Deutschlandradio Kultur Zeitreisen 7. März 2012 Als Vertriebene der Hexerei verdächtigt wurden Sündenböcke in Zeiten von Umbruch, Unsicherheit und Krise Feature von Christian Schiller und Marianne Wendt O-Ton ARCHIV Prozessbericht NDR, (1955) 18:09 Eberling: Sie haben mich geholt, die Kinder konnten nicht schlafen und daraufhin mehrere Male hat sie mir Bescheid gesagt und daraufhin bin ich hingefahren und habe mit ihr gesprochen und dann habe ich die Kinder auch besprochen. Sie meinte ihre Kinder wären in Gewalt von Bösem. Richter: Meinte sie? Eberling: Ja, das hat sie mir gesagt. Richter: Schön. und was stellten sie fest? Eberling: Dass die Kinder suggestiert waren. Richter: Dass die Kinder suggestiert waren? Das ist zwar ein Wort, das ich nicht kenne aber - Eberling: Das ist "voller Strom", das ist so ähnlich, als wenn man hypnotisiert ist. Moderatorin (Prozessbericht NDR, 1955) Es mutet wie eine Geschichte aus dem Mittelalter an, wenn man im Jahre 1955 von einem Hexenprozess spricht. Im Zeitalter der Luftfracht und des Kraftverkehrs, der exakten naturwissenschaftlichen Forschung, scheint kein Platz mehr zu sein für den bösen Blick wie er von rothaarigen alten Weibern und verhexten Menschen zum Verderben anderer angewendet wird. Außerhalb der Bereiche aufgeklärter Menschen aber - und das soll diese Sendung beweisen, die über den vierten Hexenprozess im Jahre 1954 in Schleswig-Holstein berichtet, lebt der Glaube an die böse Gewalt, an den bösen Blick, an die Macht von Heilsprüchen und Beschwörungen mitten unter uns, auch heute, im Jahre 1955. #00:00:45-4# SPRECHER Nicht nur der Norddeutsche Rundfunk berichtet in den 50er Jahren noch von Hexenprozessen. Die Zeitschrift "Der Spiegel" meldet 70 derartiger Verfahren in der Bundesrepublik, allein im Jahre 1950. ZITATOR Ebenso oft erschien personifiziertes Mittelalter in Gestalt von "Spökenkiekern", "weisen Frauen", "Hexenbannern" und sonstigem Kroppzeug des magischen Okkultismus vor den Gerichtsschranken." SPRECHER Für Historiker offenbart sich in den so genannten Hexenprozessen der 50er Jahre ein Transformationsdruck, der die deutsche Nachkriegsgesellschaft prägte. Das Bewusstsein der meisten Menschen war noch von Zerstörung, Verlust und Existenzangst geprägt, und nicht von Neuanfang, Fortschritt und Freiheit. Zahlreiche Bürger der jungen Republik waren offenbar noch nicht so mündig, wie die demokratische Staatsform es ihnen abverlangte. Technik, Medizin und Wissenschaft brachen auf zu neuen Ufern: Der erste Herzschrittmacher wurde eingesetzt, das Fernsehen ging auf Sendung, in der Luft rasten Überschallflugzeuge, Atomstrom wurde produziert, und die Solarzelle erfunden. Aber im Alltag kämpfte der Einzelne noch immer mit den Kriegsfolgen. O-Ton MARTIN GIETZELT Schleswig Holstein ist das Flüchtlingsland Nr.1. So hat es der damalige Ministerpräsident Schleswig Holsteins benannt, mit Recht und das hat zwei Gründe: das eine ist der Fluchtweg nach dem Kriege, der führte viele Menschen nach Schleswig-Holstein weil Schleswig-Holstein unbesetzt war, bis zuletzt unbesetzt, und weil der Weg über die Ostsee eine Möglichkeit war eben in den unbesetzten Teil Deutschlands zu kommen. SPRECHER Martin Gietzelt, Historiker, Politikwissenschaftler und Leiter des Vereins Volkshochschulen in Dithmarschen. O-Ton MARTIN GIETZELT Der andere Aspekt ist: es gab durchaus auch eine Lenkung dann direkt nach dem Krieg, nämlich die Menschen dorthin zu bringen, wo relativ wenig Zerstörung war und wo relativ viel Platz war, also ländliche Räume. Damals gab es zwei Kreise: in Dithmarschen - Norder- und Süderdithmarschen wurde erst 1970 fusioniert - und in beiden Kreisen kamen etwa so 70 bis 80 Prozent der Bevölkerung dazu. KURT KNORR Ich bin Kurt Knorr .. 1928 geboren .. irgendwo in Westpreußen.. 12:04 (...) unsere Familie, Mutter, drei Schwestern und ich, kamen dann nach Eiderstedt, hier in die Nachbarschaft von Dithmarschen. Oh, ich hätte damals nicht in der Verantwortung stehen müssen als Bürgermeister des Ortes und als Gemeinderat oder so. Der bekam das einfach vom Kreis her verordnet und dann wussten Sie, sie bekommen weitere zwanzig oder dreißig Flüchtlinge, sehen Sie zu, wo Sie die unterbringen. Dass sie in arge Bedrängnisse und Not gerieten und auch nicht mehr wussten wie (..) und (...) das Glückliche war ja dies, dass Leute, die kamen, sagten: "Wir sind davon gekommen. Wir leben jetzt hier und irgendwie denken wir, wird das also hoffentlich Stück um Stück weiter gehen." Man war dankbar dafür, dass es überhaupt Menschen gab, die einen aufnahmen. SPRECHER Neben dem Flüchtlingsstrom kam für die alteingesessene Landbevölkerung ein weiteres Problem hinzu: die zunehmende Mechanisierung und die Flurbereinigung, die einen Eingriff in Jahrhunderte alte Strukturen bedeutete. Die Bauern kamen am spätesten mit der Industrialisierung in Berührung. Und mussten plötzlich am schnellsten nachziehen: Sie stolperten gleichzeitig nach vorn und sehnten sich zurück nach überkommenen Traditionen. O-Ton ARCHIV MODERATORIN (Prozessbericht NDR, 1955) Der Prozess von dem wir berichten wollen, wurde im Oktober 1954 und im Mai 1955 durchgeführt. KRAMER Dann kam es ja auch in Sarzbüttel da im Gasthof Klausen mit sehr reger Beteiligung der Dorfbevölkerung ... das war ja auch ein Highlight so, nich, war ja ma was anderes. ARCHIV MODERATORIN (Prozessbericht NDR, 1955) Er hatte insgesamt sechs Verhandlungstage, von denen vier im Dorfgasthaus von Sarzbüttel in Dittmarschen und zwei im großen Verhandlungssaal des Landgerichtes Itzehoe stattfanden. OT KRAMER Also wir als Kinder durften da ja gar nicht rein. SPRECHER Wolfgang Kramer. Drehermeister aus Sarzbüttel. O-Ton KRAMER Wir haben ja nur bisschen weiter Abstand gestanden. Es war ja im Sommer, die Fenster waren weit auf, nich? Aber rein durften wir nicht. (...) ab und zu soll das auch, weil ja da so einige Sachen erzählt wurden, ein hämisches Gelächter ausgebrochen sein so, nich? Über einige Sachen. SPRECHER Im Gegensatz zum Mittelalter, wo vor allem Hebammen, Kräuterwissende und Heilerinnen als Hexen verbrannt wurden, ist die typische "Hexe" der Wirtschaftswunderjahre keine alte, bucklige Frau mit Warzen, zusammengewachsenen Augenbrauen und Kopftuch. Im Gegenteil: Meist trifft es den, der auf irgend eine andere Art und Weise Neid und Missgunst auf sich zieht: Die hübsche Nachbarin, die Ehefrau, deren Mann als einziger aus dem Krieg zurückkehrte, die Frau, die ihren Besitz retten konnte, oder die tüchtige, allein stehende Flüchtlingsfrau aus den Ostgebieten. O-Ton JULIANE WETZEL In vielen Ländern sind es die Zuwanderer, also die man eben oder die eben mit Migrationshintergrund, die man als Eindringlinge wahrnimmt, SPRECHER Juliane Wetzel, Historikerin. O-Ton JULIANE WETZEL ... die eben die Krise, etwa die Weltwirtschaftskrise, noch verstärken, weil sie ja auf unsere sozialen Sicherungssysteme zurückgreifen, ohne dabei natürlich zu sehen, dass diese Zuwanderer ja auch dazu beitragen, zu den sozialen Sicherungssystemen, und Steuern zahlen, Sozialversicherung zahlen, wahrgenommen werden, aber nur die, die sozusagen ja angeblich auf der Straße herumlungern und unser Geld abgreifen... SPRECHER Bis weit in die 60er Jahre wurden der Hexerei verdächtige Frauen geprügelt, ihnen wurden Fenster eingeworfen, man spuckte vor ihnen aus und kaufte nicht mehr von ihnen. Wer sich von einer Hexe "geschädigt" fühlte, zog nicht selten einen sogenannten "Hexenbanner" zu Rate. Doch manch ein Hexenbanner zog seinem Auftraggeber nur das Geld aus der Tasche. Und auch die als Hexen diffamierten Frauen zogen vor Gericht. O-Ton ARCHIV MODERATORIN (Prozessbericht NDR, 1955) Angeklagt war ein 46 jähriger Tischlermeister, Waldemar Eberling aus Nordhastedt wegen Betruges, Vergehen gegen das Heilpraktikergesetz, Verleumdung, und fahrlässiger Körperverletzung. Wir hatten die Genehmigung der ersten Strafkammer des Landgerichtes Itzehoe und ihres Vorsitzenden, Landgerichtsdirektor Rostock, an allen Verhandlungstagen den Prozess auf Band aufzunehmen. ARCHIV (Prozessmitschnitt) Richter: Wir verhandeln gegen den Tischlermeister Herrn Waldemar Eberling, es erscheint der Angeklagte mit seinem Rechtsanwalt Kremmendahl; die Zeugen sind auf eine spätere Terminstunde geladen. Herr Eberling, Wie heißen sie mit Vornamen? Eberling: Waldemar. Richter: Waldemar. Ihre weiteren Namen? Hans Albert? Eberling: Ja. Richter: Sie sind von Beruf? Eberling: Tischler. SPRECHER Die selbsternannten Spezialisten wurden um Rat gefragt, wenn man etwas für das Werk von Bösen Mächten hielt. Egal, ob plötzliche Erkrankungen, Todesfälle, versiegende Milch von Kühen, schreiende Säuglinge, untreue Ehemänner, Verschwendungssucht der Schwiegertochter, Faulheit des Sohnes, ja selbst der Ausfall technischer Geräte wie ein nicht anspringender Traktor konnten als Hexerei diagnostiziert werden. O-Ton ARCHIV (Prozessmitschnitt) Richter: Und sind geboren wann? Eberling: Am 16.10.08 in Itzehoe. Richter: Itzehoe. Und sie wohnen in? Eberling: Nordhastedt. Richter: In Nordhastedt. Sie sind Deutscher? Eberling: Jawohl. KRAMER Also Herr Ebeling hatte ja sehr viel Fähigkeiten, nich? Da war ja auch eine Familie im Dorf. Der Mann war sterilisiert und die wollten gerne ein Kind haben. Und da hat man sich auch an Ebeling gewandt. Und da hat der Herr Ebeling gesagt: "Ja, das ist möglich." Dann hat er mit dem Mann ein Gespräch geführt und dann hat er mit der Frau einen Spaziergang gemacht und dann in einem ... in einem dunklen Flur hat man sich sehr viel Liebe hingegeben und siehe da, die Frau wurde schwanger und hat ein Kind geboren. MARTIN GIETZELT Es hat natürlich große Schwierigkeiten gegeben, das ist überhaupt keine Frage... SPRECHER Martin Gietzelt, Historiker. O-Ton MARTIN GIETZELT ... und viele Fälle, die auch dokumentiert sind, wo man den Aufnehmenden, den Gastgebern, wenn man so will oder denjenigen, die eben Wohnraum abgeben mussten, attestieren muss, dass sie ihrer Verantwortung in keinster Weise gerecht wurden, dass sie boshaft waren, dass sie ihre Möglichkeiten genutzt haben um den Leuten das Leben schwer zu machen, die ja gar nichts dafür konnten. KRAMER Mein Name ist Wolfgang Kramer, ich bin auch Flüchtling, ja, also, dass es diese Stimmung gab, dass man, ich will mal so sagen, bei einigen Leuten nicht gern gesehen war. Es ist ja so, wir kamen mit einem Flüchtlingstreck hier an und wir wurden dann ja einfach zugewiesen, nich? Wir wurden zugewiesen bei den Bauern. Damals war es ja so, dass Sarzbüttel um diese Zeit ... von 600 so und so viel auf 1100 gegangen ist, durch die Flüchtlinge alle, nich? Das war ja ein enormer Anstieg dann. SPRECHER Auf der außerordentlichen 15. Sitzung des Landtages von Schleswig-Holstein am 28. September 1948 stellte der Landesminister für Umsiedlung und Aufbau, Walter Damm, das Flüchtlingsproblem als Ursache für die Not des Landes in den Mittelpunkt seiner Rede. O-Ton Minister Damm (Archiv, 1949) Was mich empört aber ist die Gleichgültigkeit, mit der seit Jahren neben dem Elend dieser vom Schicksal so schwer getroffenen deutschen Menschen tausendfältig jedem einzelnen täglich zur Schau gestellt ist. Noch heute hausen in 411 Legern mit 3000 Baracken rund 90.000 Flüchtlinge. Verwanzt, krank, zerbrochen an Leib und Seele sind diese Menschen trotz aller Betreuungsmaßnahmen eine einzige Anklage. Wer sich dem Gebot der Menschlichkeit, der wirtschaftlichen Vernunft und der gemeinsamen Verpflichtung in dieser Stunde entzieht, überhört die in den Elendsquartieren erhobenen Anklagen, und macht sich mit schuldig an den Folgen einer unausbleiblichen Verzweiflungstat verelendeter Massen. MARTIN GIETZELT Schwierigkeiten zu haben, sein Eigentum, sein Haus zu öffnen, ist noch nicht das moralische Verdikt, würde ich sagen, aber nicht zu erkennen, dass man sich solidarisch verhalten muss und das man deshalb (...), dass man sein Herz bewegen muss, da fängt es an, wenn man dann betrügt, und so tut als ob, da fängt es an wo man sagen muss, ja dann werden die Leute irgendwann ihrer Verantwortung nicht mehr gerecht. JULIANE WETZEL Ich denke, dass man vor allen Dingen in Krisenzeiten, die wir ja jetzt gerade wieder haben, immer wieder Sündenböcke braucht, um sozusagen mit unerklärlichen oder schwer erklärbaren, sei es ökonomischen Fragen oder Fragen, die sich um Naturkatastrophen drehen, etwas braucht, worauf man eben sich beziehen kann und einfache Erklärung finden kann. Und da sind Sündenböcke sozusagen der zentrale Mechanismus. SPRECHER Juliane Wetzel, Historikerin am Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. O-Ton JULIANE WETZEL Wir haben das ja erlebt, eben seit den Anschlägen 2001, 9/11, dass da die Muslime jetzt die Verantwortlichen sind für alles, was daraus sich ergeben hat. (...) Und das sind natürlich Stereotype, Vorurteile, Sündenbock-Theorien, die ganz alt sind, die sich dann immer wieder zeigen und immer wieder an die Oberfläche kommen, wenn solche Krisen passieren. SPRECHER In den 50er Jahren des vorherigen Jahrhunderts nahmen als Hexen stigmatisierte Frauen die Rolle von Sündenböcken ein. Der Hamburger Volksschullehrer Johann Kruse hat Gespräche mit angeblichen Hexen und Hexenbannern geführt. Sein umfangreiches Material bildete später den Grundstock des Hexenarchivs im Museum für Völkerkunde in Hamburg. In seinem Buch "Hexen unter uns" beschreibt er eine beliebte Methode zur Übertragung eines Unglücks auf einen anderen Menschen. ZITATOR Leidet jemand an Flechten, Beulen oder Knochenfraß, so muss er den Ausfluss von diesen Krankheiten auf ein Geldstück oder einen sonstigen Gegenstand aufstreichen und auf die Strasse werfen. Wer das Fortgeworfene aufnimmt, auf den überträgt sich die Krankheit. Um ganz sicher zu gehen, geben manche Abergläubige Bettlern oder Hausierern Brot oder Geld, das mit Auswurf, Eiter oder Blut eines Kranken beschmiert ist. SPRECHER Beim infizierten Auswurf funktioniert die vom Kranken gewünschte Übertragung auf metaphorischer und zugleich auf der realen Ebene, denn der arme, unwissende Bettler steckt sich tatsächlich durch den Genuss des infizierten Brotes mit der Krankheit an. O-Ton Richter: Und was haben sie da noch weiter bei Pieper getan? Ebeling: Dann habe ich gesagt, sie solle Watte ins Schlüsselloch stecken und da sollen drei Nadeln sollen da reingesteckt werden. Richter: Ja. In bestimmter Weise? Ebeling: Ja. ich habe gesagt, die Pänomen um die es ja geht - Richter: Was? Ebeling: Pänomen. - Pause - Pä Pänomen. Richter: Ja, was sind das? Ebeling: Das sind Einwirkungen, die natürlich philosophisch zu ergründen sind, die ich ja auch noch nicht weiß. das sind böse Einwirkungen. Richter: Böse Einwirkungen? Schön. Wobei ich feststelle, dass dieser Ausdruck "böse Einwirkungen" erstmalig hier gebraucht wird und von ihnen kommt... Ebeling: Ja. Richter: Gut. Also, diese Phänomene oder was das ist, diese bösen Einwirkungen abzuhalten. Watte in das Schlüsselloch und drei Nadeln, ist das richtig? Ebeling: Ja, wenn so eine Einwirkung kommt, dann sind die Spitzen nach draußen und da stößt sich das gleich ab. Richter: Ist das denn etwas körperliches, diese Pänomene? Ebeling: Nein, das ist natürlich philosophisch zu ergründen. Richter: Schön. SPRECHER Der studierte Jurist und Richter stand dem damaligen Hexenglauben ratlos gegenüber. Der Umgang mit dieser Art von Aberglauben war in seiner Ausbildung nicht vorgesehen. Am einfachsten erschien es, die sonderbaren Prozesse gar nicht erst zuzulassen. Die Begründung: Da es seit dem Mittelalter keine Hexen mehr gab, konnte die Bezeichnung "Hexe" auch keine Beleidigung mehr darstellen. Verhandelt wurde erst, wenn jemand konkret zu Schaden gekommen war. O-Ton Richter: Da haben sie gesagt, sie müssten das Haus abschirmen? Ebeling: Ja. KRAMER Wir haben ja in einem Fall auf Nachbarschaft gewohnt. Und da war das Kind krank und ... da konnte ich aus meinem Bett gucken, oben rüber ins Nachbarhaus in die erste Etage. Und da war dann ein Mann mit einem Tuch, mit einem Laken, der durch die ganze, dieses ganze Zimmer lief, immer rauf und runter, und ging dann zum Fenster und schüttelte wieder aus. Das tat er die ganze Zeit. Das sagte ich schon zu meiner Mutter: "Du Mutter, was macht der denn da oben?" "Ja, das weiß ich nich!" Aber nächsten Morgen, Mutter war ja auch ein bisschen, oder nicht bange, sage ich mal, fragt dann die Frau die Mutter: "Du, was war denn gestern Abend da los?" und so weiter ... "Ja, ja, du weiß doch, unser Kind ist immer krank.." Prozessmitschnitt Antoni: Ja, da sagte Herr Eberling zu mir, ich sollte mal in das Haus gehen - da holten wir immer unsere Milch. Richter: In welches Haus? zeigt er da? Antoni: Gegenüber, ja, wo Marßens wohnen. Dann würde die Frau sich selber verraten, sagte Herr Eberling zu mir. Richter: Hm. KRAMER ... und der Ebeling hat dann zu dieser Frau gesagt: " Die erste schwarzhaarige Frau, die am nächsten Morgen dich anspricht, das ist die Hexe!" Und das war nu in diesem Fall meine Mutter, und das hat sie sich nicht bieten lassen. Da ist sie gegen Ebeling gegen angegangen. Und da hat er gesagt: " Nein, Sie sind es nicht. Es ist die zweite dunkelhaarige Frau." Und das war die Frau von der anderen Straßenseite. Das steht hier auch mit Namen drin: "Frau M." ... Das ist von Schneider Marßen da die Mutter gewesen, nich? Und hat die beschuldigt, dass sie dann die Hexe war. SPRECHER In der Sündenbocktheorie spielen Vorurteile eine wichtige Rolle. Unverarbeitete Konflikte und Aggressionen, die in einer Gruppe vorherrschen, können mit Hilfe dieser Vorurteile auf eine andere Gruppe übertragen werden. Dadurch kann oft eine Befriedung in der eigenen Gruppe erreicht werden. O-Ton JULIANE WETZEL Also insofern sind das natürlich Zuschreibungen, die eben auch wieder eine Basis bieten, um Sündenböcke und auch Verschwörungstheorien zu verbreiten, (..) dass man da eben sich wieder einen Sündenbock sucht, der sozusagen die einfache Erklärung liefert, warum es einem selber schlecht geht oder warum man glaubt, es könnte einem in Zukunft schlecht gehen. SPRECHER Der Sozialwissenschaftler Rainer Erb hat festgestellt, dass Mehrheiten und Minderheiten nicht von selbst entstehen, sondern dass sie das Ergebnis von gesellschaftlichen Normen sind: Welche Gruppe als "anders", "fremd" oder "anormal" wahrgenommen wird, ist allein das Ergebnis einer sozialen Setzung. O-Ton KURT KNORR Ich entsinne mich noch an die Hitlerjugend: "Du bist nichts, dein Volk ist alles." nicht. Und solche Sprüche gab es ja zu Hauf. Oder: "Führer befiehl, wir folgen." Dann folgte man eben. Und als man denn davon gekommen war und merkte etwas von der Freiheit eines Christenmenschen. Bei Martin Luther oder (..) in den Theologievorlesungen. Dann atmete man ja erstmal richtig durch. Freiheit, Persönlichkeit. Also, das war schon so unerhört wichtig. Diesen Spiegelraum der Freiheit, die dann also auch eine enorme Kritik mobilisierte an religiöse Bindungen oder religiöse Festlegung dogmatischer Art. Und da herauszuwachsen mit Hilfe der Theologie, das war schon sehr gut. SPRECHER Für Kurt Knorr wurde die Religion eine neue Heimat. Er kam mit 17 Jahren als Flüchtling nach Norddeutschland und wurde Pfarrer. Für andere aber hatte nach dem totalen Zusammenbruch 1945 nicht nur die Autorität des Staates schwer gelitten, sondern auch die der Kirche. Die Suche nach Ersatzreligionen und Heilsversprechen setzte bereits in den 50er Jahren ein. Parapsychologische Phänomene wie zum Beispiel Gedankenübertragung oder Hellseherei beschäftigten sogar Wissenschaftler, und spätestens in den 60ern wurde "das Übersinnliche" zur Modeerscheinung. Mancher Wunderheiler wurde durch die neuen Massenmedien rasant beworben. Die Botschaft schien klar: Das Individuum nimmt sein Schicksal selbst in die Hand und sucht sich sein passendes Heilsversprechen. Ob in der Dorfkirche, bei der Wahrsagerin oder beim Hexenbanner. Musikeinblendung O-Ton Verteidiger: Sagen sie, Herr Eberling, Sie sprachen davon, dieses Räucherpulver, das holen sie in der Apotheke? Ebeling: Ja. SPRECHER Wunderheiler waren meist schneller verfügbar als Veterinäre. Und sie wussten, wie man mit dem Bauern zu sprechen hatte. Neben echter Kräuterheilkraft spielten selbst zugeschriebene Heilkräfte eine wichtige Rolle. Die Apotheker verkauften Sator, Hexenkraut und Teufelsdreck. Für manchen Apotheker ging es ums nackte Überleben. Wer nicht im Angebot hatte, was verlangt war, wurde nicht mehr aufgesucht. O-Ton Verteidiger: Und das sind dann Tüten, da steht der Preis drauf? Ebeling: Ja. Verteidiger: Ist das immer fertig bei den Apotheken? Ebeling: Numero 3 oder Numero 2 oder 1 gibt es. da gibt es verschiedene Bezeichnungen. SPRECHER Der Verteidiger des Tischlermeisters Eberling argumentierte mithilfe von Fragen, dass sein Mandant nicht der einzige war, der vom Aberglauben der Leute profitierte. O-Ton Verteidiger: Wozu wird das in Apotheken vorrätig gehalten? Ebeling: Ja, die Apotheken haben das von ganz früher her gegen böse Einwirkungen. Verteidiger: Also die Apotheken in der hiesigen Gegend halten dieses Pulver gegen böse Einwirkungen vorrätig zum Verkauf? Ebeling: Ja, bald jede Apotheke. Verteidiger: Danke sehr. SPRECHER Der Hamburger Volksschullehrer Johann Kruse hat Mitte der 50er Jahre die verteidigenden Worte eines Hexenbanners dokumentiert. Darin kommt eine Haltung zum Ausdruck, die nach dem verlorenen Krieg weit verbreitet war. ZITATOR "Sie halten mich für einen Volksbetrüger? Nun, gut angenommen, sie haben Recht. Bin ich der einzige? Gibt es nicht viele, viele hochgestellte Persönlichkeiten, die tausend Mal schlimmer sind? Kucken Sie doch diesen oder jenen Staatsmann an! Mit welchen Lügen zog er dem Volk die Steuergroschen aus der Tasche. Mit welchem Schwindel jagte er es sogar in den Krieg. Wer lässt zu, dass den Kindern in der Schule von Teufel und Hexen erzählt wird? Wer belügt das Volk mehr? Wer nutzt sein Leichtgläubigkeit und Unwissenheit aus? Wer ist der größere Volksbetrüger? Ich nicht. Aber auf den Kleinen trampelt man herum, die Großen verehrt man. Die paar Leute, von denen ich lebe. Jene aber betrügen ein ganzes Volk! Gönnen Sie mir doch die paar Groschen. Jeder will leben!" SPRECHER Historiker haben nachgewiesen, dass die Aktivitäten der Hexenbanner erst nach der Währungsreform 1948 wieder begannen. So könnte das gestiegene Interesse an Hexenbannern auch ein Ausdruck für die wirtschaftliche Erholung sein. Allmählich gab es wieder etwas zu verteilen - und auch zu neiden. O-Ton KRAMER Er hat ja immer oder so, muss ich ma sagen, direkt nich voll gefordert. Er hat ja bekommen von Leuten so, nich? Was er an Geld oder Naturalien und ... sollte in einem Fall auch ja zu einem Bauern dann gesagt haben: "Ja Mensch, du musst nen großen Schinken nehmen und den im Garten vergraben. Den darfst du aber nich wieder rausholen. Der muss da so zergehen." Ja, und denn nach paar Tagen oder schon am nächsten Tag hat der Bauer denn geguckt und hat gesehen, dass da fremde Spuren hin waren. Dann hat er noch mal nachgeguckt nach seinem Schinken und der Schinken war weg. Dass er so schnell verwest war, das ist wohl unmöglich, nich? Verteidiger: Mit Recht hat aber der Herr Sachverständige Dr. Völkel darauf hingewiesen, dass nicht das Gewinnstreben in erster Linie, oder nicht nur das Motiv der Taten des Angeklagten war, sondern seine Geltungssucht, sein Geltungsstreben. Das hat die große Rolle in seinem Leben gespielt. SPRECHER Der Verteidiger des berühmten Hexenbanners Eberling brachte 1955 vor Gericht hervor, sein Mandant hätte "Hunderte, Tausende kassieren können", wenn er es gewollt hätte. O-Ton Verteidiger: In einer Welt, die kaputt ist, von oben bis unten und in der wir selber ein großer Teil der Menschheit mit den technischen Errungenschaften nicht fertig wird. Wen wollen Sie da bestrafen, wenn jemand durch die Woge nach oben getragen wird? Schuld ist nicht er, Schuld sind die Leute, die diesen Humbug glauben und Schuld sind vielleicht die Stellen, die nicht für die notwendige Aufklärung der Bevölkerung seit Jahrzehnten gesorgt haben. JULIANE WETZEL Man kann schon sagen, man braucht diese Sündenböcke. .... Aber ich glaube, was zentral sein muss, ist gerade im Rahmen der Bildung, auf solche Dinge eben hinzuweisen und Wissen zu vermitteln über Gruppen, die diskriminiert werden. 1 Zwischen Hexenwahn und Fortschrittsglaube / 2. Fassung / SchillerWendt / 6.2.2012