KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR Titel der Sendung : "Momente der Erleuchtung" - der maghrebinische Schriftsteller Habib Tengour AutorIn : Barbara Wahlster Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 30.11.2010 Regie : Beatrix Ackers Besetzung : Autorin spricht selbst; Sprecher/Overvoice + Zitate O-Töne im V-Speicher Musikauswahl Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 Momente der Erleuchtung Der meghrebinische Schriftsteller Habib Tengour Von Barbara Wahlster Deutschlandradio Kultur: 30.11.2010 MUSIK O-Ton 1 frz - darauf: Sprecher: Jedes Individuum gehört auch einer Gruppe an, ganz gleich ob sie mit einem Territorium verbunden ist oder nicht. Und wenn man einer Gruppe oder einer Kultur angehört, besitzt man mehrere Identitäten. Als Algerier bin ich Angehöriger der mediterranen Kultur, ich bin Araber, denn die ethnisch vorherrschende berberische Kultur ist arabisiert worden und hat ihre Sprache weitgehend verloren. Durch die Kolonisierung habe ich die französische Kultur übernommen und schreibe auf Französisch. Ich gehe davon aus, dass jedem Individuum mehrere Identitäten zur Verfügung stehen und es diese je nach den Umständen so einsetzen kann, dass es zum eigenen Besten ist. Autorin: Habib Tengour ist einer der wichtigsten Lyriker des Maghreb. 1947 in Mostaganem im Osten Algeriens geboren, kommt er 1959 während des Algerienkrieges zum ersten Mal nach Frankreich - mit seinem Vater. Der steht auf Seiten der Unabhängigkeitsbewegung und will den Übergriffen der Kolonialpolizei entkommen. O-Ton 2 frz - darauf: Sprecher: Es gibt selbstverständlich das Problem nationaler Identität (vor allem in Fällen von Fremdherrschaft) - wie für die Palästinenser heute. Aber in der Lyrik spielen solche Fragen keine Rolle. Ich kann mich einem amerikanischen Dichter, sogar einem israelischen oder chinesischen Dichter näher fühlen als einem maghrebinischen Kollegen, weil unsere literarische Verwandtschaft eine gemeinsame Identität herstellt. MUSIK O-Ton 3 dt: Ich sage immer ich habe keine Zeit für Politik oder meine alle Zeit ist nur für Dichtung, finden die Wörter für unser Leben jetzt. dann weiter frz - darauf: Sprecher: Die beste Art zu handeln und mich einzumischen besteht heute darin, die schönsten Gedichte zu schreiben. Damit kann ich meinem Land helfen, indem ich Dinge schreibe, die schön sind und (an)erkannt werden. Etwas zu hinterlassen. Ich habe nie ein Blatt vor den Mund genommen, habe in "Le vieux de la Montagne" den Fundamentalismus angeklagt, aber auf meine Art: nicht plakativ, sondern metaphorisch, so dass die Leute entziffern müssen, was darin zu finden ist. Aber auch das gehört zur Rolle des Dichters, dass er seine Kritik, seinen Widerstand im Stillen formuliert. Später werden die Jüngeren sagen, ja, er hat das Wort ergriffen. Denn ich habe immer gesagt, wonach mir der Sinn stand, was gesagt werden musste. Autorin: Habib Tengour ist den ideologischen Lagern entkommen. Zunächst hatten ihn die 1968er Jahre in Paris geprägt. Als ausgebildeter Soziologe kehrt er zum Militärdienst nach Algerien zurück, wird in der drittgrößten Stadt des Landes, in Constantine, Direktor eines neuen Instituts für Sozialwissenschaften und bald schon eingeholt von den "Verhältnissen". Das heißt von der zunehmenden Repression des sozialistischen Regimes nach den Studentenunruhen von 1986. Er wird verhaftet und kehrt 1991 nach Frankreich zurück; damit beginnt eine Phase des Hin- und Her zwischen beiden Ufern des Mittelmeeres. Und wohl nicht zufällig wird das Exil - übertragen auf die maghrebinische Lebenswirklichkeit - zu einer wichtigen Denkfigur. "Der Maghrebiner ist" - so Tengour - "immer anderswo. Und er verwirklicht sich nur dort". O-Ton 4 frz.-darauf: Sprecher: Sagen wir die Maghrebiner waren gewissermaßen die Vorläufer für diese Situation des Menschen am Ende des 20. Jahrhunderts, wo der lokale Raum verschwunden ist und der nationale Raum nicht mehr unbedingt die Selbstverwirklichung der Individuen garantiert. Das gilt im künstlerischen Bereich übrigens ganz besonders. Und was die Maghrebiner angeht: Sie leben seit langem in einer Kultur des Exils und der Migration. Bereits in der Kolonialzeit wurde das tribale System zerschlagen und die Menschen in den Exodus getrieben. Ortsveränderungen, der Aufbruch ins Anderswo, auch in andere arabische Länder, haben eine lange Tradition. Außerdem gibt es dieses Wortspiel: Maghreb heißt im Arabischen "der Westen". Der Westen ist ein definierter Raum und gleichzeitig so viel mehr: Der Okzident dominiert heute alles in der Welt. Autorin: Also widmet sich der Lyriker den Grenzgängern und den Grenzgängen. Dabei sind "die Grenzen so flirrend wie vielfältig, zwischen Diesseits und Jenseits, Tradition und Moderne, Traumwelt und Tagwelt, dem Wir und dem Ich", so schreibt seine deutsche Übersetzerin Regina Keil-Sagawe. Seit 1976 veröffentlicht Tengour: Prosa, Romane und mittlerweile 11 Gedichtbände. Sprecher/Zitat: Fessel des Codes Befremdliche Namen bei Einbruch der Nacht trotz intensiver Rückbesinnung verschwimmen die Wörter auf dem Asphalt die Fährte lange vergebens gesucht dort verwischt wird sie sichtbar o webendes Herz so schnell ändert der Zeiten Dauer sich nicht noch die Umarmung die folgt da sich die Seele entschlüsselt Wildwuchs der Zeichen doch hoch erhoben die Stimme die Zungen löst und Worte wendet ach an jeder Biegung des Weges ein Hinterhalt die Engel weigern sich uns zu begleiten die Lichter blinken ostentativ die Prediger halten uns vom Lagerplatz fern Das ist der Moment sich gewaltsam Einlaß zu verschaffen ich setze meine Sprache als Türöffner ein unter dem Diktat gebändigten Verströmens Texte ohne Geschichte aneinanderfügen eine Weile den Stillstand kosten der Relikte strahlenden Glanz einfangen ohne dem Buchstaben auf den Leim zu gehen Paris November Rue Saint-Antoine Constantine Cité du 20 Août wieder Paris jede der Adressen genau prüfen ein Lichtstrahl peitscht flüchtig die Wolken (H. Tengour, Seelenperlmutt, aus dem Frz von Regina Keil-Sagawe, Berlin 2009) Autorin: Aus dem Langgedicht "Die Sandale des Empedokles" von 1999 MUSIK O-Ton 5 dt: Mein Dichter war Hölderlin, ich war jung; Hölderlin und alle die Sturm und Drang - Novalis, Kleist und alle diese Dichter. O-Ton 6 frz evtl. ++ 6x- darauf: Sprecher: Die deutsche Romantik hat mich interessiert. Und später habe ich mich zeitweise Brecht zugewandt. Aber das 19. Jahrhundert fand ich spannend, weil die Zeit mit der Entstehung der deutschen Nation zusammenhängt, mit Hegel, den Tübingern. Diese Vorstellung, dass man das Volk in der Sprache finden könnte, hat mir gefallen, überhaupt die sprachphilosophischen und ästhetischen Überlegungen. Das hat mich schon geprägt. ++ Was mir bei Hölderlin immer gefallen hat, ist sein Verhältnis zur Sprache, auch zur Sprache des anderen. Der Mensch muss die Sprache bewohnen - im poetischen Sinn. Autorin: Diese Verbindung hat ihre Logik: Der Sohn eines Arabisch-Lehrers, der selbst nicht Arabisch, sondern Französisch schreibt, der - wie er sagt: seiner Sprache enteignet wurde - hört genau hin und findet anderswo und eben auch außerhalb der französischen Kultur wenn nicht Antworten, so doch Anregungen und (Denk)Wege: O-Ton 7 frz - darauf: Anfang kürzen - evtl. teilen Sprecher: Bei Hölderlin gibt es diese Verbindung zum Gedächtnis im Text - und vor allem die Suche nach der klassischen Schönheit im antiken Griechenland. So wie Hölderlin Deutschlands Identität über den Umweg nach Griechenland sucht, suche ich - dafür steht zum Beispiel das Gedicht "Die Sandale des Empedokles" - die vorislamische arabische Poesie der Muallakat auf, gerade weil mich die Identität heute interessiert. Das sind also vielfältige Spiegelspiele, Spiegel, die den Blick deformieren, ihn ins Labyrinthische lenken. Gerade das Labyrinthhafte gefällt mir an diesen Dichtern. Unter Umständen kam es dazu auch, weil sie enzyklopädisch alles in ihre Dichtung einschließen wollten: ein Gedicht sollte alles auf einmal sein: Wissenschaft, Realität usw. Autorin: Ein Umweg also; ein Verfahren, das den Zuschreibungen des Eigenen oder Fremden entkommt. Von Surrealismus und Symbolismus beeinflusst, hat Habib Tengour einen geschärften Blick oder genauer gesagt: ein empfindsames Gehör für Wechselwirkungen und Abgrenzungen, Gleichklang und Überschneidung, Konfrontation und Assoziation, für das Unbewußte der Sprache. O-Ton 8 frz - darauf: Üb kontrollieren Sprecher: Geschrieben sind die Gedichte auf Französisch, aus Spaß habe ich schon mal gesagt: Es ist eigentlich Arabisch. Ein Franzose könnte sie unter Umständen nicht verstehen, wenn er nur die strikten Wortbedeutungen im Blick hat. Die Tiefenstruktur könnte ihm entgehen; das ist die Fremdheit der Sprache. Aber darum geht es doch in der Poesie: dass man es hinkriegt, eine vertraute Sprache fremd klingen zu lassen. Insofern zwingt sie uns auch, anders zu hören. Sonst wären wir im politischen Diskurs, in den Sprechblasen. Einfache Worte, die uns auf andere Weise ansprechen, berühren: Das ist entscheidend. Für Maghrebiner könnten die französischen Worte auch auf ganz andere Dinge verweisen. Das ist ziemlich komplex. Vor allem in den 1990er Jahren, als die Situation in Algerien so schwierig war, entstanden anspielungsreiche Texte mit präzisen Referenzen, etwa auf Freunde die getötet wurden. Wenn ich die in Algerien lese, dann bringt das im Gedächtnis der Leute selbstverständlich etwas Bestimmtes zum Klingen; während in Frankreich anderes auffällt. Man bezieht sich in der Lyrik auf zeitliche und räumliche Schichtungen - und die treffen auf unterschiedliche Ohren. () Autorin: Für ein Gedicht wie ,"Der Tod des Abderrahman" September 1992, Bilder' gilt das ganz bestimmt. Tengours Kollege Abderrahman Benlazhar, ein Gewerkschaftler, ist eines der ersten Opfer von islamistischen Killerkommandos; unzählige Intellektuelle sollten während des Bürgerkrieges auf grausame Weise ermordet werden. Sprecher/Zitat: Rotes Leder oder Blut der Tod geht um die Vorstadt schläft die Schranke ist überschritten die Meere fließen ineinander verloren Perlen und Korallen sowie Pflanze oder Korn wenn sie dich fragen Achselzucken Kugeln im Rücken Du Mensch aus Lehm sei mutig und freundlich eines Tages vergehst auch du der Lauf der Welt in welche Gefilde hinübergleiten wie sämtliche Male tilgen du schwingst dich auf und du fällst Huris waren versprochen oh! das Paradies wie viele sind wir Belohnung oder siedendes Wasser erschlagener Bruder gerechtes Wort du mit dem reinen Blick Bruder mit der aufrechten Tat du lässt uns zurück (H. Tengour, Seelenperlmutt, aus dem Frz von Regina Keil-Sagawe, Berlin 2009) MUSIK Autorin: Der Begriff des Exils ist für Tengour nicht nur eine Metapher; seine eigene Vertreibung aus Algerien fast noch eine glückliche Wendung. Anders als viele Freunde und Kollegen kommt er mit dem Leben davon, als ihn die politischen Islamisten 1995 seines Amtes entheben. Der endgültige Ausschluss aus dem Land erweitert die Rolle des Dichters, gibt ihr eine zusätzliche Dimension. O-Ton 9 frz - darauf: Sprecher: In gewisser Weise ist der Dichter durchaus Zeuge seiner Zeit. Das glaube ich schon. Allerdings gibt es ein Problem, denn Zeugenschaft oder Engagement haben ja auch zu jämmerlichen Ergebnissen geführt - denken Sie nur an den sozialistischen Realismus. Starke Dichtung kann jedoch niemals gänzlich abgeschnitten sein von ihrer Zeit, von den Menschen, vom Leben. Und wenn es schwierige Situationen gibt, dann muss doch zumindest der Dichter die Worte finden, die Not tun. Worte, die Linderung verschaffen. Schon für Homer war klar, dass das Leid der Menschen, die Katastrophen, die ihnen die Götter schicken, durch den sublimen Gesang zu besänftigen sind. Genau das ist Schönheit. In solche schwierigen Momenten ist die Poesie zur Stelle. Wir brauchen sie, um leben zu können. Seit der Antike gilt der Dichter als Begleiter der Welt und der Menschen. Weil ich viele Freunde verloren habe, fühle ich mich in der Pflicht. Ich wollte eine Spur hinterlassen, damit diese Ereignisse nicht gänzlich aus dem Gedächtnis gelöscht werden. Autorin: Der Spurensicherung und ihrer Übertragung ins Poetische ist Habib Tengour zutiefst verpflichtet. Deren Bestandteile können bei ihm materiell sein, imaginär, prosaisch, hochgelehrt, historisch unterfüttert; in ihnen stecken Nachklang der mündlichen Rede, Überschwang vergangener Rhetoriken, Parodie offizieller Sprachregelungen, Ironie, Trauer und Klage. Da werden traditionelle Rhythmen und Bilderwelten ebenso aufgerufen wie alltägliche Beobachtungen oder verblüffende, ungewöhnliche, sogar visionäre Verknüpfungen. Habib Tengour verfügt über all diese Register. Dafür steht zum Beispiel sein eindringliches Langgedicht "Besagter Tatar 2", dessen Original 1999 erschienen ist. Sprecher/Zitat: Besagter Tatar wartet am Wegrand. Er ist schon länger da, kauert am Boden und bläst Trübsal. Er wartet lieber hier als am Straßenrand. Da brausen die Autos vorbei und spritzen ei- nen skrupellos nass. Es gibt sogar Rüpel - die Schweinehunde! - die drehen sich um und lachen dich aus ... ... Früher war ein Tatar derart Angst erregend, dass es zu gewaltigen Karrambolagen kam. Selbst die härtesten Männer ließen ihr Lenkrad los oder traten blind auf die Bremse, sobald sie nur eine nacht- schwarze Stute erblickten oder eine gehisste Standarte in leuch- tenden Farben. Kein Mensch konnte einen Tataren genauer beschreiben. Die, die bei jeder Gelegenheit drauflos fabulierten, um ihre Zuhörer zu unterhalten, waren noch keinem nahe genug ge- kommen, um sich ein Bild von ihm zu machen. (H. Tengour, Seelenperlmutt, aus dem Frz von Regina Keil-Sagawe, Berlin 2009) Autorin: Die Ausgangsposition: eine verstörende Vermischung von Realem und Befremdlichem. Daraus entwickelt sich ein Rückgriff auf archaische Bilder und damit auch auf uralte Ängste und sehr heutige Reflexe: Sprecher/Zitat: Er hat sagen hören, die Tataren seien die Geißel Gottes. Eine Landplage! Das sind sie noch immer, auch wenn ihre Anführer heute die Völker nicht mehr in Angst und Schrecken versetzen. Wel- cher Untergrundführer könnte Tamerlan schon das Wasser reichen?! Jener, auf seinem Thron inmitten einer Purpurlache, war be- reit, den Lauf der Gestirne zu ändern. ... Die Schädel, mit der Axt gespalten, die zersägten Körper, die ausgestochenen Augen, die abgerissenen Brüste, die verstüm- melten Geschlechter, alle denkbaren Ausschreitungen ru- fen eher Wut als Furcht hervor. (H. Tengour, Seelenperlmutt, aus dem Frz von Regina Keil-Sagawe, Berlin 2009) O-Ton 10 frz - darauf: Trennen??!! Sprecher: Bei jedem Dichter kann es wohl Momente der Erleuchtung geben - so wie plötzlich die Figur des Tataren repräsentativ wird - nicht nur im Schreiben, sondern für eine politische und soziale Situation. Gleichzeitig steht sie für viel mehr. Tataren sind zunächst Orientalen, zerstreut und dezimiert. Einst waren sie bedrohlich und überall. In dem Wort klingt so vieles an. Er ist der gefährliche Andere, der unbekannte Andere, dem man misstraut. Die Frage der Andersartigkeit steht also sofort im Raum. Sprecher/Zitat: Besagter Tatar kommentiert murmelnd das Tagesgeschehen. Er führt Selbstgespräche und kratzt sich am Schädel, wenn er die Schlagzeilen liest. ... Satzfetzen schwirren ihm durch den Kopf. Jäh packt ihn der Schmerz. Ein brennender Kloß der jedem Tataren tief unten im Hals sitzt oder in der Brust. Früh lernt ein jeder mit ihm umzugehen, so gut er kann. Er kennt die Symptome. Er weiß, wann sie auftreten und sieht sie voraus. Er spürt, wann es wieder losgeht. Er horcht auf all seine Regungen. Dennoch ist der Kloß ohne Namen. Im Winter haßt er das Glatteis. Er schleppt sich mit Mühe den Gehweg entlang. Die Kälte macht ihm seine Einsamkeit bewusst. (H. Tengour, Seelenperlmutt, aus dem Frz von Regina Keil-Sagawe, Berlin 2009) O-Ton 11 frz - darauf: Sprecher: Wenn man sich anschaut, was mit den Grenzen Europas geschieht, wie gnadenlos sie gegenüber dem Süden geschlossen werden, ist der Tatar auch die Figur des illegalen Einwanderers. Für mich ist er so etwas wie ein persönliches Fantasma, ein orientalisches Syndrom vielleicht. Damit kann man spielen und sich gleichzeitig an andere Dichter anlehnen, an Seferis mit seinem "Seemann Stratis" oder an Michaux mit seiner Sammlung "Ein gewisser Plume". Da gibt es also gleichzeitig auch eine internationale poetische Tradition. Autorin: Sie reicht von der Odyssee bis zur avantgardistischen Moderne - vom Epos des Unterwegsseins bis zur bizarren Reise durch's Unbewusste. O-Ton 12 frz - darauf: Sprecher: In der muslimischen Welt hat der Tatar ebenfalls einen spezifischen Klang, denn im Mittelalter haben Tataren Schrecken verbreitet und Bagdad dem Erdboden gleich gemacht. Autorin: Auch im westlichen Imaginären haben Tataren ihren Platz: als ruchlose brutale Horden (des Dschingis Khan), als brandschatzende plündernde Hilfstruppen der Osmanen bei den Belagerungen Wiens. O-Ton 13 frz - darauf: Sprecher: Außerdem passte das zur Situation des islamistischen Fundamentalismus der 1990er Jahre in Algerien. Den Tataren kann man also sehr unterschiedlich lesen - mit westlichem Blick auf die unglücklichen Immigranten oder auf die Islamisten. Diese Mehrdeutigkeit der Lektüre möchte ich haben, keine starre Festlegung. Gleichzeitig sind die Bilder im Alltäglichen verankert, sie verweisen auf unsere prosaische Welt. Sprecher/Zitat: Es ist mir nicht gelungen, ihm eine brauchbare Lebensge- schichte zu entlocken. Ich hatte mich im Vorfeld über die Tataren informiert, um den Kontakt zu erleichtern. Er hat meine Empathie nicht geschätzt. Er behauptet, die Tataren seien keine Zigeuner. Der Not gehorchend reisten sie. Soziologische Umfragen würden nur ihre Spur verwischen ... Fast hätte ich den Blick seiner verdrehten Augen erhascht. Besagter Tatar bereitet mir Kopferbrechen. Ich werde meine Zeit nicht damit verbringen, ihn zu beobachten. Ich habe An- deres zu tun. Ich habe zu arbeiten. Er dagegen verbringt sein Leben mit Nichtstun. Er besäuft sich mit Fass- bier. Schummelt beim Poker. Treibt sich manchmal auf den Trödelmärkten vor den Toren von Paris herum. Und lässt kein Bistro aus. Ein Tatar taugt zu gar nichts. Wie alle Tataren. Er stört mich mit seiner Teilnahmslosigkeit. All meine Ver- Suche, ihn in den Griff zu bekommen, sind gescheitert. Letztlich weicht er jedem Kontakt aus. (H. Tengour, Seelenperlmutt, aus dem Frz von Regina Keil-Sagawe, Berlin 2009) Autorin: Mit derartigen Beobachtungen scheint sich Habib Tengours Brotberuf - mittlerweile als Ethnologe - in den Text zu drängen und damit die so oft vergeblichen Parameter einer wissenschaftlichen Annäherung an Phänomene inoffiziellen Lebens am Rande unserer Städte. Dabei beruft er sich keineswegs auf den Vorrang des Wissens. O-Ton 14 frz - drauf: Sprecher: Der Poet behält die Oberhand. Dichtung ist für mich eine Begegnung mit der Welt, eine sehr grundsätzliche Annäherung, die es erlaubt, Dinge zu klären und zu entschleiern. Sie muss präzise sein. Die poetische Sicht kann die Wirklichkeit sehr weitgehend durchdringen. Novalis sagte, was poetisch ist, ist wirklich. Das Gedicht ist also das Reale. Meine Arbeit als Ethnologe ähnelt eher einer Art Rückübersetzung. Den akademischen Diskurs benutze ich, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Aber alles, was ich soziologisch oder ethnologisch erforsche, wird Teil meiner Lyrik, um poetisch Zeugnis abzulegen von der Welt. Sprecher/Zitat: Besagter Tatar hat sich eingerichtet im Warten ... Nicht alle Tataren sind dem Tode nahe, weit gefehlt. Ihre Be- wegungen unterliegen ständiger Kontrolle. Kein leichtes Le- ben. In wenigen Worten erzählt. Irgendwie gelingt es den Ta- taren, sich satt zu essen und die Alltagskost dann und wann aufzubessern. ... Er persönlich liebt seine Schale Kichererbsen mit Olivenöl. An melancholischen Tagen bestellt er deren zwei und lässt Sich entführen vom Gesang des Kanarienvogels. (H. Tengour, Seelenperlmutt, aus dem Frz von Regina Keil-Sagawe, Berlin 2009) MUSIK Autorin: Zweifellos hat Habib Tengour die Gabe, Dringliches frühzeitig zu benennen, Noch-Nicht Gewusstes und damit den eigentlichen Puls der Zeit(geschichte) prophetisch einzufangen. In "Sultan Galièv ou la rupture des stocks" von 1981 (also kurz vor dem 20jährigen Jubiläum der algerischen Befreiung) "reflektiert er - so die Übersetzerin Regina Keil- Sagawe - das missglückte algerische Sozialismusexperiment vor der Folie der russischen Oktoberrevolution. 1983 antizipiert er den aufkeimenden Islamismus im Licht der mittelalterlichen Assassinenbewegung: (in) Le vieux de la Montagne. 1990 skizziert er das desparate Lebensgefühl von Algiers Jugend () in "Die Bogenprobe" und hat am Ende drei zentrale Dimensionen postkolonialer algerischer Identität dekliniert - das sozialistische, das arabo-islamische und das (trans)mediterrane Element." In seinem Afghanistan-Roman "Der Fisch des Moses" von 2001 geht es (erneut) um die Attraktion des radikalen Islamismus für junge Algerier. Stets war Tengour also Entwicklungen, die im Westen erst viel später wahrgenommen wurden, voraus. Sprecher/Zitat: Die Welle ein Hohlspiegel verwirrt die Crew Keiner will hinübersetzen wer könnte es auch? Diese Insel dort am Horizont sie glitzert befremdlich Die Grenzen der Welt weichen fortwährend zurück Die rechte Art nicht Erfahrung zu sammeln ein beliebiger Reichtum Metall und Stein sind edel nicht ohne den Anderen der die Gabe schätzt und ein aufrechtes Wort zur Klärung unserer Belange Wie weit reicht Charybdis, wo lauert schon Scylla? Und wer setzt das Ziel fest wann abgelegt wird? Wir werden zu Illegalen im eigenen Boot (H. Tengour, Seelenperlmutt, aus dem Frz von Regina Keil-Sagawe, Berlin 2009) Autorin: Der melancholische, klagende, anklagende, beobachtende, verspielte, überaus gebildete und reflektierte Dichter Habib Tengour schreibt bestechend schöne, enigmatische, auffahrende, berührende und mit vielen Traditionen verwobene Gedichte. Damit sie überleben, sollen sie die Schönsten sein; dieser Superlativ scheint ihm eine ganz selbstverständliche Aussage und Aufgabe. Wie aber liesse sich Schönheit in Bezug auf Dichtung heute überhaupt definieren? O-Ton 15 dt: Ich weiß nicht. Ich weiß, aber ich kann nicht sagen; aber ich kann fühlen das ... weiter frz. - darauf: Sprecher: Schöne Poesie ermöglicht eine Ausdehnung des Seins. Wenn der Schmerz übergroß ist, wird man durch Gedichte getröstet. Wenn man verliebt ist und seinen inneren Aufruhr nicht zu benennen weiß, wird ein Gedicht es uns sagen. Das heißt das Gedicht gibt uns eine Sprache, die uns begleitet und uns hilft zu leben. Nicht jede Sprache vermag unsere Seele zu erheben, wie die alten Griechen sagen würden. () MUSIK ENDE sämtliche Zitate aus: Habib Tengour, Seelenperlmutt, aus dem Franz. von Regina Keil- Sagawe, Verlag Hans Schiler, Berlin 2009 1