlergemeinschaft extrem an Reputation dadurch eingebüßt." Spr. Lange Zeit äußerten sich nur Naturwissenschaftler zum Thema "Klimawandel". Falls sich Sozialwissenschaftler auf dieses Feld wagten, wurden sie geradezu abgestraft. Harald Welzer, Professor für Sozialpsychologie am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, über seinen Kollegen Ulrich Beck: TAKE 2 Welzer 5'59 "Der gilt ja in der Comunity nicht als der tollste Wissenschaftler national, international schon, da hat er eine hohe Reputation, aber wie der Pro- phet im eigenen Land so auch nicht, und das zeigt aber nur an einem Beispiel, wie ungewöhnlich es geworden ist, daß sich Sozialwissenschaftler mit Gegenwartsproblemen, gar mit drängenden Gegenwartsproblemen befassen." Zit. "Die Geburtsprämisse der Soziologie" Spr.1 so hatte Ulrich Beck erkannt, Zit. nämlich die Unterscheidung zwischen sozialer und natürlicher Ungleichheit, ist mit dem Klimawandel unhaltbar geworden". Spr. Eine Disziplin wie die "Umweltsoziologie", eine der sogenannten Bindestrich- Soziologien, ist, so die These, zu eng gefasst. Denn wenn sie unter Umwelt nur das verstünde, was nicht menschlich und nicht sozial ist, dann wäre sie, sozio- logisch gesehen, ein hohles Konzept. Vielmehr, so Ulrich Beck, stehen die grundsätzlichen Unterscheidungen von Kultur und Natur, von denen die Sozialwissenschaften bisher ausgegangen waren, in Frage: Der Mensch hat keine natürliche Umwelt, sondern baut sich eine ihm entsprechende Umwelt auf. Sie besteht aus dem, was er aus der Natur und aus sich selbst zu schaffen versucht, mit anderen Worten: aus Kultur. Für diese Kultur, für diese von ihm geschaffene, modifizierte oder auch verunstaltete Welt trägt er Verantwortung. Viel spricht dafür, daß der weltumspannende Klimawandel die künftige Form der "sozialen Frage" sein wird. Jedenfalls wird eine Theorie des sozialen Wan- dels, die Katastrophenanalysen nicht einschließt, bloß eine "Gutwettersozio- logie" sein, wie Ulrich Beck betont: Zit. "Es ist nicht die Umwelt, sondern die moderne Gesellschaft selbst, die sich durch die unvorhergesehenen Folgen ihres unersättlichen Hungers nach Naturre- sourcen transformiert." ---------------------------- MUSIKAKZENT / O-TON-COLLAGE --------------------------- Spr. Nico Stehr, Kulturwissenschaftler an der Zeppelin-University in Friedrichshafen am Bodensee, beschäftigt sich seit Jahren mit den Unterschieden zwischen Kli- ma und Wetter. TAKE 4 Stehr 40'55 "Die Bedeutung des Phänomens Klima für gesellschaftliche Entwicklung war jahrhundertelang ein zentrales Thema der Philosophie, der Wissenschaften insgesamt, und Klima und die Abhängigkeit vom Klima von bestimmten gesellschaftlichen Phänomenen, von Aktienkursen über Selbst- morde, also jedes Phänomen, was man sich nur denken kann, ist von Gelehrten in der Vergangenheit zu Klima in Bezug gesetzt worden. Dieser Klima- determinismus, wie man ihn nennen kann, der ist natürlich weniger virulent heute, aber immer noch im Alltag und auch in den Anschauungen verschiedener Wissenschaftler auszumachen." Spr. Das Merkwürdige dabei ist allerdings: Beim Thema Wetter fühlt sich jeder als Experte, anders beim Klima, dort sind wir in der Tat auf Experten angewiesen: TAKE 5 Stehr 43'38 "Unser Gedächtnis ist nicht so gut, um so etwas wie eine Statistik des Wetters über einen Zeitraum von 30 Jahren, und das ist in Regel das, womit sich der Klimaforscher beschäftigt, über Wetterdaten über einen längeren Zeit- raum, sondern unser Gedächtnis bezieht sich auf das Wetter vor einem Jahr oder zwei Jahren, da haben wir dann unterschiedliche Erfahrungen, aber ich glaube, was im Alltag auch sehr wichtig ist, ist die Bedeutung des Vertrauens, das wir in Klima und in Wetter haben, d.h. die Menschen sind einfach davon überzeugt, daß Wetterphänomene relativ konstant sind, also auf ein Winter folgt eben ein Frühjahr, und auf ein Frühjahr ein Sommer usw. Die interessante Frage ist natürlich, ob dieses Alltagsverständnis, dieses Vertrauen in klimatische Bedingungen, ob das beeinträchtigt wird durch Veränderungen, die uns ins Haus stehen, das ist schwer zu sagen." Spr. Die Sozialwissenschaften sind dabei, ihre selbst verursachte "Zukunftsvergessenheit" zu überwinden, wie dies der Bonner Soziologe Hans- Georg Soeffner genannt hat. Mit den Folgen des Klimawandels sind sie herausgefordert, auf dem bislang nur von den Naturwissenschaftlern bestellten Feld Stellung zu beziehen. Harald Welzer: TAKE 6 Welzer 7'29 "Was das dann für das Zusammenleben von Menschen bedeutet, für ihre Überlebenschancen, für politischen Stress bedeutet, der auf Gesellschaften ausgeübt wird durch neue Ressourcenproblematiken etc., das können Naturwissenschaftler nicht beschreiben, und hier wird das Defizit meines Erachtens auch am deutlichsten, weil die wirkliche Dimensionen dieser klimaerwärmungsbedingten Umweltbedingungen überhaupt bisher nicht beschrieben worden sind a), und weil b) natürlich auch gar nicht vernünftig darüber nachgedacht werden kann, was denn mögliche Anpassungsstrategien sind, ein Glacieloge oder ein Ozeanologe kann doch keine qualifizierten Gedanken über soziale An- passungen formulieren, einfach deshalb, weil das gar nicht seine Disziplin ist." Spr. Kaum je ist bisher gefragt worden, wie die Prozesse sozialer Anpassung an den Klimawandel aussehen könnten, wie sich die Lebensstile ändern müssen oder auch wie sich Transformationsprozesse steuern lassen. TAKE 7 Welzer ca. 8'30 "Das können weder Naturwissenschaftler noch Politiker bereit stellen, solches Wissen, das kann man nur in einer historisch aufgeklärten sozialwissenschaftlichen Perspektive machen, und da haben wir es mit einem Totalausfall zu tun." Spr. Die Fragwürdigkeiten beginnen schon damit, daß die Klimaproblematik ausschließlich in naturwissenschaftlichen Begriffen gefasst wird. Zwar lautet die Prognose der Ozeanologen, daß der Meeresspiegel im Laufe dieses Jahrhunderts bis zu einem Meter ansteigen wird. Doch das eigentlich Interessante daran, nämlich, was das für den Alltag der Menschen bedeutet, bleibt damit noch aus- geblendet. Für die Sozialwissenschaften ergibt sich daraus die Aufgabe, die naturwissen- schaftliche Information auf "kleine Lebenswelten" herunterzubrechen, und darin haben die Soziologen durchaus Übung. Aber kann die Soziologie tatsächlich Prognosen leisten? Georg Soeffner, Vor- sitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, arbeitet zusammen mit Harald Welzer am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen an der Frage, welche Klimakulturen dem Klimawandel angemessen sind und welche nicht. Mit Dana Giesecke zusammen haben die beiden das Buch "Klimakulturen" herausgegeben, in dem sie den "Sozialen Wirklichkeiten im Klimawandel" nachspüren. Hans-Georg Soeffner erläutert die Möglichkeiten der Soziologie am Beispiel der schleichenden Erwärmung, auf die die Menschen mit den falschen Mitteln reagieren, etwa mit dem Einbau von Klimaanlagen. TAKE 9 Soeffner 28'38 "Das geht bis zu einer gewissen Weise gut, und dann geht es nicht mehr gut. Dann ist Hilflosigkeit zu spüren, und da hat die Soziologie ein enormes prognostisches Potenzial. Da kann sie darauf hinweisen, was passiert, wenn... Und zwar nicht nur in Form von Wasserständen oder Gradangaben, sondern als Eingriff in das persönliche Leben der Menschen. Indem Lebens- mittel nicht mehr verfügbar sind, indem Wasser nicht mehr verfügbar ist, indem ich meinen Haushalt umstellen muß, indem ich auf bestimmten Komfort ver- zichten muß, und indem ich dieses beschreibe und prognostiziere, kann ich auch dazu beitragen, daß ein Lebensgefühl, das sonst schleppend reagiert, unterwandert wird von einer gewissen Unruhe, analytischen Unruhe, die das schlechte Gewissen sozusagen produziert und Menschen darauf aufmerksam macht, wenn ich hier so weitermache, wie ich das bisher mache und wenn alle dieses machen, dann wird es uns allen schlecht gehen." Musikakzent Spr. Die Sozialwissenschaften können also Szenarien abbilden und Optionen ent- werfen, die Wahl allerdings treffen die Bürger, die nimmt ihnen kein Soziologe ab. Andererseits könnte es für die bisherige Zurückhaltung der Sozialwissenschaftler gute Gründe geben. Davon ist Kulturwissenschaftler Nico Stehr überzeugt, er sieht solche Gründe in der Unsicherheit der Klimaforscher, eine konkrete Diagnose abzugeben. TAKE 10 Stehr 44'39 "Auf jeden Fall ist es für Klimaforscher und andere, die sich mit die- sen Phänomenen beschäftigen, sehr schwierig, aus Einzelereignissen auf den Klimawandel zu schließen. Ob ein heißer Sommer jetzt unbedingt ein An- zeichen für Klimawandel ist oder nicht, das kann man einfach nicht definitiv sagen. Sondern es ist ein Einzelereignis unter vielen Ereignissen, die dann später zusammengefasst werden, die sich vermischen, und die dann zu Daten führen über Klimaveränderungen." Spr. Die Gesellschaft kann die langfristigen Klimaveränderungen nur schwer wahr- nehmen. Sie ist auf die Stellungnahmen der Experten, ihre warnenden Be- obachtungen, angewiesen. Nico Stehr vermutet sogar, die Vertrauenswürdigkeit der Experten habe einen größeren Einfluss auf das Verständnis des Klimas als tatsächliche Klimaereignisse. Auch darin wird deutlich: das Klima ist nicht nur ein naturwissenschaftliches Phänomen, es ist zugleich ein soziales Konstrukt. Die Problemwahrnehmung variiert in unterschiedlichen Gesellschaften. Und man muß sich nicht darüber wundern, daß gerade afrikanische Länder, die sehr stark vom Klimawandel betroffen sind, sich gar nicht so sehr dafür interessieren. ---------------------------- MUSIKAKZENT / O-TON-COLLAGE --------------------------- Spr. Durch den Epochenumbruch 1989 fühlten sich viele Sozialwissenschaftler, ins- besondere solche marxistischer Couleur, in Frage gestellt. Sie reagierten darauf, indem sie sich in Spezialgebieten versteckten, sie entdeckten immer neue Theo- riewendungen: den "linguistic turn", den "narrative turn"; oder sie strickten sich mithilfe von Diskurstheorien einen Kokon, aus dem heraus sie die Welt nicht mehr wahrnahmen. Die Folge ist, wie Hans-Georg Soeffner betont, eine "systematische kulturwissenschaftliche Unterbelichtung" von Phänomenen, die das 21. Jahrhundert entscheidend bestimmen werden. Wie sehr die Sozialwissenschaften auf herkömmliche Kriterien und Ein- ordnungen fixiert waren, wird am Beispiel Migration deutlich. Hans-Georg Soeffner: TAKE 11 Soeffner 31'02 "Wir haben ja bisher die Migration - das ist für mich immer sehr beeindruckend gewesen, auch leider ein Defizit meiner eigenen Disziplin - im- mer unter dem Gesichtspunkt der Armutswanderung und der Arbeitsbeschaffung gesehen, das sind immer Arbeitsmigranten. Daß schon seit geraumer Zeit wir Klimamigranten haben, ist dabei völlig verlorengegangen. Natürlich sind die Leute arm und natürlich suchen sie Arbeit, aber warum sind die arm und suchen sie Arbeit? In der Sahel-Zone ist nichts mehr. D.h. wir haben bereits seit Jahren mit diesem Phänomen zu tun, behandeln es aber unter den falschen Akzenten oder unvollkommen, jedenfalls nicht als das Phänomen, was sie tatsächlich dar- stellen, und das wird zunehmen, das kann man sehen." Spr. Was die naturwissenschaftlich orientierten Klimaforscher an Fakten feststellen, ist von den Sozialwissenschaftlern auf seine Konsequenzen hin zu deuten. Der Bonner Soziologe erläutert dies am Beispiel von Überschwemmungskatastrophen in Pakistan: TAKE 12 Soeffner 31'44 "Es ist ja nicht einzusehen, daß etwa Pakistani nach dieser Flut- welle, daß sie dort wohnen bleiben, auf die nächste wartend. Also man muß ein- fach nur ansehen, wo die Flüchtlingsströme ihren Ursprung haben, dann wird man sehen, daß ein großer Teil durch klimatische Veränderungen zustande ge- kommen ist, nicht nur durch die Kriege. Und daß im übrigen auch die Kriege ökologische Ursachen haben. Es ist gut vorstellbar, daß die Grenzen zwischen Israel und Syrien und anderen, die Jordan-Grenze, eine Wasser-Grenze, eine enorme Rolle spielen könnte in kriegerischen Auseinandersetzungen, und das hat dann nichts mit Weltmachtpolitik oder irgendetwas zu tun, sondern es hat mit handfestem Kampf um Ressourcen zu tun. Und das ist nur ein Beispiel von vielen anderen, der Bau von Staudämmen durch die Türkei, und vieles andere mehr, das sind alles bereits Klimafragen, um die wir uns hier bemühen müssen, und die wir bisher so nicht gesehen haben oder jedenfalls zu sehr in den Hintergrund gedrängt haben." Musikakzent Spr. Vieles spricht dafür, daß mit dem Klimawandel die umweltbedingte Migration zunehmen wird. Wenn die Möglichkeiten der Bodennutzung abnehmen, wie in Darfur; wenn der Boden erodiert; wenn dadurch Gewaltkonflikte, schließlich Bürgerkriege entstehen und die Leute aus den Kriegsgebieten fliehen, handelt es sich dann um Kriegsflüchtlinge - oder um Klimaflüchtlinge? Neue Forschungs- felder tun sich auf: Wer migriert wann warum? Welche Strategien stehen den Betroffenen zur Verfügung? Wie kann das vorliegende historische Daten- material auf Gegenwartsverhältnisse übertragen werden? Andreas Ernst, Professor für Umweltsystemanalyse an der Universität Kassel ist allerdings skeptisch, ob die menschlichen Fähigkeiten ausreichen, um mit dem Klimawandel Schritt zu halten: Zit. "Der Mensch ist nicht gebaut für eine sich schnell wandelnde Welt. Ihre Kom- plexität stellt ein echtes kognitives Problem dar. Eine erzählte Katastrophe ist für uns keine. Nur Dinge, die wir selber erlebt haben, berühren uns. Und so tun wir nicht, was wir eigentlich wissen." Spr. Wie soll man sich eine gewußte, jedoch nicht gefühlte Katastrophe vorstellen? Psychologisch gibt es nur eine geringe Motivation, das eigene Verhalten zu ver- ändern, wenn die drohende Klimakatastrophe nicht unmittelbar, sondern nur im Rahmen von wissenschaftlichen Modellen wahrnehmbar ist. Noch komplexer wird die Situation dadurch, daß die Ursachen des Klimawandels mindestens ein halbes Jahrhundert zurückliegen und nach damaligem Stand der naturwissen- schaftlichen Forschung nicht vorhersehbar waren. Anders gesagt: einer im Jahr 2011 lebenden 40-jährigen Person wird Verantwortung für ein Problem zugeschrieben, dessen Verursachung zeitlich vor ihrer Geburt und dessen Lö- sung nach ihrem Tod liegen wird. Der Sozialpsychologe Harald Welzer: TAKE 13 Welzer 10'57 "Dieses Auseinanderfallen oder die zeitliche Dehnung von Ursa- che-Wirkungsketten ist natürlich ganz fatal. Weil hinsichtlich der politischen Handlungslogiken ja immer Vier-Jahres-Zeiträume den entscheidenden Zyklus angeben, neuerdings lernen wir, daß der sich auf Bereiche von wenigen Stunden oder Tagen verdichtet, aber das mag irgendwann vielleicht auch mal wieder an- ders sein, im wirtschaftlichen Bereich haben wir die relevanten Handlungszeiträume teilweise in Quartalen getaktet, und gleichzeitig haben wir aber, was solche Umweltprobleme angeht, ganz andere zeitliche Dimensionen, innerhalb derer man Verursachung und Lösungen denken muß. Gleichzeitig hat die zeitliche Zerdehnung von Ursache und Wirkung im Klimafall die ganz elegante Auswirkung, daß der berühmte Mann oder die Frau auf der Straße sagen kann: erstmal krieg' ich davon nichts mit, zweitens könnte ich nichts machen, drittens wäre, wenn wir etwas machen würden, sowieso alles noch genauso, wie wenn wir nichts tun würden, d.h. es liefert eine unglaublich gute Argumentationsfolie dafür, daß man seine eigene Lebenspraxis nicht verändern muß." Spr. Vor diesem Hintergrund könnte man die Bringschuld der Sozialwissenschaften so formulieren: Es geht darum, Verantwortungsethik als Problem des Klima- wandels neu zu formulieren. Eine solche Verantwortungsethik müßte auf eine Klimakultur abzielen, die deutlich über die naturwissenschaftlich dominierten Sichtweisen hinausgeht. Oder, um es an einem Beispiel zu sagen: es macht einen Unterschied, ob eine Büffelherde Methan ausstößt, oder der Mensch durch sein Handeln das Klima verändert und Leiden erzeugt. Die vormenschliche Evoluti- on kennt keine Ethik. Doch der Mensch ist kein Büffel. Für das von ihm verursachte Leid gilt keine Wertneutralität. ----------------------- MUSIKAKZENT ---------------------- Zit. "Die heimliche Sorge, daß das Problem zu groß sein könnte, um es zu behandeln, läßt in gelinde Starre treten." Spr. Das vermutet Birger Priddat, Wirtschaftswissenschaftler und ehemaliger Präsident der Universität Witten-Herdecke. Oder auf Englisch: complexity kills activity. So muten denn auch diverse Vorschläge zu praktischen Konsequenzen merkwürdig unterkomplex an: Ob man beim Heimwerken statt der Schlagbohrmaschine doch mal wieder den alten handbetriebenen Drillbohrer nehmen soll? Die Balance zwischen individuellem Handeln und großer Politik zu finden, fällt nicht leicht. Auf der internationalen Bühne spricht allerdings wenig dafür, daß in absehbarer Zeit tragfähige Lösungen gefunden werden. Es scheint, als hätte sich das Zeit- fenster zur internationalen Regulierung der Klimapolitik bereits wieder ge- schlossen. Aller Voraussicht nach werden die vom Klimawandel am meisten betroffenen Länder die geringsten Möglichkeiten haben, der Folgen Herr zu werden. Damit wird ein historisch neues, globales Ungerechtigkeitsphänomen erkennbar. Die bestehenden globalen Asymmetrien und Ungleichheiten in den Lebenschancen werden durch den Klimawandel vertieft. Vor 25 Jahren hatte Ulrich Beck in seinem Buch "Risikogesellschaft" bemerkt, Armut sei hierarchisch, aber Smog demokratisch, weil er jeden treffe. Heute re- vidiert der Münchener Soziologe angesichts des Klimawandels seine Haltung. TAKE 17 Beck 46'29 "Das ist der Lernschritt, den ich in den 25 Jahren gemacht habe. Am Klimawandel ist das evident, denn man kann in der Tat sehen, wie die Un- gleichheiten explodieren unter den Bedingungen des Klimawandels. Es ist ja jedermann fast nachvollziehbar geworden, daß die ärmsten und schwächsten Länder, die am wenigsten zum Klimawandel beitragen, am härtesten davon be- troffen sind, also hier kommt es in der Tat zu einer Dynamik, in der man nicht mehr sagen kann, daß Risiken automatisch Gleichheit erzeugen, aber eben gleichzeitig auch das Bestreben, daß wir alle in einer Weise herausgefordert sind, die doch wiederum so etwas wie ein Suchen von Lösungen im transnationalen Raum erzwingen, und zwar nicht - zugespitzt gesagt - , weil man jetzt altruistisch geworden ist und an den anderen denkt, sondern weil der Egoismus und die eigenen nationalen Interessen neu definiert werden müssen: über die Kooperation mit anderen, weil sie isoliert gar nicht mehr verwirklicht werden können. Ich glaube, daß das diese Einsicht ist, um die ich ringe, auch in meinen Büchern, die ich versuche zu vermitteln. Es geht beispielsweise auch in Europa oder auch jetzt im Klimawandel nicht darum, daß wir Souveränität aufgeben, sondern es geht darum, daß wir Souveränität zurückgewinnen angesichts von Interdependenzen und angesichts von Problemen, denen wir national völlig hilflos ausgeliefert sind." Spr. Statt internationaler Vermittlung erleben wir heute die Renaissance klassischer Interessenpolitik. Sie sorgt dafür, daß die Folgen des Klimawandels nicht mehr als allgemeines, sondern als regionales Problem verhandelt werden: Wenn In- seln im Pazifik untergehen, ist das deren Problem. Je deutlicher die Folgen sichtbar werden, desto mehr fällt die globale Verantwortung in eine Schar von Partialinteressen auseinander. Die Welt teilt sich auf in Gewinner und Verlierer des Klimawandels. Birger Priddat hat das so formuliert: Zit. "Je konkreter die Klimaergebnisse werden, desto weniger wird die allgemeine Bereitschaft sein, für alle die Spezifika zu zahlen. Die Klimaneutralen steigen zuerst aus, dann die Klimagewinner. Weiß ich genauer, was mich betrifft, kann ich meine Position klarer sortieren. Das wird die nächste Phase der Klimapolitik beherrschen." Spr. An die Stelle einer kooperativen Phase einer "Weltinnenpolitik" sieht Priddat eine Wettbewerbsphase heraufziehen, die durch Veränderung der Handels- beziehungen, Umverteilung von Vermögen und Migrationseffekte gekenn- zeichnet ist. Zit. "Unmengen nicht ausgebildeter Menschen werden sich in andere Territorien aufmachen, wo sie weder Boden noch Arbeit finden. Das Flüchtlingslager wird zu einer neuen Lebensform, oder neue banlieus vor den Metropolen. Beide For- men sind entkulturalisierte Areale, Dispositive der Gewalt. Je höher die Migrationsmobilität, desto unwilliger der Empfang." Spr. Nach den Klassen- und Überzeugungskonflikten des 20. Jahrhunderts drohen nun die Ressourcen- und Klimakonflikte des 21. Jahrhunderts. Typischerweise finden diese Konflikte bzw. kriegerischen Auseinandersetzungen in Regionen statt, in denen bereits Entstaatlichung und die Existenz privater Gewaltmärkte den Normalzustand darstellen. Die Gewalt wird die Migrations- und Flüchtlingsströme anwachsen lassen. Harald Welzer, Autor des Buches "Kli- makriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird": TAKE 20 Welzer 36'28 "Wenn Stress auf Gesellschaften ausgeübt wird, auf den diese Ge- sellschaften nicht vorbereitet sind, dann neigen sowohl die Eliten, also die politischen Eliten als auch diejenigen, die die Gesellschaft ausmachen, dazu Ent- scheidungen zuzustimmen, die sie unter anderen Bedingungen niemals be- fürwortet hätten. Und das Problem wird man bei Migration ganz sicherlich haben. Weil das immer damit verbunden ist, hier kommen Leute, die sind ers- tens nicht wie wir, und zweitens wollen die das haben, was wir haben. Und da ist es geradezu ein automatischer Reflex, zu sagen, das muß jetzt mal verhindert werden. So, und wir wissen ja nun leider, leider aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts, daß humanitäre Überzeugungen und abendländische Moral leider nicht das Allergeringste daran ausrichten, im Zweifel, nämlich wenn man es aus Grund a), b) und c) für gegeben und notwendig hält, auch völlig gegen- menschliche Entscheidungen zu treffen. Und das wird mit Sicherheit passieren. An solchen Dingen sieht man schon, wie wenig gefestigt das normative Gefüge, das Überzeugungsgefüge in Gesellschaften unseres Typs ist. Da muß man sich gar keine Illusionen machen." Spr. Bedrohungsgefühle lösen Stress aus. Schnell verändern sich dann die Maßstäbe der Beurteilung, ihr sogenannter "Referenzrahmen", wie Harald Welzer dies nennt. Die Orientierung schwindet und damit das Bewußtsein von Recht und Unrecht: Aus Flüchtlingen werden Personen, denen der Status von Überflüssigen zugeschrieben wird. Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts liegt dann Gewalt nahe. Man muß politisch davon ausgehen, daß das Problem des Klimawandels derzeit nicht gelöst wird, d.h. daß die Erwärmung über die für kontrollierbar gehaltenen zwei Grad plus hinausgehen wird. Vieles spricht dafür, daß die daraus resultie- renden Folgen zu einem radikalen Wertewandel führen, der auch vor Klima- kriegen nicht Halt macht. Gewalt wird in solchen, als bedrohlich empfundenen Situationen als Mittel eingesetzt, sich neu zu orientieren. Harald Welzer: TAKE 22 Welzer 39'47 "Wenn ich Gewalt ausübe, schaffe ich Verhältnisse, in denen ich mich auskenne, und in denen ich Sachverhalte schaffe, in denen ich hinterher Täter und Opfer sortieren kann, Gewinner und Verlierer sortieren kann und vor allen Dingen ein Stück Brot in der Hand habe oder mein Haus verteidigt habe. Das sind basale Orientierungsleistungen, so zynisch sich das jetzt anhört, und die werden desto mehr auftreten, je extremer der Stress wird, der auf Gesell- schaften ausgeübt wird." Spr. Meist hindert das die Täter nicht daran, sich selbst zu loben ob der Anständigkeit, die sie angeblich bei ihrem Tun an den Tag gelegt hätten. Anstand heißt in einem solchen Fall: die Morde in einen für sich selbst sinnhaften Zusammenhang zu stellen. Etwa indem man - nicht nur symbolisch - die Flüchtlinge von der Bootskante schubst. TAKE 23 Welzer 40'27 "Solche Sonntagsreden-Kategorien wie die Anständigkeit, Morali- tät, Humanität sind historisch von einer Geschmeidigkeit und Variabilität, daß man wirklich nur staunen kann." Benutzte Literatur - Harald Welzer, Klimakriege, Wofür im 21.Jahrhundert getötet wird, Fischer Verlag, 2010 - Harald Welzer, Klaus Wiegandt (Hrsg.) Perspektiven einer nachhaltigen Entwicklung, Fi- scher Verlag, 2011 - Gwynne Dyer, Schlachtfeld Erde, Klimakriege im 21.Jahrhundert, Klett-Cotta, 2010 - Nico Stehr, Hans von Storch, Klima, Wetter, Mensch, Verlag Barbara Budrich, 2010 - Harald Welzer, Hans-Georg Soeffner, Dana Giesecke (Hrsgl.) Klimakulturen, Soziale Wirklickeiten im Klimawandel, Campus Verlag, 2010 - Ulrich Beck, Edgar Grande, Jenseits des methodologischen Nationalismus, in: Soziale Welt 3-4/2010, S. 187ff - Sönke Neitzel, Harald Welzer, Soldaten, Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Fi- scher-Verlag, 2011 8 14