DEUTSCHLANDFUNK Sendung: Hörspiel/Hintergrund Kultur Dienstag, 11.03.2014 Redaktion: Hermann Theißen 19.15 ? 20.00 Uhr Russische Kulturkämpfe Ein Moskauer Gerichtsdrama Von Hermann Theißen URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? Deutschlandradio - Unkorrigiertes Manuskript - Atmo (Pussy Riot in der Kathedrale) Sprecher Am 21. Februar 2012 hatte die russische Frauen-Punk-Band Pussy Riot die Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale zur Bühne ihres Protests gegen das Bündnis zwischen dem System Putin und dem Patriarchat der russisch orthodoxen Kirche gemacht. Die anschließende Verhaftung von drei Aktivistinnen und deren Verurteilung zu zwei Jahren Straflager kann als der vorläufige Höhepunkt einer Reihe von Schauprozessen gegen Künstler und Dissidenten im heutigen Russland gelesen werden. Unmittelbar nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten hatte Vladimir Putin 1999 einen Pakt mit nationalistischen und extrem orthodoxen Kreisen geschlossen. Mit der Zerstörung der kirchenkritischen Ausstellung ?Achtung Religion? im Moskauer Sacharow Zentrum trat dieses Bündnis 2003 öffentlich in Erscheinung. Der Patriarch von Moskau rief zur ?Vertreibung der Dämonen? und zur ?Rettung Russlands? auf, und der Staat machte in einem von Hetzkampagnen begleiteten Prozess gegen die Kuratoren der Ausstellung deutlich, dass er die Kampagne zur Formierung einer regimetreuen russisch-orthodoxen Staatskunst mitinszenierte. Eine Demonstration staatlicher Allmacht, die sich 2010 mit der Verurteilung der Kuratoren der Ausstellung ?Verbotene Kunst 2006? wiederholte. O-Ton Frimmel Nation und Religion ist in Russland sehr stark gekoppelt. Autor Sandra Frimmel ist Kunsthistorikerin. Sie hat die Moskauer Prozesse gegen oppositionelle Künstler beobachtet und arbeitet darüber in einem Forschungsprojekt an der Universität Zürich. O-Ton Frimmel Wer russischer Nationalität ist, muss auch orthodoxen Glaubens sein, wer orthodoxen Glaubens ist, ist russischer Nationalität und wer das nicht ist, ist eben weder Russe noch orthodoxer Gläubiger und wird damit aus der Gesellschaft ausgeschlossen, wird fast aus der russischen Gesellschaft exkommuniziert. Atmo (Pussy Riot) Sprecher Russische Kulturkämpfe Ein Moskauer Gerichtsdrama Eine Dokumentation von Hermann Theißen O-Ton Michail Kaluzhsky 1. Übersetzer Guten Abend. Ich danke Ihnen allen, dass Sie zu den Moskauer Prozessen gekommen sind. Sie werden hier bis zum 3. März stattfinden. Wir befinden uns in der Ausstellungshalle des Moskauer Andrei Sacharow Zentrums. Vor kurzem war das ein Ort der Konfrontation. Hier fanden die beiden Ausstellungen ?Verbotene Kunst? und ?Vorsicht Religion? statt, die zusammen mit dem Fall ?Pussy Riot? der Gegenstand unserer Beratungen sein werden. An diesen drei Tagen werden Teilnehmer dieser Ereignisse aufeinandertreffen, die sich ansonsten meist aus dem Weg gehen und nicht miteinander reden. Wir hoffen, dass die Moskauer Prozesse nicht nur die Gerichtsverfahren untersuchen, sondern zu einer echten Diskussion führen. Autor Am 1. März eröffnete Michail Kaluzhsky vom Sacharow Zentrum das von Milo Rau inszenierte Gerichtsdrama ?Moskauer Prozesse?. Der Schweizer Regisseur hatte dort einen russischen Gerichtssaal nachgebaut, in dem die genannten Verfahren gegen Künstler und Kuratoren mit Vertretern der antagonistischen Positionen und nach Spielregeln eines Rechtsstaates neu verhandelt werden sollten. Ein Vorhaben, das nicht einfach rekonstruieren wollte, was war, das vielmehr mit den Mitteln des dokumentarischen Theaters nachholen sollte, was eine repressive Politik verhindert hatte. Wie schwer es werden würde, eine rationale Auseinandersetzung zwischen den sich feindlich gegenüberstehenden Positionen zu initiieren, machten bereits einleitende Statements der von Verteidigung und Anklage benannten Experten deutlich. O-Ton Dmitry Gutov 1. Übersetzer Ein Kunstwerk zu schaffen, das die religiösen Gefühle von niemandem beleidigt, ist unmöglich. Sie werden immer jemanden finden, dessen Gefühle beleidigt werden. Autor Dmitry Gutov, der auch an der Ausstellung ?Verbotene Kunst? teilgenommen hatte, ist ein international bekannter Moskauer Künstler. Seine Werke waren unter anderem auf der Biennale in Venedig und auf der Kasseler Documenta zu sehen. O-Ton Dmitry Gutov 1. Übersetzer Wir sprechen hier also darüber, dass Kunst immer die Möglichkeit in sich birgt, jemanden zu beleidigen. Das ist nicht das Ziel des Künstlers. Kein Künstler verfolgt ein solches Ziel, wenn er sein Werk schafft. Der Künstler will über die Wahrheit sprechen, so wie er sie sieht, egal ob dabei jemand verletzt wird oder nicht. O-Ton Alexey Belayev-Gintovt 2. Übersetzer Aktuelle Künstler sind wie eine Sekte. Autor Der von der Anklage als Sachverständiger benannte Alexey Belayev-Gintovt ist nicht nur Maler. Der Mann, der sich gerne in schwarze Phantasieuniformen hüllt und aussieht, als sei er einem bizarren Computerspiel entsprungen, ist auch ein Agitator, der Waffen und Gewalt verherrlicht, und er ist der offizielle Graphiker der von Alexandr Dugin geführten nationalbolschewistischen Partei der Eurasier. O-Ton Alexey Belayev-Gintovt 2. Übersetzer Diese Sekte wurde im Ausland gegründet und sie hat ihr Zentrum immer noch außerhalb des Landes. Deshalb sind ihre Mitglieder im Konflikt mit den Leuten hier. Das ist unvermeidlich und es ist logisch, denn sie importieren Ideen von Regierungskreisen aus dem sogenannten Westen, vor allem aus dem amerikanischen Außenministerium. Das ist die Materialisierung des Geistes der Finsternis. Die Produkte der Sekte sind Ergebnisse extremer Banalisierung. Ihre Werke haben nichts mit Kunst zu tun, denn Kunst ist ein Resultat des Geistes. Sie setzt Meisterschaft voraus. Das hat sich mit dieser Sekte vor kurzem geändert, aber traditionell arbeiteten der Geist und die Kunst Hand in Hand, wie man an den Ikonen sehen kann. Autor Der Blut, Boden und Massen-Maler kann nicht als Vertreter einer vom russischen Nationalismus inspirierten Freak-Show abgetan werden. Seine Tiraden zur Überfremdung Russlands werden im Kreml gerne gehört und scheinen auch seine internationale Reputation nicht zu gefährden. Noch 2008 wurde Belayev-Gintovt mit dem hoch dotierten, von der Deutschen Bank gesponserten Kandinsky Preis als ?Maler des Jahres? ausgezeichnet. O-Ton Alexey Belayev-Gintovt 2. Übersetzer Diese Sekte kann nicht vom liberalen Kontext gelöst werden und von dieser liberalen faschistischen Raserei, die vor einem Jahr in unser Land gekommen ist. Das Ergebnis dieser Raserei in den letzten Jahren war, dass homosexuelle Werte und liberale Werte eins wurden. Aber ich sage euch: Leute bleibt wachsam. Sie werden nicht durchkommen. Autor Milo Rau hatte angekündigt, bei seiner Moskauer Theaterinstallation keine Schauspieler, sondern Akteure aus dem politischen Leben auf die Bühne zu stellen. Wirkliche Anwälte sollten die Anklage und die Verteidigung übernehmen, reale Zeugen und reale Sachverständige benennen und sie in Kreuzverhören befragen. Sieben nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Schöffen würden dann am Ende ein Urteil sprechen. O Ton Milo Es gab sehr viele Absagen, es gab Zusagen, die zu Absagen wurden, und Absagen, die zu Zusagen wurden, also es ging eigentlich hin und her. Ich würde sagen, die prominentesten Absagen kommen eigentlich aus der Ecke der orthodoxen Kirche, weil die eigentlich das Wort des Patriarchen haben, nicht teilzunehmen, und da hatte ich zwei, drei, die sehr liberal sind, die aber im entscheidenden Moment das tun müssen, was die Hierarchie ihnen vorschreibt. Das ist einerseits schade, andererseits gibt es hier sehr viele unabhängige Kirchen, die trotzdem zur Orthodoxie gehören und die wiederum kommen sehr wohl. Autor Es fand sich auch kein wirklicher Richter, der sich der Gefahr aussetzen wollte, wegen der Teilnahme an Milo Raus Gerichtstheater in Ungnade zu fallen. Deshalb übernahm die Moderatorin Olga Shakina vom oppositionellen Internetfernsehen ?Doschd? diese Rolle, assistiert von einer Moskauer Rechtsprofessorin. Anklage und Verteidigung waren ebenfalls doppelt besetzt. Der junge Jurist Maxim Krupski gab den Staatsanwalt. Im wirklichen Leben gehört er zur Menschenrechtsorganisation ?Memorial? und kümmert sich dort um die Rechte von Migranten. Krupski war eingesprungen, weil die staatliche Anklage keinen eigenen Juristen aufbieten konnte oder wollte, und er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Rechte der Kirche und der Gläubigen juristisch korrekt zu vertreten. Der eigentliche Wortführer der Anklage war jedoch einer deren Protagonisten im realen Leben, der Kremltreue Fernsehmoderator Maxim Shevchenko. Shevchenko distanzierte sich zwar von den Haftstrafen, die gegen Künstler verhängt worden waren, machte aber bereits in seinem Eröffnungsvortrag deutlich, dass er sich in seine Rolle nicht einarbeiten musste, dass er auch auf dieser Bühne lediglich sich selber gab. O Ton Maxim Shevchenko 3. Übersetzer Sehr geehrte Schöffen, sehr geehrte Zuschauer, sehr geehrte Richter, sehr geehrte Verteidiger, zunächst will ich sagen, dass ich gegen Gefängnisstrafen für solche Aktionen bin, aber ich finde, dass Gerichte oder Sie hier, ein Recht auf ein moralisches Urteil haben über das, was Sie hier hören. Uns geht es weniger um Angriff als um Verteidigung. Wir Gläubigen brauchen Verteidigung, wir brauchen Schutz. Als eben der Experte über die Geschichte der Bürgerrechtsbewegung geredet hat, hat mich das an die Zeit erinnert, in der die orthodoxe Kirche verboten war, als jeder Gottesdienst egal ob christlich, jüdisch oder islamisch, verfolgt wurde. Sehr wenig hat sich seitdem geändert. Gläubige sind in unserer heutigen Welt immer noch in der Opposition, die Gläubigen sind in unserer Welt diejenigen, die unter Gewalt leiden und die angegriffen werden. Autor Der in nationalreligiösen Kreisen überaus bekannte und beliebte Moderator vom Moskauer Staatsfernsehen war Kriegsreporter und Präsidentenberater und gilt als Experte in Fragen von ethnischen, kulturellen und religiösen Konflikten. O Ton Maxim Shevchenko 3. Übersetzer Wir können über die Ausstellungen ?Achtung Religion? oder ?Verbotene Kunst? reden, aber die Aktion dieser Gruppe, deren Name, wenn ich ihn übersetzten würde, sehr obszön ist, vielleicht können die Experten ihn übersetzen, ich kann ihn als orthodoxer Christ nicht mal aussprechen. Das ist keine Kunst, es ist Hooliganismus. Der Versuch, das als Kunst zu verkaufen, ist einer der Angriffe auf die Freiheit der Menschen, auf die Freiheit zu glauben und daran nicht von der Gesellschaft und vom Staat gehindert zu werden. Warum bringe ich die sogenannten Künstler mit dem Staat und der Gesellschaft in Verbindung? Sie versuchen ein Bündnis zwischen den Gläubigen und dem Staat zu behaupten, dabei sind sie der Staat. Das Sacharow Zentrum wurde von der ?Stiftung für Demokratie? gegründet, die wiederum vom amerikanischen Kongress ins Leben gerufen wurde. Es wurde von der Moskauer Regierung anerkannt und es ist keine private Institution. Es nennt sich selbst privat, aber es repräsentiert diese liberale Gesellschaft, den liberalen Staat, der in der ganzen Welt in der Offensive ist gegen das Recht des Menschen auf Selbstbestimmung und Glauben. Autor Der kräftig gebaute charismatische Demagoge, der den Namen ?Muschi-Krawall?, wie man ?Pussy Riot? übersetzten könnte, nicht aussprechen mochte, war in einem maßgeschneiderten dunklen und glänzenden Samtanzug zum Theaterprozess erschienen. In freier Rede deutete er die moderne Kunst als Waffe einer internationalen, auf Zersetzung zielenden Verschwörung gegen die russische Völkergemeinschaft. O Ton Maxim Shevchenko 3. Übersetzer Unsere Gesellschaft und der Staat sind absolut liberal und sie versuchen aus dem Glauben ein diskursives Konstrukt zu machen. Sie verneinen das Recht zu fühlen, zu leben und zu glauben. Ich glaube, dass die Orthodoxen, die hier sind, mit ihren Aktionen lediglich ihre Meinung ausgedrückt haben zu den Ergebnissen liberaler Kunst, die total aggressiv und antichristlich ist. Die Art und Weise wie diese Kunst hier präsentiert wurde, war Teil des Angriffs des liberalen westlichen Monsters, das in den 90er-Jahren eins geworden ist mit dem russischen Staat. Ein Angriff auf das, was den Leuten in unserem Land sehr wichtig ist, was die Essenz der Seele unserer Menschen ausmacht. Egal ob es Russen sind oder Kaukasier oder Leute von der Wolga oder andere Menschen, die in diesem großen Land leben, sie wissen alle, was Glaubensfreiheit bedeutet oder das Recht, die Kinder im Sinne des Glaubens und der nationalen Geschichte zu erziehen. Diese sogenannten Künstler sind eine Avantgarde des totalitären liberalen Staates, der ein liberal-faschistischer Staat ist und der unser Land angreift. Autor Die Begriffskombinationen ?totalitär-liberal? oder ?liberal-faschistisch? klingen wie ?schwarze Schimmel?, gehören aber inzwischen zum Arsenal der russischen Regierungssprache. Bei genauerem Hinsehen unterscheiden sich die Oxymora nicht wesentlich von der Rede von der ?Diktatur des Relativismus?, mit der der zurückgetretene Papst Benedikt die Reihen der Katholiken zu schließen versucht hatte. Die Verteidigung musste also in Milo Raus Inszenierung deutlich machen, dass es bei den Auseinandersetzungen um Kunst und Religion, um Eigensinn oder Dogma, dass es bei diesen Auseinandersetzungen im Kern um autoritäre Formierung der russischen Gesellschaft oder Selbstbestimmung ging. Diese Rolle hatte die Juristin Anna Stavitskaya übernommen, die die Angeklagten bei ?Achtung Religion? und bei ?Verbotene Kunst? auch in der Wirklichkeit vertreten hatte. Die politische Gegenspielerin von Maxim Shevchenko war jedoch nicht die Juristin, sondern die als ?leitende Expertin der Verteidigung? auftretende Ekaterina Degot. O-Ton Ekaterina Degot 1. Übersetzerin Dies hier ist kein Prozess der Religion gegen die Kunst. Ich möchte nicht an Ihre ästhetischen Gefühle appellieren, sondern an Ihr politisches Bewusstsein, das Sie haben müssen, denn sonst hätten Sie in diesem Land nicht überleben können. Wir müssen hier die Frage beantworten, wo die Kunst endet und das Verbrechen beginnt. Autor Die Kunstwissenschaftlerin, Journalistin und Kuratorin Ekaterina Degot zählt zu den international führenden Kunstkritikerinnen und ist spezialisiert auf die Kunst der Avantgarden. O-Ton Ekaterina Degot 1. Übersetzerin Dieser Prozess wird gegen uns alle geführt, die wir den Durst auf Veränderung verspüren. Die Experten der Anklage werden hier immer wieder ausführen, ein Künstler dürfe frei arbeiten, aber er habe kein Recht seine Werke auszustellen und zu verbreiten. Es wird also nicht über die Freiheit künstlerischer Produktion diskutiert, sondern über das Recht deren Ergebnisse im öffentlichen Raum zu platzieren und darüber öffentlich zu diskutieren. Das verletzt unsere Rechte und betrifft jeden von uns! Wir befinden uns also nicht in der Episode ?Kampf zwischen Künstlern und einfachen Gläubigen?. Hier geht es um einen Kampf der staatlichen Macht und der zeitgenössischen stalinistischen Kirche als Teil dieser staatlichen Macht gegen alle ihre auch nur denkbaren Gegner. Die heutige Kirche hat sich mit dem Staat zum Zwecke der gemeinsamen kriminellen Bereicherung zusammengetan. Um die zu ermöglichen, braucht man ängstliche und ungebildete Menschen. Deshalb wird die Bildung so verteuert und deshalb werden die Zugänge zur Bildung verschlossen. In diesen Prozessen geht es nicht um zynische Rechtsverletzungen durch Künstler, sondern um die Pervertierung der Grundlagen der Demokratie durch die Anklage, die dauernd Prinzipien umdeutet. Sie ersetzt die Pflicht, Minderheiten zu verteidigen durch die Verteidigung der Mächtigen und Starken, die schon heute über Waffen der Unterdrückung verfügen. Wir reden hier nicht über einfache Gläubige, die lediglich für diese Prozesse benutzt wurden, es geht vielmehr um die Selbstverteidigung der Macht, der Autoritäten und der russisch orthodoxen Kirche. Autor Die Verteidigung der Macht der russisch orthodoxen Kirche hatte wohl auch der von der Anklage in den Zeugenstand gerufene Messdiener und Präsident der orthodoxen Nahkampfvereinigung Vladimir Sergeev im Sinn, als er im Januar 2003 zu einem Besuch der erst wenige Tage zuvor im Sacharow Zentrum eröffneten Ausstellung ?Achtung Religion? aufbrach. O Ton Vladimir Sergeev 2. Übersetzer Zusammen mit meinen Freunden habe ich die Kampagne ?Vorsicht Religion? beendet, die während der orthodoxen Feiertage stattfand. Hier in diesem Raum haben wir diese politische Kampagne gestoppt. Autor Als die Miliz nach 20 Minuten eintraf, hatten Sergeev und seine Glaubensbrüder die Ausstellung verwüstet und die Wände im Sacharow Zentrum mit Hassparolen besprayt. O-Ton Vladimir Sergeev 1. Übersetzerin und 2. Übersetzer 1. Übersetzerin: Sie haben gesagt, sie hätten Informationen über die Ausstellung aus den Massenmedien gehabt und Sie seien dann gekommen, um die zu überprüfen. Wie lange hat es gedauert bis Sie wussten, ob die ausgestellten Werke Sakrilege waren, wie das in den Medien behauptet wurde? 2. Übersetzer Weniger als eine Minute. 1. Übersetzerin: Verstehe ich Sie richtig, Sie haben in einer Minute 40 Ausstellungsstücke in dieser großen Halle begutachtet und festgestellt, dass sie alle die Gläubigen beleidigen und gegen den orthodoxen Glauben gerichtet waren? 2. Übersetzer Der orthodoxe Mensch brauchte nicht lange, um zu verstehen, dass das hier ein Werk des Feindes war. 1. Übersetzerin: Was war so beleidigend an diesen Werken? 2. Übersetzer Wenn man hierher kam, bemerkte man sofort diese teuflische Grundstimmung und die war sehr bedrückend. Sie haben eine Mutter, Sie haben einen Vater und die sind Ihnen heilig. Wenn das Bild Ihrer Mutter oder Ihres Vaters besudelt wird, wie würden Sie dann reagieren? Mir sind Gott, der Vater, Jesus Christus, die Gottesmutter und andere Heilige näher als Vater und Mutter. Die Ausstellung schlug eine Wunde, die bis heute nicht geheilt ist, obwohl das zehn Jahre her ist. Ich könnte Ihnen im Detail erzählen, was wir gemacht haben, aber ich denke, was wir gemacht haben, war richtig, weil in diesen zehn Jahren ist den Provokateuren die Energie fast ausgegangen. Autor Später wird Vladimir Chomjakov, ein führender Repräsentant der ultranationalistisch christlich orthodoxen Laienvereinigung ?Volkskonzil? erklären, welche Haltung hinter dieser Selbstermächtigung steht. O-Ton Vladimir Chomjakov 1.Übersetzer und 3. Übersetzer 2. Übersetzer Unsere Verfassung spricht von Menschenrechten und den Rechten der Mehrheit. Die sollten in jeder demokratischen Gesellschaft ebenso respektiert werden wie die Rechte der Minderheiten. Die Mehrheit formuliert allgemeine Regeln, die alle einhalten müssen. Wenn sie sich an diese Regeln hält, hat die Minderheit das Recht, ihre Identität zu erhalten. Das ist die demokratische Grundlage unserer Gesellschaft, die in der Verfassung festgeschrieben ist und die wurde brutal verletzt, indem eine zu subversiven Aktivitäten neigende Minderheit einen Übergriff in den Bereich der Mehrheit unternahm. Ich glaube nicht, dass wir Strafen für Homosexuelle brauchen, aber ich stimme völlig damit überein, dass Werbung für Homosexualität unter Strafe gestellt wird, weil das ein Eingriff in meinen Bereich ist. Aber wenn Du Lust auf Sex mit Hotdogs hast, dann mach es einfach. 3. Übersetzer Lieber Zeuge, sagen Sie mir bitte, was ist für Sie so heilig, wichtig und wertvoll, dass Sie es verehren. Können sie mir ein paar Dinge nennen, die Sie derart verehren? 2. Übersetzer Lassen Sie mich vier Dinge nennen: Gott, Familie, Vaterland, Ehre. Autor Gegen die Zerstörer der Ausstellung wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, aber nach Anweisungen von oben wieder eingestellt. Stattdessen regte die Duma ein Verfahren gegen die Ausstellungsmacher wegen Erregung religiösen Hasses an. Es folgte ein bizarrer von gewalttätigen Übergriffen und antisemitischen Ausfällen begleiteter Prozess, an dessen Ende Geldstrafen gegen die Angeklagten verhängt wurden. Dieses Verfahren, so die Kunsthistorikerin Sandra Frimmel, sei Mustern gefolgt, die bei den klassischen Moskauer Prozessen erprobt worden seien. O-Ton Frimmel Das bedeutet, dass das Urteil weitgehend feststeht, d.h. der Schuldspruch. D.h., dass die Angeklagten nicht mit einem Freispruch zu rechnen haben und dass auch Inszenierungsstrategien vorgegeben sind, die auch aus dem Theater entlehnt sind, viel stärker als man das von einem normalen Gerichtsprozess kennt. Das heißt, dass Zeugen zum Beispiel ihre Aussagen von Zetteln ablesen, dass sie alle das gleiche aussagen, weil sie alle den gleichen Zettel als Vorlage haben. Dass sie von ihren Kirchenvorstehern der Gemeinden, denen sie angehören, vorher instruiert werden, was sie zu sagen haben. Man merkt das im Zeugenstand sehr stark. Sie sind nicht in der Lage, auf Fragen zu antworten, sie können nur wiederholen, was ihnen vorher eingeflüstert wurde. Also, diese ganzen theatralen Inszenierungsstrategien, die auch in den Moskauer Prozessen der dreißiger Jahre sehr stark präsent waren, also sozusagen ein Skript, das diesen Prozessen zu Grunde liegt, das lässt sich in unterschiedlich starkem Maße auch in den heutigen Kunstgerichtsprozessen beobachten. Es gibt so eine ganz typische sowjetische Rhetorik, die jetzt wieder in den Medien verbreitet wird und auch diese Vorverurteilung in den Medien ist sehr stark, gelinde ausgedrückt. Autor Auch der Prozess gegen die Macher der Ausstellung ?Verbotene Kunst? folgte der von Sandra Frimmel beschriebenen Inszenierungsstrategie. O Ton Andrei Erofeev 1. Übersetzer Wir hatten ein Verfahren, dessen Ziel meiner Meinung nach darin bestand, nach der Selbstzensur nun Regierungszensur zu etablieren, die mit neuen Argumenten und neuen Regeln operierte. Das neue Argument hieß ?Verletzung der Gefühle von Gläubigen.? Dieses Argument wurde in unserem Verfahren ausprobiert und nun ist es getestet. Autor Andrei Erofeev, der Kunsthistoriker und einstige Leiter der Abteilung für zeitgenössische Kunst bei der staatlichen Tretjakow-Galerie, hatte die Ausstellung ?Verbotene Kunst? gemeinsam mit Jurij Samadurow, dem damaligen Leiter des Sacharow Zentrums organisiert. Beide wurden deswegen nach einem langwierigen Schauprozess zu Geldstrafen verurteilt. ?Verbotene Kunst? präsentierte Werke, die Museumsdirektoren oder Galeristen im Jahre 2006 in vorauseilendem Gehorsam aus Ausstellungen entfernt hatten. Dabei handelte es sich vor allem um Arbeiten, die sich einer religiösen Bildsprache bedienten oder die politischen Verhältnisse im Lande kritisierten. Wer die im Sacharow Zentrum hinter Stellwänden platzierten Ausstellungsstücke sehen wollte, musste eine Leiter ersteigen, und konnte sie dann durch ein kleines Fenster betrachten. Bei der Neuverhandlung dieses Verfahrens in Milo Raus Gerichtsdrama versuchte der Ankläger Maxim Shevchenko dessen Rechtmäßigkeit mit vergleichenden Betrachtungen zum Schutz religiöser Rechte in aller Welt zu untermauern. Dabei hoffte er auf Unterstützung durch den von der Verteidigung als Sachverständigen geladenen Religionswissenschaftler Boris Falikov, auch nach Meinung Shevchenkos einer der besten Religionsexperten des Landes. O-Ton Boris Falikov 1. Übersetzer und 3. Übersetzer 3. Übersetzer Waren Sie jemals in den USA? 1. Übersetzer Ja, einige Male. 3. Übersetzer Haben Sie Gemeinschaften kennen gelernt, die in Regionen oder Städten leben, die man als sehr religiös bezeichnen könnte. 1. Übersetzer Ja, ich war im amerikanischen Süden im sogenannten ?Bibelgürtel?, wo die Religiösen in der Mehrheit sind. 3. Übersetzer Würden Sie die Leute, die dort im ?Bibelgürtel? leben, als sehr religiös bezeichnen? 3.Übersetzer Ja, sie sind sehr religiös. 1.Übersetzer Welcher Konfession gehören sie an? 1. Übersetzer Zumeist sind es Protestanten. 3. Übersetzer Also Christen? 1. Übersetzer: Ja. 3. Übersetzer Ich wollte, dass das der Jury klar ist. Sie haben also mit ihnen gesprochen. Welche Bilder und Dinge sind diesen Leuten heilig? 1. Übersetzer Ihnen ist das Bild von Jesus Christus sehr wichtig. Der Protestantismus fokussiert stark auf Jesus Christus. Sie verehren keine Ikonen, Ikonenverehrung ist für sie Götzendienst. 3. Übersetzer Garantieren die amerikanischen Gesetze die Rechte und Freiheiten von Gläubigen und Nichtgläubigen? 1. Übersetzer Ja. 3. Übersetzer Jetzt stellen wir uns mal diesen ?Bibelgürtel? mit den kleinen Städten und der protestantischen Mehrheit vor, die an Gospel und Jesus Christus glaubt: Wenn es dort eine ähnliche Ausstellung wie die Ausstellungen ?Verbotene Kunst? oder ?Vorsicht Religion? gäbe, wie würden die Leute reagieren? 1. Übersetzer In so einer kleinen Stadt in den demokratischen USA könnten sie eine Demonstration gegen solche Ausstellungen organisieren und sie könnten ihren Protest ausdrücken. Sie könnten sagen, dass sie empört seien und gegen das alles sind. 3. Übersetzer Haben Sie von solchen Demonstrationen gehört? 1. Übersetzer Ich habe sogar welche gesehen. 3. Übersetzer Können die sehr emotional sein? 1. Übersetzer Ja, sie können sehr emotional sein, aber alles im Rahmen der Gesetze. Wenn das Gesetz verletzt wird, kommt die Polizei und führt die Gesetzesbrecher ab. 3. Übersetzer In den USA, in diesen demokratischen Vereinigten Staaten, wo die Freiheit und die Rechte garantiert sind, kommt es da vor, dass einfache Menschen beleidigt werden? 1. Übersetzer Ja, das kommt vor. 3. Übersetzer Mit solchen Aktionen wie ?Vorsicht Religion?? 1. Übersetzer Eben nicht, denn sogar in solchen kleinen Städten, in denen Sie eine Mehrheit von religiösen Leuten haben, haben Sie auch andere Leute, die sich an dieser Ausstellung erfreuen. Autor Nachdem der Versuch, in den USA Vorbilder für die mit dem Schutz von Gläubigen begründete Verfolgung der Kunst in Russland zu finden, gescheitert war, fragte Shevchenko nach den Verhältnissen in Europa. Er kenne dort keine Fälle, die mit den im Sacharow Zentrum verhandelten Konflikten vergleichbar seien, antwortete Falikov. Zwar würden auch in Westeuropa schon mal religiöse Fanatiker gegen die zeitgenössische Kunst Sturm laufen, aber als säkulare Institution halte der Staat sich aus solchen Auseinandersetzungen raus. O-Ton Falikov 1. Übersetzer Wir sind ein säkularer Staat. Artikel 14 der Verfassung besagt, dass die Kirche vom Staat getrennt ist, doch was wir in der Wirklichkeit sehen, ist anders. Wenn es so wäre, wäre der Staat ein neutraler Vermittler zwischen unterschiedlichen Haltungen in der Gesellschaft. Doch wir sehen leider sehr genau, dass der Staat in Russland nicht neutral ist, er ist eindeutig auf der Seite der Religion. Ich glaube, das verstößt gegen das Konzept der säkularen Gesellschaft wie es in der russischen Verfassung verankert ist. Ich glaube auch, dass das negative Folgen für die Kirche hat, denn wenn die Kirche vom Staat abhängig wird, und sie ist schon vom Staat abhängig geworden, der Staat hilft der Kirche und will eine Gegenleistung, wenn sie also abhängig ist, dann wird die Kirche zur Geisel und ist nicht mehr unabhängig. Das ist sehr schlecht für die Kirche, weil sie ihre moralische Autorität verliert. Nur unabhängige Institutionen können eine moralische Autorität haben. Das gilt auch in Bezug auf die Gläubigen. Wenn man diese moralische Autorität nicht besitzt, und man kann ja beobachten, wie die geringer und geringer wird, dann ist das sehr schlecht für die Kirche. Autor Die argumentative Niederlage gegen den Religionswissenschaftler Boris Falikov glaubte Maxim Shevchenko bei der theatralischen Verhandlung des Falles ?Pussy Riot? wettmachen zu können, zumal er mit Umfragen belegen konnte, dass eine übergroße Mehrheit der Russen die Aktion der Punkerinnen in der Christus-Erlöser-Kathedrale verurteilte. Bei der Befragung der auf Bewährung frei gelassenen Aktivistin Ekaterina Samuzevich nahm er siegesgewiss die Haltung desjenigen ein, der sich der Zustimmung des Publikums sicher weiß. O Ton Samuzevich 2. Übersetzerin und 3. Übersetzer Shevchenko: Haben Sie jemals gehört, wie man sich in einer Kirche ordentlich benimmt? Katya: Ja, habe ich. Shevchenko: Wie sollen Sie sich in einer Kirche verhalten? Katya: Da gibt es keine strikten Regeln, aber es ist ratsam keine religiösen Handlungen zu stören. Shevchenko: Wie sollten Sie sich in einer Kirche verhalten, wenn da gerade kein Gottesdienst ist? Katya: Nicht aggressiv, so, dass kein anderer verletzt wird. Shevchenko: Darf man laut sein? Dürfen Sie Musik spielen, die nicht zum Kanon der orthodoxen Kirche gehört? Katya: Generell ja. Shevchenko: Wer hat diese Erlaubnis erteilt? Katya. Niemand, das ergibt sich aus der Verfassung. Wir haben einen säkularen Staat. Shevchenko: Es gibt also für Sie keine Verbote. Sie glauben, Sie können in einer orthodoxen Kirche tun, was Sie wollen, mal abgesehen von Gewalttaten. Sie können überall hingehen, sie dürfen hinter den Altar gehen. Wissen Sie überhaupt, was ein Altar ist? Dürfen Sie zum Altar gehen, wann immer Sie das wollen? Katya: Ja, aber besser wäre es, das nicht zu tun, weil es nicht respektvoll gegenüber den Gläubigen ist. Autor Mit Hilfe der Verteidigung erhielt die junge Frau schließlich doch noch die Gelegenheit zu erklären, was Pussy Riot mit dem aus orthodoxer Sicht skandalösen Punk-Gebet sagen und warum die Gruppe es unbedingt in Moskaus wichtigster Kathedrale singen wollte. O Ton Samuzevich Übersetzerin In Russland hatten zu diesem Zeitpunkt im Februar 2012 die Vorbereitungen für die Wahl des Präsidenten und für die Staatsduma begonnen. Leider spielte die orthodoxe Kirche eine Rolle in diesem Wahlkampf. Patriarch Kyrill machte im Fernsehen Wahlkampf für ?Einiges Russland? und für Putin und er forderte die Gläubigen auf, für Putin und seine Partei zu stimmen, was, glaube ich, gegen die Rechte der Gläubigen verstößt, weil der Patriarch eine Autorität für die Gläubigen ist und er missbrauchte seine Position und seine Autorität dafür, die Wahlmöglichkeiten der Gläubigen einzuschränken. Das ist nicht akzeptabel in unserem Staat, der säkular ist. Aber die russisch-orthodoxe Kirche hat seiner einiger Zeit Zugang zur Legislative gefunden und nimmt Einfluss auf die Gesetzgebung. Autor Während Ankläger Shevchenko darauf beharrte, dass der Auftritt von Pussy Riot in der Erlöserkirche eine bloße Provokation der Gläubigen und allenfalls eine politische Aktion, keineswegs aber Kunst gewesen sei, versuchte Anatolij Osmolovsky das Gericht vom Gegenteil zu überzeugen. Bei der Befragung durch Shevchenkos Co-Ankläger erläuterte der Kandinsky-Preisträger des Jahres 2007, der in den Jahren 1989/90 selber die Aktionskunst in Moskau populär gemacht hatte, die paradoxe Funktionsweise dieser Kunstrichtung. O-Ton Osmolovsky 3. Übersetzer und 1. Übersetzer 3. Übersetzer Maxim: Ging es um religiösen Hass? 1. Übersetzer Osmolovsky: Nein, im Gegenteil, es war ein erster Schritt in Richtung gesellschaftliche Integration. 3. Übersetzer Maxim: Zwischen wem? 1. Übersetzer Osmolovsky: Zwischen dem Priester und säkularen Menschen. 3. Übersetzer Maxim: Das Eindringen in die Kirche ist ein erster Schritt in Richtung Integration? 1. Übersetzer Osmolovsky: Ja, ja, was hier gerade stattfindet, ist das Resultat dieser Aktion in der Erlöserkirche. Ich sehe Sie hier zum ersten Mal in meinem Leben und wir unterhalten uns. Das ist ein erster Schritt der Verständigung zwischen Ihnen und mir. Ohne diese Aktion würde diese Veranstaltung hier gar nicht stattfinden und ich hätte nicht dieses Gespräch mit Maxim Shevchenko, mit Ihnen oder mit Alexey Gintovt. Solche Aktionen sind erste Schritte in Richtung gesellschaftlicher Integration und es geht dabei nicht um religiösen Hass. Autor Moskaus berühmtester Galerist, der auch international geschätzte Marat Guelman lehnte es ab, die Aktion von Pussy Riot einer Kritik zu unterziehen, solange deren Aktivistinnen im Straflager sitzen. Stattdessen räsonierte er über die gesellschaftliche Bedeutung radikaler Kunst und griff dabei Gedankengänge auf, die zuvor auch schon Vertreter der vom Patriarchat unabhängigen Kirchen geäußert hatten. O Ton Maral Guelman 1. Übersetzer Radikale bereiten einen Schmerz, den wir fühlen, der aber notwendig ist. Die Gesellschaft muss lernen, sie anzuhören, sie zu tolerieren. Wir müssen nicht fordern, dass ihnen Gesetzesübertretungen vergeben werden, es ist nicht so, dass sie besondere Rechte hätten, aber radikale Kunst spielt eine sehr wichtige Rolle für unsere Gesellschaft. Sie zeigt, wo der Schmerz sitzt. Es ist ja nicht schön, wenn es weh tut. Dann nehmen wir mitunter Schmerzmittel. Wenn wir dann völlig schmerzfrei sind, können wir die Hände ins Feuer legen und merken nicht einmal, dass wir uns verbrennen. Wir brauchen Leute in unserer Gesellschaft, die den Schmerz lokalisieren, das kann nicht delegiert werden. Sie gehen dafür ins Gefängnis, aber sie zeigen uns, wo der Schmerz sitzt. Autor Als schließlich der stadtbekannte, orthodox motivierte christliche Randalierer Dmitry Enteo mit Unschuldsmine die Blasphemie der modernen Kunst anprangern wollte, drang die Außenwelt in das Theater ein. Mitarbeiter der Migrationspolizei erschienen im Theatergericht und wollten die westlichen Zuschauer einer Razzia unterziehen. Doch was als Störung der Inszenierung geplant war, bereicherte sie schließlich. Nach langen Verhandlungen der auf der Bühne agierenden Juristen mit den Polizisten konnte Michail Kaluzhsky vom Sacharow Zentrum den Sieg des Theaters über die Bürokratie vermelden. O Ton Kaluzhsky 1. Übersetzer Ich möchte mich bei der Anklage und bei der Verteidigung dafür bedanken, dass beide Seiten ihre Kräfte zusammengetan haben, um das Problem so schnell wie möglich und ohne Kollateralschaden zu lösen. Wie Osmolovsky gesagt hat, das wichtigste ist, dass der Dialog mit den Moskauer Prozessen begonnen wird. Der Direktor des Sacharow Zentrums hatte beide Seiten eingeladen und beide Seiten haben teilgenommen am Kampf gegen diese nicht identifizierten Kräfte, die versucht haben, diesen kulturellen Prozess zu verhindern, bei dem wir einen Dialog installieren und die Wahrheit finden wollen. Sie haben gehört, dass mein Kollege gesagt hat, dass sich noch etwas anderes draußen anbahnt. Autor Draußen hatten sich gut 40 Kosaken in Uniformen versammelt. Die Männer mit ihren hohen Fellmützen, den Westen mit dem Totenkopf und der Parole ?Orthodoxie oder Tod? schienen fest entschlossen, die Veranstaltung mit Gewalt zu beenden. Doch dann war es ausgerechnet Maxim Shevchenko, einer ihrer Helden im Glaubenskampf gegen den verhassten Liberalismus, der versuchte, sie zu beschwichtigen und sie sogar in die Aufführung integrierte. O Ton Überfall 3. Übersetzer Bitte Kollegen Journalisten, macht Platz. Lasst unsere Gäste hereinkommen und sich setzen, damit sie sehen, dass hier Alles ruhig und gleichberechtigt zugeht. Autor Maxim Shevchenko hatte die Gotteskrieger eingeladen, einen Spähtrupp in die Veranstaltung zu schicken - und sich zu überzeugen, dass dort keine Gotteslästerei begangen werde. Die offensichtlich überforderten Kosaken nahmen inmitten der Gottlosen Platz und konnten nicht glauben, was sie sahen und hörten. Dmitry Enteo, einer ihrer militantesten Mitstreiter saß friedfertig neben der verhassten Pussy Riot-Aktivistin Samuzevich und auf der Bühne bekannte sich eine als Unterstützerin von Pussy Riot bekannte Kunsthistorikerin zum christlichen Glauben. Frustriert, verständnislos, aber friedlich zogen die gewaltbereiten Kosaken schließlich ab. Anklage und Verteidigung konnten ihre Schlussplädoyers halten. O Ton Shevchenko 3. Übersetzer Ich klage die zeitgenössische Kunst an, dass sie sich an der Zerstörung der Freiheit in unserer Gesellschaft beteiligt. Sie ist beteiligt am Import der totalitär liberalen Gesellschaft in die russische Föderation, in der der Mensch kein Recht auf Religion hat. Es geht hier nicht um abstrakte Menschen, um abstrakte Räume oder um abstrakte politische Situationen. Bei ihrer Abstimmung geht es um die Zukunft unserer Gesellschaft, um die Frage, ob wir ein freies und selbstbestimmtes Volk bleiben, in dem man nach eigenem Ermessen glauben kann oder nicht. Wenn hier ihre Gesetze gelten, dann wird auch in Russland eine Ehe nicht mehr zwischen Mann und Frau geschlossen, sondern zwischen Partner A und Partner B. O-Ton Degot 1. Übersetzerin Ich habe den Eindruck, dass Sie glauben, Kunst sei mächtig und zu allem möglichen fähig. Das ist nicht wahr. Kunst kann nur sehr wenig bewirken. Sie kann Ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge lenken, kann zeigen, wo der Schmerz herkommt, aber sie kann den Kurs des Landes nicht ändern. Nun liegt es in Ihren Händen, Sie können verhindern, dass unser Land zu einem Gottesstaat wird. Autor Bevor die Geschworenen sich zu ihren Beratungen zurückzogen, erläuterte die Richterin die Gesetzeslage. O-Ton (Urteil) 1.Übersetzerin Sie müssen zwei Fragen beantworten: 1. Haben die Angeklagten Taten begangen, die die Würde von Gläubigen verletzt und Hass gegen Gläubige geschürt haben? Frage 2. Wenn ja, hatten die Angeklagten den Vorsatz, Hass gegen Gläubige zu schüren oder ihre Gefühle zu verletzen? Wenn Sie eine dieser Fragen verneinen, bedeutet das die Unschuld der Angeklagten, weil der Straftatbestand Vorsatz voraussetzt. Autor Nach einstündiger Beratung teilte die Jury mit, dass bei der ersten Frage drei der Schöffen den Tatvorwurf der Beleidigung von Gläubigen zurückgewiesen hätten, drei ihn bejaht hätten und einer sich enthalten habe. Bei der zweiten Frage, also der nach dem Vorsatz, sei die Jury mit einer Mehrheit von 5 zu 1 bei einer Enthaltung zu der Meinung gelangt, dass es einen solchen Vorsatz zur Beleidigung von Gläubigen nicht gegeben habe. O-Ton (Urteil) 1. Übersetzerin und 3. Übersetzer Olga: Also das Urteil, wie ich es verstehe, ist das Folgende: Die Angeklagten sind frei gesprochen. Deshalb frage ich die Anklage, ob sie das Urteil der Jury kommentieren will. Maxim: Das Urteil spricht die Angeklagten auf keinen Fall frei, die Stimmen der Schöffen haben sich gleichmäßig verteilt. Olga: Bei der zweiten Frage absolut nicht. Maxim: Bitte unterbrechen Sie mich nicht, Frau Richterin. Es gibt keine eindeutige Antwort auf die erste Frage: drei dafür, drei dagegen, eine Enthaltung. Deswegen gibt es kein Urteil, dass sie nicht schuldig sind. Es gibt keinen Freispruch, das ist ein Fehler. Ich verstehe nicht, dass das Gericht die Entscheidung der Schöffen so interpretiert hat. Olga: Sie können Revision einlegen. Maxim: Das werde ich tun. Olga: Der Prozess ist beendet. Maxim: Das Urteil ist ungerecht und das Gericht ist eine Fälschung. Olga: Das Urteil wird morgen in der Presse veröffentlicht. Beifall Epilog Autor: Das war ja jetzt ein interessantes Ende, richtig nach Brecht: ?Vorhang zu und alle Fragen offen? oder? Milo: So ist es. Das Urteil, was den ersten, entscheidenden Teil angeht, ist unentschieden ausgefallen und die Diskussion ging eigentlich schon wieder los. Ganz am Anfang hat mir der Leiter dieser Halle gesagt, es ist eigentlich surreal, was hier passiert, dass diese Menschen zusammenkommen und tatsächlich in einem Raum sich in einer Spielanleitung, die ich gebe, gegenseitig bekriegen auf zivilisierte Weise. Das ist eigentlich sehr, sehr ungewöhnlich, weil eigentlich das, was wir am Schluss erlebt haben, dass auch die Behörden kommen und das unterbinden wollen und einfach die Kosaken kommen und ein bisschen aufmischen wollen, das ist eigentlich der Normalzustand. Und insofern glaube ich, ist das schon gelungen. Atmo Sprecher Russische Kulturkämpfe Ein Moskauer Gerichtsdrama Eine Dokumentation von Hermann Theißen Es sprachen: Volker Risch, Nicole Boguth, Bernd Hahn, Frauke Poolmann, Josef Tratnik und Bruno Winzen Ton und Technik: Wolfgang Rixius, Beate Braun und Nastia Shwabska Regie und Redaktion: Hermann Theißen Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2013. 1