Deutschlandradio Kultur Wortspiel: 25. Februar 2014, 19.30 Uhr Redaktion: Dorothea Westphal Autorin: Susanne von Schenck Aufnahmeleitung: Technik: "Brüchige Alpenidyllen" Zu Besuch bei rätoromanischen Schriftstellern Vallader, Putèr, Sursilvan, Sutsilvan und Surmiran - so heißen die fünf Dialekte des Räto- oder Bündnerromanischen, der vierten Landessprache der Schweiz. Für Arno Camenisch, Autor zeitgemäßer alpiner Anti-Idyllen, ist die Sprache, die noch von gut 35.000 Menschen gesprochen wird, vom Aussterben bedroht. Aber allen Unkenrufen zum Trotz hat sich in der rätoromanischen Schweiz eine kleine, feine Literatur entwickelt: Oscar Peer schildert abgründige Geschichten aus der archaischen Bergwelt. Die deutsche Schriftstellerin Angelika Overath hat rätoromanisch gelernt und lebt inzwischen im Graubündnerischen Sent. Pia Solèr fühlt sich in ihrer Berghütte weniger allein als in Los Angeles oder in China. Leo Tuor, schreibender Alphirt aus dem abgeschiedenen Val Surrein, bleibt dort, weil er die Sprache erhalten möchte. Für die Alpenrepublik ist die vierte Literatur des Landes das Richtmaß für den kulturellen Föderalismus. Eine Reise durch die rätoromanische Literaturlandschaft von Susanne von Schenck Sprecherin 1 = Autorinnentext Sprecherin 2 = Zitatorin: Leta Semadeni, Pia Solèr, Angelika Overath Sprecher 1 = Zitator: Leo Tuor Evt. Vorab Minicollage auf rätoromanisch ca. 0.30 - 40 Arno Camenisch aus Sez Ner Leta Semandeni Gedicht Leo Tuor Anfang Cavrein oder Gedicht Angelika Overath: Interiurs Musik 1 Tüvi Tobler Tr. 11 "mehrsproachig" geht über in Atmo 1 Zug, Ansage frei stehen lassen Sprecherin 1 = Autorin Fast niemand steigt an diesem Nachmittag in Sumvitg, einem kleinen Ort in Graubünden, aus dem Zug. Am Bahnhof wartet Leo Tuor im Auto. Fünf Kilometer sind es bis nach Val. Die Fahrt führt durch einen roh in den Fels gehauenen engen Tunnel hinauf auf tausend Meter Höhe. Val - das sind nur ein paar Häuser. Hier lebt der Schriftsteller Leo Tuor, einer von acht Einwohnern des abgeschiedenen Ortes. 1 Tuor 0.20 (vorab Atmo gehen) Ja, man muss wissen, wo er ist, aber in einer, Stunde ist man in Chur, in zwei in Zürich und in vier in London, das geht noch. Sprecherin 1 = Autorin "Zu verkaufen: Käse und Literatur" ist gut sichtbar auf einem Schild an dem fast 250 Jahre alten Bauernhaus zu lesen, das er mit seiner Frau und drei Söhnen bewohnt. Leo Tuor ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Alphirt, Jäger und Hausmann. Der 54jährige wirkt ruhig, bestimmt und kraftvoll, seine Stimme hat einen melancholischen Unterton. 2 Tuor alles verschwindet 0.19 Wenn man hier lebt, dann ist man immer wieder mit dem Verschwinden konfrontiert, auch im Sinn des Sterbens, Tiere sterben, und es kommt immer wieder etwas Neues. Es ist immer im Wandel und auch die Sprache. Jede Sprache wird mal verschwinden, das Lateinische ist verschwunden, das Griechische ist verschwunden, das Romanische wird verschwinden. Sprecherin 1 = Autorin Dieses Rätoromanische, genauer gesagt, das Idiom Surselvisch, ist der Grund, warum Leo Tuor mit seiner Familie nicht in einer Stadt, sondern im abgeschiedenen Val lebt und gegen das Verschwinden dieser Sprache anschreibt. Solange es dort eine eigene Literatur gebe, ginge das Romanische nicht unter. Und so klingt es in Leo Tuors neuem Buch "Cavrein" - eine Jagdgeschichte voller literarischer und philosophischer Anspielungen. Evt. Musik 2 Tobler Tr. 3 Hackbrett ab. ca 0.16 unterlegen 3 Tuor Lesung Cavrein auf rätoromanisch ca. 0.21 Sprecher 1 = Zitator (Übersetzung) "Die Uhr zeigt halb sieben, und um sieben ist es dunkel. Da nimmt Luisin das Gewehr, als wollte er die Lage prüfen, dreht das Okular des Zielfernrohrs auf sechs, zielt und meint, da brauche es einen Volltreffer. Ich sage: "Schieß du." Er sagt: "Warum soll ich schießen?" Ich: "Schieß du für mich, Luisin." Evt. Musik 2 Tobler Tr. 3 Hackbrett ff Sprecherin 1 = Autorin Noch etwa 50.000 bis 60.000 Menschen sprechen heute rätoromanisch oder bündnerromanisch, wie die vierte Landessprache der Schweiz auch heißt - neben Deutsch, Französisch und Italienisch. Die Anfänge gehen auf das Jahr 15 vor Christus zurück, als sich in Rätien die dortigen Sprachen mit dem Lateinischen zu mischen begannen. Der Sprachwissenschaftler Rico Valär, Autor des Buches "Weder Italiener noch Deutsche", hat sich mit der Geschichte dieser Sprache beschäftigt. 4 Valär 0.29 Um 500, 800 ist die größte geographische Ausdehnung des Gebiets, in dem man so etwas wie protoromanisch spricht. Und dann mit den Einfällen der germanischen Völker wird dieses Gebiet sehr schnell dezimiert. Um etwa 1500 ist das Bündnerromanische schon auf das Gebiet des heutigen Graubünden reduziert. Sprecherin 1 = Autorin Vallader, Putèr, Sursilvan, Sutsilvan und Surmiran - das Rätoromanische spaltet sich in fünf Idiome auf. Ende des 19. Jahrhunderts befanden fortschrittliche Liberale, diese Minderheitensprache verhindere den Anschluss Graubündens an die moderne Welt und plädierten dafür, sie abzuschaffen. Aber da regte sich Widerstand, der 1938 - kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs - in einer Volksabstimmung gipfelte. 92% der Männer - Frauen waren nicht zugelassen - stimmten für Rätoromanisch als Nationalsprache. Musik 2 Tobler Tr. 3 Hackbrett ff unterlegen 3 Tuor Lesung Cavrein rr, bald runterziehen, dann Sprecher 1 = Zitator "Die Sonne ist inzwischen untergegangen, und der Himmel wird dunkelblau, dann violett. Ich sage zu Luisin, wie es in der Jagdliteratur bei Hemingway geschrieben steht: "Wenn sie nicht bis auf eine ordentliche Entfernung herankommen, gehen wir bis auf eine ordentliche Entfernung hin." Wie auf ein Kommando ziehen wir die Ohren ein, kriechen über die Kante und robben voller Respekt in die Geröllhalde hinein, den Steinböcken entgegen, die dort bockstill stehen und uns anschauen. Ich bin der Stierkämpfer Rafael el Gallo, mustere von oben bis unten den Stier mit neun Wülsten und drehe mich dann um zu meinem Bruder José alias Luisin: "Töte ihn für mich, José. Mach es für mich. Ich mag nicht, wie er mich ansieht." Sprecherin 1 = Autorin Leo Tuors Werk ist überschaubar: Gedichte, Essais, drei Romane, die sich alle mit dem Leben in den Bergen befassen: "Giacumbert Nau" ist die Geschichte eines Alphirten, in "Onna Maria Tumera" erzählt Leo Tuor vom Leben einer streng katholischen, rätoromanischen Bauernfamilie. In "Settembrini - Leben und Meinungen" geht es, wie auch in "Cavrein" um die Jagd, um Helden und ihre Trophäen. Wer über die Jagd schreibt, schreibt auch über das Töten. So mögen Vegetarier und auch manche Fleischesser, die ihr Schnitzel steril verpackt im Supermarkt kaufen, bei Leo Tuors Schilderungen hin und wieder zusammenzucken. Seine Bücher sind alles andere als provinzielle Heimatliteratur über schroffe Alpenbewohner. Sie sind voller Hintersinn, leichtfüßig, auch witzig, gespickt mit literarischen Zitaten aus allen Epochen. 5 Tuor Bergler 0.13 Es gibt auch unter den Berglern Intellektuelle, die das ganze Kulturgut mit sich tragen, auch in den Bergen, und nicht nur ihre Gämsen und die Beute von den Bergen heruntertragen, sie tragen auch etwas hoch. Evt. Musik 3 Tobler Tr. 4 ut mi sol ut, ca. 0.30 Sprecherin 1 = Autorin Während Deutsch für Leo Tuor noch eine Fremdsprache war, die er in der Schule lernte, wachsen seine Kinder längst zweisprachig auf. Mehr und mehr verdrängt das Deutsche das Rätoromanische, nicht zuletzt durch Tourismus und die Medien. Wer von den Einheimischen, von Zuzüglern und Touristen ganz zu schweigen, weiß zum Beispiel, dass St. Moritz im Oberengadin eigentlich San Murezzan heißt und dass dort Putèr gesprochen wird? Immer wieder wird das Ende des Rätoromanischen eingeläutet. Der Sprachwissenschaftler Rico Valär sieht das gelassen. 6 Valär Prognose 0.25 Ich denke, im Moment ist die Sprache und die Sprachgemeinschaft genug vital, um auch noch ein paar Jahrzehnte gut zu überleben. Es ist auch so, das ich als Sprachwissenschaftler sehr viele Prognosen schon gehört habe, die datieren 1900, 1910, 1920 da haben u.a. deutsche Wissenschaftler ganz klar aufgezeigt, dass das Rätoromanische bis 1920 ausgerottet sein wird. Solche Prognosen hat es zahlreiche gegeben und bis heute ist noch keine eingetroffen. Sprecherin 1 = Autorin Um die rau und auch melodisch klingende Sprache zu erhalten, gibt die Schweiz inzwischen viel Geld aus. Ein Versuch zu ihrer Rettung: das Rumantsch Grischun, eine Einheitssprache für alle Romanen in Graubünden. Der Züricher Linguist Heinrich Schmidt entwickelte sie 1982 im Auftrag der Lia Rumantscha, der rätoromanischen Dachorganisation. Auf Kantonsebene dient sie erfolgreich als Verwaltungssprache, in den Schulen hat sie es jedoch schwer. Denn Schulbücher in der Kunstsprache Rumantsch Grischun finden bei der Bevölkerung nur wenig Zustimmung. Musik 3 Tobler Tr. 4 ut mi sol ut evt. ab 1.45 Atmo Bus mit Ansage Sprecherin 1 = Autorin Ortswechsel: von Val nach Vrin im Val Lumnezia, dem Tal des Lichts, 1500 m hoch gelegen. Es ist eine romanische Hochburg: fast 95 % der Bewohner des Tals sprechen Surselvisch. So auch Pia Solèr. Sie ist Anfang vierzig und eine zurückhaltende Frau mit wettergegerbtem Gesicht. Große Worte sind ihre Sache nicht. Hin und wieder strahlt sie einen mit ihren graublauen Augen an. Seit 21 Jahren treibt sie Schafe und Kühe der örtlichen Bauern in die rätoromanischen Berge hinauf. 7 Soler draußen 0.20 Dass man draußen in der Natur einfach voll drin ist, das ist das Schönste. Und auch mit den Tieren - man kann es frei gestalten und ist irgendwie weg vom ganzen Stress. Es ist auch streng, aber es ist anders. Sprecherin 1 = Autorin Die Alphirtin ist seit kurzem auch Autorin. "Die Weite fühlen" heißt ihr Buch. Es ist ein schlichter Text, der ein authentisches Leben in der Natur beschreibt - die Rätoromanin hat ihn auf Deutsch geschrieben. Evt Musik 5 Ils Fränzllis da Tschlin Tr. 5 unterlegen Sprecherin 2 = Zitatorin (S. 34) "Jeder kann ein Buch über sein Leben schreiben, auch wenn es noch so unbedeutend erscheint. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass ich etwas zu sagen habe. Die Eremitin, die man nur selten zu Gesicht bekommt, die man nicht einordnen kann." Sprecherin 1 = Autorin Vor drei Jahren lernte Pia Solèr auf der Alp zufällig eine Journalistin kennen. Die war fasziniert von ihr und schrieb später für die "Neue Zürcher Zeitung" ein Portrait über die Hirtin. Das las der Verleger Rainer Weiss aus Frankfurt am Main und schlug Pia Solèr vor, ein Buch über ihr Leben zu schreiben. Sie willigte ein und hat dann aufgezeichnet, was ihr wichtig erschien: ihre Erfahrungen in der Natur, mit den Tieren, mit der Einsamkeit. Musik 5 Ils Fränzllis da Tschlin Tr. 5 unterlegen, ab 1.25 Sprecherin 2 = Zitatorin (S.66) "Was würde ein Psychoanalytiker zu meiner Freiheit sagen? Schon die Frage engt ein. Bestimmt würde er einen Knacks feststellen. Für mich ist die Alp ein Eintauchen in die Natur, ich werde selber zur Natur. Es ist ein zu mir selber Kommen. Natürlich gibt es viele Menschen in der Umgebung, die mein Leben in Frage stellen. Als ich letzten Herbst erst im November aus Vanescha rausgekommen bin, hörte ich, was die Leute so erzählen. Bis Ilanz ging das Gespräch über diese Frau, die ewig lang in der Wildnis lebt. Ich musste fast lachen. Dachte, ich bin da alleine, sehe kaum einen Menschen, sorge trotzdem für Gesprächsstoff. Abgeschieden und doch im Zentrum." 8 Soler Herzbuch 0.15 Ich hab nicht gedacht, dass es so gut ankommt. Wo ich am Schreiben war, habe ich gedacht, ich möchte, dass es ein Herzbuch wird. Und ich glaube, es ist mir gelungen und das freut mich sehr. Musik 6 Corin CD 2 Track 14 evt. unter Autorin unterlegen (Gesang kommt ab ca. 0.49, der soll frei stehen, je nach Länge dann langsam ausblenden) oder nur instrumental als Trenner Sprecherin 1 = Autorin Dass Pia Solèr über die Alp schreibt und damit viele Leser erreicht und Leo Tuor die Graubündner Jagd thematisiert, wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen. Seit einiger Zeit aber geht die rätoromanische Literatur zurück in die Berge, hat Clà Riatsch, Literaturwissenschaftler aus Zürich festgestellt. 9 Riatsch, Heidi 0.59/0.35 (Das Alpthema, das auch von Leo Tuor und Arno Camenisch behandelt wird, galt als das Thema, Stichwort Heidi, das eine moderne Literatur gefälligst meiden soll. Und die romanische Literatur der letzten Jahrzehnte war wirklich bemüht, aus diesen Kuhställen und Alpen und hinter diesen Misthaufen hervorzukriechen und sich der großen Welt zu stellen.) Es gab eine Zeit, das wollten romanische Autoren möglichst urban sein und die Szenarien ihrer Romane in Großstädte verlegen. Jetzt passiert merkwürdigerweise, dass die Rückkehr zu den ursprünglichsten Themen sich literarisch am explosivsten erweist. Leo Tuor und Arno Camenisch sind extrem innovativ in ihrer Schreibart, in ihren Kunstformen, thematisch aber gehen sie zurück zu den Wurzeln, auf die Alpen Schafe hüten, Jagd bei Leo Tuor, Bauerntum, Dorfgemeinschaft, Dorfwirtschaft bei Arno Camenisch. Musik 7 zu Sez Ner geht über in Atmo 5 im Zug nach Biel, Ansage 10 Cam. Biel 0.11 Biel ist irgendwo sehr kontrovers, finde ich, sehr gegensätzlich, es hat hier irrsinnig viele Kulturen, die aufeinandertreffen. Sprecherin 1 = Autorin sagt Arno Camenisch, der seit sieben Jahren in dieser Stadt lebt. Der 34jährige ist der "shooting star" der rätoromanischen Literatur. Seine Werke sind bereits in fünfzehn Sprachen übersetzt, zu seinen performanceartigen Lesungen strömt das Publikum, und der Autor wurde mit Preisen überhäuft. Anders als Leo Tuor oder Pia Solèr hält Arno Camenisch es in den Bergen nicht allzu lange aus. Als Sohn eines Handwerkers im graubündnerischen Tavanasa geboren, zieht er gleich nach der Schule nach Chur, wo er das Lehrerseminar besucht, reist um die Welt, unterrichtet drei Jahre an einer Schweizer Schule in Madrid und studiert anschließend am Literaturinstitut in Biel. Immer wieder kehrt er für kurze Zeit nach Tavanasa zurück. 11 Cam. Tavanasa 0.17 Tavanasa ist ein kleines Dorf, das liegt im Winter drei vier Monate im Schatten, die einzige Sonne findet sich in den Biergläsern. Alkoholismus wie überall auch ist natürlich ein Thema auf dem Land, in abgelegenen Gegenden. Sprecherin 1 = Autorin Dieses schattige Dorf mit seinen zum Teil sonderbaren Gestalten hat durch Arno Camenisch Eingang in die Literatur gefunden. Der Schriftsteller erzählt in seinen Büchern von saufenden Alphirten und groben Kerlen, von Dorfkneipen, die schließen, von mächtigen Lawinen und bekränzten Kühen, die nach dem Sommer auf der Alp wieder ins Dorf getrieben werden. Oder von kaputten Sesselliften wie in seinem jüngsten Roman "Fred und Franz" Evt. Musik 8 Fränzlis Tr.10 unterlegen 12 Camenisch Lesung 2 aus Fred und Franz bis 0.29, evt. länger "Auf dem Sessellift. Wie lange hängen wir schon hier ober, fragt der Franz. Zwei Stunden und ein paar Groschen sagt der Fred. Um runterzuspringen sind wir zu hoch, fragt der Franz. Kannst ja versuchen, brichst dir die Beine. Porca miseria, sagt der Franz, einfach den Sessel mit Leuten drauf am Abend abschalten. Bei diesem Nebel, sagt der Fred, das passiert, ist sicher nicht böse gemeint...." Sprecherin 1 = Autorin Außerdem im Casino, beim Holzhaken oder vor dem Kiosk - in 24 Alltagsszenen begleitet der Leser die beiden Freunde durch ein Jahr und hört ihnen zu, wie sie über das Leben, die Liebe und den Tod räsonieren. Arno Camenisch hat in ihr Deutsch gekonnt und unterhaltsam verschiedene rätoromanische Sprachmelodien hineingesetzt - denn natürlich sind Fred und Franz waschechte Bündner. 13 Cam. Gegend 0.32 Manchmal fragen mich die Leute, warum denn meine Texte in Graubünden eingebettet seien und ich sag dann immer: ich schreibe über den Menschen, mich interessiert immer der Mensch und im Zentrum steht der Mensch, wie er redet, mich interessieren seine Freuden, seine Leiden, seine Zweifel und auch seine Verletzlichkeit. Erst die Verletzlichkeit macht die Figur für uns Leser zugänglich. Der Grund, warum meine Texte in Graubünden spielen, ist ganz banal: weil ich aus dieser Gegend stamme. Musik 7 zu Sez Ner geht über in Lesung Arno Camenisch rätoromanisch, runterblenden, Sprecherin 1 = Autorin Seinen ersten Roman "Sez Ner" schrieb Arno Camenisch noch zweisprachig. Es ist der erste Band seiner Bündner Trilogie, die beiden anderen heißen "Hinter dem Bahnhof" und "Ustrinkata". Inzwischen schreibt er ausschließlich auf Deutsch, seine Sprache ist jedoch stark vom Rätoromanischen beeinflusst. Lesung Arno Camenisch Lesung deutsch, Übersetzung von oben, 0.37 "Der Senn hängt an seinem Gleitschirm in den Rottannen, unterhalb der Hütte der Alp, am Fuße des Sez Ner. Er hängt mit dem Rücken zum Berg. Von der Hütte aus hört man ihn fluchen. Mit dem Gesicht zur anderen Talseite, wo die Spitzen der Berge gegen den Himmel ragen, Seite an Seite. In Mitte der Piz Tumbiv, mächtig, wie er da steht mit seinen 3301 Metern als überrage er die anderen schneefreien Bergspitzen. Der Zusenn sagt: Der kommt dann schon wieder, der soll ruhig noch ein bisschen zappeln, wenn er schon nicht rübergekommen ist." Sprecherin 1 = Autorin Das präzise Deutsch, sagt Arno Camenisch, sei seine Literatursprache, rätoromanisch hingegen die Sprache seines Herzens. So entstehen eigene Wortschöpfungen und ein ganz besonderer Sprachrhythmus. 14 Cam. romanisch 0.24 Wenn ich auf Deutsch schreibe, arbeite ich auch mit Klängen und mit Tonalitäten aus dem Rätoromanischen. Wenn ich ein Wort entfremde, verschiebe, das Wort etwas mehr ins Romanischen bringe oder es einfärbe, dann sind genau solche Klänge, Tonalitäten für mich wichtig. Ich arbeite damit. Man trägt den Sound mit. Musik 9 Fränzlis Tr. 12 Sprecherin 1 = Autorin Wie Arno Camenisch schreiben immer mehr rätoromanische Autoren zweisprachig oder gleich auf Deutsch, nicht zuletzt, um sich damit eine größere Leserschaft zu sichern. Viele ihrer Bücher erscheinen in der Chasa Editura Rumantscha in Chur. Der Verlag wurde 2010 als neue Heimat für die rätoromanischen Schriftsteller gegründet. Dort arbeitet Anita Capaul. 15 Capaul Verlag 0.20 Was wir immer mehr machen, ist die Bücher zweisprachig zu publizieren, dann in synoptischer Weise. Auf der rechten Seite steht der rätoromanische Text und links die deutsche Übersetzung. So können wir auch über die rätoromanischen Grenzen hinaus das Rätoromanische wirken lassen. Sprecherin 1 = Autorin Zum Beispiel mit den Gedichtbänden von Leta Semadeni. Sie ist die "grande dame" der rätoromanischen Lyrik. Musik 11 Corin CD 2 Tr. 11 instr. Bis 1.11 unter Gedichte legen, dann langsam weg. 16a Sem. Gedicht rätoromanisch 0.11 17a Sem Gedicht deutsch dt. 0.10 (evt. auch weiter unten, je nach Zeit) Gedichte lesen Leg das Herz In die Lücke. Spring ohne Netz Auf die Nächste Zeile. Sprecherin 1 = Autorin Leta Semadeni stammt aus Scuol in Graubünden, studierte Sprachen in Zürich, lebte in Italien, in Paris, im ecuadorianischen Quito und in Berlin. Vor einigen Jahren ist sie ins Unterengadin gezogen. Atmo 9 Zug mit Ansage Lavin Sprecherin 1 = Autorin Lavin ist ein verträumtes 200 Seelen-Dörfchen: mit einer Kirche, zwei Hotels, einer Schreinerei, einem Gitarrenbauer und dem Kulturzentrum La Vouota. Hier wird vorwiegend Vallader gesprochen. Das ist auch Leta Semadenis Muttersprache. 17 Sem. auf Straße im Gespräch, runterblenden Sprecherin 1 = Autorin Leta Semadeni ist eine zierliche, agile Frau mit dunklen, mittellangen Haaren. Dass sie in diesem Jahr siebzig wird, sieht man ihr nicht an. (Am Ortsausgang von Lavin bewohnt sie ein modernes weißes Haus mit offenen Räumen und viel Licht. 18 Sem Eremitin 0.22 Ich bin eh schon ein bisschen Eremitin, war ich immer schon. Ich bin sehr gern und gut allein. Ich bin gerne in Gesellschaft, wenn ich entscheiden kann, wann ich wieder verschwinden kann. Aber große Menschenmengen habe ich nicht sehr gern.) Sprecherin 1 = Autorin "In mia vita da vuolp" - "In meinem Leben als Fuchs" heißt ihr letzter, zweisprachiger Gedichtband, der 2010 in der Chasa Editura Rumantscha erschien. Darin kommt hin und wieder ein Tier vor, wie auch schon in ihrem ersten Band "Monolog für Anastasia", dem ein ihr zugeflogener Uhu den Titel gab. 19 Sem. Tiere im Gedicht 0.22 Das war kein Programm. Ich wollte nicht über Tiere schreiben, aber diese Tiere schleichen sich einfach in meine Gedichte, und es gibt sogar ein Gedicht, was darüber nachdenkt: Immer wieder schleicht ein Tier durch meine Texte. Das hat sich so ergeben, ich weiß nicht warum diese Tiere so viel in meinen Gedichten vorkommen. Sprecherin 1 = Autorin Eine künstlerische Ader liegt in Leta Semadenis Familie. Ihr Vater Jon war ein berühmter Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur - er gilt als Erneuerer des rätoromanischen Theaters. In seiner Bibliothek standen neben italienischer und französischer Literatur auch viele deutsche Bücher. Leta Semandeni entdeckte dort die Welt der Literatur und Sprache für sich. 20 Sem zweisprachig 0. 34 Heutzutage spielt es keine Rolle, ob ich auf Deutsch anfange oder auf Romanisch, ich mache auch kein fertiges deutsches Gedicht und übersetze es dann ins Romanische oder umgekehrt, sondern ich fange mal an mit zwei Zeilen, dann schau ich, wie klingt es in der anderen Sprache, dann finde ich dort eine bessere Möglichkeit und ändere wieder die Ausgangssprache und so ist es ein Dialog zwischen den beiden Sprachen und nicht ein Übersetzen. Sprecherin 1 = Autorin Deutsch, sagt sie, war ihre erste große Liebe. Und deshalb schreibt sie zweisprachig - ein Gedicht ist immer erst dann fertig, wenn es auf Deutsch und Rätoromanisch "richtig" klingt. 17a Sem Gedicht deutsch dt. 0.10 Gedichte lesen Leg das Herz In die Lücke. Spring ohne Netz Auf die Nächste Zeile. (oder, wenn die Zeit reicht: 21 Sem. Lesung erst auf Rätoromanisch, dann Sprecherin 2 = Zitatorin deutsch "In Großmutters Truhe In Großmutters Truhe War eine Tasche Mit Wörtern. Die flechte ich zu einem Zopf und seile mich ab In ihre längst Vergangene Zeit.") Musik 10 Corin CD 2 Tr. 9 geht über in Sprecherin 1 = Autorin Eine Schriftstellerin nimmt eine Sonderrolle innerhalb der rätoromanischen Literatur ein: Angelika Overath. Die Deutsche ist eine Kulturvermittlerin in beide Richtungen. Vor sieben Jahren zog sie mit ihrer Familie aus Tübingen nach Sent, das nicht weit von Lavin entfernt ist. Atmo 6 Kühe (Archiv) 22 Over. Kühe 0.20 Das sind diese Kühe im Schnee, über die ich auch geschrieben habe, die sich nicht bewegen, weil, ja, sie schieben Biodienst so ein bisschen. Sie finden das nicht schlecht, aber es ist surreal, ein Schneefeld mit Kühen. Also ich hab das schon gern. Evt Atmo 6 Kühe hoch Sprecherin 1 = Autorin Angelika Overath schaut amüsiert auf die Kühe, die etwas ratlos am Ortsausgang von Sent im Schnee stehen. Geschrieben hat sie über die Tiere in ihrem 2010 erschienen Buch "Alle Farben des Schnees - Senter Tagebuch". Darin schildert sie anschaulich, wie sie mit ihrer Familie in den Ort umzieht, in dem sie jahrelang ihre Ferien verbracht hatte: nach Sent. Der Ort hat knapp tausend Einwohner, ist sowohl durch die regionale Bauernarchitektur geprägt als auch durch italienische Bauten. Die sind das Erbe der "Randulins", der "Schwalben". So werden jene heimatverbundenen Einheimischen genannt, die einst aus wirtschaftlicher Not Sent verließen und als Zuckerbäcker ihr Glück in Italien versuchten. Angelika Overath ist eine Schwalbe im umgekehrten Sinn: eine Zugezogene. Evt. Atmo 7 im Bus, Leute reden unterlegen Sprecherin 2 = Zitatorin "Scuol-Tarasp, Endstation der Rhätischen Bahn. Ich nehme meinen Rucksack. Vom Zug sind es wenige Schritte über den Bahnhofsplatz zur Haltestelle des Postautos nach Sent. Drüben auf der Südseite des Tals ziehen die weißen Gipfel der Unterengadiner Dolomiten über ein metallenes Schild aus Nachmittagsblau. Hinter dieser Bergkette beginnt schon Italien. ... Es ist warm und riecht nach Schnee. Hier möchte ich Ferien machen, denke ich. Und dann erschrecke ich für einen Moment. Denn das ist vorbei." Evt etwas Atmo von OT 29 vorab Sprecherin 1 = Autorin Denn nun lebt sie in Sent und hat dort eine alte Bäckerei gekauft. 23 Over. Im Haus 0.31 Da ist der Hund, hallo, da sieht man noch den alten Backofen und diesen Schrank, da lagen die Meringues und die Süßteilchen.(Hund bellt). Das ist der alte Ofen, hier wurde das Brot vom Dorf gebacken. Ich finde es einen schönen Gedanken, an einem Ort zu schreiben, wo Brot gebacken wurde. Der Ofen gibt einem die Illusion, es kommt etwas bei raus, es wird schon werden. Sprecherin 1 = Autorin Wie kommt man an, wie wird man heimisch? - diese Fragen treiben Angelika Overath um. Es ist ein sich Neu- Erfinden in wohlwollender und aufgeschlossener Umgebung. Ihr Leben in Sent schildert die Schriftstellerin, Essayistin und Reporterin in ihrem Buch so überzeugend, dass man sich als Leser beinahe fragt, ob man nicht auch dorthin ziehen sollte. Ein Thema ist bei ihr allgegenwärtig: das Rätoromanische, das in ihrer Wahlheimat noch sehr lebendig ist und eine feine Trennlinie zieht zwischen Feriengästen, Zugezogenen und Einheimischen. Angelika Overath tut sich schwer mit dieser neuen Sprache, während ihr Mann und der kleine Sohn sie schnell gelernt haben. 24 Over. Sprache 0.29 Ich finde diese Sprache so wahnsinnig schön, ich musste immer weinen, so schön fand ich sie. Es hat mich so berührt, es ist eine bäuerliche Sprache, es ist eine bildhafte Sprache, es ist eine sehr, sehr alte Sprache, es hat mich berührt und deswegen konnte ich es nicht einfach so lernen, konnte ich nicht einfach so reden. Ich habe dann einen Weg gefunden, die ich so Sprachspiele nenne, so kleine Gedichte, die ich geschrieben habe, die dann aber auch von den Romanen gern gehabt werden. Sprecherin 1 = Autorin "Poesias dals prüms pleds - Gedichte aus den ersten Wörtern"- so heißt ihr kleiner Band mit rätoromanischen Gedichten, der in diesem Jahr, neben einem deutschsprachigen Roman von Angelika Overath, erscheinen wird. Gedichte begann sie erst durch die Beschäftigung mit der rätoromanischen Sprache zu schreiben. 25 Over. liest Gedicht auf rr vor, ohne Übersetzung 0.16 Evt. Musik 1 vom Anfang aufnehmen, Tüvi Tobler Tr. 11 "mehrsproachig" Sprecherin 1 = Autorin Eine Deutsche, die versucht, auf Vallader zu schreiben, eine Romanin, die wie Pia Solér nur auf Deutsch schreibt, weil für sie die eigene Muttersprache zu emotional ist, ein Autor wie Leo Tuor, der Surselvisch schreibt und mit seinen Sprachspielen seinem Übersetzer einiges abverlangt, eine Lyrikerin, die ihre Gedichte auf rätoromanisch und deutsch gleichermaßen verfasst, ein phantasievoller Performer, der zweisprachig ist und in beiden Sprachen gekonnt hin- und her springt - die rätoromanische Gegenwartsliteratur ist nicht nur reich an sprachlichen Ausdrucksformen, sondern auch inhaltlich reizvoll: sie hat das Ursprüngliche im Blick und verwandelt es auf vielfältige Weise. Waren die Berge einst einengend, so öffnet sich jetzt von ihnen aus die Sicht auf die Welt. Musik 1 ausklingen lassen 1 "Brüchige Alpenidyllen"