Manuskript Kultur und Gesellschaft Kostenträger : P 62100 Organisationseinheit: 46 Reihe : Forschung und Gesellschaft Titel : Zwischen Geist und Gehirn (2/3). Neuro- Mythologie - Wie die Hirnforschung das Bild vom Menschen verzerrt Autorin : Svenja Flaßpöhler Redakteur : René Aguigah Sendung : 7. Juli 2011 / 19:30 Uhr Regie : Stefanie Lazai Besetzung : Autorin; Friedhelm Ptok Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Musik: John Matthias und Nick Ryan: Cortical Songs, Track 5, Remix by Thom Yorke, Neuron Trigger mx, bis 00:15 stehen lassen, unter Atmo herunterfahren Sprecherin: Ein Vorlesungssaal der Universität Wien im Wintersemester 1916/17. Hörer aller Fakultäten sind versammelt. Gebannt lauschen sie einem bärtigen, alten Mann: Zitator: Die medulla oblongata ist ein sehr ernsthaftes und schönes Objekt. Ich erinnere mich genau, wie viel Zeit und Mühe ich vor Jahren ihrem Studium gewidmet habe. Aber heute muss ich sagen, ich weiß nichts, was mir für das psychologische Verständnis der Angst gleichgültiger sein könnte, als die Kenntnis des Nervenwegs, auf dem ihre Erregungen ablaufen. Sprecherin: Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse, lässt in seiner Vorlesung über die Angst keinen Zweifel daran: Faszinierend sei das Gehirn, betörend seine Schönheit; doch über das Seelenleben des Menschen verrate es nichts. Heute dagegen, fast hundert Jahre später, steht eben jenes Organ, das Freud für nichtssagend hielt, im Zentrum des Interesses. Musik: John Matthias und Nick Ryan: Cortical Songs Track 5, Neuron Trigger Remix, Einsatz bei 00:18, bis 00:25 stehen lassen, vor Sprecherintext ausblenden Sprecherin: Ob Depression oder sexuelle Ekstase, ob Angst oder Glück: Die Hirnforschung gilt als die Wissenschaft schlechthin, wenn es darum geht, menschliche Gefühlsregungen zu erklären. Vorbei die Zeit der metaphysisch umwehten Seele. Das 21. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Fakten, Messdaten, Abbildungen. Studien, die früher nur am toten Organismus vollzogen werden konnten, sind heute am lebendigen Leib möglich. Nichtinvasive, das heißt: nicht in den Körper eingreifende Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomographie ermöglichen Einblicke ins arbeitende Gehirn und machen psychische Vorgänge, die ehemals im Verborgenen lagen, sichtbar. Die Resultate begeistern Forscher wie Laien gleichermaßen. Ohne Unterlass berichten die Medien von den bahnbrechenden Erfolgen der Neurowissenschaft - so, als sei diese Disziplin tatsächlich in der Lage, den Menschen zu erkennen, wie er wirklich ist. Zitator: Vom klugen Umgang mit der Angst. Hirnforscher entschlüsseln ein zentrales Gefühl. Sprecherin: ... so titelte beispielsweise das Magazin "Focus" im April 2011. Die Angst sei ein evolutionär erprobtes, nützliches Gefühl, das vor Gefahren warne und im Gehirn seinen Ursprung habe. Am Rand des Artikels: wie zum Beweis die schematische Abbildung eines Normalhirns mit farbigen Kennzeichnungen zweier Hirnregionen. Die Amygdala, so die Kurzbeschreibung im Schema, bewertet Sinneseindrücke "emotional" und "spielt eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Angst und Stressreaktionen". Der Präfontale Cortex interpretiert die Signale der Amygdala. Ist dieses Hirnareal schwächer ausgeprägt, vermag es vor überheftigen Angstattacken nicht zu schützen. Das ist sie also, die Angst, der nicht nur die Psychoanalyse, sondern seit jeher auch die Philosophie, insbesondere die Existenzphilosophie, in komplexen Gedankengängen nachzuspüren versucht: Zwei gelb markierte Hirnregionen, deren Funktionsweisen sich empirisch überprüfen lassen und auch für Laien verblüffend leicht zu verstehen sind. Und zwar auch dann, wenn sie nicht von "Focus"-Journalisten, sondern von Neurowissenschaftlern selbst erklärt werden. Der Hirnforscher Gerhard Roth etwa schreibt über den Zusammenhang von Emotion und Gehirn in seinem Buch "Fühlen, Denken, Handeln": Zitator: Emotionen [...] haben keine vorgegebenen konkreten Inhalte, sondern können über den Vorgang der emotionalen Konditionierung an mehr oder weniger beliebige Objekte und Geschehnisse angebunden werden. Dies geschieht vornehmlich in der basolateralen Amygdala, unterstützt durch das mesolimbische System, das uns über die Ausschüttung von "Botenstoffen" (gehirneigenen Opiaten) Lustempfindungen vermittelt, sowie den Hippocampus. Durch diesen Vorgang erhalten Objekte und Geschehnisse eine emotionale Bewertung nach den Grundkategorien "positiv-lustvoll" und damit erstrebenswert sowie "negativ-unangenehm-schmerzhaft" und damit zu vermeiden; die Details des Geschehens und der Kontext, werden in der basolateralen Amygdala fest miteinander verkoppelt und treten deshalb bei der Konfrontation mit ähnlichen Geschehnissen stets gemeinsam auf. Sprecherin: Wenn wir Angst haben - sei es vor einem Ding, sei es in einer bestimmten Situation -, dann, so Gerhard Roth, liegt das an der kleinen, mandelförmigen Amygdala, in der Gefühl und Erfahrung fest miteinander verschaltet werden und die uns folglich emotional konditioniert. In der Regel ergeben diese Konditionierungen Sinn, sagen Neurowissenschaftler wie Gerhard Roth, denn der Mensch - beziehungsweise sein Gehirn - ist ein System, das nach evolutionär bewährten Gesetzen funktioniert. Tauchen Fehler auf, muss das auf eine Beschädigung des Systems zurückzuführen sein, auf einen nur rudimentär ausgebildeten Präfontalen Cortex zum Beispiel, der das nützliche Gefühl der Angst in krankhafte Phobie ausarten lässt. Musik John Matthias und Nick Ryan: Cortical Songs, Track 12, Remix by Simon Tong, Cortical Cluster Remix, bis 00:10 stehen lassen, unter Sprecherintext herunterfahren Sprecherin: Im Licht der Neurowissenschaft erscheint der Mensch als Maschine, die, wenn alles normal läuft, gut funktioniert. Aber lüftet diese Disziplin wirklich das Geheimnis der menschlichen Psyche? Oder verschleiert sie deren Mechanismen nur umso mehr durch ihre zauberhaft einfachen Erklärungen? Wie kommen Neurowissenschaftler eigentlich zu der Behauptung, dass wir nicht nur ein Gehirn haben, sondern unser Gehirn sind? Haben sie tatsächlich dank neuester technischer Möglichkeiten die Wahrheit des Menschen entdeckt, wie uns allenthalben suggeriert wird? Ist die Idee, dass der Mensch identisch ist mit zerebralen, das heißt: zum Hirn gehörenden Strukturen, lediglich dem stetigen Erkenntniszuwachs geschuldet? Fernando Vidal, Historiker am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin ist anderer Ansicht: O-Ton 1 Fernando Vidal My perspective of course of this is that this is a concept it is a view of man that has developed in history although many neuroscientists and people who gravitate around the neuroscientists present this as the outcome of the neuroscientific discoveries saying finally the neurosciences demonstrated that the brain is the essential organ, finally the neurosciences have demonstrated that there is no immaterial soul, or immaterial substances. I don't think that's the case. It has nothing to do really with neuroscientific discoveries, it's a historical process that in fact is only partially connected to the advances of the neurosciences. So I as a historian see that of course as a historical construction and I think that part of the role of a historian is to show that things have a history and are not merely sort of products of nature. Zitator: Meiner Meinung nach hat sich diese Sichtweise auf den Menschen historisch entwickelt. Zwar präsentieren viele Neurowissenschaftler dieses Menschenbild als ein Ergebnis wissenschaftlicher Forschung und behaupten, es sei erwiesen, dass das Gehirn das wesentliche Organ ist, dass es keine immaterielle Seele gibt, keine immateriellen Substanzen. Ich glaube nicht, dass das der Fall ist. Das hat nichts mit neurowissenschaftlichen Entdeckungen zu tun, sondern das ist ein historischer Prozess, der in Wahrheit nur teilweise in Verbindung steht mit den Fortschritten der Neurowissenschaften. Ich sehe das als eine historische Konstruktion an. Und ich glaube, es ist meine Aufgabe als Historiker, zu zeigen, dass die Dinge eine Geschichte haben und nicht einfach nur natürlich sind. Sprecherin: Die Hirnforschung, so Fernando Vidal, steht nicht voraussetzungslos und erhaben auf einem Beobachterposten und analysiert von dort aus den Menschen. Die vermeintlich objektive Erkenntnis, dass der Mensch ein zerebrales Subjekt ist, hängt vielmehr zusammen mit einem Weltverständnis, das bereits im 17. Jahrhundert auf den Plan trat: ein naturalistisch-materialistisches Weltverständnis, das jetzt im Menschenbild der Neurowissenschaft seine Zuspitzung findet. O-Ton 2 Fernando Vidal The emergence of the view of the human as a cerebral subject is rooted in the emergence of the scientifical view, of naturalism, of the idea, that humans are part of nature and the idea, that emerge in the 17. century that nature can be understood in technical terms, that we don`t need immaterial substances, that we don't need immaterial processes in order to explain nature. Zitator: Die Auffassung, dass der Mensch ein zerebrales Subjekt sei, hat ihren Ursprung im Naturalismus. In der Idee, dass Menschen ein Teil der Natur sind und Natur in technischen Begriffen verstanden werden kann und wir keine immateriellen Substanzen oder Prozesse brauchen, um Natur zu erklären. Sprecherin: Die tiefe Skepsis gegenüber allem Geistigen, Transzendenten, Göttlichen - gegenüber allen Prozessen und Sphären also, die empirisch nicht zu fassen sind - war kennzeichnend für die Epoche des Naturalismus. Die Existenz einer Seele, die der Philosoph René Descartes in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch behauptet hatte, wurde zunehmend angezweifelt, denn was sollte das schon sein, die Seele, wenn man sie weder beobachten, noch messen konnte? Mehr und mehr ging man dazu über, die seelische Sphäre des Seins der körperlichen Dimension zuzuschlagen - so dass die Rede von einem "Seelenorgan", als welches man das Gehirn lange Zeit bezeichnet hatte, im späten 18. Jahrhundert langsam verstummte. Das Hirn war nicht länger der Sitz der Seele, sondern selbst Dreh- und Angelpunkt des menschlichen Fühlens, Denkens, Handelns. Anfang des 19. Jahrhunderts begründete der Arzt und Anatom Franz Josef Gall die Schädellehre, die Phrenologie, die geistige Zustände bestimmten Hirnarealen zuzuordnen versuchte. Von hier aus war es zur Neurowissenschaft nur noch ein kleiner Schritt. Musik Iannis Xenakis: Concret PH II (neuronales Gezirre), bis 00:10 stehen lassen, unter Sprecherintext ausblenden Sprecherin: Spätestens seitdem Forscher dem Gehirn bei der Arbeit zusehen können, wird der Mensch nicht mehr als ein denkendes Wesen begriffen - sondern als der Träger eines Gehirns, das denkt. Wie es das tut, darauf hat der Mensch nach Meinung prominenter Hirnforscher keinen Einfluss, denn als reine Körpermaschine ist er seinem Gehirn restlos ausgeliefert. So behauptet der Neurowissenschaftler Wolf Singer: Zitator: Innerhalb neurobiologischer Beschreibungssysteme wäre das, was wir als freie Entscheidung erfahren, nichts anderes als eine nachträgliche Begründung von Zustandsänderungen, die ohnehin erfolgt wären, deren tatsächliche Verursachungen für uns aber in der Regel nicht in ihrer Gesamtheit fassbar sind. Nur ein Bruchteil der im Gehirn ablaufenden Prozesse ist für das innere Auge sichtbar und gelangt ins Bewusstsein. Sprecherin: Das Gefühl, aus Freiheit zu handeln, ist Singer zufolge nichts anderes als eine Illusion - denn in Wahrheit besitzt das Gehirn, so Singer, vollständige Macht über uns und hat immer alles schon vorher entschieden. Für die Oldenburger Philosophin Christine Zunke, die in ihrer Dissertation eine detaillierte Kritik der Hirnforschung ausgearbeitet hat, ist diese neurowissenschaftliche Annahme schon aus gesellschaftspolitischen Gründen problematisch: O-Ton 3 Zunke Das Gehirn ist so und so strukturiert, und daraus folgen dann bestimmte Verhaltensweisen, und dass das so ist, beweise sich daran, dass es diese Verhaltensweisen tatsächlich gibt, und das kann ich täglich sehen. Und deswegen glauben auch sehr, sehr viele Menschen tatsächlich an die Neurowissenschaften, weil die einen naturwissenschaftlichen Ansatz bieten, genau das zu erklären, was ansonsten im menschlichen Handeln immer ein bisschen schwer fassbar war. Und ich glaube, das ist eigentlich die ganz, ganz große, letztendlich auch politische Gefahr, die hinter dem neurowissenschaftlichen Ansatz steht, gesellschaftliche Zustände durch Hirnfunktionen erklären zu wollen, weil das natürlich jeden bestehenden gesellschaftlichen Zustand als einen natürlichen Zustand zementiert. Sprecherin: Den Menschen mit seinem Gehirn gleichzusetzen heißt, sein gesamtes Handeln als reine Naturnotwendigkeit zu begreifen. Ob geschlechtsspezifisches Verhalten, Konsumwahn, die unterschiedlichsten Süchte, Gewalt oder Straffälligkeit: Ihre Ursache finden diese Phänomene, wenn man sie neurozentristisch deutet, einzig und allein in automatisch ablaufenden biochemischen Prozessen. Doch nicht nur politisch, auch erkenntnistheoretisch ist die Behauptung, dass unser Denken, Fühlen und Handeln in Wahrheit rein physiologische Vorgänge sind, für Christine Zunke unhaltbar. O-Ton 4 Zunke Das ist auf jeden Fall ein Versuch, der in der Neurowissenschaft unternommen wird, zu sagen, das Denken selbst etwas Materielles, es handelt sich dabei tatsächlich um nichts anderes als elektrochemische Vorgänge in meinem Gehirn. Gleichzeitig ist aber natürlich ein elektrochemischer Prozess immer etwas grundlegend anderes als beispielsweise der Gedanke an einen elektrochemischen Prozess, auch wenn dem Gedanken eine elektrochemische Reaktion im Gehirn korreliert. Und da das Denken nur etwas Gedachtes ist und nichts Physikalisches, also kein wirklich messbares physikalisches Dasein hat, bleibt da immer die Lücke, und das einzige, was man dann als messbares Korrelat hat, ist wiederum ein Hirnprozess, der aber der Sache nach etwas anderes bleibt als ein Gedanke. Sprecherin: Neurowissenschaftler können lediglich beweisen, dass unser Denken durch elektrochemische Prozesse ermöglicht beziehungsweise begleitet wird. Bei genauerem Hinsehen aber ist dieser Beweis eher eine Banalität als eine grandiose Erkenntnis. Denn wer würde bezweifeln, dass wir zum Denken ein Gehirn benötigen und unsere Gedanken mit beobachtbaren neuronalen Vorgängen einhergehen? Wie neuronale Prozesse aber einen Gedanken, ein Gefühl, eine Absicht hervorbringen, vermögen Neurowissenschaftler wie Singer auch mit fortschrittlichster Technik nicht zu zeigen. Musik Iannis Xenakis: Concret PH II (neuronales Gezirre), bei 00:40 kurz einblenden Sprecherin: Wie genau entsteht aus der Aktivität der Amygdala im Gehirn das konkrete Gefühl der Angst? Weshalb leiden einige Menschen unter Höhenangst, andere unter einer Sozialphobie? Was sagt uns die Dysfunktion des präfontalen Cortex über die angstbesetzten Vorstellungen des je Einzelnen? Und was war eigentlich zuerst da: die Unterfunktion jener Hirnregion, die für Antrieb und Lebenslust zuständig ist, oder eine lähmende Angst, die den ‚Defekt' im Hirn erst verursacht? Diese Erklärungslücke zwischen dem empirisch Beweisbaren und der real empfundenen Angst versuchen Neurowissenschaftler wie Wolf Singer oder Gerhard Roth so zu überbrücken: Das, was empirisch nicht bewiesen werden könne - nämlich eine Vorstellung, ein Gedanke, ein Gefühl - existiere auch nicht. Aber wer oder was sagt uns, dass nur empirisch Nachweisbares Wahrheitsanspruch hat? Nur weil wir etwas nicht sehen oder messen können, kann es doch trotzdem da sein: Die Nichtbeweisbarkeit Gottes etwa widerlegt noch längst nicht dessen Existenz. Selbst in Bezug auf weltliche Dinge lässt sich absolute Gewissheit rein empirisch kaum gewinnen. So hat der Philosoph Karl Popper gezeigt, dass wir aus der Tatsache, bislang nur weiße Schwäne gesehen zu haben, nicht schließen können, dass alle Schwäne weiß sind. Denn woher wissen wir, dass nicht irgendwo trotzdem ein schwarzer, roter oder grüner Schwan herumschwimmt? Musik John Matthias und Nick Ryan: Cortical Songs, Track 12, Remix by Simon Tong, Cortical Cluster Remix, bei 00:40 hochfahren, 10 Sekunden stehen lassen, unter Sprecherintext ausblenden Sprecherin: Was kann empirische Forschung also letztlich aus über den Menschen aussagen? Wie haltbar ist die Behauptung von Neurowissenschaftlern, dass der Mensch nicht mehr ist als die Summe seiner Teile, wenn doch bei ihrer empirisch-positivistischen Erkenntnismethode gar nichts anderes herauskommen kann? Zitator: Woher nehmen die Wissenschaften, denen die Herkunft ihres eigenen Wissens dunkel bleiben muss, die Befugnis zu solchen Urteilen? Woher nehmen die Wissenschaften das Recht, den Standort des Menschen zu bestimmen und sich als den Maßstab solcher Bestimmung anzusetzen? Sprecherin: Das sind Fragen des Philosophen Martin Heidegger - aufgeworfen bereits Anfang der 1950er Jahre, in dem Essay Was heißt Denken?. Fragen, die sich heute umso mehr stellen, wenn man sich die Verfahren genauer anschaut, mit denen die Neurowissenschaften ihre Erkenntnisse gewinnen. Zum Beispiel die Magnetresonanztomographie (MRT): ein Verfahren, bei dem durch starke Magnetfelder bestimmte Atomkerne im zu untersuchenden Gewebe anregt werden. Legt sich ein Mensch in ein MRT-Gerät hinein, lassen sich nicht nur Lage und Form der Organe, sondern auch deren Mikrostruktur und Funktion ermitteln. Dennoch handelt es sich bei der Magnetresonanztomographie durchaus nicht um ein wahrheitsgetreues Abbild organischer Vorgänge, wie häufig suggeriert wird; es handelt sich um eine computergenerierte Formalsprache, die höchst interpretationswürdig ist. O Ton 5 Jan Slaby Ein Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomographie ist sicherlich hochinteressant und hilfreich, aber die Erkenntniskraft dieser Verfahren wird leicht überschätzt, und zwar im folgenden Sinne: Gemessen wird der Sauerstoffverbrauch bei gewissen Stoffwechselprozessen im Gehirn. Das ist zunächst höchst indirekt. Und man kann sich's vielleicht so vergleichen, als ob Sie vom Messen des Benzinflusses und der Abgase in einem Automobil auf die Funktionsweise des Motors schließen wollen. Sprecherin: Jan Slaby, Professor am Sonderforschungsbereich Languages of Emotion der Freien Universität Berlin. O-Ton 6 Slaby Dann ist noch die räumliche und zeitliche Auflösung sehr problematisch. Der Zugriff ist grob, und es gibt immens viele Fehlerquellen bei dieser Lokalisierung mittels dem Sauerstoffverbrauch im Gehirn. Erzeugt werden dann in erster Linie Zahlen, ein Wust an Messdaten, das ist riesig viel und komplex, um diese Zahlen besser darzustellen haben sich visuelle Verfahren durchgesetzt. Farbige Eintragungen in ein Normalgehirn, in so ein Standardhirn. Diese Abbildungen sind alles andere als fotografische Abbildungen des Gehirns und seines Stoffwechsels, geschweige denn der Wahrnehmungs- oder Denkprozesse, das wissen natürlich eigentlich alle Beteiligten, jedoch oft nicht die Laien, die sich das dann in den Zeitschriften angucken. Sprecherin: Inwiefern sich vom Sauerstoffverbrauch auf mögliche Denkprozesse schließen lässt, ist selbst unter Neurowissenschaftlern strittig. Auch dass im Gehirn durchaus nicht nur einige wenige Regionen, sondern alle Areale aktiv sind, bereitet den Forschern große Probleme. Selbst wenn sich in einem Experiment ein erhöhter Stoffwechsel in einer bestimmten Region feststellen lässt, ist noch längst nicht geklärt, welche Rolle die anderen Regionen spielen und wie die Prozesse im Gehirn zusammenhängen. Darüber hinaus sind die Forscher, wenn sie etwa zum Phänomen der Angst forschen, immer auf die Aussagen ihrer Probanden angewiesen, bei denen auf künstliche Weise Angst erzeugt wird, zum Beispiel durch das Zeigen eines Horrorfilms. Aber ist die Angst, die ausgelöst wird durch Bilder, nicht etwas fundamental anderes als existenzielle, gar krankhafte Angst? Gibt es überhaupt die Angst schlechthin? Existieren nicht unendlich viele, höchst individuelle Formen der Angst? Und woher weiß der Neurowissenschaftler, ob der Proband im Augenblick des Experiments wirklich Angst verspürt oder nicht doch eher gelangweilt heimlich seine Einkaufsliste zusammenstellt? Christine Zunke: O-Ton 7 Zunke Das heißt, wenn man Angst messen will, kann man die Angst selber im Gehirn gar nicht sehen, sondern ich kann nur Leute in einen Zustand versetzen, in dem ich davon ausgehen kann, dass sie Angst empfinden, zum Beispiel entsprechende Filmausschnitte zeigen, ich kann die Leute auch selber fragen, und sie können sagen: ja, jetzt habe ich Angst, und kann gucken, was erscheint dann auf dem Hirnscanner. Und dann kann ich nachträglich, wenn ich das einmal gemacht habe, wenn ich ähnliche Bilder sehe, ah, das kenn ich, das sieht bekannt aus, so sah jemand aus, der gleichzeitig Angst hatte, aber das ist natürlich etwas ganz anderes, als die Angst selber sehen. Sprecherin: Diese Widersprüche und Schwierigkeiten, die mit der Hirnforschung verbunden sind, haben bei einigen Neurowissenschaftlern, speziell denen der jüngeren Generation, zu einer größeren Bescheidenheit hinsichtlich des eigenen Erklärungsanspruchs geführt. Die Behauptung Wolf Singers und Gerhard Roths, dass sich jede Gefühlsregung mit neuronalen Verschaltungen erklären und durch computergenerierte Verfahren zweifelsfrei verbildlichen lasse, halten jüngere Vertreter der Hirnforschung mittlerweile für überholt. Denn wenn die menschliche Psyche tatsächlich vollständig auf biochemische Prozesse rückführbar wäre: Müsste dann die medikamentöse Behandlung psychischer Krankheiten nicht weitaus erfolgreicher sein, als sie derzeit ist? O-Ton 8 Slaby Die letzten 20 Jahre haben außerdem zu einer großen Ernüchterung im Bereich der Medikamententwicklung geführt, das muss man sagen, es wurden immer große Durchbrüche in Aussicht gestellt, aber das ist ausgeblieben. Also seit Prozac, das wurde nunmehr vor 22 oder 23 Jahren eingeführt, hat es wirklich keine durchschlagende neue Entwicklung gegeben, mittlerweile wird im großen Stil Geld aus der Medikamentenentwicklung abgezogen, weil die Firmen anscheinend die Geduld verloren haben. Sprecherin: Dennoch - die Hirnforschung bleibt die bislang populärste Wissenschaft des 21. Jahrhunderts. Neuroästhetik, Neuroethik, Neuroanthropologie oder Neurotheologie: So heißen die neuen Forschungsrichtungen, die auf den Neuro-Boom der letzten Jahrzehnte aufgesprungen sind und Phänomene wie Religiosität, ästhetisches Empfinden oder Moral auf biochemische Prozesse zurückzuführen versuchen. Vor allem im Bereich der Psychologie ist der Glaube an die Heilkraft der Hirnforschung ungebrochen. Ein besonderer Hoffnungsträger ist derzeit die so genannte "Tiefe Hirnstimulation". Bei diesem neurochirurgischen Eingriff wird eine Elektrode durch ein acht Millimeter großes Loch in der Schädeldecke gezielt in eine Hirnregion eingesetzt, um aus dem Takt geratene Regelkreise wieder zu rhythmisieren. Bei psychisch kranken Patienten konzentriert man sich derzeit vor allem auf eine winzige Hirnstruktur namens nucleus accumbens, die in das körpereigene Belohnungssystem eingebunden ist. Zwar sind die Erfolge bislang minimal: Zwangskranke und Depressive empfinden nicht automatisch wieder Freude, nur weil man ihren nucleus accumbens stimuliert. Trotzdem setzen Neurowissenschaftler weiter auf dieses Verfahren. Man muss nur den richtigen technischen Zugriff aufs Gehirn finden, dann, so lautet die Hoffnung, lassen sich auch die schwersten psychischen Leiden heilen. Jan Slaby: O-Ton 9 Slaby In gewisser Weise bedient die Neurowissenschaft so eine Science Fiction-Vorstellung. Es gibt hier diese ganzen Apparaturen, es gibt hier diesen sauberen nichtinvasiven Zugriff mittels der bildgebenden Verfahren auf das neuronale Substrat, und das wird oft zusammengeschaltet mit einer Zukunftsvision, dass es weniger Leiden gibt, dass es einfachere Behandlungen psychiatrischer Erkrankungen geben wird. Also da ist so ein Hoffnungsdispositiv, daran werden Heilserwartungen geknüpft, und dann natürlich auch die ökonomische Phantasie, die dem nachfolgt, also die Geldgeber rechnen sich hier ja Anwendungen aus, die viel Geld bringen können, wenn sie marktfähig werden, und insofern ist der Geldfluss ungebrochen. Musik John Matthias und Nick Ryan: Cortical Songs, Track 15, Remix by Marcus Coates, 0.2 - 20.000%, bis 00:14 stehen lassen, unter Sprecherintext herunterfahren. Sprecherin: Was heißt hier eigentlich menschliches Heil? Was bedeutet Heilung? Ist der Mensch wirklich ein Wesen, das sich eins fühlt mit seiner Umwelt, wenn das Gehirn intakt ist und das evolutionäre Programm fehlerfrei ablaufen kann? Kann ein Mensch je so selbstvergessen und selbstgenügsam vor sich hinvegetieren wie ein Lebewesen, das einfach seinem Instinkt gehorcht? Wie gerechtfertigt sind die Vergleiche von Mensch und Maus, Mensch und Affe? Erschöpft sich das menschliche Verlangen etwa in Nahrungssuche, Fortpflanzung und Brutpflege? Edith Seifert, Berliner Psychoanalytikerin und Privatdozentin an der Universität Innsbruck: O-Ton 10 Seifert Die Wahrnehmung eines Frosches unterscheidet sich prinzipiell nicht von der Wahrnehmungsleistung eines Menschen, nur aufgrund der Komplexität, und die Lernvorgänge der Schnecke sind durchaus vergleichbar mit den Lernvorgängen eines menschlichen Individuums von ihrer Struktur und ihrem prinzipiellen Aufbau, und das geht bis dahin sogar, dass die menschliche Sexualität, das emphatischste, radikalste Spaltungsprodukt des menschlichen Individuums laut Psychoanalyse überhaupt ist, sogar verglichen wird mit den Funktionen einer Fruchtfliege. Also da stehen dem Psychoanalytiker die Haare zu Berge. Sprecherin: Sträflich, meint Edith Seifert, ignorieren Neurowissenschaftler die Tatsache, dass der Mensch im Unterschied zum Tier von der Natur, von seiner Natur entfremdet ist. Der Mensch ist ein Kulturwesen und kein Naturwesen. Weder kopuliert er einzig und allein um der Fortpflanzung willen, noch praktiziert er den Geschlechtsakt vor Artgenossen. Das Tier kennt keine Scham, keine Schuld und auch keine Wollust, weshalb der animalische Fortpflanzungsakt mit dem menschlichen Koitus schlichtweg nicht vergleichbar ist. Und auch die Angst ist beim Menschen mehr und etwas grundsätzlich anderes als ein evolutionär programmiertes Warnsystem. Tiere treibt die Angst dazu, sich zu verstecken oder zu verteidigen; Menschen aber treibt ihre Angst in tiefe Verzweiflung, und bisweilen gar in die Selbstauslöschung. O-Ton 11 Seifert Der Körper ist aufgelöst in physisch-physikalische Prozesse. Aber mit dieser Eindimensionalität ist auf jeden Fall verbunden ein Verlust von Andersheit. Es gibt keine Alterität, es gibt kein Anderes, es gibt überhaupt keine andere Dimension als Körper. Also es gibt nichts, was den Körper unterläuft, was ihm zuwiderläuft, was ihn konterkariert, was ihn minimiert, was ihn einschränkt, es ist alles Körper, alles Körpermaschine. Sprecherin: Indem die Hirnforschung den Menschen auf sein Gehirn reduziert, leugnet sie, meint Edith Seifert, den fundamentalen Spalt, den er als Kulturwesen notgedrungen in sich trägt. Sein Wünschen und Wollen ergibt sich nicht einfach aus seiner Natur. Es ist vielmehr der zwiespältige Effekt von Verzicht- und Verdrängungsleistungen. Nur der Mensch ist kulturellen Gesetzen unterworfen, die ihm Verbote auferlegen. Nur er ist in eine symbolische Ordnung hineingeboren, die ihn beherrscht. Nur er hat eine Sprache, die ihm entgleiten kann und nicht einfach nur Werkzeug der Verständigung ist. Als soziales Wesen wendet er sich an Andere, deren Anerkennung er begehrt und denen er sich doch nie in umfassenden Sinne mitzuteilen vermag. Die Neurowissenschaft mit ihrer Theorie vom Gehirn als einem in sich geschlossenen, sich selbst herstellenden System aber tut so, als sei der Mensch eine autarke Rechenmaschine, die ihr Außen bruchlos integriert. O-Ton 12 Seifert: Wo es Ausfälle gibt, wo es Störungen gibt, werden diese Störungen eingezogen, integriert, werden da passend gemacht, das ist die sogenannte Passungsfähigkeit oder Viabilität des Gehirns, des Nervensystems. Das ist die Seite der neurowissenschaftlichen Logik, die eben ohne Bruch, ohne Spaltung, ohne Mangel arbeitet, und so arbeiten kann, weil sie das Subjekt, weil sie das menschliche Individuum als Naturwesen betrachtet. Eben wie ein Tier betrachtet, das engst verbunden ist mit seiner Umwelt. Instinktverhaftet mit seiner Umwelt. Musik John Matthias und Nick Ryan: Cortical Songs, Track 5, Remix by Thom Yorke, Neuron Trigger mx, bis 00:15 stehen lassen, vor Sprecherintext ausblenden Sprecherin: Die Hirnforschung bestreitet den Abgrund des Menschlichen. Für sie gibt es keine Todessehnsucht, sondern nur reinen Überlebenswillen. Für sie existieren keine unbewussten Schuldgefühle und auch keine Angst, die ihren Grund im menschlichen Dasein selbst findet, sondern bloß neuronale Defekte. Dass nur der Mensch ein Wissen um den eigenen Tod hat, dass er mit seiner Endlichkeit zurechtkommen muss, interessiert die Neurowissenschaft nicht. Was am Dasein unverständlich und zutiefst beängstigend ist, ignoriert sie. Die griffige Formel hat das Unbegreifbare, die Zahl das Unkalkulierbare, das durchschaubare System das furchterregende Nichts ersetzt. Früher haben die Menschen an Götter geglaubt, um mit der Todesangst zurechtzukommen. Heute glauben sie an die Neurowissenschaft, die den Tod nur noch als Hirntod kennt. Musik Iannis Xenakis: Concret PH II (neuronales Gezirre), bei 00:40 hochfahren, 5 Sekunden stehen lassen, abrupt ausblenden, 5 Sekunden Stille -- ENDE -- Literaturliste: Freud, Sigmund: Die Angst. In: Studienausgabe. Herausgeben von Alexander Mitscherlich u.a. Band 1. Frankfurt am Main 2000. S. 380-397. Heidegger, Martin: Was heißt Denken? Stuttgart 2007. Roth, Gerhard: Denken, Fühlen, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt am Main 2003. Siefer, Werner: Lohn der Angst. In: Focus. Nr. 14. April 2011. S. 80-87. Singer, Wolf: Vom Gehirn zum Bewusstsein. In: Elsner, Norbert u. Lüer, Gerd: Das Gehirn und sein Geist. Göttingen 2001. S. 189-204. 1