DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Sonntag, 03.10.2010 Redaktion: Marcus Heumann 14.05 ? 15.00 Uhr Die Letzten von drüben DDR-Übersiedler zwischen Mauerfall und Währungsunion von Elke Kimmel URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Musik : Silly ? Die Ferne O-Ton Eckardt: Früher in Weimar sahen Busfahrer aus wie ein Busfahrer - in Göttingen sahen Busfahrer aus wie Akademiker, weißes Hemd und Nickelbrille oder so, also das waren so die ersten Eindrücke, O-Ton Broberg: Dass also die DDR-Bürger, wenn da Bananen von irgendnem LKW geschmissen wurden, die sich aufgeführt haben wie die... wie die Wilden. Also, das war mir peinlich. da hab ich gesagt: Leute, habt ihr keinen Stolz? Das kanns doch nicht sein, wegen so´ner dämlichen Banane?! O-Ton Eckardt: In Göttingen habe ich mich immer so als Weimarer gefühlt - Weimaraner sind die Hunde - und in Weimar hab ich mich dann auch zunehmend auch als Göttinger gefühlt. Aber so das wirkliche Heimischwerden, das hat lange gedauert. Musik : Silly ? Die Ferne Sprecherin: Bis zum heutigen Tag gehen mehr Menschen von Ost- nach Westdeutschland als den umgekehrten Weg. Vor allem auf der Suche nach Arbeit verlassen junge Männer und Frauen ihre Heimat in Thüringen, Sachsen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern. Sie folgen damit jenen knapp vier Millionen Menschen, die in der Zeit der deutschen Teilung aus der DDR flüchteten oder legal übersiedelten, die meisten von ihnen vor dem Mauerbau im August 1961. Aber auch nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 beantragten noch etwa 400 000 Menschen ihre Aufnahme in der Bundesrepublik und West-Berlin. Einige fanden im Westen ihre neue Heimat, andere blieben nur vorübergehend. Musik : Silly ? Die Ferne Ansage Die Letzten von drüben DDR-Übersiedler zwischen Mauerfall und Währungsunion Ein Feature von Elke Kimmel O-Ton Brandau: Wie soll ich noch geduldig bleiben? Ich muss hier weg! Sprecher: Kapitel eins: Als die Mauer fiel O-Ton Brandau: Mein großer Sohn, der 1973 geboren ist, war elf, zwölf, und hat zu mir gesagt, ich will unbedingt hier raus. Ich kann nicht mehr mit zwei Zungen dann reden, also, das was Zuhause gesprochen wurde, war längst nicht das, was er dann in der Schule sprechen konnte. Ich empfand das schon für mich als sehr schlimm, als ich Kind war, und ich fand das noch schlimmer, dass ich das auch meinem Kind antun musste. Sprecherin: Petra Brandau war 1989 so alt wie der Staat, den sie nicht als den Ihrigen sah: 40 Jahre. Als Erzieherin hatte die alleinstehende Mutter zweier Kinder ihren Arbeitsplatz verloren, nachdem sie 1985 ihren ersten Ausreiseantrag gestellt hatte. O-Ton Brandau: Und 1989 im Sommer hab ich mich mit meinem Bruder in der Tschechoslowakei getroffen und mein Bruder war der Meinung, er nimmt meinen großen Sohn im Kofferraum mit nach Westdeutschland. Und mich bringt er mit dem Kleinen nach Ungarn. Ich konnte das nicht - mein kleiner Sohn war '84 geboren, der war knapp fünf Jahre alt. Ich konnte das also alles nicht machen. O-Ton Fiss: Und hier entstand dann die merkwürdige Situation, dass sich so´ne Art Flüchtlingshierarchie bildete? Sprecherin: Harald Fiss war im Herbst 1989 Leiter des West-Berliner Aufnahmelagers. O-Ton Fiss : ... d.h. also, die guten Flüchtlinge in Anführungstrichen waren die, die nach jahrelangem Warten auf eine Ausreise dann endlich die Ausreise bewilligt bekommen hatten, und dann in den Westen kamen. Also gelitten haben, diffamiert wurden, stigmatisiert wurden als Feinde des Staates usw. und die trafen dann hier auf Flüchtlinge, die relativ einfach in die Bundesrepublik einreisen konnten, weil sie sich Zuhause in ihr Auto setzten, über die Tschechei, Ungarn, Österreich, dann in die Bundesrepublik kamen - also ohne Probleme und die landeten dann auch hier und waren sozusagen den andern ein Dorn im Auge. Und dann gabs ja noch die dritte Gruppe, nämlich die Aussiedler, die wiederum wurden von beiden Gruppen Flüchtlingen als Polacken betrachtet, als Menschen , was haben die eigentlich zu suchen hier, die sollen gefälligst zuhause bleiben... O-Ton Brandau: Ich bin mit beiden Kindern wieder nach Berlin zurück. Und am 30. Oktober kam mein Sohn mit dem Zettel aus dem Briefkasten: Mutti guck mal, was da steht. Der war nicht mal in einem Briefumschlag, dieser Zettel. Da stand drauf: Ihre Ausreise ist genehmigt, finden Sie sich in der Abteilung Inneres, Nordmarkstraße, Zimmer Sowieso ein. Da bin ich dann da rübergegangen in die Nordmarkstraße und da wurde mir gesagt: Ihre Ausreise ist genehmigt - ich sag: Ich hab doch gar keinen Antrag mehr. Das ist egal, Sie müssen jetzt raus, bis zum 10. November haben Sie Zeit, Laufzettel, Sie müssen sich überall abmelden. Ja, da stand ich dann. O-Ton 9.11. Egon Krenz / Günter Schabowski O-Ton Brandau: Wie schaff ich das in einer Woche? Vor allen Dingen .. es sind Tausende mit diesem Laufzettel plötzlich von Amt zu Amt gelaufen. Es waren überall Schlangen - das war unglaublich. Sie haben immer wieder die gleichen Leute getroffen. Ich musste mich bei den Wasserwerken abmelden, ich hab das überhaupt nicht verstanden. Ich musste mich bei allen Banken und Sparkassen abmelden - ich hatte nur ein Konto: Mehr hatte man in der DDR nicht. Jedenfalls habe ich diesen ganzen Lauf da auf mich genommen und hab dann auch die ganzen Ausreisepapiere gekriegt. Also ich habe praktisch die ganze Wohnung leer gemacht... eine 3-Zimmer-Wohnung in einer Woche leer zu machen war ganz schrecklich. Es haben alle Freunde da gesessen und haben gesagt: Petra, da passiert was, und: bleib doch geduldig. Ich sag: Wie soll ich noch geduldig bleiben, ich muss hier weg. Ich muss hier alles jetzt leer machen. O-Ton 9.11. Egon Krenz / Günter Schabowski O-Ton Brandau : Und in der Nacht vom 9. zum 10. kam mein großer Sohn nach Hause in diese leere Wohnung, ich hatte eine heftige Angina - weil, immer wenn mich alles überfordert hat, hab ich Angina gekriegt - und sagt: Mutti, die Mauer ist auf. Ich sag: Du spinnst! Geh ins Bett, wir haben Besseres vor! Er hat sich getrollt, ist ins Bett gegangen... O-Ton Eckardt: Am 9. November 1989 hab ich noch meinen Wehrdienst abgeleistet? Sprecherin: Torsten Eckardt war 1989 20 Jahre alt und bereitete sich als NVA-Soldat auf das Studium in Rostock vor. O-Ton Eckardt: ?und nachdem viele Menschen halt auch in die Prager Botschaft geflüchtet waren, kam es ja so, dass dann die tschechische Grenze auch dicht gemacht wurde und das hieß also, dass wir an die tschechische Grenze verlegt worden sind, ins Erzgebirge und da aufpassen sollten, dass niemand abhaut. Und da lief dann halt abends der Fernseher und da haben wir das dann mitbekommen, dass die Mauer gefallen ist. Und das war natürlich ne völlig surreale Situation, weil man da stand und nen Auftrag hatte, den man natürlich mehr oder weniger gern erfüllt hat, und auch hoffte, dass man in keine blöde Situation kommt, aber das wurde natürlich von einer Sekunde zur anderen dann hinfällig. O-Ton Broberg: An dem Tag hatte ich gearbeitet und war im Internat der Ballettschule in Karlshorst, im Außeninternat. Und wir hatten gerade einen Pizzaabend und plötzlich kam eine Schülerin raus und sagte: Die Grenzen sind offen. O-Ton Eckardt: Plötzlich gabs die Grenze nicht mehr und das, was immer so wichtig war, und so bedeutsam, war plötzlich völlig obsolet geworden und das war ne ganz surreale Situation. Und das hat natürlich dann auch bedeutet, dass ... ich dort auch vorzeitig entlassen wurde ... natürlich war ich darüber nicht unglücklich. O-Ton Broberg: Ich sag: Quatsch! Gibst doch gar nicht. Ich sag: Jetzt willste uns hier aber auf die Schippe nehmen! Doch! Doch! Doch! Die Grenzen sind auf! Ja und dann sind wir erst mal alle an den Fernseher gestürzt und haben erst mal geguckt, was los ist und ich selber hab das überhaupt nicht richtig glauben können. Sprecherin: Die Horterzieherin Sylvia Broberg, wie Petra Brandau allein erziehende Mutter zweier Söhne, war mit ihrem Leben in der DDR im Großen und Ganzen zufrieden - die Umwälzungen nach dem 9. November jedoch bereiteten ihr existenzielle Sorgen. O-Ton Broberg: Ja, ich habs nicht glauben können. ich bin dann nach Hause gefahren und erst den nächsten Tag hab ich gedacht, jetzt gehste mal gucken, bevor sie wieder zumachen. Also ich war der Meinung, dass ? es wurde ja nur geöffnet, damit also die, die gehen wollen, gehen können, damit sie dann wieder alles dicht machen können. O-Ton Fiss: In dem Augenblick war mir zumindest klar, dass jetzt nicht der Zustrom von Flüchtlingen aufhören würde, sondern zunehmen würde. Denn sehr, sehr viele, die auf gepackten Koffern saßen, weil sie auf die Entscheidung über ihren Ausreiseantrag warteten, aber auch viele andere, würden sofort die Chance ergreifen, um jetzt die offene Mauer zu nutzen, um nach West-Berlin zu kommen. So wars denn auch tatsächlich. O-Ton Grenzöffnung / DDR-Bürger O-Ton Fiss: Was machen wir jetzt, wenn ne Million Menschen nach West-Berlin kommt aufgrund der offenen Mauer? Und ich wurde auch gefragt, wie ichs einschätzen würde, ob denn nun die Zahl der Flüchtlinge abnimmt oder zunimmt. Ich habe gesagt, sie wird zunehmen, weil die Leute natürlich nicht darauf vertrauen, dass die Mauer offen bleibt. Sie werden kommen, um diese Chance wahrzunehmen. O-Ton Brandau: Wir sind am 10. November - ich wunderte mich nur, wie voll die Straßen waren - mit 3 Koffern, zwei Kindern zur Bornholmer Straße. Oh, da war ich aber nicht die Einzige. Da waren ganz viele. Also, ich hab ununterbrochen geheult, also, wenn ich da jetzt noch dran denke. Mein großer Sohn hatte so´n Riesen-Rucksack, so´n Tramperrucksack auf dem Rücken, ich musste die Grenzpolizisten anflehen, mir meine Unterlagen abzustempeln, weil ich hatte Ausreisepapiere und es gingen aber alle ohne Papiere einfach so rüber. Ich hatte den Koffer, ich hatte mein Kind an der Hand, mein Fünfjähriges, und bin über die Bornholmer Brücke gelaufen mit Tausenden und die West-Berliner standen da und da gab mir einer nen Paket Tempo-Taschentücher und da war bei mir jeder Damm gebrochen, weil Tempo war für mich West-Berlin und wenn mein kleiner Sohn heute daran denkt, der versteht überhaupt nicht, dass ich dann noch mehr in Tränen ausbrach, als ich die Tempos gekriegt hab. O-Ton Eckardt: Die weitere Situation war ja zunächst mal offen. O-Ton Broberg: So richtig war es uns natürlich an dem Tag noch nicht klar, was das für Folgen haben wird. Man hat sich erst mal gefreut und war inner Euphorie. Und hat ? und diese hellen Straßen und wie toll .. also die erste Zeit ist man ja andauernd rübergelaufen. Und ich hab mir natürlich auch die Hundert Mark abgeholt, wie jeder andere auch, aber für mich war klar, dass ich das Geld jetzt nicht in Cola umlege oder sonst irgendwas, sondern ich hab also mir nen Kurs an der Volkshochschule davon bezahlt. Weil ich wusste, dass diese ganze Sache .. dass man das nicht mehr halten kann. Dass die die Grenzen nicht mehr zumachen können. Das war also dann doch sehr ersichtlich. Diese Massen, die sind ja überrollt worden im Endeffekt. O-Ton Schöneberger Rathaus 10.11.89 / Erklärung des Neuen Forum Musik: Silly ? Die Ferne O-Ton Broberg: Ja, das war ja letztendlich wie ein Ausverkauf. Sprecher: Kapitel zwei: Stunde null. O-Ton Nesener: Bis 1989 war ich Bürger der Deutschen Demokratischen Republik und habe in meiner Tätigkeit zuletzt die Funktion eines Leiters der Materialversorgung in einem Volkseigenen Betrieb wahrgenommen. Sprecherin: Dietrich Nesener, der zu diesem Zeitpunkt bereits fast 60 Jahre alt war, wagte dennoch einen Neuanfang im Westen. O-Ton Nesener: Als dann das Ende der DDR vorherzusehen war oder sich abzeichnete, habe ich zu meiner Frau gesagt: Wir müssen also schnellstens uns verändern, damit wir für unser ferneres Leben - wenn wir älter werden - etwas tun. Das ist hier nicht möglich. Ich habe das deshalb gesagt, weil ich durch meine Funktion und durch meine Tätigkeit sehr wohl in der Lage war vorauszusehen, wie sich diese Wende hier inner DDR abspielen wird. O-Ton Broberg: Ja, das war ja letztendlich wie´n Ausverkauf. Es gab ja in den Geschäften kaum mehr was zu kaufen, weder beim Metzger - der hatte also bloß noch irgendwelche Knochen da rumliegen und es gab kein Toilettenpapier mehr ... es war unglaublich. Also ich hab gedacht: Was passiert denn jetzt? O-Ton Ost-Berliner Kaufhallenleiterin O-Ton Nesener: Da hat ja kein Bürger der DDR mehr eine Zahncreme gekauft aus DDR-Produktion oder auch andere Dinge, sondern es musste ja alles aus dem Westen sein. Und so gesehen, war es ja völlig klar, dass die Betriebe kaputt gehen mussten. Wodurch natürlich die Arbeitslosigkeit auch entstand. O-Ton Otto Wolf von Amerongen O-Ton Broberg: Und man hatte natürlich Angst um seinen Arbeitsplatz, dass einem der verloren geht. Und ich muss sagen, mir sind da so amerikanische Filme wieder ins Gedächtnis gekommen, wo man eben gesehen hat, dass Leute unter der Brücke liegen, und das wäre für mich also das Schlimmste gewesen, meine Arbeit zu verlieren und vielleicht die Wohnung zu verlieren, weil man das nicht mehr bezahlen kann. Also schon allein die Vorstellung hat mir unheimliche Angst eingeflößt, muss ich sagen. Ja, und das war dann auch der Grund nachher, weshalb ich nach anderen Alternativen gesucht habe. Aus der Angst heraus geboren eigentlich. O-Ton Eckardt: Also ich hatte nen Studienplatz in Rostock für Regionalwissenschaft, speziell Lateinamerikawissenschaft und nach der Wende waren die Unis in der DDR natürlich in der Verlegenheit, dass sie viele Fächer hatten, die es im Westen so gar nicht gab. Auf jeden Fall war das halt ne Zeit, wo ich dachte: Das Risiko geh ich nicht ein, sondern ich gucke dann halt dort, wo dann die Dinge auch so dann laufen, wie sie auch in Zukunft laufen werden. O-Ton Helmut Kohl, 30.12.1989 O-Ton Broberg: Meine Freundin, die kam zu mir und sagte: Du Sylvia, hast du Silvester was vor? Kommst du mit? Ich hab´ne Großcousine in Gießen und da können wir Silvester feiern. Na, nun waren wir erst mal neugierig ... ach Gott, warum denn nicht? Wir sind also mit nem Trabant losgestürzt... ich hab sogar meinen Ausweis noch vergessen, weil das alles so plötzlich kam. Also nach Feierabend, das war ne richtige spontane Entscheidung letztendlich. Wir hatten zwei Pannen unterwegs so dass wir dann so gegen Mitternacht in Gießen ankamen. Sprecherin: In den Wochen und Monaten nach dem Mauerfall entschlossen sich Sylvia Broberg, Torsten Eckardt und Dietrich Nesener in den Westen überzusiedeln. Petra Brandau war zu diesem Zeitpunkt bereits in West-Berlin, Dietrich Nesener entschied sich gemeinsam mit seiner Frau Anfang Dezember 1989 zum Umzug in die Bundesrepublik und Sylvia Broberg lernte zu Beginn des Jahres 1990 einen Westdeutschen kennen. Im April 1990 begann Torsten Eckhard, in Göttingen zu studieren. Musik: Silly ? Die Ferne O-Ton Broberg: Ich bin einfach weggefahren, war nicht mehr da. Sprecher: Kapitel drei: Vom Weggehen und Ankommen O-Ton Brandau: Wir sind jedenfalls irgendwann angekommen, Kottbusser Tor und da bin ich aus dem Untergrund nach oben gekommen und das war mein erster Eindruck von West-Berlin. Chaotisch. U-Bahn oben kannte ich aus der Schönhauser, aber ich empfands als schmutzig, obwohl Ost-Berlin im Nachhinein war ja auch schmutzig, aber das war mir vertraut schmutzig anscheinend, und bin dann die Reichenberger Straße lang gelaufen und Edeka gesehen und dachte: Mann, du bist im Westen, es ist unglaublich, es ist unfassbar. Und so schnell! Jahrelang war das unüberwindlich für dich und auf einmal dauert es ne Dreiviertelstunde und du bist mittendrin in West-Berlin. O-Ton Broberg: Wir haben dort also Silvester gefeiert und ich hab mir die örtliche Zeitung genommen und hab mal in der Rubrik Annoncen geschaut und mir ein paar Adressen rausgeschrieben und darauf geantwortet. Immer mehr haben sich verabschiedet, haben gesagt: Also wir versuchen unser Glück halt wo anders, hier gehts sowieso alles den Bach runter und ... also ich hab dann auch gedacht. Naja, vielleicht sollte man doch ne Möglichkeit finden. O-Ton Nesener: Als wir den Entschluss gefasst hatten, uns zu verändern, sind wir im 1989 über Weihnachten nach Heidelberg gefahren zu Besuch und haben durch tatkräftige Hilfe und Unterstützung sowohl eine Wohnung gefunden als auch meine Frau schon im Jahre 1989 eine Tätigkeit vereinbart hatte in einer Rehabilitationsklinik und so sind wir dann wieder nach dem Besuch zwischen Weihnachten und Neujahr zurück gefahren. Haben dann alles hier geregelt und sind auf ganz normalem Wege ausgereist. O-Ton Broberg: Es hat sich lange überhaupt niemand gemeldet und ich habs eigentlich auch schon vergessen gehabt, ich hab gar nicht mehr dran gedacht. Und auf einmal kam eben Post von einem Mann, der sehr nett geschrieben hat und der mich dann auch besuchen kam und wir sind dann auch nach Paris gefahren. Ja und ich hab mir dann auch seine Heimat angeguckt und er wollte also, dass ich zu ihm ziehe. Im Mai 1990 bin ich nach Hessen übergesiedelt. Det heißt ich hab mich eigentlich auch nicht ordentlich abgemeldet hier, ich bin einfach weggefahren, war nicht mehr da. O-Ton Angebote des DDR-Reisebüros im Frühjahr 1990 O-Ton Eckardt: Wir haben uns aufs Motorrad gesetzt, erst mal, und sind also von Weimar nach Göttingen gefahren, das war also schon so´n bisschen abenteuerlich und man muss ja immer sagen, damals gabs ja noch die Grenzer und Grenzkontrollen usw. Das war natürlich alles nicht mehr so streng oder wurde alles nicht mehr so eng gesehen. ...Ich glaube, da hat uns keiner mehr kontrolliert. O-Ton Broberg: Und wir waren dann vier Jahre verheiratet, aber das hat leider nicht so funktioniert, wie ich mir das vorgestellt hatte, so für's Leben. Nun muss ich dazu sagen, dass also die Männer im Westen, die ich so kennen gelernt habe, sehr altmodische Ansichten hatten und also von der Emanzipation überhaupt keinen Schimmer und eher lieber die braven Hausmütterchen bevorzugt haben und ich war nicht der Typ. Ich wollte es nicht sein. O-Ton Brandau: Wir hatten erst mal keine Wohnung im Westteil der Stadt. Ich wohnte bei meinem Bruder in einer 1-Zimmer-Wohnung in der Schlangenbader Straße zu viert - also ich, die zwei Kinder und mein Bruder in einer 1-Zimmer-Wohnung - mein Bruder musste arbeiten gehen, also es war Chaos pur. Wir hatten zwar nicht viele Sachen, aber es war Chaos pur. O-Ton Nesener: Als wir am 16. Februar 1990 nach Heidelberg kamen, hatten wir schon eine Wohnung, wir hatten schon die Auslegware gekauft, die war auch schon verlegt und Möbel waren schon gekauft. O-Ton Brandau: Mein Bruder hat mir so die ersten Schritte, die ich gehen muss, erklärt, also Auffanglager Marienfelde, da musste ich mir ne ganze Menge Papiere besorgen. O-Ton Fiss: Wir hatten also enorme Zugangszahlen - der höchste Zugang waren über 2000 pro Tag, aber es konnte immer nur ne begrenzte Zahl eingelassen werden, und der Rest stand halt auf der Treppe, bis draußen auf der Straße. Und an diesen Tagen mit den sehr hohen Zugangszahlen, war die Schlange auf der Straße bestimmt ja 100 Meter ungefähr lang. Und sie warteten geduldig darauf, dass sie eingelassen werden können. O-Ton Brandau: Es war kalt und eine Riesenschlange und ich stand mit den zwei Kindern in der Schlange und vor dieser Daimlerstraße stand ein Bus der Amerikaner, die haben heißen Tee verteilt. Und der eine Offizier hat dann zu mir gesagt: Schicken Sie doch Ihre Kinder nach Hause, es reicht, wenn Sie alleine hier stehen. O-Ton Helmut Kohl O-Ton Brandau: Und da ist mein großer Sohn dann mit meinem kleinen Sohn nach Hause - ich dachte, wir müssen immer alle da sein. Und ich hab dann alleine da gestanden, das hat bestimmt nen halben Tag gedauert. Dann hab ich also dieses BVG-Ticket bekommen, weil ich durfte ja umsonst dann erst mal, dann hab ich beim Arbeitsamt mich angemeldet, dann haben die Alliierten mich interviewt, also dieser ganze Kram. O-Ton Fiss: Und ich erinnere mich nur, dass ich immer wieder runtergegangen bin mit einem großen Megaphon und die Wartenden ermutigt habe, auszuharren und auszuhalten, denn sie würden noch aufgenommen werden. Allerdings konnte ich dann diese Zusage nicht einhalten, weil: Abends um 18 Uhr war die Schlange noch genauso lang. Und wir haben dann an diesem Tag beispielsweise entschieden, die Warteschlange abzubrechen und diejenigen, die nicht mehr rankommen konnten, mit einer Nummer zu versehen, die sie berechtigte, am nächsten Morgen vor acht Uhr praktisch als erste dann schon in dieses Verfahren aufgenommen zu werden. O-Ton Brandau: Am nächsten Tag hab ich mich ausgerüstet mit fünf Paar Socken, mit fünf paar Jacken und hab mich noch mal angestellt und dann kam ich dran und bekam dann irgendwann gegen zehn auch´n Wohnberechtigungsschein. Ja. Es waren viele, viele Wege, sowohl im Osten als auch dann im Westen zu erledigen, weil ich war ja unbekannt in diesem Land, ich musste mich ja in die Bürokratie erst mal einfügen. O-Ton Broberg: Also in dem ersten Raum sagte die nur: Ja. Also der Raum, ich konnte die Frau überhaupt kaum erkennen, das war auch interessant, weil der so verqualmt war, der Raum, und der Ascher überquoll, das war sehr schön, und sie meinte: Ja, also erst mal hier .. Sie müssen hier die Essenmarken nehmen und ich musste jetzt sagen, wo ich jetzt untergebracht bin. Ich hab ja bei meinem zukünftigen Mann, also wir haben ja kurz danach auch geheiratet, hab ich ja direkt gewohnt und ich brauchte da ja keine Unterkunft da in diesem Lager. Und wurde dann also mit einem großen Zettel weitergeschickt. O-Ton Aktuelle Kamera zum Abriss der Mauer O-Ton Broberg: Ja, die wollten dann wissen, wo ich gearbeitet hatte, ob ich denn gekündigt wurde ... Ich hab gesagt: Nein, in beiderseitigem Einvernehmen. Und da sagt sie: Ja, dann kriegen Sie hier aber keine ... also würde ich keine Unterstützung kriegen, also wie Arbeitslosengeld. Da sag ich: Na, dann bin ich eben gekündigt worden, das ist mir jetzt auch egal. Ja, wir waren doch immer so ehrlich, eigentlich, wir haben das so gesagt, wie wir's gewohnt waren. Ich weiß gar nicht, was da alles für Stempel benötigt wurden. Also gefragt wurde ich da nicht weiter über irgendwie was. Die haben bloß .. jedes Zimmer hatte da irgendwie seinen Stempel da drauf gemacht, und ich meine, das wären so 10, 15 Zimmer gewesen, glaube ich. Und dann konnt ich gehen. Dann hab ich dann den Schein bekommen, dass ich jetzt offiziell dort gemeldet bin. Und mit diesem Schein musste ich dann dort in den Ort, also zur Gemeinde und den dort abgeben. Ach ja meinen Pass, Ausweis, wollten sie noch haben - ich hab Ihnen aber nur den Reisepass gegeben. Meinen Ausweis hab ich behalten. Als Andenken. Sprecherin: Im Westen angekommen merkten viele Übersiedler, dass man dort wenig über die tatsächlichen Lebensumstände in der DDR wusste. Sie lernten aber auch, ihr über das Westfernsehen vermitteltes Bild von der Bundesrepublik zurecht zu rücken. Musik: Silly ? Die Ferne O-Ton Brandau: Wenn du den Mund aufmachst, merkt jeder, du bist aus´m Osten. Sprecher: Kapitel vier: Fremd sein O-Ton Eckardt: Ich hatte als Kind eine Modellbahnanlage, wo dann auch entsprechend dann auch die Häuser ?, da gibts auch keinen bröselnden Putz, alles ist dann sauber und gepflegt und wirkt dann auch alles so´n bisschen plastikartig - so kams mir halt auch vor, als ich in Göttingen ankam. Fast so´n bisschen steril hats gewirkt. Natürlich hat es dann auch was Beeindruckendes dann zu sehen, dass einfach so´ne Stadt auch intakt ist und in Schuss ist und da nichts groß verfällt. Aber es hatte auch ein bisschen was Befremdendes. Weil so´n bisschen die historische Patina auch einfach fehlte. O-Ton Nesener: Ich habe ja durch meine lange Tätigkeit hier in der DDR damals gewusst, wie die Menschen in den Volkseigenen Betrieben fehl informiert worden sind. Und genauso hat sich denn auch, nachdem wir in Heidelberg angekommen waren, herausgestellt, dass auch viele Leute dort lebend, schlecht informiert waren über die Lebensumstände in der damaligen DDR. O-Ton Eckardt: Das war so das Hauptinteresse von dem Professor oder zumindest die Erwartung, die ich so mitbekommen habe, dass man ihm also jetzt erzählt, was man alles so durchgemacht hat und erlitten hat und wie reduziert man gelebt hatte, das war so´n bisschen das überraschende, was mir aber öfters begegnet ist, dass ich so viel gar nicht zu erzählen hatte an dramatischen Dingen. Ja, das ist ja bis heute ja auch was so in der Wahrnehmung der DDR, dass es entweder die Täter gab von der Stasi oder so und dann es sozusagen die Opfer, die entsprechend auch gelitten haben und dass sozusagen die allergrößte Zahl der Menschen ganz gut arrangiert und angepasst hatte - blieb einem ja auch in der Regel gar nichts anderes übrig - und man darin auch ein relativ normales Leben geführt hat - das war für viele doch überraschend. O-Ton Broberg: Ich bin erst mal dort so empfangen worden wie jemand, der jahrelang im Busch gelebt hat. Also, die konnten sich nicht vorstellen, dass wir auch ausreichend zu essen hatten. O-Ton Eckardt: Mit Kommilitonen sind wir halt Döneressen gegangen und dann bin ich in soner Dönerbude gelandet und dann hab ich mir die Tafel da angeguckt und dann fand ich Zaziki klingt doch ganz nett. Und da hab ich einfach einmal Zaziki bestellt. Und dann guckte mich der türkische Verkäufer etwas unsicher an und irritiert und die Kommilitonen auch und ich wollte mir keine Blöße geben und hab dann einfach gesagt: Ja, Zaziki. Und dann hat der Verkäufer gesagt: Ja, vielleicht noch Fladenbrot dazu? Und ich so: ja klar, können Sie machen. Geben Sie mir nen Fladenbrot dazu. Und dann im Nachhinein hab ich schon verstanden, warum vielleicht nur Zaziki doch nen bisschen wenig gewesen wäre. Also das sind dann die Momente, wo man merkte, dass man doch noch einiges zu lernen hatte. O-Ton Broberg: Die haben gedacht also .. ich weiß nicht wie überhaupt die Vorstellung von diesen Leuten waren, die haben sich also vorgestellt, dass wir also kulturelle Tiefflieger sind und ich muss sagen. ich selber hab festgestellt, dass also unsere Schulbildung, die wir genossen haben, 1000 mal besser war als das, was in der Bundesrepublik in den Schulen geleistet wird. O-Ton Nesener: Und so gesehen haben sich beide Seiten nicht verstanden. Und wenn sich Menschen nicht verstehen, dann gibt es also Sand im Getriebe. Dann misstraut man sich auch, aber wir beide, meine Frau und ich, wir sind sehr, sehr schnell mit den Menschen dort ins Reine gekommen. Sind akzeptiert worden und haben durch unsere Tätigkeit, die wir dort ausgeübt haben, sehr schnell eben bewiesen, wer wir eigentlich sind. O-Ton Broberg: Die Leute waren erst mal sehr freundlich, weil ? naja man war ja so ... ja fremd ... sie kannten einen nicht. Von uns, von den Leuten, die in der DDR lebten, in der damaligen, kannten sie eigentlich recht wenig. Und sie waren freundlich, also das kann ich nicht anders sagen. Aber eben sehr vom Denken her für mich ziemlich kleinkariert. Ich hab da meine Mühe gehabt, Kontakte zu finden. O-Ton Fiss : Wir haben damals gesagt, es sind so Menschen mit abgebrochenen Lebensläufen - also Obdachlose, die es auch in der DDR gab, oder Menschen, die aus sozialen Gründen ausgegrenzt waren. Und die kamen nun zweifelsfrei nur hierher, um die Unterstützung zu holen, die ja nicht gering war, denn immerhin bekam jeder, der hier eintraf, ein sogenanntes Begrüßungsgeld von der Bundesregierung. Das betrug 200 DM für einen Erwachsenen, dann also die sogenannte Friedlandhilfe, das waren noch mal 50 Mark, und dann gabs vom Land Berlin für die ersten fünf Tage des Aufenthalts hier 15 DM pro Person, damit sich die Menschen hier selbst verpflegen konnten. Summa Sumarum waren das dann für nen Alleinstehenden 325 Mark, die er hier sofort bar ausgezahlt bekam. Man sah es den Menschen schon an: Es waren sehr einfache Menschen. O-Ton: Ost-Berliner Kinder im Frühjahr 1990 O-Ton Broberg: Dass also die DDR-Bürger, wenn da Bananen von irgendnem LKW geschmissen wurden, die sich aufgeführt haben wie die Wilden. Also, das war mir peinlich. da hab ich gesagt: Leute, habt ihr keinen Stolz ? Das kanns doch nicht sein, wegen so´ner dämlichen Banane?! Ja, dass die sich da teilweise sogar inne Haare hatten und an diesen Dingen da rumrissen, an diesen Stauden da. Schrecklich. O-Ton Ernst Albrecht O-Ton Brandau: Dann war ich beim Bezirksamt im Steglitzer Kreisel und da ist so meine alte Energie wieder erwacht. Da musste ich natürlich auch Wohngeld und Kleidergeld und was weiß ich alles beantragen, und da landete ich bei einer Beamtin, die sagte zu mir - ich kanns nicht wortwörtlich wiedergeben: Was wollen Sie eigentlich hier? Sie sind Vierzig, Sie haben zwei Kinder, denken Sie, Sie kommen hier noch auf´nen grünen Zweig? Und da dachte ich: Du Kuh, du. Du sitzt hier mit deinem Hintern im Warmen und weißt überhaupt nicht, was ich hier in den letzten Wochen und letzten Jahren alles erlebt habe. Und da hab ich gedacht: Ne - jetzt reicht mir ... das lass ich mir nicht gefallen .. Wo sitzt denn Ihr Vorgesetzter? Und hab mich da durchgewurschtelt und bin zu dem Vorgesetzten durchgedrungen und hab ihm das in meiner Wut geschildert. Die hat mich nicht mehr abfertigen dürfen. O-Ton Nesener: Wir hatten also überhaupt keinerlei Probleme mit den Menschen dort. In keiner Weise - sowohl in beruflicher Ausübung, als auch im privaten Bereich nicht. O-Ton Brandau: Ich bekam eine möblierte Wohnung in Steglitz. Das war ich auch nicht gewohnt: Es stehen ja Wohnungen in der Zeitung, die man einfach so anmieten kann, und in der Leydenallee waren eine 1-Zimmer-Wohnung mit Küche und Bad zu vermieten. Und mein Bruder hat immer gesagt: Ich geh mit dir dahin, aber du hältst die Klappe, wenn du den Mund aufmachst, merkt jeder, du bist aus´m Osten. Und die vermieten wahrscheinlich nicht gerne an Ostler. Wir sind also dahin gegangen ? ich wusste auch überhaupt nicht, worüber die reden ? Betriebskosten, Kaltmiete - das war mir alles neu. Und die Vermieterin sprach mich an und sagt: Sie sind aus´m Osten? Ich so ja. Und Sie haben zwei Kinder? Ja. Dann kriegen Sie die Wohnung und kein anderer. Und hab ich zu meinem Bruder gesagt: (unverständlich) .. Ich hab die Wohnung gekriegt. O-Ton Ernst Albrecht O-Ton Eckardt: Das war schon nen ziemliches Hauen und Stechen und da haben wir dann ganz günstige Angebote auch gefunden und haben uns gewundert, warum die keiner wollte. Dann war das ne ganz nette Gegend auch, ne tolle Villa und haben wir uns immer noch gewundert und dann haben wir irgendwann gemerkt, dass das so´ne Burschenschaft ist, so´ne schlagende Verbindung, wo wir da reingeraten waren, mit ganz seltsamen Ritualen, mit komischen Gepflogenheiten - ja und da kamen wir uns schon sehr fremd vor. Ja, und die fanden uns auch sehr fremd und komisch und wir fanden die sehr komisch. Und das wurde dann natürlich auch nix und das beruhte denn auch auf Gegenseitigkeit. Also das waren so Momente, wo man gemerkt hat: Das ist doch zum großen Teil zumindest auch 'ne andere Welt, die da noch existiert, die so fremd uns war, dass wir da auch wieder die Kurve gekratzt haben. O-Ton Ernst Albrecht O-Ton Eckardt: Letztlich haben wir unser erstes Zimmer bekommen, in so´ner alten Saline, das waren so alte Fabrikgebäude ... wo wir dann auch so im Dachgeschoss so´ne Bleibe gefunden haben. Und da haben wir uns auch ganz schön abspeisen lassen, da gabs auch kein Telefon und Dusche irgendwo auf dem Betriebsgelände mit einer ... dass man irgendwo Geld einwerfen sollte. Und da haben wirs auch ganz schön mit uns machen lassen, aber das war so zum ersten Mal, wo man da seinen Koffer mal abstellen konnte. Wo man sagen konnte: Yeah, jetzt sind wir da. Jetzt gehts weiter. O-Ton Nesener: In Heidelberg selbst wohnten wir in einem Haus, dreistöckig, und haben uns dort ordnungsgemäß, wie sich das für kultivierte Leute gehört, vorgestellt und haben also das Gefühl gehabt, dass die Leute uns gleich akzeptiert haben, gleich gesagt haben: Mensch das sind ja ganz normale und auch nette Leute. O-Ton Broberg: Die Masse, die ich dort kennen gelernt habe, im dörflichen Bereich, ja, die sind doch sehr desinteressiert an Weiterentwicklung der Menschen, also sich selbst weiterzuentwickeln. Wenn sie n Beruf haben, was ja auch unbedingt nicht alle haben, entwickeln sich viele nicht mehr weiter. Die haben also ihren einmaligen Abschluss und damit hat sich das getan. Wir haben das anders gelernt. Also wir haben gelernt, dass man ständig dran bleiben muss, egal, was man für ne Ausbildung hat. Und selbst ... also viele Leute aussem Osten, die haben ja sogar mehrere Fachabschlüsse. Sprecherin: Oft sind Übersiedler gezwungen, nicht nur ihre Zeugnisse vorzulegen, um im Westen Lohn und Brot zu finden: Die Jobsuche hält außerdem noch Prüfungen ganz unterschiedlicher Art für sie bereit. Musik: Silly ? Die Ferne O-Ton Brandau: Ich dachte nur: Ich muss Arbeit finden. Sprecher: Kapitel fünf: Ankunft im Alltag. O-Ton Nesener: Natürlich hatten wir, als wir in Heidelberg ankamen, einige Dinge, die erst mal geregelt werden mussten. Meine Frau beispielsweise hatte gleich eine Tätigkeit aufgenommen in einer Rehabilitationsklinik und musste erst ein Vierteljahr warten, bis also in Karlsruhe festgestellt worden ist, dass ihre Qualifikation ausreichend war. Später hatte sich ja dann herausgestellt, dass ihre Qualifikation sogar besser war als die der dort tätigen Kolleginnen und auch Kollegen. O-Ton Brandau: Das Geld war immer ein Problem. Ich dachte nur, ich muss Arbeit finden. Mein Bruder hat mir gesagt: Es gibt in der Volkshochschule Kurse "Wie bewerbe ich mich richtig?" Und da dachte ich, na so ein Blödsinn, was erzählt denn der mir schon wieder. Ich weiß doch, was ich kann, und was ich will, und da werd ich doch so´n Bewerbungsgespräch überstehen. Ich hab 80 Bewerbungen geschrieben, bin zum ersten Bewerbungsgespräch gegangen, bin nach Hause und hab zu meinem Bruder gesagt: Die nehmen mich. Einen Tag später hab ich die Absage gekriegt. O-Ton Nesener: Auf dem Arbeitsamt hat man mir gesagt: Was? Sie sind 60 Jahre alt und haben bis jetzt gearbeitet, dann haben Sie genug gearbeitet, nun machen Sie erst mal ganz ruhig und nehmen Sie die Arbeitslosenunterstützung in Anspruch und dann gehen Sie ganz gemütlich in Rente. Das hat mir nicht gefallen, weil ich gesagt habe: Ich bin im Vollbesitz meiner geistigen und körperlichen Kräfte und habe dann zunächst aber doch ein Jahr nichts gemacht und habe dann sehr schnell in einer Heidelberger Firma ? bin ich dort untergekommen - das ist die größte Firma in Heidelberg, die also Wohnwagen vertreibt, Wohnmobile und alle Dinge, die man zum Camping braucht. Bis zum Schluss hat mir das unendlich viel Spaß gemacht. O-Ton Brandau: Ich bin zum zweiten Bewerbungsgespräch, hab zu meinem Bruder gesagt: Die nehmen mich! Dann hab ich wieder die Absage gekriegt. Dann hab ich überlegt, ob ich doch nicht zu so´nem Kurs gehen soll, was wollen die eigentlich von mir? O-Ton Broberg: Bei diesem Bewerbungsgespräch, da sagte die Geschäftsführerin: Naja, ein gutes Zeugnis haben Sie ja. Waren Sie denn ne rote Socke? Ich sage: Ne, ich war keine rote Socke! Ich war in keiner Partei. Aber so wurde man ja erst mal da ja quasi mehr oder weniger begrüßt. O-Ton Theo Waigel O-Ton Brandau: Dann bin ich am 15. Januar - das weiß ich noch ganz genau, weil man Bruder da Geburtstag hat - zur Dresdner Bank zum Bewerbungsgespräch gegangen. Hatte wieder mal eine ganz starke Angina, weil die hat mich immer heimgesucht, wenns mir stressmäßig schlecht ging, und da waren zwei Schlipsträger, zwei sehr gut aussehende Männer und das hat zwei Stunden gedauert und ich weiß nicht mehr, was die alles von mir wollten. Aber da bin ich raus und dachte: Na wieder mal so´n Bewerbungsgespräch, da passiert nix. Und irgendwann Mitte Februar kriegte ich nen Anruf: Hallo Frau Brandau, wissen Sie, was Sie am 15. Januar gemacht haben? Ja, da hatte mein Bruder Geburtstag, hab ich gesagt. Ja, und unter anderem waren Sie da in der Dresdner Bank - wir haben uns für Sie entschieden, wir würden Sie gerne einstellen. O-Ton Broberg: Ich hab ja den Abschluss als Horterzieher mit Lehrbefähigung, d.h. also es war damals also zu DDR-Zeiten so, dass der Horterzieher also auch komplett den Unterricht übernommen hat, wenn der Klassenlehrer erkrankt war. Es gab also keine Unterrichtsausfälle dazumal. Meine Ausbildung hat man also nicht anerkannt, weil ich ja nicht im Kindergarten gearbeitet hatte. Also ich musste noch mal ein gesondertes Anerkennungsjahr machen, mit einer mündlichen Prüfung. O-Ton Brandau: Ich hatte von Bankgeschäften null Ahnung, null. Ich wusste am ersten Tag, als ich in der Dresdner Bank gesessen hab, nicht mal, wie so´n Auszahlungsschein aussieht. Ich hab da hinter dem Tresen gesessen in Lankwitz und hab immer gehofft, mich fragt keiner irgendwas. Aber es ging, ich hatte da nette Kollegen, die mich gefordert haben, gefördert haben. Allerdings hat man mir dann gesagt nach drei Monaten: Also hier in der kleinen Zweigstelle lernst du nicht mehr sehr viel, du gehst jetzt in´ne andere Zweigstelle. Und dort hatte ich einen Chef, der war nicht gut zu sprechen auf Ossis, der war nicht gut zu sprechen auf Lehrer und der war nicht gut zu sprechen auf Frauen. Und all das verkörperte ich. O-Ton Eckardt: Ich hab letztlich keine wirklich schlechten Erfahrungen gemacht. Da wir ja damals wirklich auch mit die Ersten waren, gab es auch außer uns kaum andere aus der ehemaligen DDR, die da auch mit uns zusammen studiert haben. Insofern waren wir schon auch noch so´n bisschen Exoten. O-Ton Brandau: Ich war Ossi, ich war Frau und ich war mal Lehrer. Und der hat gedacht: Na der zeigen wir das. Der hat mich richtig absaufen lassen. Und nach diesem halben Jahr Probezeit hieß es: Wir können Sie nicht mehr gebrauchen. Weil Sie haben das nicht bestanden. Da hab ich gedacht: Mit mir nicht. Ich hatte ja in der DDR sich wehren gelernt. Und ich hab ja ganz schnell gelernt, ich muss mich auch hier wehren. Bin also zum Betriebsrat gegangen und hab gesagt: So und so ist das gelaufen und ich wehre mich dagegen, gegen diese Beurteilung. O-Ton Broberg: Ich hab ja schon während des Abschlusses so´n Anerkennungsjahr wohlgemerkt im Kindergarten machen müssen und bekam dann auch also eine Stelle, was ja in meinem Alter auch nicht mehr so ganz einfach war. Ich hab dann als Gruppenkraft dort drei Jahre gearbeitet, hab dann dort drei Jahre Schwangerschaftsvertretung als Leitung gemacht, in Oberdresselndorf, und bin dann nach Burbach gegangen und hab dort einen neuen Kindergarten übernehmen können als Leiterin. O-Ton Brandau: Die Dresdner Bank hat das zurückgenommen und hat mich noch mal - probeversetzt an eine andere Zweigstelle und diese Zweigstelle wurde vorher informiert anscheinend: Die ist nen bisschen aufmüpfig und irgendwie haben mich aber die Kollegen dort sofort gemocht und haben gesagt: Man, was du alles weißt, für das halbe Jahr Bank, das ist ja enorm. Und ich hab jedenfalls - Ende vom Lied - die Probezeit bestanden und hab also Karriere bei der Dresdner Bank gemacht. O-Ton Treuhand / Rohwedder Sprecherin: Sylvia Broberg leitete bis 2009 einen Kindergarten in einem Dorf bei Siegen. Seit ihrer Verrentung lebt sie in Berlin-Köpenick. Petra Brandau arbeitet heute am Flughafen Berlin-Tegel. Dieter Nesener war bis zu seinem 70sten Lebensjahr für die Marketingstrategien eines Autohauses verantwortlich. Dr. Torsten Eckardt studierte Psychologie und leitet heute die Ambulanz der verhaltenstherapeutischen Weiterbildungseinrichtung in Marburg. Musik: Silly ? Die Ferne O-Ton Brandau: Also ich hab das schon erlebt, dass es da Ressentiments gegenüber Ossis gab. Sprecher: Kapitel sechs: Gemischte Gefühle O-Ton Broberg: Irgendwo kam man sich dann im Laufe der Zeit immer näher, ich musste ja mit den Menschen dort zusammenarbeiten und ich glaub, dass die das dann auch nachher verstanden haben. Die konnten dann nachher besser damit umgehen, ganz einfach mit der Art, mit dieser offenen Art, die man hat, und ich hab eigentlich auch nen sehr guten Kontakt zu den Eltern gehabt. O-Ton Brandau: Ich hab mich ganz schnell in dieses Westdasein reingefügt. Hab auch alles versucht, mit allem ganz schnell klarzukommen. Und natürlich hab ich auch in der Bank gerade bemerkt, dass viele, die aus dem Osten gekommen sind, mehr Zeit brauchten, langsamer waren. Und dass viele von meinen Kollegen gesagt haben: Oh, das ist Ossi. Dabei aber vergessen haben, dass ich ja auch einer bin. Das haben sie gar nicht mehr wahrgenommen. Ich musste dann immer dagegen halten und sagen: Das ist nen Mensch, der ist so und im Westen gibt es auch welche, die langsamer sind. Ich hab allerdings auch von Kunden oft gehört: Von dem, Frau Brandau, lass ich mich nicht bedienen, das ist ja ein Ossi. Und dann saß ich manchmal sprachlos da und hab gesagt: Dann kann ich Sie auch nicht mehr bedienen, ich bin auch ein Ossi. Und dann waren die sprachlos. Also ich hab das schon erlebt, dass es da Ressentiments gegenüber Ossis gab. O-Ton Eckardt: Was unterschwellig ich schon das ein oder andere Mal so mitbekommen habe - ist aber auch nur so´ne Wahrnehmung - dass ich schon ja nun hier auch nen bisschen Glück hatte und auch Dinge erreicht habe, auf die ich auch stolz bin, dass ich jetzt hier Ambulanzleiter bin und dann hab ich noch ne Praxis, die ich noch betreibe und so weiter, dass schon auch so´n bisschen manchmal aus ner gewissen Ecke einem auch nen gewisser Neid entgegenkommen kann. So nach dem Motto: Wie hat denn der das eigentlich geschafft? Der kommt aus dem Osten hierher und kriegt den Job, den ich vielleicht auch gerne hätte. O-Ton Nesener: Wir hatten nicht das Gefühl, dass es Vorbehalte gegen Leute gab, die aus dem Osten kamen. Können wir nicht sagen. Nachdem wir nun 12 Jahre in Heidelberg gelebt haben und haben den vielen Freunden, die wir dort gefunden haben, gesagt: Wir gehen wieder nach Berlin zurück, dann haben einige am Tage unserer Rückkehr, das war der 15. Mai 2002, auf der Straße gestanden, nach dem der Möbelwagen gepackt war und haben geweint und haben wörtlich gesagt: Es ist schade, dass ihr geht! Und seid so nett, und lasst die Verbindung mit uns nicht abreißen. Und das haben wir auch bis heute nicht getan. Wir haben bis heute noch sehr, sehr gute und enge Beziehungen zu allen Leuten, die wir dort in Heidelberg kennen lernen durften. O-Ton Helmut Kohl O-Ton Nesener: Wir sind unserer Kinder wegen zurückgekommen. Weil wir uns gesagt haben: Im Alter ist man in der Nähe der Kinder etwas besser aufgehoben. Ich selbst wurde ja mal in Berlin geboren, war immer stolz, Berliner zu sein, kann man aber heute nicht mehr so sagen, die Berliner haben sich verändert. Sie haben sich nicht zum Positiven verändert. O-Ton Broberg: Die Kollegen, die danach kamen, haben mir das bestätigt, dass sie auch alle so das Gefühl hatten, also alle, die aus dem Osten kamen ? Die haben also unter dieser Kälte des Westens gelitten. O-Ton Nesener: In den alten Bundesländern - das muss man mal so deutlich sagen - da herrscht eben mehr Ordnung, da herrscht mehr Zufriedenheit. Die Menschen gehen anders miteinander um, die gehen netter miteinander um, wie das eben hier passiert. O-Ton Broberg: Man wurde ja nachher nur noch .. also die letzten Jahre nur noch arbeitsmäßig unter Druck gesetzt. Gut, das hat sich ja im Osten nachher genauso letztendlich ereignet, aber trotz alledem denke ich immer noch, wenn ich jetzt hier zurück komme, hier die Leute im Haus, wo ich jetzt hier eingezogen bin, das sind noch so die alten Ossis. Und das sind noch die liebenswerten, die netten Leute. O-Ton Nesener: Sie sind egoistisch geworden, sie sind nicht mehr so freundlich, wie sie früher mal waren, missgünstig, ja eben ... sie haben sich negativ verändert. Ich muss das leider so sagen. Und wir beide haben das also inzwischen doch bereut, dass wir wieder zurückgekommen sind. Wir haben alles richtig gemacht, bis zu dem Zeitpunkt 2002. Sprecherin: Viele Übersiedler kehrten zurück an ihren Ausgangspunkt - einige, weil sie in der Alt-Bundesrepublik nie richtig heimisch geworden waren, andere, weil sie die alten Freunde und Verwandten vermissten. Doch die meisten und blieben fanden eine neue Heimat im Westen. O-Ton Eckardt : Also, ich stoße mich an vielem, was so im Alltag einfach so ist wie es ist. Und sehe eher Dinge, wo ich das Gefühl habe, dass dieses Land oder dieses System, in dem wir jetzt leben, dass das zwar das überlebensfähigere ist, aber ob es wirklich auch moralisch gesehen das bessere ist, ob das nun die Zukunftsfragen besser lösen kann als das, was untergegangen ist, da komm ich immer mehr ins Zweifeln. Ich fühl mich da in manchem sehr unbehaglich. Wo ich denke, dass Menschen, die hier leben, vielleicht auch besser gelernt haben, schnell wieder zur Tagesordnung überzugehen und ihr Ding zu machen und das auszublenden, was irgendwie naja störend ist bei dem Ganzen. Wie gesagt, am Anfang ist es so die Hochglanzfassade, die man so sieht und die ein so beeindruckt, aber was am Ende bleibt, ist eher bei mir zumindest so´n Unbehagen. Also ich bin schon irgendwie angekommen auch im System und nutze das ja auch leidlich aus, was ich mitnehmen kann und was es mir an Möglichkeiten bietet, aber wirklich identifizieren damit kann ich mich noch nicht so richtig. O-Ton Brandau: Ich bin immer hier in Steglitz geblieben, ich wollte nicht wieder ... aber jetzt würd ich das, wenn ich nicht mich hier wohlfühlen würde, würde ich das sehr wohl machen. Und im Prinzip ist der Teil der Stadt meine Heimat und der andere Teil der Stadt meine Heimat. Mein Sohn hat mit dem Erlebnis über die Bornholmer Brücke und mit den Anfängen wahrscheinlich schon genug zu tun gehabt. Und wir hatten das große Glück, dass wir voriges Jahr zum 9. November mit Frau Merkel wieder über diese Brücke gehen durften, und mein Sohn mit mir und mein Partner. Wir sind dabei gewesen, als am 9. November und das ist mir ... also diese Brückenpfeiler, diese Erinnerung an damals, das ... ja. Musik: Silly ? Die Ferne Absage: Die Letzten von drüben DDR-Übersiedler zwischen Mauerfall und Währungsunion Ein Feature von Elke Kimmel Produktion: Deutschlandfunk 2010 Es sprachen: Nicole Engeln und Volker Niederfahrenhorst Ton und Technik: Josuel Theegarten und Beate Braun Regie: Axel Scheibchen Redaktion: Marcus Heumann 2