Der stille Held von Auschwitz Eine Lange Nacht über Fredy Hirsch Autoren: Eduard Hoffmann und Jürgen Nendza Regie: Stefan Hilsbecher Redaktion: Dr. Monika Künzel Sprecher: Birgitta Assheuer Zitator 1: Hans-Peter Bögel Zitator 2: Mark Ortel Zitator 3: Jo Jung Zitatorin: Verena Buss Sendetermine: 28. Januar 2017 Deutschlandradio Kultur 28./29. Januar 2017 Deutschlandfunk __________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde Zitat „Zweiter Kriegsjunge angekommen“ Sprecher Kurz und knapp ist die Anzeige im liberalen Politischen Tageblatt, in der die Aachener von der Geburt Alfred, Fredy Hirschs am11. Februar 1916 erfahren. Stolz und durchaus patriotisch geben die Eltern, der Metzgermeister Heinrich Hirsch und seine Frau Olga, das freudige Ereignis öffentlich bekannt. Die Hirschs sind Juden. Wie sein zwei Jahre ältere Bruder Paul besucht auch Fredy die Israelitische Volksschule. 1926 wechselt er auf die Hindenburgschule, das heutige Couven Gymnasium. Wenige Tage vor Fredys 10. Geburtstag stirbt der Vater. Die Mutter ist überfordert mit der Erziehung der Söhne und der Weiterführung des Geschäfts. Sie taucht schließlich ein ganzes Jahr ab und überlässt ihre Söhne sich selbst. Fredy Hirschs Nichte, die Tochter seines Bruder Paul, Raquel Masel erinnert sich an die Erzählungen ihres Vaters: 01 OT Masel Mein Vater hat von seiner Kindheit geredet, er hat sich nicht als glücklich beschrieben. Ich weiß, dass, nachdem der Vater gestorben ist, ist angeblich die Mutter ein Jahr verschwunden. Mein Vater hat mir gesagt, er hat das Haus verlassen wie er 15 war. Aber dann hab ich gesprochen mit einer Nachbarin, die war wie eine Schwester zu ihm und sie hat mir gesagt, nein, er hat nicht das Haus verlassen, die Mutter hat das Haus verlassen, und dann haben mir das andere Leute das auch erzählt. Seine Beziehung zu seiner Mutter war nicht sehr gut. Die Mutter war, meine Großmutter war eine sehr verbitterte Person. Sprecher Paul und Fredy müssen früh lernen, auf eigenen Füßen zu stehen. Stabilität und Geborgenheit erfahren sie in der Jüdischen Gemeinde, die zu einer Art Ersatzfamilie wird, insbesondere deren Jugendverein mit Pfadfindergruppe und Turngemeinschaft. 02 OT Lohe Die Jüdische Gemeinde in Aachen war eine ausgesprochen liberale Gemeinde. Alexander Lohe ist persönlicher Referent des Aachener Oberbürgermeisters und Lehrbeauftragter am Institut für Politische Wissenschaft der RWTH Aachen. Er beschäftigt sich schon seit Jahren mit der Biografie Fredy Hirschs. 03 OT Lohe weiter Sie schien etabliert zu sein in der Stadtgesellschaft, bei den Neujahrsfesten, bei bestimmten Festivitäten der Jüdischen Gemeinde, waren offizielle Vertreter der Stadt da, und von überlebenden Aachener Juden hat man immer wieder gehört, dass sie eigentlich bis zur Zeit des Nationalsozialismus kaum etwas gemerkt haben von antisemitischen Strömungen, von antisemitischen Angriffen, von Beleidigungen, erst recht nicht von Verfolgungen. 04 OT Kämper Gleichzeitig ist es ja eben aber auch so, dass die jüdische Gemeinde viele Funktionen für ihre jüdischen jugendlichen Mitglieder übernimmt, die in der nicht jüdischen Gesellschaft eben von Vereinen und anderen Organisationen wahrgenommen wurden. Einfach deswegen, weil viele Juden von vielen Dingen schon damals, auch in den zwanziger Jahren und schon viel vorher, ausgeschlossen wurden, zum Beispiel aus Sport und Turnvereinen insbesondere. Das heißt, auch innerhalb der jüdischen Gemeinde werden diese Funktionen mit übernommen, was dazu führt, über den Sport, über die Pfadfinderorganisationen, über das Bewegen in der Natur, also all diese Dinge werden nun sehr intensiv in der jüdischen Gemeinde organisiert und da schließt sich Fredy Hirsch offensichtlich ganz intensiv an. Also der hat von Anfang an sich nicht nur engagiert, sondern war offensichtlich auch in der Lage, sehr extrem andere Menschen zu motivieren, zu informieren auch im Sinne sicherlich von zu schulen, deswegen wird er auch ganz schnell ja eben Leiter einer eigenen Pfadfindergruppe. Sprecher Der Filmemacher und Autor Dirk Kämper verfasste die erste umfassende Fredy Hirsch Biografie, die mit dem Titel „Fredy Hirsch und die Kinder des Holocaust“ im Orell Füssli Verlag erschienen ist. Fredy Hirsch liebt es, zu turnen und Sport zu treiben, und er ist gerne in der freien Natur. Zusammen mit seinem Bruder Paul und den Pfadfindern streift er durch die Wälder rund um Aachen bis in die Eifel hinein. Bereits mit 15 Jahren hält er Vorträge in der Aachener Jüdischen Gemeinde und übernimmt 1931 die Führung einer eigenen Pfadfindergruppe des Jugendvereins. Während sein sprachbegabter Bruder Paul zu einem jüdischen Reformgymnasium nach Köln wechselt, geht der 15jährige Fredy Hirsch am 27. März 1931 von der Hindenburgschule ab, um, so steht es im Abgangszeugnis, „eine andere Schule zu besuchen, da seine Eltern den Wohnort wechseln“. Vermutlich ist seine Mutter bereits zu diesem Zeitpunkt zum zweiten Mal verheiratet und verlässt mit ihrem neuen Ehemann Aachen. Die Familie bleibt im Rheinland, unklar ist jedoch, in welche Stadt sie zieht. Unklar ist auch, ob Fredy Hirsch tatsächlich noch einmal eine andere Schule besucht. Trotz Wohnsitzwechsel taucht er immer wieder in Aachen auf, und 1932 findet sich seine Unterschrift unter einem Aufruf zur Gründung einer Aachen Ortgruppe des 1931 gegründeten Jüdischen Pfadfinderbundes Deutschland, der bereits deutlich von zionistischen Tendenzen geprägt ist. Alexander Lohe: 05 OT Lohe Es ist interessant, was damals im Mitteilungsblatt der Synagogengemeinde stand: „Ein großer Teil unserer Jugend sieht den fürchterlichen Existenzkampf unserer Eltern und verliert selbst in dieser Zeit jeden seelischen Halt.“ Und dagegen setzen die materielle und seelische Hilfe durch den Pfadfinderbund. Und das Ganze wird dann zusammengefasst in ein Ziel, und das heißt: Erhaltung des Judentums. Das heißt, beim Pfadfinder Bund ist zunächst einmal vor dem Hintergrund des sich verstärkenden Antisemitismus die Gegentendenz, bewusstes Judentum dem entgegen zu setzen. Man muss immer bedenken, der Pfadfinder Bund ist hier in Aachen 1932 erst gegründet worden, das heißt also, das war schon die Endzeit des ersten Demokratieversuchs in Deutschland, und er wollte wohl etwas selbstbewusster, vielleicht sogar militanter auftreten als die herkömmlichen jüdischen Jugendorganisationen. Es wurde zum Beispiel Wert darauf gelegt, großer Wert gelegt auf militärisches Äußeres, auf Koppel und Kluft. Das Zeremoniell verlangte geradezu eine soldatische Disziplin. Es war Flaggen aufziehen am Fahnenmast angesagt, und das ganze unter soldatischem Strammstehen, wobei die Kommandorufe auf Hebräisch erfolgten. Es gab den sogenannten Affen, den deutschen Militärtornister, der musste marschmäßig gepackt werden. Es gab das, was auch die jüdischen Pfadfinder Klotzmärsche nannten, das waren Märsche mit schwerem Gepäck und möglichst hoher Kilometerzahl, und es war ne Ehrensache, dass man da durchhielt. Es gab Geländeübungen, es gab Mutproben, es gab Brückenbau, Stockfechten, und auch natürlich ne gewisse Ausbildung in erster Hilfe, also ein sehr an militärischem Vorbild orientiertes Pfadfinderprogramm. Das stählte sowohl den Körper, machte aber auch in gewisser Weise selbstbewusst und charakterstark und war deshalb ein wichtiges Instrumentarium zum Überleben später in den Lagern, das sieht man bei Fredy Hirsch ganz deutlich. Zitat „Wir waren zwar jüdische Pfadfinder, aber wie ich mich daran erinnern kann, kamen die allgemeinen Pfadfinderideale vor dem Judentum. Erziehung zu Toleranz, Solidarität, freiwillige Disziplin. Jeden Tag eine gute Tat. Erziehung zu Demokratie. Natürlich hatten wir Appelle, standen in Habachtstellung und marschierten in Uniform, aber das Denken war frei. … Unser Terrain war die Eifel. … Wie alle Jungen haben wir das Abenteuer gesucht und hier ausgiebig genossen. Wir haben um die Fahne gekämpft, Wege anhand von Nachrichten gesucht, gezeltet. Wir haben viel Sport getrieben, Fredy war Meister im Speerwurf. Er war wirklich ein außergewöhnlich guter Sportler. Im Unterschied zu seinem Bruder war er überzeugter Zionist, aber er fand mit jedem eine gemeinsame Sprache. Er suchte den jüdischen Weg, wohingegen Paul sich viel mehr als deutscher Jude fühlte, er konnte sich nicht vom Deutschtum absondern.“ Sprecher Das schreibt 1999 Werner Levano, ein Wegbegleiter Fredy Hirschs während der Aachener Zeit. Er überlebt den Holocaust und stirbt 2001 in seiner Geburtsstadt Aachen. Paul bleibt seiner national-liberalen Auffassung eines assimilierten Judentums treu, wird Rabbiner, emigriert 1938 nach Bolivien und wirkt später in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires. Dort stirbt er 1979 an den Folgen eines Gehirntumors. Fredy hingegen brennt ganz und gar für die zionistische Bewegung, deren Ziel ein eigener jüdischer Staat, das Gelobte Land Eretz Israel, ist, wo sich die jüdische Kultur frei entfalten kann. Seine Nichte Raquel Masel: 06 O-Ton Masel Fredy hätte mit meinem Vater auswandern können, er wollte nicht. Das hat mir mein Vater gesagt, dass Fredy sagt, dass er wird nirgends hinfahren, wenn es nicht Palästina ist. Sprecher Fredy Hirsch findet seine Heimat zunächst im Jüdischen Pfadfinder Bund Deutschlands, JPD, der sich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 mit dem zionistischen Jugendbund Makkabi Hatzair vereinigt. Fredy Hirsch erlangt hier schnell einflussreiche Leitungspositionen. Nach einem kurzen Aufenthalt in Düsseldorf 1932 führt sein Weg nach Frankfurt, wo er in einer Wohngemeinschaft mit führenden JPD-Funktionären wohnt, unter anderem mit Heinz Gochsheimer, dem Leiter des Frankfurter Bundes. Der kluge und redegewandte 17Jährige wird mit der Leitung einer Jungengruppe betraut, und er hält Vorträge. Im altehrwürdigen Verein Montefiore zur Pflege der idealen Interessen jüdischer junger Leute spricht er etwa zum Thema „Freizeit muss Zeit des Dienstes an der jüdischen Gemeinschaft sein“. Wenig später ist Fredy Hirsch Mitglied im Vorstand des Frankfurter JPD. Als dessen Vertreter wird er Mitglied im Verwaltungsrat des angesehenen Montefiore-Vereins. Der Jüdische Pfadfinderbund wird zu Hirschs neuer Familie. In Frankfurt erlernt Fredy Hirsch auch Jiu-Jitsu. Seit den 20er Jahren gilt die Mainmetropole als Zentrum dieser waffenlosen japanischen Selbstverteidigung, die sich damals insbesondere bei jüdischen Sportlern wachsender Beliebtheit erfreut. Jiu-Jitsu kann als Teil der körperlichen Ausbildung angesehen werden, die die Zionisten fordern. Die Schulung des Körpers durch Sport und paramilitärische Übungen wird sich in den nächsten Jahren zu Fredy Hirschs Spezialgebiet entwickeln. Aus der Frankfurter Zeit datieren auch die ersten Hinweise auf Fredy Hirschs Homosexualität. Mitte der 30er Jahre ein besonders großes Handicap und zusätzliches Risiko für einen rechtlosen minderjährigen Juden in Deutschland. Die sexuelle Männerfreundschaft ist gesellschaftlich geächtet, und die Nazis verschärfen den § 175 StGB, nach dem homosexuelle Handlungen strafbar sind. Wer erwischt wird, muss mit dem Schlimmsten rechnen. Walter Weils Erinnerungen sind eines der wenigen Dokumente zu Fredy Hirschs Homosexualität. Weil gehörte zur Frankfurter Jungengruppe, die der 17jährige Fredy leitet. Zitat „Fredy war ungefähr zwei Jahre älter als wir, sah gut aus, und sein Verhalten und Auftreten waren für uns sehr attraktiv. Meistens sahen wir uns zweimal in der Woche, sonntags sind wir aus der Stadt hinausgefahren, manchmal für mehrere Tage. Die Beziehungen zwischen Fredy und den Mitgliedern der Gruppe waren eine Zeitlang sehr gut. Den Jungs kam es dann so vor, als ob Fredy ihnen zu nahe käme. Die Ortsorganisation wurde damals von Gochs, Heinz Gochsheimer, geleitet. Er wohnte zusammen mit Fredy und Ernst Strauss. Alle älteren Mitglieder der Gruppe hatten Mädchen, nur Fredy nicht. Fredys Verhalten den Jungs gegenüber wurde immer auffälliger. Zuerst haben wir nur unter uns darüber gesprochen, und nach einigen Monaten beschlossen wir, Gochs und Ernst davon zu berichten. Die Diskussionen darüber dauerten einige Zeit, und soweit ich mich recht erinnere, übernahm Ernst Strauss 1935 die Leitung unserer Gruppe.“ 07 OT Kämper Er wohnt mit älteren Betreuern zusammen und Funktionären, und man ist so eine Art Community, die sich sozusagen durchschlägt gegen die schon immer deutlich und härter werdenden Anfeindungen innerhalb der Gesellschaft. Und immer wieder, wo er auftauchte, passiert dasselbe, sofort wird er in verantwortungsvolle Positionen gehoben, und die er offensichtlich auch erfüllt, also da gibt’s kein Zweifel. Es ist schlichtweg einfach so, dass die anderen bemerken, man lebt in dieser engen Gruppe, Community, zusammen, dass er sich nie mit Mädels verabredet, sondern sich grade in diesem Punkt sehr zurückhält, und auf der anderen Seite ja natürlich doch offensichtlich dem gleichen Geschlecht zugezogen, wobei das nie in irgendwelchen Taten sich äußert, aber so was spürt man natürlich. Es ist also nichts passiert und die Akzeptanz, manchmal ist sie bei seinen Kollegen und Funktionären vorhanden und mit Sicherheit stärker ausgeprägt als bei den Gleichaltrigen, die 16, 17, 18 Jährigen, die Jugendlichen haben dann offensichtlich mit diesem Anderssein größere Probleme. Es schwingt immer mit diese, ja, eigentlich völlig absurde Koinzidenz oder Verbindung von Homosexualität und pädophil sein, also dass man ihm das immer sozusagen schon mal per se unterstellt hat, dass er da eine Gefahr darstellt. Sprecher Möglicherweise ist die wachsende Skepsis gegenüber Fredy Hirschs homosexuellen Neigungen ein Grund dafür, dass er 1934 Frankfurt verlässt und nach Dresden geht, wo er als Sportlehrer für den jüdischen Sportverband Makkabi arbeitet. Zeitzeugen behaupten immer wieder, er habe in dieser Zeit an der Deutschen Hochschule für Leibesübungen in Berlin studiert. Biograf Dirk Kämper schließt das aus, ist sich aber sicher, dass es Beziehungen zur Berliner Hochschule gegeben haben muss. 08 OT Kämper Als er später in Prag und in der der Tschechoslowakei für den Makkabi tätig ist und auch durchs Land reist, um Makkabi Organisationen sozusagen ein neues Sportprogramm zu vermitteln, enthält dieses Programm Elemente die eigentlich damals nur an dieser Sporthochschule in Berlin, weil nämlich die modernste und progressivste überhaupt, gelehrt wurden. Also ich glaube, dass er Kontakt zu dieser Hochschule hatte, dass er vielleicht als Gasthörer, dass er da Seminare und Kurse besucht hat, also nicht als ordentlich eingeschriebener Student dort war, aber dass es Kontakte zu dem, was dort gelehrt wurde, definitiv gegeben hat. Sprecher Dirk Kämper vermutet, dass Fredy Hirschs nur kurzer Aufenthalt in Dresden mit der verschärften Verfolgung von Homosexuellen durch die Nazis zu tun hat. Ab 1934 legt die Gestapo Listen von homosexuellen Einzelpersonen an, und es sickert durch, dass Reichsführer SS Heinrich Himmler eine Zentrale zur Bekämpfung von Homosexualität und Abtreibung plant, die dann wenig später auch tatsächlich eingerichtet wird. 09 OT Kämper Ein falscher Blick zwischen zwei Männern konnte dafür sorgen, dass man bei der Gestapo gelandet ist, und die Gestapo ging mit solchen Leuten, mit Homosexuellen, alles andere als vorsichtig um. Es war also wirklich faktisch eine durchaus lebensbedrohliche Situation, die sich immer weiter zuspitzte natürlich. Es war vielleicht viel weniger eine Überlegung: so jetzt ist es genug, es ist nicht mehr aushaltbar hier, sondern es kann auch wirklich eine konkrete Bedrohung gegeben haben, wo er gesagt hat, ich muss hier weg sonst passiert mir jetzt wirklich irgendwas. 1935/36 war die Situation wirklich lebensgefährlich. Sprecher Fredy Hirsch emigriert in die Tschechoslowakei. Hier herrscht noch eine freiheitliche Demokratie, ist das gesellschaftliche Klima noch von Toleranz und Freizügigkeit geprägt. Am 1. September 1935 kommt er in Prag an und gibt sich bei der Meldebehörde als politischer Flüchtling aus. Nahtlos knüpft der engagierte Zionist an seine Arbeit in Dresdener an. Der 19Jährige findet sofort eine Anstellung als Sportlehrer beim Turn- und Sportverband Makkabi, und arbeitet gleichzeitig für den zionistischen Jugendbund Makkabi Hatzair. Fredy Hirsch leitet verschiedene Jugendlager und schreibt für das offizielle Nachrichtenblatt des tschechischen Makkabi Hamakabi. Darin betont er insbesondere die Bedeutung der sportlichen Ausbildung, die im Dienst des Makkabi-Gedankens zu stehen habe: Die körperliche Stärkung jedes Kindes für die Auswanderung nach Palästina und den Aufbau eines jüdischen Staates Eretz Israel. Die große Kompetenz des begabten Organisators, Sporterziehers und Jugendleiters ist sehr gefragt. Dennoch stellen die Prager Makkabi-Verantwortlichen den jungen Mann wegen seiner Homosexualität zur Rede. Sie sind aus Deutschland gewarnt worden. Der Vorsitzende der jüdischen Turnvereinigung Arthur Herzog spricht offen mit Fredy Hirsch. Der verspricht ihm in die Hand, dass seine Homosexualität im Umgang mit den ihm anvertrauten Kindern keinerlei Auswirkungen habe. Das reicht dem tschechischen Sportfunktionär. Der talentierte Jugendleiter aus Deutschland darf weiter für Makkabi und Makkabi Hatzair arbeiten. 10 OT Kämper Das ist, glaub ich, ein ganz wichtiger Moment für Fredy Hirsch. Das war sozusagen die erste dokumentierte Reaktion, die ihm zeigte, okay, es geht auch anders es gibt auch in unserer Kultur, offensichtlich die Möglichkeit, eine liberalere Einstellung dazu, mich zu mindestens in diesem Bewusstsein leben und arbeiten und existieren zu lassen. Das war schon mal ein ganz großer Schritt für ihn. Sprecher Schon bald wird Fredy Hirsch nach Mähren und in die Slowakei geschickt, wo er die Sportlehrerausbildung modernisiert, Sportkurse für Kinder und Jugendliche einrichtet und regionale Makkabiaden, große, an der olympischen Idee orientierte, jüdische Sportfeste organisiert. 1937 leitet er die Makkabi-Spiele im slowakischen Zilina, einer Art Meisterschaften des jüdischen Sports in der Tschechoslowakei. Das Stadion ist voll und Fredy Hirsch turnt gemeinsam mit 1.600 Kindern. Viele von seinen Programmen und Aktionen sind nur durch finanzielle Unterstützung des zionistischen Weltverbandes möglich. 11 OT Kämper Es deutet darauf hin, dass seine Verbindungen weit über Prag schon zu diesem Zeitpunkt hinausgehen. Also, er kennt Leute auch schon im Ausland über diesen Verbund Makkabi, Makkabi Hatzair und wird dort offensichtlich auch als eben sehr wichtig angesehen. Er verbindet den Sport mit dieser Vorbereitung nicht nur der Ausreise nach Palästina im zionistischen Sinne, sondern auch mit dem bis dahin nötigen Überlebenskampf, das Bestehen können gegenüber den Gefahren und Bedrohungen und Anfeindungen, die in dieser Zeit bestehen. Also das gehört beides zusammen und das scheint als Idee offensichtlich so durchschlagend gewesen zu sein, dass man ihn eben auch damit beauftragte, sozusagen diese Mission im Land, also in der Tschechoslowakei, damals zu erfüllen. Sprecher Im Jüdischen Nachrichtenblatt Prag formuliert Fredy Hirsch im Januar 1940 seine Vorstellungen jüdischer Jugenderziehung. Vorbei seien die Zeiten des braven Kindes, „das höflich und folgsam nur das tat, was die Erwachsenen oder die Vorgesetzten ihm sagten“. Fredy Hirsch postuliert anstelle solcher „Einengung“ eine altersgemäße, für Geist und vor allem auch für den Körper befreiende Erziehung, die in der zionistischen Jugendbewegung zu finden sei. Zitat Der Körper verlangt nach den kosmischen Kräften. Ein von der Sonne und von der Witterung abgehärteter Körper ist das Schönheitsideal einer gesunden Generation, Abhärtung ist wieder etwas, gegen das wir uns so lange versündigt haben. Beim Schlafen in überheizten Räumen fängt es an. Seine Fortsetzung findet es in kalter Jahreszeit, wo überflüssige Kleidungsstücke zum Schutze des Körpers angezogen werden. Das Ergebnis ist Erkältung, Infektion, Krankheit. Ein Körper, der sich von früh an in der Natur abgehärtet, der einmal bis an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit beim Sport und Spiel geführt wird, der den sogenannten toten Punkt, d. h. jene Empfindung, die besagt, ich kann nicht mehr, durch das „Ich will“ überwunden hat, wird auch der Krankheit und vor allen Dinge den Härten des Lebens widerstehen. ... Kraft, Mut, Geschicklichkeit, Ausdauer, das sind die Ziele der Körpererziehung. Mit allen Mitteln muß jeder Mensch sich selbst zur Höchsterfüllung dieser Aufgaben erziehen. Es ist in der Jugenderziehung bis zum heutigen Tage viel mehr Schaden dadurch angerichtet worden, daß man gesagt hat, das ist zu schwer, das ist zu viel, als durch das Gegenteil. In Erez Israel erleben wir es immer wieder, daß Ansprüche an den Menschen gestellt werden, die uns viel zu hoch vorkommen. Schwerste körperliche Arbeit, oft 10-12 Stunden am Tage, und in der Nacht Wachsamkeit und Verantwortung für die Sicherheit aller. Diese aufopferungsbereiten Menschen müssen uns in unserer Jugenderziehung Vorbilder sein. Jeder Jugendliche soll sich einer harten und ausdauernden Schule der Körpererziehung unterwerfen. Er soll Gehorsam und Disziplin lernen und wenn sie ihm in richtiger Form beigebracht werden, so wird er sie gerne hinnehmen, so wird er ein anderes Bild des jungen Juden schaffen, als jenes der Kaffeehäuser und Stätten, die dieser gesunden Jugend unwürdig sind.“ Musik Sprecher Während seiner Zeit in Mähren fühlt sich Fredy Hirsch sichtlich wohl. Hier kann er sich meist problemlos auf Deutsch verständigen, denn Tschechisch hat der deutsche Emigrant nie gelernt. In Brünn lernt er unter anderem auch Peter Erben kennen, der Mitglied in einer Makkabi-Gruppe ist, die der engagierte Jugendbetreuer und Sportlehrer leitet. Der fünf Jahre jüngere Peter Erben hat den Holocaust überlebt und wohnt heute in Israel. 12 OT Erben Im Sport waren wir Freunde, und er hat mich zum Beispiel dirigiert, ich war guter Fußballspieler, ich hab gut Tennis gespielt Hockey, Eis, was ihr wollt, aber ich hab‘ nie dran nachgedacht, Athletik zu machen. Und er hat immer gesagt, ja, du bist ein ausgesprochen guter Typ für Athletik und mach Athletik, und dann hab‘ ich Athletik gemacht und war sehr gut in Laufen und in Springen und ich war sogar in Stabhoch einer der Besten in Tschechoslowakei damals, das war dank von Fredy, er hat das herausgefunden und er hat mich so dirigiert, so lang ich noch Sport machen konnte, war ich ihm dankbar. Sprecher Erben ist bei vielen Ausflügen mit Fredy Hirsch dabei, wo viel gelacht, getanzt und am Lagerfeuer erzählt wird. Mehr durch Zufall erfährt er von der Homosexualität seines Sportlehrers. 13 OT Erben Und eines Tages kommt eine Freundin zu mir und sagt, Peter tanz‘ nicht mit Fredy, sag ich warum? Sagt sie, ich weiß nicht wie ich dir das sagen soll. Ich weiß nicht, hat sich geschämt, damals für ein Mädchen das zu sagen, das war nicht normal, und dann sagt sie: Fredy ist homosexuell. Sag ich: na und, was stört dich das? Sagt sie: er gefällt mir und will ich ändern und du störst mich. Wenn er mit dir tanzt, hab ich schon schlechte Gedanken. Und deshalb bitt‘ ich dich, dass du damit aufhörst. Also ich hab nicht damit aufgehört, wir sind immer Freunde geblieben, er hat sich niemals mir vis á vis schlecht benommen, und so ist unsere Freundschaft dann gewachsen, wobei ich einer der wenigen gewesen bin, die gewusst haben, dass er homosexuell ist, und das war dank der Freundin, die dann später nach Israel gekommen ist, und sie hat ihn nicht geändert, aber er hat sich immer anständig benommen. Also Fredy war ein ausgesprochen angenehmer Freund. Sprecher Bis 1940 organisiert Fredy Hirsch jeden Sommer ein Jugendlager in dem ostböhmischen Dorf Bezprávi. Hier hat der Makkabi Hatzair seinen ständigen Stützpunkt, mit zwei großen Hütten für jeweils 30 Personen. In der einen sind die Mädchen untergebracht, in der andere die Jungen. Awi Langers Erinnerungen an eines der Lager sind bei Lucie Ondrichová nachzulesen. Sie hat im Jahr 2000 im Konstanzer Hartung-Gorre Verlag die erste kurze Biografie Fredy Hirschs publiziert. Zitat „Jeden Morgen sind wir um 6 aufgestanden und mußten sofort unter Fredys Aufsicht in die Orlice springen. Die Mädchen auf der einen und die Jungen auf der anderen Seite. Es war schrecklich kalt. Danach war eine halbe Stunde Turnen. Für uns war es schrecklich. Erst danach gingen wir zum Essen. Wir bekamen jeden Tag Kakao. Eine Frau kochte ihn für uns, die immer nur wegen dieses Lagers aus Israel kam. Dann gab es den ganzen Tag Spiele. Man hat uns keine Ruhe gelassen. Freizeit hatten wir fast überhaupt nicht. Das gab es nicht, daß wir mitten am Tag schliefen. Aber es war alles sehr, sehr schön. Und am Abend war es am schönsten. Wir machten Lagerfeuer und lernten alle möglichen hebräischen Lieder.“ Sprecher Wie intensiv Kinder und Jugendliche im Ferienlager mit den zionistischen Idealen vertraut gemacht wurden, zeigen die Zeilen von Tomás Mantl, der im Sommer 1940 als Kind in Bezprávi war. Zitat „Dort lernte ich etwas kennen, was man als ‚zionistische Demokratie‘ bezeichnen könnte. Im Gegensatz zu anderen militärischen oder halbmilitärischen Organisationen herrschte hier wirkliche, reine Demokratie. Hier herrschte freie Meinungsäußerung, und man konnte jeden, einschließlich der Führer, problemlos kritisieren. Das bedeutete unter anderem auch, daß uns die Führer immer ein Stück voraus sein mußten, immer mußten sie mehr bringen als wir. … Bezprávi war auch meine erste Erfahrung damit, was kollektives Eigentum bedeutet. Lebensmittelpakete, die wir von zu Hause erhielten, wurden in einer gemeinsamen Kiste gesammelt, und jeder erhielt von allem etwas. Anfangs war es nicht leicht für mich, damit fertig zu werden, aber dann stellte ich fest, daß auch das ganz spannend sein konnte.“ Sprecher Zwischen Oktober 1936 und April 1939 wohnt Fredy Hirsch in Brünn. Als er aus Prag dort ankommt, notiert die Polizeidirektion: Zitat „Selbiger kam ohne Dokumente nach Brünn und gab an, er sei ein politischer Emigrant. Antrag auf Aufenthaltsgenehmigung hat er angeblich bei der dortigen Behörde gestellt, konnte dies aber ebenfalls nicht mit einer Bestätigung nachweisen. Hirsch ist hier als Trainer bei dem Sportverein Makkabi in Prag 1, Dlouhá-Straße Nr. 41 beschäftigt, ob oben genannter Verein jedoch Erlaubnis hat, ihn zu beschäftigen, konnte er ebenfalls nicht nachweisen.“ Sprecher: Der Eintrag zeigt, wie unsicher Fredy Hirschs Aufenthalt in der Tschechoslowakei ist. Als ihm schließlich die Provinzverwaltung in Brünn die Aufenthaltsgenehmigung verweigert und mit der Ausweisung droht, kehrt er nach Prag zurück. Doch mit dem Einmarsch der Wehrmacht am 15. März 1939 muss er auch dort mit dem Schlimmsten rechnen. Musik Sprecher Zielstrebig hatte das Hitler-Regime nach der Annexion Österreichs im März 1938 auch die Einverleibung der Tschechoslowakei ins Deutsche Reich vorangetrieben. Seit ihrer Staatsgründung 1918 leben dort an der Grenze zum Deutschen Reich etwa drei Millionen Sudetendeutsche. Deren Benachteiligung nutzen die Nationalsozialisten geschickt aus, um die Minderheitenkonflikte in der Tschechoslowakei weiter zu schüren und die Abtretung des Sudetengebietes ans Deutsche Reich zu fordern. Am 29. September 1938 vereinbaren die Premierminister von Großbritannien und Frankreich, Neville Chamberlain und Edouard Daladier, mit Hitler und dem von den Briten als Vermittler angerufenen italienischen Diktator Benito Mussolini im Münchener Abkommen die Abtretung des Sudetengebietes an das Deutsche Reich. Weder die Tschechoslowakei noch deren Bündnispartner Sowjetunion waren zu den Verhandlungen nach München eingeladen worden. Großbritannien und Frankreich, die sich im Kriegsfalle gegenseitige Unterstützung zugesichert hatten, wollen so einen drohenden Krieg verhindern und erklären anschließend, den Bestand des tschechoslowakischen Reststaats zu sichern. Die Hitlerdeutschen aber wollen die ganze Tschechoslowakei. Zitat „Unter Ausnutzung von Interessensgegensätzen zwischen Tschechen und Slowaken und durch Drohungen erreichte Hitler, dass der slowakische Landtag am 14. März 1939 die staatliche Selbstständigkeit der Slowakei erklärte.“ Sprecher Schreibt Claudia Prinz vom Deutschen Historischen Museum in Berlin. Bereits einen Tag später besetzt die Wehrmacht die „Rest-Tschechei“ und am 16. März 1939 verkündet Adolf Hitler auf dem Hradschin, der Prager Burg, die Errichtung des "Reichsprotektorats Böhmen und Mähren" als Bestandteil des "Großdeutschen Reichs". Frankreich und England schauen zu und halten still. Zu groß ist die Angst vor einem Krieg in Europa. Für die tschechischen Juden bedeutet der Einmarsch von Hitlers Wehrmacht eine Katastrophe. Viele der von Fredy Hirsch betreuten Kinder leben in einem sehr liberalen Elternhaus und wissen gar nicht, dass sie Juden sind. So die heute weltberühmte Cembalistin Zuzana Ruzicková, die den Einmarsch der Wehrmacht als Zwölfjährige im westböhmischen Pilsen erlebt und Dita Kraus, die 1929 in Prag geboren wurde und seit 1949 in Israel lebt. Sie ist zehn Jahre alt, als die Hitlerdeutschen in Prag einmarschieren. 14 OT Dita Kraus Ich hatte das Wort Jude überhaupt nicht gekannt. So assimiliert waren wir. Und dann hat man mir erst erklärt, es gibt Juden und Christen. Sind wir Juden? Ja wir sind Juden und die Deutschen hassen die Juden und da gibt es Nürnberger Gesetzte und dann erklärte mir, was die Gesetze für die Juden alles bedeuten, und ich fühlte, dass es für uns schlimm ist. Ich war ja erst zehn Jahre alt. 15 OT Ruzicková Wir gingen in der Religion eine Stunde auseinander, Katholiken, Protestanten, Juden. Dann kamen wir wieder zusammen und eigentlich habe ich gar nicht gemerkt, dass ich etwas anders bin als die anderen. Mein Vater war gar nicht religiös, meine Mutter so mittelmäßig und ich ging zur Synagoge, aber genauso ging ich in die anderen Kirchen. Wie dann Hitler gekommen ist, dann hat sich das natürlich geteilt. Dann sind natürlich einige von meinen Freunden mir ausgewichen, weil sie keine Unannehmlichkeiten wollten. Und auf der anderen Seite waren Leute sehr opferbereit, zum Beispiel meine Klavierlehrerin hat mir illegal Stunden gegeben. Auch Oktavaner aus dem lokalen Gymnasium sind gekommen und haben uns Stunden gegeben, illegal natürlich und haben uns verschiedene Vorträge gemacht. 16 OT Dita Kraus Ich kann mich genau erinnern an den Tag, als die deutschen Armeen nach Prag einmarschierten, an dem Tag gab es keine Schule und die Tram fuhr nicht, wir blieben zu Hause. Und mein Vater lief rasch zu Fuß zu einem Reisebüro, wo er hoffte, dass er vielleicht noch Karten oder auf irgend eine Weise dass wir noch irgendwie flüchten können. Aber das Büro war geschlossen an dem Tag überhaupt, und mein Vater kam zurück sehr bestürzt. Ich sah meine Eltern sehr bestürzt und ich verstand, dass etwas schlimmes passiert ist, die Armee selbst habe ich nicht gesehen, wir wohnten in einer abgelegenen Gasse, aber kurz danach wurden wir schon persönlich berührt durch die neue Situation, denn es kamen zwei uniformierte Männer und läuteten an der der Tür und gingen herein ohne Einladung, gingen durch die beiden Zimmer, die wir dort hatten, und erklärten, dass wir die Wohnung räumen müssten, denn sie wollen die haben. Und dann mussten wir gleich ausziehen binnen kurzer Zeit. Die Einschränkungen kamen stufenweise, jedes Mal etwas anderes, mein Vater wurde von seiner Arbeit entlassen, er war zwar Jurist, aber Staatsbeamter. Und alle jüdischen Staatsbeamten wurden entlassen. Das war kurz nach dem Einmarsch. Dann wurden unsere Kontos gesperrt, also Vater verdiente nichts und wir konnten nur eine kleine Summe von unseren Ersparnissen jeden Monat abholen. Dann also, die Wohnung mussten wir räumen, umsiedeln. Dann kamen weitere und weitere Einschränkungen, wir durften nicht mehr frei reisen, aus der Stadt im gewissen Umfang, wir durften nicht mehr in Cafés, auf keinen Spielplatz, in kein Schwimmbad, in kein Theater, Kino, Sportplatz, nichts mehr, immer mehr und mehr Einschränkungen. Bis wir dann den Judenstern mussten tragen, und dann begannen auch die Transporte. 17 OT Evelina Merova Die Juden durften nicht in alle Läden. Nicht früher als um 15 Uhr. Da waren die Läden leer. Es war doch Krieg. Die Juden bekamen eine Lebensmittelkarte mit dem Buchstaben J – Jude. Da hatten sie weniger Essen bekommen als andere. Manche Artikel fehlten, wie Obst, Gemüse, Zigaretten, ich weiß nicht, was noch. Sprecher Evelina Merova ist acht Jahre alt, als die Nationalsozialisten Prag besetzen. 18 OT Merova weiter Für mich hatte eine Rolle gespielt, dass die jüdischen Kinder aus der Schule ausgeschlossen wurden. Also ich durfte nicht mehr in meine Schule gehen. Wir mussten auch von unserer schönen Wohnung weg. Jede jüdische Familie durfte nur einen Raum bewohnen. Also drei meiner Schwestern waren damals schon verheiratet und wir wohnten in einem Zimmer einer Vier-Zimmer-Wohnung meines Vaters, und dort wohnten vier ganz fremde Familien. Und das war überall so. Man musste auch alles abgeben. Teppiche, Silber, Gold, Schmuck und die Haustiere. Und da erinnere ich mich ganz gut. Ich hatte einen Kanarienvogel und den musste ich auch abgeben, obwohl er nicht registriert war. Also das war für mich damals eigentlich unverständlich, was für eine Gefahr mein Kanarienvogel für das mächtige große Deutsche Reich hat. Und dann musste man ab Herbst 41 den Stern an der linken Seite der Brust tragen, und das war für alle ab sechs Jahren. Also es war strafbar, ohne Stern auf die Straße zu gehen. Nach der Schule durften wir eigentlich nirgendswo hingehen. Sprecher Überall schränken die nationalsozialistischen Besatzer die geistigen und körperlichen Entfaltungsmöglichkeiten insbesondere der jüdischen Kinder rigoros ein. Die einzig noch verbliebene Möglichkeit, sich zu Sport und Spiel zu treffen, ist das riesige Gelände des Hagibor. Das große Areal mit Sportplatz und Aschenbahn gehört eigentlich dem gleichnamigen jüdischen Sportverein. Doch die Hitlerjugend vertreibt die Juden und nutzt den Hagibor für ihre Zwecke. Fredy Hirsch gelingt es aber, das Gelände für die jüdischen Kinder und Jugendlichen wieder zugänglich zu machen und wirkt dort als Sportlehrer und Betreuer. Einige der tschechischen Kinder, die damals in Prag zu Fredys Turn- und Spielstunden kommen, haben später mit großem Glück den Holocaust überlebt. Sie erinnern sich sehr gerne an den schönen, eleganten und stets gut gelaunten Sportlehrer. 19 OT Dita Kraus Als wir übersiedelten, kam ich in Kontakt mit anderen Kindern von derselben Gegend, und die führten mich mit zum Hagibor Spielplatz, das war der einzige Ort in Prag, wo wir – eigentlich nicht ganz der einzige – es gab noch einen Ort, an dem wir Kinder zusammen kamen und zusammen spielten, und das war der jüdische Friedhof. Aber dort war kein Programm, oder da war kein Erwachsener, der das dirigierte, aber die Kinder nahmen mich mit auf den Spielplatz, das war ein Sportplatz, ein riesen Sportplatz im Hagibor. Hagibor heißt auf Hebräisch der Held, und dort gab’s ein großes Fußballfeld und eine Laufbahn rundherum und zwei Tennisplätze und ein Volleyball-Platz. Dort traf ich Fredy Hirsch. Die Kinder, die mich dorthin führten, kannten ihn schon und sagten, das ist Fredy Hirsch, und er hat vorgeturnt und er war ein schöner Mann und er hat mich sehr beeindruckt, mit seiner Person, seine ganze Erscheinung war sehr impressiv, alle haben ihn geliebt und alle wollten so werden wie er. 20 OT Kämper Da wird Sport getrieben nicht nur das, da gibt es was zu essen, da wurde Theaterstücke geprobt und inszeniert, also in Grunde genommen so ein ganzes kulturelles Ersatzleben, was man ihnen komplett weg genommen hat, ist plötzlich wieder da, und der, der es gemacht hat, der, der es dann auch organisiert, der immer vorne steht, der immer ansprechbar ist, der Tag und Nacht mehr oder weniger auf diesen Platz gestanden hat, das war Fredy Hirsch, und das hat kein Kind jemals wieder vergessen. Auch da ist es so, natürlich, das hat er nicht alleine geschafft, da waren viele andere Betreuer mit dabei aber wenn man dann nach Namen fragt, kommt fast nie eine Antwort, ja es gab den und den, aber es war eigentlich Fredy Hirsch. Was da so konkret wird, ist: diesen völlig verstörten und nicht mehr eigentlich in der Lage, sich ihre Notlage selbst erklären zu können, Kindern, die das nicht mehr schaffen, hat er erstmal genau in diesem Moment wieder ein Selbstbewusstsein zurück gegeben, ihr seid stark, ihr seid gut, ihr könnt was, ihr zeigt das hier, wir üben, wir machen Sport, wir spielen Fußball, ihr schießt Tore, ihr schafft die Übungen, also genau das auch in der Psychologie der Kinder zu generieren, wiederzuholen, was eben grade zu verschwinden drohte, und von dem er, glaube ich, auch wusste und ahnte, dass das vor allem für die Zukunft sehr wichtig würde für diese Kinder um zu bestehen. 21 OT Kraus Er hatte irgendetwas, was uns anzog, er war ein absolut charismatischer Mann, der einen großen Einfluss auf uns hatte, einen sehr positiven Einfluss, denn er war sehr gerecht. Er war ein talentierter Erzieher, und selbst ein Vorbild für uns. 22 OT Merova Er sprach sehr schlecht Tschechisch. Er war doch aus Aachen. Eigentlich ein Emigrant. Aber man konnte sich schon verstehen. Wir konnten noch kein gut Deutsch und er konnte wenig Tschechisch. Und er hat mit uns sehr viel geturnt. Dort am Sportplatz Hagibor. Und alle Befehle hat er Hebräisch gegeben. Und wir haben es nicht verstanden. Aber dann wussten wir schon was das heißt und was er damit meinte. Dort waren auch sehr viele intellektuelle Spiele. Solche Quiz oder sowas und Fredy hat dort alles eigentlich geleitet. Und wenn man etwas brauchte oder so, hat man sich immer an ihn gewendet. Ich weiß, dass sogar manche tschechische Lieder mit neuen Wörtern waren über Fredy. Dass die Welt sehr grau werden wird, wenn Fredy nicht mit der Pfeife hat gepfiffen, dann werden alle blass. Dass er ein Zionist war, und dass er wollte die Jugend so erziehen, dass sie für das künftige Leben in Eretz Israel abgehärtet und gesund sind, das habe ich schon gewusst. Ich wusste, dass die Zionisten nach Palästina wollen. Sprecher Die anfangs sehr uneinheitliche Haltung der Hitlerdeutschen zur Judenfrage, auch in den besetzten Gebieten, ermöglicht Juden noch längere Zeit die Ausreise. Gerade die zionistischen Auswanderungsbestrebungen kommen den deutschen Besatzern gelegen und werden mitunter sogar unterstützt. Noch bis zum Herbst 1940 machen sich tschechische Juden auf den Weg nach Palästina. Eine solche Ausreise, vor allem für Kinder, bedarf einer umfangreichen und sorgfältigen Vorbereitung. Um die Überwindung der bürokratischen Hürden kümmert sich der Hechaluz, hebräisch für Pionier, die weltweite zionistische Dachorganisation für alle Palästina-Auswanderer. Große Schwierigkeiten bereitet insbesondere die Beschaffung von Einreisezertifikaten, da die ausstellende britische Mandatsmacht in Palästina diese Papiere stark begrenzt. Die Organisation der eigentlichen Reise übernimmt die Jewish Agency in Genf. Sie kauft die Tickets und beschafft auch weitere finanzielle Mittel. Die Kinder selbst müssen nicht zuletzt modernes Hebräisch, also Iwrit, lernen und körperlich trainiert werden, um den Herausforderungen in Palästina gewachsen zu sein. Zum einen wartet harte landwirtschaftliche Arbeit auf die Auswanderer, zum anderen aber sind auch gewalttätige Auseinandersetzungen mit den Arabern zu befürchten. Um die Kinder entsprechend vorzubereiten, richtet die Jüdische Gemeinde Prag das sogenannte Palästinaamt ein, dem Jakob Edelstein vorsteht. Die eigens gegründete Alija-Schule wird von Egon Redlich geleitet. Der hebräische Begriff Alija bedeutet wörtlich Aufstieg. Er bezeichnet im Judentum die Rückkehr von Juden ins Gelobte Land. Fredy Hirsch ist nahezu überall aktiv, sogar als Zeichenlehrer in der Alija-Schule. Seine Hauptaufgabe aber besteht im körperlichen Training der für die Ausreise ausgewählten Kinder und Jugendlichen. 23 OT Kämper Es musste Gartenbau, Landwirtschaft, alles Mögliche musste man auch beherrschen bis hin zu, was auch eines seiner Spezialgebiete gewesen ist, militärische Grundausbildung. Also darum kümmerte sich Fredy Hirsch, aber auch da war es eben wieder so, es gab viele andere Ausbilder, aber in Erinnerung geblieben ist, wenn man die Zeitzeugen heute fragt, eigentlich immer Fredy Hirsch, das ist der Motivator das ist der, der die richtige Sprache spricht, den Kindern das zu vermitteln, was er vermitteln will, was sie brauchen, wie sie sich verhalten sollen, ihnen das Selbstbewusstsein zu vermitteln, es waren ja auch teilweise Kinder dabei, die ihre Eltern verlassen haben, wo die Eltern sozusagen, sagen okay, wir schicken unser Kind, das ist die beste Möglichkeit, wir schaffen das hier nicht, aber wenigstens unser Kind. Also all diese Probleme hat Fredy Hirsch offensichtlich immer am besten oder hervorragend zumindest im Griff gehabt. Was er immer schaffte offensichtlich, war, Kinder egal in welcher Situation, egal in welcher Notlage, einfach zu motivieren und ihnen Mut und Perspektive für die Zukunft zu geben. Ich glaube da in dieser Beziehung war er einzigartig. Sprecher Im Herbst 1939 gelingt es Fredy Hirsch und seinen Kollegen, eine Gruppe von achtzehn Jungen zwischen zwölf und vierzehn Jahren von Prag über Dänemark nach Palästina zu schicken. Peter Erben kennt die Hintergründe. 24 OT Erben Er hat herausgefunden, dass man nach Dänemark noch fahren kann, Dänemark war damals noch nicht okkupiert, oder war in einer guten Beziehung zu Deutschland, hat man es erlaubt. Und die Dänen haben behauptet, sie brauchen landwirtschaftliche Arbeiter, also hat man sie zur Arbeit an die Landwirtschaft nach Dänemark gebracht. Und das hat er dann erledigt und hat die Jugendliche herausgeschleppt nach Dänemark, die waren bei verschiedenen Bauern verteilt und sind dann sukzessive, immer ein paar nach Israel gekommen, solang es noch ging. Diese Kinder, die hat er gerettet. Ja, das war eine ganz außergewöhnliche Aktion, die er geleitet hat, wo er die Kinder von den Nazilagern und so weiter gerettet hat, und die sind teilweise noch lebendig in Israel, ich bin mit ihnen in Verbindung. Awi Langer schreibt später in seinen Erinnerungen: Zitat „Wir hielten alle sehr zusammen. … Wir waren von Fredy und den anderen gut vorbereitet worden. Es schien, daß wir geeignet waren für Palästina. Es war Fredys Verdienst, daß wir alle rechtzeitig abfuhren. Er hatte eine große Fähigkeit, ein Kollektiv zusammenzuschmieden, das kann nicht jeder. … In Dänemark waren wir von Oktober 1939 bis Dezember 1940, also länger als ein Jahr. Wir waren auf verschiedenen Gütern verstreut, von einem Kind zum anderen waren es mehrere Kilometer. Wir haben uns nur ab und zu getroffen. Aber es war schön dort. Dann sind wir nach Schweden und über Finnland durch Rußland nach Odessa gekommen. Von Odessa sind wir mit dem Schiff nach Istanbul und von Istanbul mit dem Zug nach Haifa gefahren. Da wir bereits in Prag Iwrit gelernt haben, konnten wir uns bald verständigen.“ Sprecher: Fredy Hirsch hätte die Chance gehabt, mit dieser Gruppe auszureisen und dem Holocaust zu entgehen. Doch es gibt zwei Leiter, und nur einer darf die Jugendlichen begleiten. 25 OT Kämper Als der Moment dann endlich da war, man kann ausreisen mit dieser Gruppe, war die Frage, wer geht mit, man konnte diese Kinder und Jugendlichen natürlich nicht alleine ziehen lassen, da musste jemand da sein als Ansprechpartner und Betreuer und einer muss hier bleiben, und da kommt es zu dieser Szene, die überliefert ist, das eben letztendlich nur ein Streichholz entscheidet darüber, wer bleibt und wer geht, und Fredy Hirsch zieht das kürzere und bleibt in Prag. Musik 2. Stunde Musik Sprecher Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges durch Hitlers Überfall auf Polen am 1. September 1939 schwindet die Hoffnung, ins Gelobte Land ausreisen zu können. Die Lage der Juden verschärft sich, sowohl im Deutschen Reich als auch in den besetzten Gebieten. Der Prager Historiker und Holocaustüberlebende Toman Brod hat seine Erlebnisse in dem Buch „gut, dass man nicht weiß was kommt“, das im Herget Verlag erschienen ist, beschrieben. Er spricht vom Beginn der zweiten Phase der Judenvernichtung in Tschechien. 26 OT Brod Und das war nicht nur politische, ökonomische und psychologische Erniedrigung und Vernichtung, sondern eine lebensgefährliche Angelegenheit. Man hat also die Deportationen angeordnet. Und zum erst sind die, wenigstens von Prag, sind die Juden nach Litzmannstadt, nach Lodz deportiert, nach Polen. Aber dann war das Ghetto überfüllt, und da haben sich entschieden für Theresienstadt. Sprecher Als im Oktober 1941 bekannt wird, dass die ersten Juden aus Prag nach Lodz deportiert werden, organisiert Fredy Hirsch mit der zionistischen Jugendbewegung eine Transporthilfe. Jugendliche zwischen 14 und 25 Jahren erhalten in der Zentrale die Adressen der Hilfsbedürftigen und helfen ihnen bei den nötigsten Besorgungen, beim Packen oder beim Tragen des 50 Kilo schweren Gepäcks, das jeder mitnehmen darf. Hans Gärtner, der 1938 aus Hamburg in die Tschechoslowakei emigriert, nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert wird und heute wieder in Prag lebt, erinnert sich. 27 OT Gärtner Er hat ja seiner Zeit eben diesen Jugendhilfsdienst auch von den Nazis also abgetrotzt. Wir mussten dann den Leuten, die in Transport berufen wurden, alten Leuten vor allem und so, konnten wir helfen gehen und hatten dann verschiedene Vorteile. Wir durften zum Beispiel nach acht Uhr auf der Straße sein und durften mit der Straßenbahn fahren und konnten uns auch treffen auf der jüdischen Gemeinde ja und so weiter, und er war ein sehr guter Organisator und eben seine Führernatur und als Mensch war auch würd ich sagen, ziemlich musisch und er war immer tiptop gekleidet, trug gerne kurze Hosen im Sommer, wenn es warm war, und Pomade hatte er auch immer im Haar, man sagte Pomadenjüngling, aber ich mein, das war ein wirklich, ein äußerst, eine große Persönlichkeit, würd ich sagen, war der Fredy. Sprecher Nicht für alle aus seinem engsten Umfeld ist Fredy Hirsch diese großartige Persönlichkeit. Es gibt mehrere Belege, die deutlich machen, dass etwa Egon Redlich, einer der Hauptorganisatoren im Kinder- und Jugendbereich in Prag und Leiter der Alija-Schule, keine besonders hohe Meinung von dem homosexuellen deutschen Juden hat. Die beiden leben längere Zeit in einer Prager Wohngemeinschaft zusammen. Redlich und andere Wohngemeinschaftsmitglieder äußern sich in verschiedenen Briefen zu Fredy Hirsch: Zitat „Die Menschen sind durchweg über dem Durchschnitt. Es gibt allerdings auch Ausnahmen, welche aus Fredys Umgebung stammen.“ Zitat „Fredy und ich haben uns einmal wahnsinnig gestritten. Ich hatte einen sehr schönen grauen Anzug. Und eines Tages merkte ich, daß den Anzug jemand trägt. Ich forschte nach wer, und stellte fest, daß es Fredy war. Es hat mich mächtig geärgert, dass er mir nichts gesagt hat. Er hat sehr viel Wert auf sein Äußeres gelegt. Typisch für ihn war Brillantine in den Haaren. Kein anderer benutzte Pomade, nur er, für ihn war das das Schönheitsideal. Egon Redlich hat ihn deshalb auf die Schippe genommen. ‚Fredy ist wie Apollo mit einem Moritzkopf‘. Er hat ihn überhaupt oft ausgelacht. Fredy kam ihm oberflächlich, eitel, hektisch vor. Sie waren sehr verschieden, aber jeder war auf seine Art eine hervorragende Persönlichkeit.“ Zitat „Das Misstrauen … war eigentlich nur ein Misstrauen gegen die Tiefe seiner Persönlichkeit. Jemand sagte, wie flach er war. Wo die Angst vor seiner Kunst, zu bluffen und eine Fassade zu zeigen, hinter der nichts steckt, so groß ist, dass es eine Gefahr ist, ihm einen verantwortlichen Posten zu geben. … Es gab Zeiten, wo gewisse Kreise den Verdacht hatten, dass er zu eng mit einem Deutschen in Kontakt ist. … Seine enorme Eitelkeit war so aus der Art schlagend, dass es schon zu denken gab. Der pomadierte, immer bis auf den letzten Knopf tadellos angezogene Junge war immer etwas anders in seinem Äußeren als alle anderen. Außerdem hat Fredy immer irgendwelche Beziehungen mit Leuten gehabt, die nichts mit der Bewegung zu tun hatten. Das waren immer irgendwelche Unterweltelemente. … Niemand wusste genau, wer Fredy eigentlich ist, woher er kommt, was er ist…“ Sprecher Bei allen Ressentiments, Reibereien und Streitigkeiten: Auf Fredy Hirschs unbestrittene Organisationstalente und pädagogischen Fähigkeiten im Umgang mit Kindern und Jugendlichen will man aber nicht verzichten. So gehört er im Dezember 1941 auch zum Stab des Aufbaukommandos der Jüdischen Gemeinde, das das Ghetto in Theresienstadt, heute Terezin, vorbereiten soll. Musik Sprecher Die SS hatte sich für die alte Garnisonsstadt 60 Kilometer nordwestlich von Prag als Durchgangslager vor allem für die tschechischen Juden entschieden. Am 10. Oktober 1941 waren unter Führung von Reinhard Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamtes und stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren, hohe SS-Offiziere zusammen gekommen, darunter unter anderem Adolf Eichmann, Karl Hermann Frank, Hans Günther, Horst Böhme und Wolfgang Wolfram von Wolmar. Die Herren beraten die Lösung der Judenfrage. Im Protokoll heißt es unter anderem: Zitat „… am besten wäre die Übernahme von Theresienstadt durch die Zentralstelle für jüdische Auswanderung. Nach Evakuierung aus diesem vorübergehenden Sammellager (wobei die Juden ja schon stark dezimiert wurden) in die östlichen Gebiete könnte dann das gesamte Gelände zu einer vorbildlichen deutschen Siedlung ausgebaut werden. … Der Transport ins Ghetto würde keine lange Zeit in Anspruch nehmen; jeden Tag könnten 2-3 Züge nach Theresienstadt gehen mit je 1000 Personen. Die Umsiedlung erfolgt nach Grundsätzen der Evakuierungen. Nach bewährter Methode kann der Jude bis zu 50 Kg nicht sperrendes Gepäck mitnehmen und – im Interesse der Erleichterung für uns – Lebensmittel für 14 Tage bis zu 4 Wochen. In die leeren Wohnungen wird Stroh verteilt, da durch das Aufstellen von Betten viel Platz weggenommen wird.“ 28 OT Kämper Der erste übrigens, der in der jüdischen Gemeinde näheres zu diesem Thema wusste, war letztendlich Fredy Hirsch. Fredy Hirsch hatte definitiv Beziehungen zu Deutschen, das muss nicht deutsche Besatzung zwangsweise gewesen sein, aber es gab Situationen, gerade in dieser kritischen Phase, wo die Jüdische Gemeinde sich nicht sicher war, wo geht es hin, wird es Transporte geben, werden wir irgendwo hin gebracht, war Fredy Hirsch besser informiert als jeder andere, auch Vorsitzende der damaligen Jüdischen Gemeinde und konnte wichtige Informationen immer liefern, um die jüdische Gemeinde zu informieren, um ihr die Möglichkeit zu geben sich vorzubereiten. Sprecher Um Einfluss auf die Pläne der SS zu nehmen und eigene Vorstellungen zum angeblich selbst zu verwaltenden Ghetto Theresienstadt zu erarbeiten, hatte sich in der Jüdischen Gemeinde in Prag eine sogenannte Abteilung G - für Ghetto, gebildet. Der Gemeindevorstand hofft zu diesem Zeitpunkt noch, dass eine rasche Errichtung des Ghettos Theresienstadt weitere Transporte in den Osten verhindern könne. Viele Juden glauben, sie könnten in Theresienstadt frei und selbstbestimmt das Ende des Krieges abwarten. Die Hoffnung ist schnell dahin. Als die 342 Männer des sogenannten Aufbaukommandos 1 am 24. November 1941 in Theresienstadt ankommen, müssen sie feststellen, dass die Gebäude ziemlich heruntergekommen sind, alles ist marode: Elektrik, Wasserleitungen und sanitäre Anlagen, alles defekt und untauglich. Die gesamte Infrastruktur liegt brach. Wenig später folgen mit dem Aufbaukommando 2 weitere 1000 Männer. Den qualifizierten Handwerkern und Technikern, Medizinern, Verwaltungsfachleuten und Wirtschaftsexperten bleibt jedoch gar keine Zeit, auch nur ansatzweise vernünftig zu planen und die Unterkünfte instand zu setzten. Denn schon Ende November deportieren die Hitlerdeutschen die ersten Juden nach Theresienstadt. Noch bevor der Führungsstab der jüdischen Selbstverwaltung aus Prag am 4. Dezember im Ghetto angekommen ist. Alle müssen erkennen, dass sie der SS auf den Leim gegangen sind. Das Lager Theresienstadt ist nicht der versprochene Ort, an dem die Juden unbehelligt unter sich sein können. Es ist ein Gefängnislager mit katastrophalen Wohn- und Lebensbedingungen. Auch wenn den Juden die Selbstverwaltung zugestanden wird und die SS im Lageralltag tatsächlich kaum in Erscheinung tritt, so lässt sie aber keinen Zweifel daran, wer hier letztlich die Befehle gibt und das Sagen hat. Schon kurz nach Ankunft wird etwa ein Mitglied des Stabes verhaftet und hingerichtet. Er soll Kommunist gewesen sein. Weitere solcher Schauprozesse folgen. Sprecher Die alte Festung Theresienstadt, die nach dem ersten Weltkrieg zur Garnisonsstadt wird, eignet sich perfekt für die Pläne der SS. Bereits 1940 richten die deutschen Besatzer im Brückenkopfbauwerk Kleine Festung ein Gestapo-Gefängnis ein. Ein Jahr später wird die Garnisonsstadt an der Eger zum jüdischen Ghetto umfunktioniert. Geographisch zentral und verkehrsgünstig gelegen, lässt sich das Städtchen mit den massiven Festungsmauern zudem leicht bewachen. 1941 gibt es hier 219 Häuser und 11 Kasernen, denen die Wehrmacht deutsche Namen wie Sudeten-, Hamburger- oder Magdeburger Kaserne gegeben hat. Dazu kommen Verwaltungsgebäude, Depots, kleinere Handwerksbetriebe, Geschäfte, Restaurants, eine Reithalle, eine Heeresbäckerei, eine Brauerei und eine Garnisonskirche. Die Straßen sind schachbrettmäßig angelegt, mit einem großen Paradeplatz in der Mitte. Unter der Erde verlaufen insgesamt 25 Kilometer Wehrgänge, sogenannte Kasematten. Ende 1941 ist die Hälfte der dort lebenden 7.500 Einwohner Militärbesatzung, die bald abgezogen wird. Die internierten Juden müssen sich den so schon knappen Wohnraum noch bis zum Sommer 1942 mit der restlichen Zivilbevölkerung teilen. Erst dann ist deren Umsiedlung abgeschlossen. Ende Juli 1942 kommt der Historiker Toman Brod als 13Jähriger mit der Familie nach Theresienstadt. 29 OT Brod 42 sind in Theresienstadt etwa 60.000 Juden, wurden eingeschlossen. Also können sie sich vorstellen, wie die Stadt aussah, das war überfüllt, war schmutzig, da war auch keine entsprechende Kanalisation, keine Wasserleitung. In den zerfallenen Häuser wurden die Leute vom Keller bis zum Dach hineingepresst. Sprecher Nach den Plänen der Nazis soll Theresienstadt gleich mehrere Funktionen bei der Endlösung der Judenfrage erfüllen. Es ist als Durchgangs- und Sammellager gedacht, vor allem für die Juden aus Böhmen und Mähren, um sie dann weiter in die Vernichtungslager im Osten zu deportieren. Es werden aber auch Juden aus Ungarn, der Slowakei, Österreich, Dänemark und aus den Niederlanden nach Theresienstadt geschickt. Über 88.000 Menschen sind es am Ende, die von hier aus zunächst nach Riga, später dann nach Auschwitz-Birkenau transportiert werden. Davon überleben gerademal 3100. Aus dem Besprechungsprotokoll vom 10. Oktober 1941 wird deutlich, dass aber auch schon in Theresienstadt Menschen sterben sollen. Es ist von starker Dezimierung der Juden die Rede. Tatsächlich zeigt die traurige Bilanz, dass von den mehr als 160.000 Menschen, die insgesamt nach Theresienstadt deportiert werden, 35.440 sterben, an Unterernährung und mangelnder Hygiene, an fehlender medizinischer Versorgung und unterlassener Hilfeleistung. Weiterhin nutzt die SS das Lager als „Altersghetto“ für über 65jährige deutsche Juden aus dem Reichsgebiet sowie für schwerkriegsbeschädigte und kriegsausgezeichnete Juden. In betrügerischen „Heimkaufverträgen“ sichert die Gestapo ihnen lebenslange kostenfreie Unterbringung, Verpflegung und Krankenversorgung zu. Dafür müssen die Juden einen errechneten Betrag zahlen und ihr restliches Vermögen an die Nazis abtreten. Und schließlich wird Theresienstadt zu Propagandazwecken missbraucht. Um Gerüchten und Berichten von organisierter Judenvernichtung in Konzentrationslagern entgegen zu treten, lässt die SS einen Teil des Theresienstädter Ghettos in einen scheinbar friedlichen Aufenthaltsort für Juden umgestalten, an dem sie vermeintlich frei und ungestört leben können: mit Geschäften, Cafés und einer Bank, mit einem Siechenheim, Theater, Bibliothek, Kindergarten und Schule. Im Mai 1944 schickt die SS mit drei Transporten insgesamt 7503 Juden nach Auschwitz, damit die ständige Überfüllung und die unerträgliche Enge im Lager nicht sofort sichtbar werden. Am 23. Juni 1944 erlauben die Nazis schließlich einer Delegation des Internationalen Roten Kreuzes die Besichtigung des Theresienstädter Lagers. In Begleitung hoher Prager SS-Offiziere in Zivil präsentiert die Lagerkommandantur den Rot-Kreuz Vertretern das akribisch hergerichtete „potemkinsche Dorf“. Nach einer minutiös vorbereiteten Führung und Befragung von Lagerinsassen unter SS-Aufsicht, zeigt sich die Kommission des Internationalen Roten Kreuzes, die kaum Fragen stellt, zufrieden. Die Nazis missbrauchen die aufgebaute Kulisse für die Produktion des Propagandafilms „Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet“. Vielmehr entsteht ein Dokument der bewussten Täuschung, das das Lager als scheinbares Freizeit-Idyll mit glücklichen Bewohnern zeigt. Musik Sprecher Am 18. Januar 1942 muss sich Zuzana Ruzicková in Pilsen mit der ganzen Familie zum Zentralsammelplatz für den Transport nach Theresienstadt begeben. 30 + 31 OT Ruzicková zusammen Da sind wir einfach zu dem Sammelplatz gegangen durch die ganze Stadt. Es waren Leute, die zugesehen haben, und geweint haben. Der Abschied von unserer Wohnung und von alles, was wir geliebt haben, hat mich schwer getroffen. Und wie wir in Theresien ankamen, hatten wir, und ich weiß gar nicht mehr wo das war, aber wir saßen auf Bänken und mir war es furchtbar schlecht gegangen. Ich bin sogar für eine Weile ohnmächtig geworden. Und dann weckt mich eine Stimme und ich habe mir von damals kein Gesicht eigentlich gemerkt, aber die Augen, die waren so voll Mitgefühl und die Stimme sagte: Was fehlt dem Kind? Hat es Eltern dabei? Kann ich helfen? Aber meine Eltern haben gleich gesagt, es sei für mich gesorgt. Und das war meine erste Begegnung mit Fredy Hirsch. Wir wurden dann eingeteilt in verschiedene Kasernen, natürlich also Frauen und Männer geteilt. Und wir wurden mit meiner Mutter zu der Hamburger Kaserne eingeteilt. Das war ein Zimmer, das war wahrscheinlich früher für Soldaten gedacht. Es waren Pritschen da, immer je 3 nach oben. Und es waren nun 9 Frauen und 3 Kinder in dem Zimmer. Die Frauen waren natürlich verstört, nervös, ängstlich, weil Sie von ihren Gatten getrennt wurden. Und es war ein kleiner Ofen, und da hat man geweint und gestritten, und es war also für die Kinder wirklich schwierig. Und dann kam Fredy und hat gesagt, alle Kinder in den Hof. Und das war im Januar, es hat gefroren und es war auch Schnee im Hof, und die Mütter haben sich gewehrt, aber Fredy hat gesagt: Nein, alle Kinder in den Hof. Und dann hat er uns in Gruppen geteilt, kleine Kinder, größere Kinder und schon fast erwachsene Kinder, das war ich ja schon mit 14 Jahren. Und er hat gesagt, die größeren spielen mit den kleineren und hat uns verschiedene Spiele gelernt. Gleich dort. Er hat gesagt, mindestens für 3 Stunden müsst ihr in den Hof gehen und spielen. Und dann hat er verschiedene ältere Mädchen genommen unter den Dachboden, der Dachboden, der wurde sauber gemacht. Dann hat er uns gelernt, Stühle zu bauen und einen Tisch. Und wenn es soweit war, das war, glaube ich, in 4 oder 5 Tagen, konnten wir auf den Dachboden, und dort wurden wir von verschiedenen Betreuerinnen dann da auch betreut. Es war natürlich sehr bekannt, dass er homosexuell war. Ich bin eigentlich zu meinem Vater gegangen und hab gefragt, was das heißt und er hat gesagt, das ist nicht wichtig, da musst du dich nicht drum kümmern. Wichtig ist was für ein Mensch er ist, ja. Und er ging also zu Fredy und hat sich ihn angesehen und hat mit dem ein paar Worte gesprochen, über mich, und dann ist er zurückgekommen und hat gesagt, also diesem Menschen trau ich absolut. Dem vertrau ich dich an. Sprecher Zuzana Ruzickovás Vater stirbt in Theresienstadt, ebenso ihre Großeltern. Fredy Hirsch gehört zum Stab der riesigen Theresienstädter Selbstverwaltung, die sich in mehrere größere Abteilungen gliedert: innere Verwaltung etwa, Wirtschaft, Finanzen, Technik oder Gesundheit. Entscheidungsträger an der Spitze ist der 13köpfige Ältestenrat, der aus dem Judenältesten und seinem Stellvertreter, dem Zentralsekretär sowie den Leitern der fünf wichtigsten Abteilungen und deren Stellvertretern besteht. Den Vorsitz hat der Judenälteste. Nur er ist Ansprechpartner des Lagerkommandanten, bis Juli 1943 der österreichische SS-Hauptsturmführer Siegfried Seidel, danach sein Landsmann SS-Obersturmführer Karl Rahm. Der Theresienstädter Ältestenrat wird zwischen 1941 und 1945 mehrmals umgebildet. Anfangs steht ihm Jakob Edelstein vor, Stellvertreter ist Otto Zucker. Jakob Edelstein, der mit Fredy Hirsch befreundet ist, macht ihn anfangs zu einer Art Gebäude- und Kasernenverwalter. Hirschs Kanzlei ist bei der Inneren Verwaltung angesiedelt, zwischen Raumwirtschaft und Arbeitszentrale in der Magdeburger Kaserne, wo auch der Ältestenrat sitzt. 32 OT Kämper Das war eine Art Bürgermeister im Grunde genommen, um sozusagen den Kontakt zwischen jüdischer Selberverwaltung und den Menschen in diesen Kasernen herzustellen und die Kommunikation zwischen beiden Ebenen zu schaffen, wenn es Probleme gab, wo drückt was, was muss noch gemacht werden, was fehlt wo, wie sieht es da aus, das war Fredy Hirschs Aufgabe und meiner Meinung nach eine ganz, ganz, ganz wesentliche und wichtige Funktion. Sprecher Biograf Dirk Kämper. 33 OT Kämper weiter Meine Vermutung ist, dass da Fredy Hirsch, vor der deutschen Besatzung von Prag ausgehend, viele große Veranstaltungen organisiert hat, Sommerlager, teilweise Sportveranstaltungen mit mehreren tausend Leuten, das heißt Situationen wo viele Leute plötzlich irgendwo untergebracht werden müssen und eigentlich nichts ist da, es muss alles organisiert werden, dass das durchaus eine Rolle gespielt haben kann, warum er Fredy Hirsch diese wichtige Rolle gegeben hat in diesem Moment. Es gibt Hinweise, dass er damit nicht sehr zufrieden gewesen ist, vor allem ist er in dem Moment sozusagen Anlaufstelle für alle Probleme und Konflikte, die aus den Kasernen sozusagen auf die jüdische Selbstverwaltung zurollen, da ist er so der Puffer, also ein wirklich nicht beneidenswerter Job, den er da hatte. Am Anfang durfte man die Kasernen noch nicht verlassen, er sorgt dafür auch vor der Jugendfürsorgefunktion das die Kinder daraus kommen, sie dürfen auf den Hof, dürfen spielen, er organisiert Zeiten mit denen er mit den Kindern auf die Wälle gehen kann, wo sie sich frei bewegen können, wo sie Sport treiben können, auch hier schon wieder ein Punkt, wo man sich fragt natürlich, wie schafft der das, das sind alles Dinge, die holt er sich von den deutschen Besatzern, die holt er sich von der SS, das hätte sonst sehr wahrscheinlich niemand geschafft diese Privilegien, Fredy Hirsch schafft es, er kriegt es hin er holt die Kinder daraus. Sprecher Wenig später wechselt Fredy Hirsch zur Jugendfürsorge. Deren Leiter Egon Redlich ist kein großer Freund des eigenwilligen Machers. Dennoch hat er beim Ältestenrat darum gebeten, Fredy an seine Seite zu bekommen. Die Bedingungen für die Kinder in Theresienstadt sind verheerend und Redlich kennt Hirschs große Qualitäten. Er macht ihn zum gleichberechtigten Leiter der Abteilung. Fredy Hirsch lässt sich nicht lange bitten. In dieser Funktion fühlt er sich rundum wohl und beginnt umgehend damit, Kinderheime im Lager zu errichten. Kurz nach ihrer Ankunft in Theresienstadt am 2. Juli 1942 trifft auch die damals zwölfjährige Evelina Merová wieder auf den fürsorglichen Kinderfreund, den sie schon aus Prag kennt. 34 OT Merová Er hat eigentlich alles getan, um den Kindern das Leben im Ghetto etwas zu erleichtern. Also ich kam mit meinen Eltern und wir wohnten in der Hamburger Kaserne. Das war eine Kaserne für Frauen. Mein Vater wohnte in der Sudetenkaserne. Das war eine Kaserne für Männer. Wir durften nicht auf die Straße. Wir durften nur im Hof spazieren. Also den Vater haben wir nicht gesehen. Und wir wohnten in einer sogenannten Ubikation. Dort waren etwa 40 Frauen, dreistöckige Betten, und in einer Ubikation wohnten alte, Kinder, gesunde, kranke Kinder, also es war ganz schrecklich. Und da haben wir erfahren, dass es sowas wie ein Kinderzimmer in der Hamburger Kaserne gibt, und ich wollte gleich dorthin. Es war wirklich ein größeres Zimmer, hatte Nummer 104 und dort waren Kinder. Die Betreuerin war damals schon die Ella Pollak, die wir auch später noch im nächsten Kinderheim hatten. Also in diesem Zimmer war es viel besser als in der Ubikation. Und ich glaube im September, da wurden diese Kinderheime errichtet. Also unser Kinderheim war, ich glaube, das schönste Gebäude in Theresienstadt. Dort waren mehrere Zimmer und jedes Zimmer war ein Heim. Und dort waren Mädchen ab, ich glaube, 8 bis 15 Jahren. Ich war 12 damals. Und ich kam in ein Zimmer, Nummer 28, und dort waren etwa 30 zwölfjährige Mädchen. Also es war ein Zimmer etwa 20-25 Quadratmeter groß, es war sehr wenig Platz. Wir wohnten dann wieder in dreistöckigen Betten. Dort mussten wir schlafen. Dort liegen die Kranken im Bett, und im selben Zimmer gab es auch Unterricht. Also in der Mitte des Zimmers war ein Tisch, eine Bank und täglich kamen zu uns Lehrer und haben uns unterrichtet. Jeder, was er kannte, was er konnte. Also ohne Programm und ohne Pläne, ohne Lehrbücher. Wir hatten auch sehr wenig Papier. Wenig Bleistifte. Aber wir haben dort mit Interesse gelernt. Das Lernen war strengstens verboten. Bis heute weiß ich nicht warum. Man hat uns gesagt, dass, wenn ein Deutscher kommen würde, sollten wir sagen, wir spielen, wir singen und wir machen Handarbeiten. Das war erlaubt. Aber wir haben dort alle Fächer gehabt, auch Hebräisch, Mathematik, Englisch, Geschichte und Erdkunde. Sprecher Die Jungen sind in einem anderen Gebäude untergebracht. Toman Brod, seit Juli 1942 mit Eltern und Bruder in Theresienstadt interniert, erinnert sich. 35 OT Brod 27‘24 Die frühere Schule in Theresienstadt war dann in der Zeit des Ghetto, wurde als ein Kinderheim für Knaben, also eingerichtet. Knaben von dem Jahre acht bis 15. Jede Klasse war ein Heim für etwa 30 Knaben, und jedes Heim hatte einen Erzieher, und alle waren junge Leute. Jeder Erzieher führte die Kinder nach seiner Überzeugung, politische Überzeugung. Zum Beispiel: das wichtigste Heim war die Nr. 1. Da führte die Kinder der Professor Walter Eisinger, der war ein Kommunist, und der führte das Heim im sozialistischen Sinn. Der andere war ein Zionst, und er führte seine Kinder in der Glauben von Zionismus. Und zum Beispiel ich war in einem Heim, den führte ein demokratisch tschechischer integrierter Jude. Er hat uns erzogen in tschechoslowakischen Patriotismus, in humanistischen Ideen, in Pfadfinder-Ideen und so weiter. Ich erinnere mich auch einen guten, freundlichen Kollektiv. Und zu uns ist immer, nicht immer, aber Zeit zu Zeit ist Fredy Hirsch gekommen, um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung ist, ob wir sauber sind, ob wir uns also waschen regelmäßig, und hat man also versucht, nicht die Kinder so ohne Einfluss zu lassen, und das war also irgendwie Verdienst von Fredy Hirsch. 36 OT Kämper In Theresienstadt gab es einen hohen Anteil an Intellektuellen, an Gebildeten, an Lehrern, an Menschen, die natürlich sehr viele Dinge vermitteln, Wissenschaftlern, vermitteln konnten, und diese Leute sind dann dahin gegangen und haben Unterricht, oralen Unterricht gehalten. Es gab auch Vorträge, Vortragsreihen, also das wurde alles ganz legal organisiert von der jüdischen Selbstverwaltung, aber was verboten war, war die Bildung und der Unterricht. Fredy Hirsch war ja sozusagen der, der immer in den Jugendheimen auftauchte der immer sich kümmerte, wie geht’s euch, was macht ihr, wie sieht die Lage aus, braucht ihr was, können wir was tun und so weiter und sofort auch da wieder, wenn sich Kinder, also Zeitzeugen heute, an diese Zeit erinnern, fällt dann auch immer wieder der Name Fredy Hirsch. 37 OT Merova Ich erinnere mich ganz gut, dass man durfte arbeiten ab 14 Jahren. Wir waren noch keine 13, wir wollten in der Gärtnerei arbeiten. Und da mussten wir eine Erlaubnis von Fredy bekommen, und da wurde ich und eine meiner Freundinnen zu ihm geschickt. Da wir schon größer waren und gut aussahen, hat er uns das eigentlich bewilligt. Sprecher Alle arbeitsfähigen Lagerinsassen ab 14 Jahren müssen täglich 10 bis 12 Stunden arbeiten, in der Selbstverwaltung, in den Küchen und Bäckereien, den Abteilungen für Jugend- und Altenfürsorge, im Gartenbau und in der Landwirtschaft. Ein Teil der Häftlinge muss in der Kriegsproduktion helfen, etwa bei der Spaltung von Glimmer, der Herstellung von Uniformen oder in der Kistenproduktion. 38 OT Kraus Fredy sorgte dafür, dass die meisten Arbeiten für Kinder von 14 und höher in den so genannten Gemüsegärten stattfindet, weil er daran glaubte, dass die Arbeit in guter Luft und speziell bei Landwirtschaft ist gut auch für den zionistischen Traum, dass wir dann später, wenn wir nach dem Krieg dann nach Palästina gehen, dass wir wissen wie man Gemüse züchtet. Die Kinder, die dort länger arbeiteten, konnten dann, wenn sie sich trauten, etwas von dem Gemüse ins Ghetto zurück schmuggeln. Weil, die Gärten waren ja zwischen den Schanzen oberhalb auch, oben. Sprecher Die sportlichen Aktivitäten, die Fredy Hirsch mit den Kindern unternimmt, finden regelmäßig im Freien statt, auf den Festungsschanzen, den Basteien. Sogar eine kleine Makkabiade habe er dort organisiert, erinnert sich Peter Erben. 39 OT Erben 35‘28 Wenn man ins Ghetto herein kommt, links sofort ist eine Bastei, ein großer Rasen, und dort haben auch Leute aus der Landwirtschaft gewohnt, dorten hat man anfangs auch das Fußball gespielt, und auf diesem Platz hat dann Fredy eine Makkabiade organisiert, und da haben wir auch Leichtathletik gemacht. Er ist auch gesprungen, ich bin auch gesprungen, gelaufen, ich bin durch die Stadt gelaufen. Das war ein Sportfest, die Makkabiade im Jahre 42 oder Anfang 43. Sprecher All das habe Fredy Hirsch nur erreichen können, so erklärt Peter Erben, weil er zu den verantwortlichen Deutschen ein besonders gute Beziehungen gepflegt habe und ihnen gegenüber unerschrocken aufgetreten sei. 40 OT Erben Er war mit all diesen Deutschen auf per Du, die haben ihn alle sehr geschätzt. Günther und alle, Rahm, alle, die dorten waren, er hat sich mit denen unterhalten und hat ihnen gesagt, die Kinder, wenn sie mit den Eltern sind, dann kommt es zu Auseinandersetzungen mit den Erwachsenen, die Kinder müssen ein Jugendheim bekommen. Und so hat er herausgezogen von Eichmann Jugendheime. Alle die Sachen, die mit den Deutschen zusammen gestanden sind, hat er geschaffen. Er hat sich in Theresienstadt vor Günther Hab Acht gestellt und hat ihm in die Augen geschaut und hat mit ihm gesprochen, Deutsch, wie es in Berlin oder in Aachen gesprochen worden ist, und hat sich dadurch ein inniges Verständnis gemacht und hat ihnen immer überzeugt von verschiedenen Sachen. Und er war derjenige, der verschiedene Vorteile für die Jugendlichen und Künstler und so weiter geschaffen hat dadurch, dass er das erledigt hat. Musik (aus der Brundibar-Oper?) Sprecher Neben der sportlichen Körperertüchtigung und dem Unterricht, den er und seine Kollegen von der Jugendfürsorge - trotz strengsten Verbotes - für die Kinder organisieren, kümmert sich Fredy Hirsch auch um die kulturelle Bildung seiner Schützlinge. Unter den Lehrern und Dozenten, die meist nach ihrer zehn- bis zwölfstündigen Pflichtarbeit zu den Kindern kommen, zählen mehrere bekannte tschechische Musiker, so auch der Komponist Hans Krása. Seine 1938 mit Adolf Hoffmeister geschriebene Kinderoper Brundibar wird in Theresienstadt 55mal aufgeführt, für Evelina Merová das Schönste während der Zeit im Ghetto. 41 OT Merova Ich weiß nur, dass alle diese Oper liebten. Die Musik war modern und sehr zugänglich. Man konnte die Melodien singen. Das ganze Ghetto sang die Melodien aus dieser Oper. Und die Kinder, die spielten, die waren ausgezeichnet und ich glaube von allen waren zum Beispiel die Solisten sehr beneidet. Die Kinder waren hochbegabt und sehr musikalisch und das Ganze war etwas auch Außergewöhnliches: eine Kinderoper in Theresienstadt, und das war ein Kindermärchen, es ist über den Sieg der Schwächeren über die Kräftigen. Sprecher Ein Junge und ein Mädchen versuchen im Park mit dem Singen von Kinderliedern Geld zu verdienen, um Milch für ihre kranke Mutter kaufen zu können. Das stört den alten, kräftigen und mächtigen Leierkastenmann. Er versucht den Kindern das eingenommene Geld wegzunehmen, wird aber mit der Hilfe vieler Freunde überwältigt, und die Kinder können der kranken Mutter die Milch besorgen. 42 OT Merova Und da erklang das Siegenlied, dass der Leierkastenmann, der böse Brundibar, ist besiegt. Und dieses Siegeslied musste man mehrmals wiederholen. Das Publikum war begeistert. Und das Publikum sang mit. Und das war das Ende diese Kinderoper. Sprecher Fredy Hirsch und seine Mitstreiter in der Jugendfürsorge gelingt es, die elendigen Verhältnisse im Lager für die Kinder und Jugendlichen zumindest ein wenig erträglicher zu gestalten und für eine halbwegs altersgemäße geistige und körperliche Entwicklung zu sorgen. Sie versuchen ein Klima der Mitmenschlichkeit zu schaffen, in dem Freundschaft und Liebe, Hilfsbereitschaft und Rücksichtnahme, Ehrlichkeit und Gerechtigkeit wachsen und gedeihen können. Dafür setzt sich insbesondere Fredy Hirsch mit allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften und Mitteln ein. Mit dem Ältestenrat, der Korruption und Vetternwirtschaft im Lager duldet, gerät der tatkräftige und forsche junge Mann oftmals aneinander, auch als es um die Frage geht, ob man die noch in Prag lebenden Juden über die wirklichen Verhältnisse im Ghetto Theresienstadt informiert. 43 OT Kämper Fredy Hirsch sagt, wir müssen denen die Augen öffnen und sagen was hier passiert, das ist: hier in Theresienstadt sterben Leute an Unterversorgung, an Mangel die Verhältnisse sind katastrophal, also all diese Erwartungen und Versprechen stimmen vorne und hinten nicht. Die jüdische Selbstverwaltung war offensichtlich ganz anderer Meinung, sie war der Meinung, wenn wir das tun, wird es in Prag, bei den noch in Prag verbliebenden Angehörigen der jüdischen Gemeinde zu Aufständen kommen. Aber hier zeigt sich eine Position Fredy Hirschs, die besagt, wir können und dürfen nicht die Augen verschließen, wir müssen, wenn wir die Möglichkeit haben, unsere jüdischen Brüder und Schwestern darüber informieren, was sie hier erwartet damit sie selbst entscheiden können, was sie dann in dieser Situation tun, ob sie sich wehren oder ob sie eben sagen vernünftiger Weise wir wehren uns nicht, wir hoffen noch, dass wir überleben und fügen uns in unser Schicksal. Sprecher Am 6. September 1943 muss Fredy Hirsch Theresienstadt verlassen. Zusammen mit 5.007 fast ausschließlich tschechischen Juden, die in zwei Zügen ins Vernichtungslager Auschwitz Birkenau deportiert werden. Kurz zuvor war Fredy Hirsch verhaftet worden, weil er trotz ausdrücklichen Verbots zu den Kindern aus Bialystok, einem polnischen Ghetto, gegangen war. Dirk Kämper: 44 OT Kämper Es kommen 1943 ein Gruppe von über 1200 Kindern aus Bialystok in Theresienstadt an, in einem fürchterlichen Zustand, physisch wie psychisch, völlig runtergekommen, verdreckt, zerrissenen Klamotten, teilweise keine Schuhe an den Füßen, völlig verstört. Diese Kinder werden von der SS in Theresienstadt sofort isoliert, es gibt komplettes und totales, unter Androhung schwerer Strafe, Kontaktverbot. Bevor sie aber isoliert werden, werden die Kinder sozusagen unter die Dusche geführt und geschickt von der SS, und in dem Moment kommt es dazu, das die Kinder sich lauthals mit Händen und Füßen, einige Kinder zumindest, wehren, „nicht unter die Duschen, nicht unter die Duschen, Gas, Gas, Gas“. Dieser Moment scheint sich im Lager auch relativ schnell rum gesprochen zu haben. Jedenfalls die Kinder werden isoliert, es werden einige Betreuer zwangsweise mehr oder weniger abgestellt, um diese Kinder zu betreuen, und auch zu diesen darf man dann keinen Kontakt mehr haben. 45 OT Erben Und Fredy hat nicht davon gewusst. So das war gegen seine Organisation. Er war der Leiter des Jugendeinsatzes und der Jugendfürsorge, er hat davon wissen müssen. Sprecher Ergänzt Peter Erben. 46 OT Erben weiter Und so ist er ganz einfach dort hingekommen, ist über den Drahtzaun gesprungen, das war für ihn kein Problem, er war ein guter Springer, und in dem Lager, noch in den Straßen, er war noch nicht in Kontakt mit den Kindern und den Ärzten, hat ihn ein tschechischer Polizist fasst und hat ihn sofort herausgeführt. Wenn Fredy Tschechisch gekannt hätte, hätte er den Polizisten überzeugt, dass er ihn zur Götterwache bringt, nicht zur Kommandantur der Deutschen. Mit dem tschechischen Polizisten konnte man sich noch so weit arrangieren, aber er hat nicht tschechisch gekannt, so hat der Polizist, hat ihn direkt auf die Kommandantur gebracht, und auf der Kommandantur wurde dann geschlagen, geprügelt, und man hat ihn dann strafweise nach Birkenau geschickt. Das ist September 43. Sprecher Biograf Kämper vermutet, Fredy Hirsch habe unbedingt herausbekommen wollen, warum die Kinder vor dem Duschen aus Angst „Gas, Gas, Gas“ geschrien haben. Seit einiger Zeit nämlich ahnen Fredy und einige andere in Theresienstadt, dass Juden in den Konzentrationslagern im Osten vergast werden. Musik Sprecher Am 1. September 1939 entfachen die Deutschen mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg und nehmen bereits am 4. September die Stadt Oswiecim ein: Auschwitz. Die deutschen Besatzer betreiben eine rücksichtlose wirtschaftliche Ausbeutung und Germanisierung der besetzten Gebiete. Es kommt zu Massenverhaftungen unter der polnischen Bevölkerung, die Kapazitäten der örtlichen Gefängnisse reichen nicht mehr aus. Reichsführer SS Heinrich Himmler befiehlt die Standortsuche für ein neues Konzentrationslager. Die Wahl fällt auf das ehemalige Sachsengängerlager in Oswiecim. Die Historikerin Angelika Königseder: Zitat „Die Entscheidung für /…/die Errichtung des Konzentrationslagers Auschwitz ging auf den Inspektor der Sicherheitspolizei und des SD in Breslau, Arpad Wigand, zurück. Die 22 gemauerten Häuser und 90 Holzbaracken des zu Zeiten der Habsburger Herrschaft eingerichteten Sachsengängerlagers, ( (ein) umgangssprachlicher Ausdruck für in Preußen „arbeiten gehen“) hatten 12.000 Arbeiter beherbergen können.“ Sprecher Oberstes Ziel des Konzentrationslagers Auschwitz ist von Anfang an die Menschenvernichtung. Vernichtung durch Arbeit, durch Hunger, durch Exekutionen, später Massenvernichtungen durch Vergasung. Die Freigabe des Geländes durch die Wehrmacht erfolgt Anfang April 1940. Mit dem Ausbau des Sachsengängerlagers zum Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz konnte begonnen werden. Das Stammlager wurde allerdings schnell zu klein für die Pläne der Nazis. Der angestrebte Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, die bereits anvisierte „Endlösung der Judenfrage“ sowie die rücksichtlose Vertreibung von Polen und Juden zwecks Neuansiedlung von Volksdeutschen und der damit verbundene Aufbau der I.G. Farben-Werke in Auschwitz verlangten größere Kapazitäten. Der Chemiekonzern, Vorläufer von BASF, Hoechst und Bayer, soll nicht nur von der guten Verkehrsanbindung, der ergiebigen Rohstoff- und Wasserversorgung, sondern vor allem vom Arbeitskräftepotential des Konzentrationslagers profitieren. Der Bau des Lagers Auschwitz-Birkenau für rund 200.000 Häftlinge wird anvisiert - und bald auch eine wirkungsvollere Vernichtungsmaschinerie. Die Historikerin Verena Walter: Zitat „Den Bauplänen zufolge sollte das neue Lager Birkenau ursprünglich vier Bauabschnitte (BI-IV) für jeweils 60000 Menschen umfassen. ... Die einzelnen Teillager wurden jeweils in Lagerabschnitte eingeteilt. 1943 wurden die Lagerabschnitte in den Bereichen BI und BII sukzessive fertig gestellt. Auschwitz-Birkenau blieb in der gesamten Zeit seines Bestehens im Bau begriffen und erreichte nie den projektierten Umfang. … In Birkenau sollten ursprünglich 600 Objekte für Aufnahme, Unterkunft, sanitäre Versorgung u.a. entstehen, davon wurden etwa 300 Baracken sowie Wirtschafts- und Latrinenbaracken errichtet. Hinzu kamen die „Rampe“, vier Gaskammern und Krematorien und 13 Kilometer Entwässerungsgräben. Insgesamt umfasste der Birkenauer Komplex vor der Auflösung ca. 140 ha Fläche. … Auschwitz-Birkenau firmierte bis 31. März1944 unter der Bezeichnung „Kriegsgefangenenlager“, ohne als solches Verwendung gefunden zu haben. Stattdessen fungierte Birkenau seit 1942 als Vernichtungslager zur massenhaften Tötung von Juden aus ganz Europa.“ Sprecher Mit diesem Lagerausbau wird Auschwitz zum Ort des Unfassbaren, zum Ort eines alle Vorstellungen überschreitenden Menschheitsverbrechens, zum Zentrum des Völkermords. Nachdem die SS bereits im Januar und Februar 1943 über 7500 Juden von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert hatte, verhängt Reichsführer SS-Himmler eine Transportsperre, die er erst am 6. September 1943 wieder aufhebt. Ein Grund für die Transportsperre liegt möglichweise in Himmlers Bemühen um einen Separatfrieden mit den Westmächten, um mit ihnen nach der verheerenden Niederlage der Wehrmacht bei Stalingrad einen antisowjetischen Pakt zu schließen. Ein forciertes Angehen der „Endlösung der Judenfrage“ hätte seinen Absichten im Weg gestanden. Sprecher Himmler ist jedoch aufgeschreckt durch Aufstände im Warschauer Ghetto im April 1943, im Juni im Ghetto Tschenstochau und im August im Vernichtungslager Treblinka. Da es Anzeichen für eine Widerstandsbewegung auch in Theresienstadt gibt, beschließt Himmler, die Transporte von dort wieder aufzunehmen. Hierfür wählt er gezielt viele junge, arbeitsfähige Juden aus, die mit dem sich allmählich formierenden Theresienstädter Widerstand sympathisierten könnten. Am 6. September 1943 verlassenen zwei Transporte mit insgesamt 5.007 Deportierten Theresienstadt Richtung Auschwitz. Am 16. und 20. Dezember folgen zwei weitere Transporte mit erneut 5.007 Deportierten, die sogenannten September- und Dezembertransporte. Was keiner der Deportierten weiß: Auf den Transportlisten steht der Vermerk: „Sonderbehandlung nach sechs Monaten Quarantäne“. Anders ausgedrückt: Vernichtung durch Vergasung nach sechs Monaten Aufenthalt in Auschwitz. Sprecher Bereits der tagelange Transport in völlig überladenen Viehwaggons kostet zahlreichen Häftlingen das Leben. Es gibt weder Wasser noch Brot. Doch bei ihrer Ankunft in Auschwitz verfährt die SS mit den Theresienstädtern überraschenderweise anders als üblich, wie der israelische Künstler Jehuda Bacon, Evelina Merova und die israelische Journalistin Ruth Bondy, die im Dezember 1943 nach Auschwitz deportiert werden, berichten. 47 OT Wir wurden ganz anders empfangen als jeder andere Transport, der ankam nach Auschwitz. Das heißt ohne Selektion, auch Babys, auch Alte, auch Sterbende, alles kam ins Lager ohne Selektion. Das war eine große Ausnahme. 48 OT Mervoa Ich glaube, wir kamen gleich ins Familienlager. Nach der Sauna. Dann wurden uns die Nummer eintätowiert, aber die Haare wurden uns nicht geschoren wie den anderen. Also das war etwas ganz Außergewöhnliches und niemand wusste warum. 49 OT Bondy Wir bekamen keine gestreiften Sträflingskleider, sondern man teilte uns Kleider von den Gewesenen aus. Wir standen in der Reihe, jeder bekam Schuhe. Manchmal zwei nicht gleiche Schuhe. Sprecher Alle Häftlinge der September- und späteren Dezembertransporte kommen ins Theresienstädter Familienlager. Ohne todbringende Selektion, ohne Sträflingskleidung, ohne, dass ihnen die Haare geschoren werden. Bis heute kann sich niemand diese bevorzugte Behandlung erklären. Das Familienlager wird zu einem Sonderbezirk, der in der Hölle von Auschwitz ein Stück Normalität vortäuschen soll. Es ist von einem Stacheldrahtzaun umgeben und wird von SS-Posten auf Wachtürmen observiert. Frauen und Mädchen werden in Baracken mit ungeraden Nummern, Männer und Jungen in Baracken mit geraden Nummern untergebracht, wobei Frauen- und Männerblocks nicht durch Stacheldraht voneinander getrennt sind. Der 2001 verstorbene tschechische Historiker und Holocaust-Forscher Miroslav Kárný: Zitat „Das Theresienstädter Familienlager war eigentlich nur ein Abschnitt von Birkenau. Es war rechteckig, die Seiten ungefähr 600x130 Meter lang und wurde als BIIb bezeichnet. Der ganze Teil war von einem Stacheldrahtzaun und einem Entwässerungsgraben umgeben. Das Lager wurden von SS-Posten auf Wachtürmen beaufsichtigt. … Im Familienlager waren 32 Holzbaracken, die ursprünglich als Pferdeställe gedient hatten. … Als die Septembertransporte ankamen, waren einige der Baracken nicht fertig, in einige, schon bewohnte, regnete es hinein, in manchen gab es weder Pritschen noch irgendwelche Schlafstellen. … In der Mitte führte durch die ganze Baracke ein Kanal aus Ziegeln, eigentlich ein liegender Kamin, der zum Beheizen des Blocks dienen sollte. Eingeheizt wurde nur sehr selten und immer ganz ungenügend“ Sprecher Die Baracken sind rund 40 Meter lang, 10 Meter breit und 2,65 Meter hoch, besitzen ein paar kleine Dachluken, aber keine Fenster. Es gibt nur kleine ausgebaute Wege, nur Schlamm und Morast, mit dem Bau der Lagerstraße muss erst noch begonnen werden. 50 OT Kämper Und dann sprangen da noch die Kinder rum, das war eben das Besondere. In Ausschwitz gab es sonst keine Kinder, Zigeunerlager war noch eine Ausnahme ansonsten wurden Kinder, so muss man das ganz klar sagen die nach Ausschwitz Birkenau kamen, sofort in die Gaskammer geführt, das heißt Kinder waren in diesem Vernichtungslager eigentlich nicht vorgesehen. Sprecher Fredy Hirsch weiß, dass die Kinder, wollen sie unter den extrem menschenverachtenden Bedingungen eines Vernichtungslagers überhaupt eine Überlebenschance haben, eines besonderen Schutzes bedürfen. Anknüpfend an seine organisatorische und erzieherische Tätigkeit in den Theresiestädter Jugendheimen fasst er einen Plan. 51 OT Kämper Fredy Hirsch war sofort klar, wir müssen die hier raus nehmen, weil, hier war die SS im Gegensatz zu Theresienstadt allgegenwärtig, sie war immer da, man konnte jede Minute einem SS-Mann begegnen und wie das ausging, das wusste man nie, ob man das überlebte, ob man verprügelt wurde, also aus diesem Chaos heraus entsteht die Idee zu einem Kinderblock. 52 OT Ruzicková Und er hatte inzwischen wahrscheinlich mit ein paar SS Leuten gesprochen und Ihnen klar gemacht, dass Kinder auf der Lagestraße eine große Gefahr waren. Und zwar darum, weil, die Lagestraße war ja voll von Kot, die Kinder hat man dann ja nicht sauber gehalten und die Eltern durften sich nicht kümmern, weil sie gearbeitet haben. Und die Kinder konnten natürlich auch Infektionen ausbreiten. Und dann hatte Freddy die Idee einen Kinderblock zu installieren, wo die Kinder rein könnten. Musik Sprecher Kurzeitig muss Fredy Hirsch das Amt eines Lagerkapos ausführen. Diesen durchaus einflussreichen Häftlingsposten, der aber in seiner Funktion als verlängerter Arm der SS Gewaltbereitschaft gegenüber anderen Häftlingen verlangt, lehnt Fredy jedoch ab. Nach gut einem Monat wird er von dieser Aufgabe entbunden. Seine zwischenzeitliche Position kann er allerdings nutzen, um der SS tatsächlich die Einrichtung eines Blocks, der ausschließlich für Kinder bestimmt ist, abzutrotzen. Ihm gelingt das scheinbar Unmögliche. Block 31 des Theresienstädters Familienlagers wird zum Kinderblock, der direkt dem SS-Arzt Dr. Josef Mengele unterstellt ist und von Fredy Hirsch als Blockältester geleitet wird. 53 OT Merova Ich kam mit meinen Eltern nach Ausschwitz Birkenau. Und dort war schon Fredy und dort gab es diesen Kinderblock 31. Und das war für die Kinder eigentlich eine Rettung. 54 OT Ruzicková Ich konnte mir gar nicht vorstellen dass so was existiert, es war ein Wunder es war ein Traum. 55 OT Bacon 6:51 Fredy kam nach Birkenau 3 Monate vor uns und sofort, er kannte mich auch vorher, im Moment wo es etwas ruhiger wurde und wir tätowiert wurden und alle diese Sachen, hat er sofort seine Kinder, die er noch kannte von Theresienstadt und überhaupt, Kinder in diesem Alter, versucht, zu isolieren von den anderen Häftlingen. Und über Tag waren wir in seinem Block. Was das bedeutet, ich danke ihm, dass ich lebe. Nicht nur ich, sondern alle Kinder, die heute noch leben und in diesem Block waren, verdanken Ihm das Leben. Sprecher Das Wunder eines zeitweiligen Refugiums für Kinder und Jugendliche, zunächst bis zum Alter von 14, später bis zum Alter von 16 Jahren, mitten in der Hölle von Auschwitz, das, wie sich im Nachhinein herausstellt, vielen der Kinder das Überleben dort ermöglicht – wie kann so etwas gelingen, was muss den Kindern abverlangt, welche Vergünstigungen müssen für sie erwirkt werden? Musik 3. Stunde Musik Sprecher Die hygienischen Umstände sind in Auschwitz deutlich schlimmer als in Theresienstadt, ebenso die Versorgungslage und die medizinische Betreuung. Bereits in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft sterben viele Menschen im Familienlager durch Krankheit, schlechte Ernährung und schlechte Wasserqualität oder verhungern. Dazu kommt das teils stundenlange Appellstehen, eine mörderische Prozedur, die vor allem im Winter und im Hochsommer viele Opfer forderte. Durch den sogenannten „natürlichen Lagertod“ kommen im Laufe der sechs Monate ihrer Lagerhaft in Auschwitz rund 1140 Menschen der Septembertransporte und 1750 der späteren Dezembertransporte ums Leben, also knapp ein Drittel der Deportierten. Yehuda Bacon kommt im Dezember 1943 zu Fredy Hirsch in den Kinderblock. 56 OT Bacon Was war Fredys Idee? Er will die Jugend oder die Kinder wie weit möglich vorbereiten, körperlich und seelisch. Das Körperliche: Sie sollen stramm sein, sie sollen auch die Kräfte haben. Sie sollen auch geistig irgendwie da sein. Sie müssen schön oder gut aussehen, damit sie nicht schneller ins Gas gehen. 57 OT Mervoa Aber ich muss sagen, er hat sehr viel für uns gemacht. Denn man musste doch stundenlang Appelle stehen. Bei jedem Wetter. Im Frost. Im Regen. Und er hat es so organisiert, dass wir wurden im Block gezählt. Zu uns kam ein SS-Mann und hat uns im Block dort gezählt. Hinter dem Block 31 gab es einen kleinen Platz. Dort haben wir auch geturnt und Sport getrieben. Aber das war ganz am Ende des Lagers. Und wenn das Wetter schön war, und ich erinnere mich, dass im April damals sehr schönes Wetter war wie im Sommer und dort haben wir Möglichkeit gehabt zu spielen. Und dort hatten wir auch bessere Suppe bekommen als alle anderen. Das hat Freddy organisiert. Man sagt, dass es eine Suppe aus dem Zigeunerlager ist. Und die war etwas besser als die der Erwachsenen. Ich glaube mit Grieß, also etwas dicker. Jetzt ist es egal, was für eine Suppe man isst, aber damals war es die Frage des Lebens. 58 OT Ruzicková Eine Erleichterung hat auch der Fredy für uns ausgehandelt, und zwar, dass die Pakete, es durften ja Pakete kommen nach Ausschwitz, nach B2B, und dass die Pakete, die an Verstorbene gingen, an den Kinderblock zugeteilt wurden. Eigentlich hat, glaube ich, Fredy auch verhandelt, dass wir ein bisschen mehr Kohle bekommen haben als die normalen Blöcke. Jedenfalls war das eine ganz große Erleichterung. 59 OT Bacon Wir mussten uns waschen. Fredy hat darauf aufgepasst. Und es war Winter, mit Schnee. Wir mussten uns mit Schnee waschen. Und das hat uns auch geholfen. Es war jeden Frühmorgen, als wir da kamen eine Untersuchung von Fredy, dass wir sind ohne Läuse. 60 OT Kämper Fredy Hirsch sorgt dafür, dass wirklich, Hygiene ist eine der wichtigsten Dinge in diesem Lager, weil er weiß verdreckte, kranke, schwache Kinder sind das Ziel Nummer eins der SS, die haben keine Überlebenschance, also achtet er drauf, das die Kinder sich bei Minusgraden mit kalten Wasser, mit teilweise Schnee waschen, abreiben, damit auch ihre Klamotten sauber halten, damit genau dieser Moment nicht passiert und letztendlich, Ruth Bondy sagt, die als Betreuerin im Kinderblock arbeitete, dass zur Lebenszeit Fredy Hirschs eigentlich kein Kind unter den Umständen, unter den äußeren Umständen in dem Kinderblock gestorben ist, was für Ausschwitz Birkenau grundsätzlich eigentlich unfassbar ist, aber es scheint Fredy Hirsch genau das gelungen zu sein. Sprecher Bessere Suppe, Sonderrationen aus herrenlosen Paketen, Zählappelle im geschlossenen Block, ein – im Gegensatz zu den anderen Baracken des Familienlagers - einigermaßen beheizter Block – Fredy Hirsch erwirkt überlebenswichtige Vergünstigungen und Verbesserungen für die Kinder. Und dazu gehört nicht zuletzt auch der geregelte Tagesablauf im Kinderblock. 61 OT Kämper Also den Kinderblock muss man sich so vorstellen, der war grundsätzlich erstmal ganz anders, weil keine Betten drin waren, es war richtig die Kinder waren da nur tagsüber untergebracht, abends gingen sie zurück zu ihren Eltern und kamen morgens wieder, wie in einer Kindertagesstätte eigentlich im Grunde genommen, also keine Betten, es gab kleine Tische und Stühle, Unterricht wurde hier auch eben gehalten, es gab sogar Bücher im Block. Das waren ja ursprünglich Pferdeställe, also Pferdeställe mit nichts an Einrichtungen. 62 OT Ruzicková Erst muss ich sagen wie der Tag so gewesen ist im Kinderblock. Zuerst kam ein sehr dünner Kaffee, und wir haben mit den Kindern immer ein paar Verse einstudiert. /../ Ich habe also sogar auch ein paar Verse mir ausgedacht, a, dass wir zwar Hunger haben, aber dass wir auch schön sitzen sollen und schön speisen sollen. Naja und dann nachher war der Unterricht. Wir mussten uns natürlich alles Mögliche ausdenken, nicht wahr, von Geschichte und jemand hatte auch etwas von Rechnen und Mathematik, je nachdem wie alt die Kinder waren. Die ganz Kleinen die spielten und die größere, denen haben wir etwas von er Geschichte erzählt. Und dann kam das Mittagessen. Das war eine Suppe. Gut dann haben wir alle Mittagessen gehabt. Dann haben wir die Kleinen etwas schlafen lassen auf den Bänken, und auch die größeren haben sich etwas ausgeruht. Und dann kam Fredy und der Block war ja eigentlich für Pferde bestimmt. Es war so geheizt, dass ein Kamin durch den Block ging. Und Fredy schwingt sich auf den Kamin und er hatte ein Blockflöte dabei. Die hatte man wahrscheinlich auch für ihn irgendwie gebracht. Und er fing an uns Lieder zu lernen. Es waren auch französische Lieder dabei, es waren englische Lieder dabei. Er hat Londons Burning das ist ein Kanon, das hat er uns gelernt. Und noch ein Kanon von Aluette Aluette, einen französischen. Es waren auch tschechische Lieder dabei, die jemand anders uns gelehrt hat, weil, Fredy hat nie das Tschechische gemeistert. Da hat man über ihn sehr viel gelacht. Es war immer ein Erlebnis. Er hat uns das Lied gelernt und auf der Pfeife vorgepfeift, und dann hat er selber gesungen, dann mussten wir es singen. Naja, und dann kam die Brotverteilung. Wir haben immer ein Stück Brot bekommen zum Nachtessen. Und das haben also die einzelnen Betreuer bekommen, die haben es unter den Kindern verteilt und dann kam Fredy und an einen Tischchen gesetzt und hat eine Blockflöte gespielt und mit seinem Freund hat er da gesessen und hat erzählt. Und naja, dann die Kinder natürlich schlafen gehen zu ihren Eltern. Und wir gingen auch, also die Betreuer hatten ihren eigenen Block. Sprecher Überlebenswichtig sind ebenfalls spielerisch-kulturelle Angebote, die zu seelsicher Ausgeglichenheit und Angstreduktion beitragen. Höhepunkte sind Theater- und Kabarettsücke, teils von Fredy Hirsch selbst geschrieben, die die Kinder einüben und aufführen. Der damals ebenfalls ins Familienlager deportierte 20jährige Malerin Dinah Gottliebová, die nach dem Zweiten Weltkrieg den amerikanischen Trickfilmzeichner Art Babbitt heiratet und später als Karikaturistin für die Filmstudios in Hollywood arbeitet, wird erlaubt, Märchenmotive auf größere Wandabschnitte des Kinderblocks zu zeichnen. 63 OT Ruzicková Ja und das war Schneewittchen, und das waren damals auch die Zwerge. Wir haben ja damals auch Schneewittchen einstudiert mit Freddy Hirsch. Und was war da noch? Knusperhäuschen, Hänsel und Gretel, Rotkäppchen, alle diese Märchen. 64 OT Kämper Die Wände waren weiß gestrichen, weiße Wände mit Bildern an der Wand, Schneewittchen, Micky Maus, also es ist unvorstellbar, was hier sozusagen, wenn man da drin war, haben auch viele beschrieben sie haben nicht geglaubt, was sie da gesehen haben, in dieser Umgebung, und ein paar hundert Meter weiter weg brannten also die Krematorien. Sprecher Wahrscheinlich kurz vor Weihnachten 1943 kommt es zu einer Aufführung des seinerzeit bei Kindern sehr populären Märchens „Schneewittchen“. 65 OT Ruzicková Schneewittchen hat sich wahrscheinlich Fredy ausgedacht. Jedenfalls hat Fredy dazu den Text gedichtet, das waren alte Schlager und die hat er benutzt und zu den Schlagern dann einen Text erfunden. Ich kann mich noch erinnern, an die letzte Szene, nicht wahr, wie ging es denn: (sie singt) Schneewittchen man rettete dich aus der Not, die Zwergelein befürchteten den sicheren Tod, jetzt sollen wir alle immer froh und glücklich sein, Schneewittchen wird Königin sein. Also, Fredy war natürlich der Prinz. Und es war ein bildhübsches Mädchen dort, ich glaube 14 Jahre alt, absolut das Schneewittchen, und man hat Kostüme genäht aus Leinentüchern, und es waren natürlich viel mehr Zwerge als sieben. Es waren alle, alle die kleinen Kinder und die kleine Burschen Jungen und Mädchen und es war ein Ereignis und wir haben das gespielt und dann sind sogar ein paar SS gekommen, die sich wahrscheinlich, nichts zu tun hatten und haben von Schneewittchen gehört, die sind gekommen und haben zugehört. Sprecher Fredy Hirsch baut in Auschwitz mit väterlich-fürsorglicher, ja nahezu militärsicher Strenge einen geregelten Alltag für die Kinder auf. Dutzende erwachsene Betreuer, später auch jugendliche Hilfsbetreuer, organisieren unter seiner Regie für über 500 Kinder einen verlässlichen Tagesablauf, ein Stück Normalität. Er wusste, ohne Disziplin und Selbstdisziplin hat hier niemand eine Überlebenschance. Hygiene, Leibesübungen, regelmäßige Mahlzeiten waren unentbehrlich für die Stärkung körperlicher Widerstandskraft und für ein einigermaßen gesundes, ordentliches Erscheinungsbild der Kinder gegenüber der SS. Niemand sollte kränkeln oder Schwäche zeigen. 66 OT Bacon Das hat er uns auch beigebracht: auch wenn es nur Schnee ist, du musst dich waschen. Du musst frisch aussehen, du musst imponieren. Es waren jeden Tag Kontrollen von ihm, ob wir in Ordnung sind, ob wir sind gekämmt und geputzt und so weiter. 67 OT Ruzicková Er war streng, aber er war nie grausam. Er war immer liebevoll und immer verständnisvoll für die jungen Leute. Sprecher Über Fredy Hirschs erzieherischer Strenge steht allerdings ein moralischer Wertekanon, der sich unbedingter Gerechtigkeit und durchaus humanistischen Idealen verpflichtet sieht. Anstand und Haltung, Solidarität und Gemeinwohl, Empathie und Aufrichtigkeit sind für ihn Tugenden von höchstem Rang, die von Anfang an im Zentrum seiner Kinderziehung stehen. Und das heißt, auch zu teilen, Menschlichkeit und Mitgefühl zu bewahren. Die konsequente Beherzigung dieser Werte trägt bei einigen der Kinder mit dazu bei, dass sie die späteren Todesmärsche überleben. 68 OT Ruzicková Sie haben überlebt, und zwar deshalb, dass die ganze Atmosphäre im Kinderblock so war, dass man nicht stahl nicht lügen konnte, durfte. Der größte Lob, das Fredy sagen konnte, war: Du bist ein anständiger Mensch. Du bist anständig. Ich kann mich erinnern, dass ich einmal bei der Verteilung der Brote ein Brot mehr bekommen habe, und ich bin zu Fredy gegangen und habe gefragt, was soll ich mit dem Brot? Und Fredy hat gesagt: Das Brot gehört dir, weil du anständig bist. Anständig, nicht mehr. Anständig! 70 OT Bacon Er hatte Geburtstag. Und da machten wir ihm so eine Feier. Und bis heute kenne ich noch die Worte, die wir sagten. Wir sagten: „Fredy, wir lieben dich von ganzem Herzen, doch die Herzen sind voll mit Suppe“. Irgendein Gedicht, das „Wir gratulieren von Herz und Nieren“, so ging das, „doch die Niere ist voll Suppe“. Sprecher Wird Fredy Hirsch in Thereseniestadt von manch einem seiner erwachsenen Weggefährten als undurchsichtig, arrogant und eitel bezeichnet, reden seine Kinder in höchsten Tönen von ihm, einige himmeln ihn sogar an. Fredy Hirsch verkörpert seine erzieherischen Ideale. Er lebt sie charismatisch vor, überzeugend und aufrichtig, streng und einfühlsam. Er geht mit gutem Beispiel voran. Sein Auftreten ist stets adrett und mustergültig, er legt Wert auf Eleganz und soll selbst in Auschwitz sein Haar noch mit Pomade versehen und glatt gestrichen getragen haben. 71 OT Ruzicková Also Fredy ging sehr gut gekleidet in Auschwitz. Er hatte Stiefel, er hatte dunkelblaue oder schwarze Reithosen, ein dunkelblaues Hemd und eine wattierte dunkelblaue Jacke. 72 OT Bacon Weil er wusste, vor allem im Appell, wie ein preußischer Soldat. Vor allem im Appell ja, er muss tiptop sein. Schuhe und alles musste geputzt sein und er passte auf, auf Schuhe und solche Sachen in Auschwitz. Aber er wusste, dass wegen so einem Blödsinn jemand tot bestraft sein konnte, um das geht es. 73 OT Gärtner Ich glaube ihn zeichnete aus, erstens, dass er ein sehr kluger und auch ziemlich gebildeter Mensch war, ja, zweitens ein sehr ehrlicher und aufrechter Mensch auch unerschrocken, ja 74 OT Ruzicková Es hat nicht nur auf uns gewirkt, diese Haltung, sondern auch eben auf die SS-Leute. Es war so etwas ganz anderes, als das Bild eines kriechenden Juden. Es war sehr viel Deutsches dabei, natürlich. Auch bei dem, wenn ich sage „er hat uns Haltung und Anstand beigebracht“. Also es sind natürlich Werte, vor allem auch sehr jüdische Werte, aber es sind auch deutsche Werte gewesen. Und viele von diesen SS hatten vielleicht auch diese Werte respektiert. Ich weiß, dass er vor Mengele ein Zwillingspaar geschützt hat. Die Steiners, die sind ja zurückgekommen. Sprecher Unerschrocken, couragiert und schlagfertig, so lernt auch Zuzana Ruzicková Fredy Hirsch kennen, schon in Theresienstadt und dann in Auschwitz-Birkenau. Als die damals Sechzehnjährige dort ankommt, ruft er ihr beim ersten Aufeinandertreffen zu, sie solle der SS sagen, dass sie ein Jahr jünger sei und sich später bei ihm melden. Die sechzehnjährige Zuzana läuft Gefahr, in Block 1 untergebracht zu werden, ein Block, aus der der berüchtigte Lagerkapo Arno Böhm immer wieder junge Frauen rekrutiert, die bei bestimmten Feierlichkeiten der SS zu Diensten sein müssen. Zuzana Ruzicková folgt Fredys Rat, macht sich gegenüber der SS um ein Jahr jünger und wird nur vorübergehend in Block 1 untergebracht. Nach vier Tagen darf sie zu Fredy Hirsch in den Kinderblock, wo sie als Hilfsbetreuerin eingesetzt wird. 75 OT Ruzicková Er hatte mich angeschaut, hat gesagt, naja, also du bist auch schon da, was machen wir mit dir. Für ein Kind bist du trotzdem zu alt. Für eine Betreuerin bist du nicht alt genug. Naja ich weiß, die Eva Weiß, die hat eine zu große Gruppe. Ich werde dich zu ihr als Hilfsbetreuerin einteilen. Und in dem Moment ist die Tür aufgegangen und ein SS Mann ist hinein gekommen, und ich bin furchtbar erschrocken. Und er hat gesagt, naja gut also gehen wir, der Blockälteste musste mit dem SS Mann immer gehen und zählen, trotzdem der Appell schon vorbei war. Auch nach dem Appell, aber in Block 31 hat man noch extra gezählt. Und Fredy saß da ganz gemütlich und sagt, ja also Herr Oberscharführer, wo haben Sie denn heute wieder getötet und geplündert? Ich dachte, ich werde ohnmächtig. Der Mann hat so eine Bewegung gemacht und ich dachte, jetzt bringt er seinen Revolver heraus und schießt uns alle zusammen. Er hat aber sein Zigarettenetui herausgenommen, hat Fredy eine angeboten. Und Fredy hat gesagt, nein danke, ich rauche nicht. Und dann hat er gesagt, naja, du kommst morgen und wir gehen. Ich hab den Eindruck gehabt, dass da ein Dompteur saß einem wilden Tier entgegen. Sprecher Fredy Hirsch ist ein Mann mit Chuzpe, auch gegenüber der SS, die ihn bis zu einem gewissen Grad respektiert. Sein akkurates Auftreten, sein athletischer Körper, sein straffes, nahezu soldatisches Organisationstalent verschafften ihm durchaus Gehör. Zudem spricht er Deutsch. 76 OT Brod Manchmal habe ich ihm gesagt, wärest du nicht ein Jude gewesen, würden dich die Hitlerdeutschen im Feldgrau anziehen. Er war also wirklich eine starke Persönlichkeit, er hat vielleicht auch einen Eindruck auf die Deutschen gemacht, irgendwie. Sprecher Fredy Hirsch erreicht überlebenswichtige Erleichterungen für seine Kinder, ohne mit den SS-Schergen zu fraternisieren. Im Gegenteil: Als ein Junge den Zählappell im Kinderblock verschläft, wird er dafür verantwortlich gemacht und blutig geschlagen. Dennoch muss er Kompromisse mit der SS eingehen, um die bevorzugte Behandlung seiner Kinder aufrechtzuerhalten. Er muss taktieren, was zuweilen irritierend gewirkt haben kann, weil seine Erscheinung und körperliche Haltung durchaus an die Merkmale des idealisierten arischen Männerbildes erinnern. Michael Honey, der als Kind mit dem Dezembertransport in den Kinderblock kommt, war Augenzeuge einer Begegnung zwischen Mengele und Fredy Hirsch: Zitat „Einmal kam Mengele ins Krankenhaus, er kam einmal die Woche zur Inspektion. Wir standen da, und da kam Fredy. … Die zwei sprachen miteinander, und Fredy erklärte Mengele, daß jetzt im Kinderblock mehr Kinder seien als Platz und daß er einen weiteren Block für die Mädchen einrichten wolle. So gäbe es einen Block für die Mädchen und einen für die Jungen. Er sagte das schroff und kurz, zwei drei Sätze, mehr sagte er nicht. Mengele fragte ihn nach etwas, auch in zwei drei Sätzen, und Fredy antwortete ihm. Ich habe mich nur gewundert, als ich diese beiden Menschen beobachtete. Sie sahen aus wie Brüder. … Fredy sprach mit Respekt, aber selbstbewusst, sicher und eigentlich mutig, und ihm gegenüber stand Mengele, ungeheuer mächtig. Wir haben damals schon gewußt, wer Mengele war, und ich habe mir damals gesagt: Ich muss mich so verhalten wie Fredy, ich muss das lernen. Ich sah, daß Fredy auf Mengele Eindruck machte, daß es ihn interessierte, daß Juden sich wie Soldaten verhalten. Das war etwas, was ich lernen wollte und ich nahm mir Fredy als Vorbild.“ Sprecher Indem die Kinder im Kinderblock über Wochen einen geregelten Alltag und so etwas wie Normalität erfahren, wächst in ihnen Hoffnung heran, Hoffnung zu überleben. Eine Hoffnung allerdings, die die Augen vor der brutalen Lagerrealität nie verschließt. 77 OT Gärtner Ich erinnere mich noch: Im Kinderblock haben die Kinder irgendeinen Sketch gespielt. Und da kam sogar ein SS Mann und einige guckten sich das an. Es war ein Sketch, dass man in den Kamin ging, do Komina, ja, in nen Kamin, das war also uns bekannt, was da los war. 78 OT Bacon Die Kinder hatten ein Spiel. Wir sind jetzt, als ob irgendeine andere Weltund und wir gehen jetzt ins Himmel. Aber schrecklich. Wer beherrscht eigentlich den Himmel? Wieder die SS. Die haben wieder diese LKW und schicken uns weiter. Also das wurde da gespielt, dieser Realismus vom Kinder. Die wussten genau, was passiert aber machen davon auch ein Spiel. 79 OT Ruzicková Warum hat man die Kinder weiter erzogen, wenn man schon wusste? Erstens einmal ist natürlich die Hoffnung das Letzte, das einen verlässt. Zweitens. Man wollte eben den Kindern noch ein Stück Leben schenken. Normales Leben. Musik Sprecher Trotz Hoffnung und Privilegien - für die Kinder läuft die Vernichtungsmaschinerie der Nazis unerbittlich weiter. Anfang März 1944 ist es soweit: Die Sonderbehandlung der beiden Theresienstädter Septembertransporte wird von der SS in die Wege geleitet. Unter Vortäuschung einer Verlegung der Häftlinge in das Arbeitslager Heydebreck beginnt die SS spätestens am 6. März mit der konkreten Vorbereitung der Vergasung, die am 8. März durchgeführt werden soll - und wird. Um keine zu große Unruhe aufkommen zu lassen, lässt Lagerführer Schwarzhuber Listen anfertigen, in der die Berufe der Häftlinge eingetragen werden. Zudem erteilt die SS den perfiden Befehl zu einer Postkartenaktion, bei der die Häftlinge, gebeten werden, ihren Angehörigen noch zu schreiben, dass es ihnen gut ginge und sie noch Päckchen mit Lebensmitteln wünschten. Als Absendedatum müssen sie auf Anordnung der SS den 25. März 1944 eintragen, um den Angehörigen ein Lebenszeichen nach ihrem Tod vorzutäuschen. Zitat: „Liebe Tante, herzlichen Dank für reichliche Sendungen im Namen meiner Mutter und Schwester. Außer Zucker, Zwiebel, Knoblauch, Haferflocken keine Kochsahne schicken. Zucker bitte fester verpacken, Mutter näht fleißig in der Werkstatt. Innige Grüße Hana“ Sprecher Etliche Häftlinge schenken der SS Glauben und stellen sich auf ihren Abtransport in das Arbeitslager Heydebreck ein. Andere sind misstrauisch. Fredy Hirsch ist an diesem 6. März noch hin und hergerissen. Er vermag die unerwartete Entwicklung noch nicht einzuschätzen, und es scheint ihm unvorstellbar, dass nach dem wochenlangen privilegierten Umgang mit den Theresienstädtern plötzlich die Vergasung droht. Auf jeden Fall heißt es für ihn Abschied nehmen von den im Kinderblock verbleibenden Kindern der Dezembertransporte. 81 OT Ruzicková Am 07. März weiß ich, dass wir früher aufgehört haben mit den Stunden. Die Kinder haben gespielt oder irgendwas, und dann haben wir uns vorbereitet, wegzugehen und Fredy hat uns auf Wiedersehen gesagt. Was sonst nie so war. Und auf einmal kam ein ganz kleiner Junge, ich glaube 3 oder 4 Jahre mit blonden krausen Haaren und begann Fredy an den Füßen zu halten. Fredy ich will nicht von dir weg. Und Fredy hat ihn auf die Schulter genommen und mit ihm Pferdchen gespielt. Und jemand hat gesagt, der heilige Fredy. Und Fredy hat gelacht und gesagt, jaja, der heilige Fredy. Und dann gingen wir und am Abend, es war schon dunkel, kam der SS Mann wie hieß er, Buntrock, der Buntrock kam und sagte: alle Gefangenen mit die Nummer 5 sollen sich vor dem Block sammeln, und da wussten wir schon, nicht wahr. Und sie wurden auf Karren gesetzt. Er geht also nach Heydebreck. Sie wurden also in das Quarantänelager gebracht. Sprecher Fredy Hirsch ernennt Seppl Lichtenstein zu seinem Nachfolger für den Kinderblock. Am 7. März 1943 werden die knapp 3800 noch lebenden Häftlinge der Septembertransporte von den rund 4500 noch lebenden Häftlingen des Dezembertransports getrennt und kommen in das Quarantänelager BIIa. Dort werden sie auf die Baracken 2 bis 12 verteilt. Das Quarantänelager liegt hinter dem Kinderblock und ist durch einen Elektrozaun vom Familienlager getrennt. Die Rolle, die Fredy Hirsch bei den folgenden Ereignissen des 7. und 8. März spielt, ist heute nicht mehr lückenlos rekonstruierbar. Laut Fredy Hirsch Biografin Lucie Ondrichova erhält er Besuch von Rudolf Vrba, einem Widerstandskämpfer und Partisanen, dem am 7. April 1944 die Flucht aus Auschwitz gelingt. Zitat „Am Abend des 7. März 1944 besuchte ihn Rudolf Vrba, … der als Schreiber des Lagers BIIa arbeitete. Er erklärte ihm, daß es wahrscheinlich sei, dass der ganze Transport vergast würde. Fredy Hirsch wandte ein, daß es unlogisch sei, wenn sich die Nazis sechs Monate lang relativ ordentlich um die Kinder gekümmert hätten und sie dann in die Gaskammer schickten.“ Sprecher Noch am selben Abend wird eine Lagersperre verhängt. Die SS stellt Wachposten vor den Baracken auf. Niemand darf seinen Block verlassen. Die Spaltung des Familienlagers schafft Unruhe, und am anderen Morgen besteht kein Zweifel mehr an den wahren Absichten der Nazis. Wahrscheinlich haben Häftlinge des Sonderkommandos, die in den Krematorien arbeiteten und mit der Befeuerung der Öfen beginnen, entsprechende Informationen an Mitglieder des kommunistischen Widerstands weitergeleitet. Und es besteht auch kein Zweifel mehr daran, dass die Häftlinge der Dezembertransporte, die sich noch im Familienlager befinden, in drei Monaten ebenfalls vergast werden sollen. Angesichts des sicheren Todes wird der Plan zu einem Aufstand gefasst – man will nicht widerstandslos in die Gaskammern gehen. Fredy Hirsch soll dabei eine entscheidende Rolle spielen. 82 OT Kämper Diese Situation ist offensichtlich eben genauso überraschend gekommen, dass man in keiner Weise wohl davon reden kann, dass ein Aufstand vorbereitet gewesen ist, es gibt auch im Familienlager eine kommunistische Zelle, von der man weiß, dass sie natürlich in diesem Moment auch ähnliche Überlegungen anstellt, wir können es uns in diesem Moment nicht gefallen lassen, wir wissen was kommt, also müssen wir uns wehren. Es werden Kontakte eben zum organisierten Widerstand im Männerlager aufgenommen, alles sehr komplex und kompliziert aber diesen Impuls gibt es, und vieles spricht dafür, dass in dem Moment, wo man überlegt, wer soll diesen Aufstand anführen, wen nehmen wir da, und das Erstaunliche ist: die Wahl fällt auf Freddy Hirsch. Das heißt auf jemanden, der nicht zu dieser kommunistischen Gruppe gehört, der homosexuelle Zionist, zumindest der zionistische Anteil ist etwas, was für die Kommunisten eigentlich nicht wirklich besonders verlässlich erschien, aber es muss eben so gewesen sein, es war sein Transport, der da auf die andere Seite gegangen war, und man wusste, er genießt eben das entsprechende Ansehen, und offensichtlich dachte und glaubte man auch, man kann sich auf den in dieser Beziehung dann verlassen, die hätten auch andere nehmen können, aber man muss sich das in der Konsequenz überlegen, die Verantwortung auf Fredy Hirsch in diesem Moment zu übertragen, bedeutet natürlich eine unglaubliche Verantwortung, das kann man sich so, glaub ich, gar nicht vorstellen, in letzter Konsequenz, das Auslösen eines Aufstandes in einer Situation, wo man auf der einen Seite eh vom Tod bedroht ist und klar und sicher weiß, wir sterben heute Nacht in den Gaskammern als Alternative aber löse ich vielleicht einen Aufstand aus, der, wenn er sich nicht nur auf unseren Lagerteil beschränkt, sondern noch weiter ausgreift, das Schicksal von Zehntausenden von Menschen innerhalb weniger Stunden, entscheiden wird und diese Entscheidung habe ich zu treffen. Sprecher Vermutlich am späten Mittag des 8. März treten Mitglieder des kommunistischen Lagerwiderstands aus dem Familienlager an Fredy Hirsch heran. Sie versuchen ihn vom Sinn eines spontanen Aufstands zu überzeugen und fordern ihn auf, den Aufstand anzuführen. Fredy Hirsch ist unentschieden. Soll er das Leben seiner Kinder und vieler anderer, die vielleicht noch eine Zeitlang leben oder sogar Auschwitz überleben könnten, aufs Spiel setzen? Welchen Erfolg könnte ein derart spontan durchgeführter Aufstand haben? Zitat „Es kann nicht gesagt werden, daß Fredy Hirsch aktiv in der Widerstandsgruppe gearbeitet hätte. Er wurde eher durch den Druck der Umstände mitten ins Geschehen geworfen. Allen war klar, was für eine Verzweiflungstat ein eventueller Aufstand wäre.“ Sprecher Stellt Lucie Ondrichova fest und Dirk Kämper ergänzt: 83 OT Kämper Man hat ja eh keine Chance eigentlich, selbst wenn man hätte etwas vorbereiten können, das zeigen alle späteren Versuche eines Aufstandes, man hatte nichts, selbst wenn man ein paar Sprengkörper, ein bisschen Sprengstoff ins Lager geschmuggelt hatte, das waren dann sechs Granaten oder in dieser Größenordnung muss man sich das vorstellen, aber das war es dann auch und hatte mit einer Armee, einer SS, die in mehreren Ringen um das Lager stand, zu tun. Eigentlich war jedem klar, dass da nichts zu holen ist. Sprecher Fredy Hirsch ist erschöpft, klagt über Kopfschmerzen und bittet um eine Stunde Bedenkzeit. Doch zu einer Entscheidung kommt es nicht. Über Jahrzehnte ist man davon ausgegangen, Fredy Hirsch habe aufgrund seines Entscheidungsdilemmas Selbstmord begangen. Inzwischen klingt eine andere Erklärung über seinen Tod plausibler. 84 OT Kämper Es gibt einen Zufall in dieser Geschichte, einen Moment des Zufalls, und zwar: Mengele ist zuständig für den Krankenblock, Mengele ist zuständig für die gesundheitliche Versorgung, der berüchtigte Mengele, der kommt an dem Morgen aus dem Urlaub zurück, der war unterwegs, war nicht da, und in diesem B2A, also in diesem Septembertransport, bei den Leuten die zur Vernichtung vorgesehen sind, ist ein Großteil seiner Besatzung des Krankenblocks, und das hätte für Mengele große Probleme verursacht, wenn, wissend, dass die alle vernichtet werden, wäre sozusagen sein ganzer Krankenblock lahm gelegt worden, Mengele geht also hin, was durchaus üblich war in solchen Situationen, macht eine Liste von Leuten, die er da wieder raus holen will, das sind überwiegend Ärzte, Krankenschwestern, Pfleger. Diese Liste wird sozusagen auch in die Tat umgesetzt, diese Leute bekommen gesagt, ihr kommt gleich raus, ihr werdet hier wieder raus geholt, um wieder zurück auf die andere Seite zu kommen und dann in Sicherheit zu sein. Aber just in dem Moment kriegen die mit und merken die und wissen die natürlich von Fredy Hirsch und seinem Dilemma und seiner Überlegung, was soll ich machen. Ein fürchterlich nervöser, aufgeregter Fredy Hirsch, der vor einer grausamen Entscheidung steht. Und denen, die sozusagen grade ihr Leben wieder gewonnen haben, wird in dem Moment bewusst, wenn Fredy Hirsch jetzt das Falsche in unserem Sinne macht, nämlich den Aufstand auslöst, wird es ein großes Massaker geben, nicht nur wir, die wir noch hier sind, alle auf dieser Seite sozusagen im Teil B2A werden ums Leben kommen durch die Maschinengewehre der SS, sondern sehr wahrscheinlich auch die auf der anderen Seite, die ja noch nicht für die Vernichtung vorbestimmt sind, das wird ein großes Debakel, ein großes Desaster , ein einziges Blutbad geben, und die entscheiden sich in diesem Moment, diese Situation zu vermeiden, indem sie Fredy Hirsch ruhig stellen mit Schlaftabletten, mit einem schweren, starken Beruhigungsmittel. Die Absicht dahinter ist meiner Meinung, mit Sicherheit ihn einfach wirklich nur ruhig zu stellen, damit er genau das nicht tut, was zu ihrem Tod führen würde, ihnen das Leben nimmt, was sie grade wieder gewonnen haben, das ist die Absicht dahinter, einfach nur ruhig stellen. Und faktisch und in der Tat ist es so, das nächste Mal, dass ihn jemand sieht, liegt er eben bewusstlos da, kann sich nicht mehr regen, was dann in der Interpretation erst später eben als Selbstmord ausgelegt wurde, aber die Quellen, wie gesagt, von Zeitzeugen sind da eigentlich relativ klar und eindeutig. Sprecher Dita Kraus, deren Vater in Auschwitz verhungern muss, hat nie an die Selbstmordversion geglaubt. Sie stützt heute die Erklärung von Dirk Kämper. 85 OT Kraus Im Jahre 89 wurde mein Mann Otto, der Betreuer war im Kinderblock, und ich und Ruth Bondy, wurden als Delegierte zu einem Symposion eingeladen nach Theresienstadt, nach Terezin, noch im kommunistischen Regime, vor dem Umsturz, der Umsturz war im November, und wir wurden dort eingeladen im März. Jedenfalls hatte Otto Gelegenheit bei einer dieser Pausen mit Ärzten zusammen sprechen, das waren Ärzte, die waren am Krankenbau im Familienlager, und ein Apotheker, Otto fragte, wie war das mit dem Fredy, wie starb der Fredy, und das waren die Leute, die es wussten. Aber die Ärzte wollten nicht, dass der Aufstand beginnt, und deswegen gaben sie ihm Schlafmittel, und zwar größere Dosis, damit er nicht so rasch wieder aufwacht. Und als die Leute auf die Lastwagen geschickt wurden, um in die Gaskammern zu gehen, wurde Fredy im Schlaf auf einer Bahre mitgenommen. Das war, was die Ärzte meinem Mann erzählten, und das waren die Ärzte, die ihm die Pillen verreichten. Deswegen ist zweifellos, dass es kein Selbstmord war, sondern dass er im Schlaf gestorben ist. Sprecher Dita Kraus widerlegt durch die Aussagen ihres Mannes die Selbstmordthese. Wie sie halten viele der damals von Fredy Hirsch betreuten Kinder seinen möglichen Selbstmord für nicht nachvollziehbar. So auch Zuzana Ruzicková: 86 OT Ruzicková Ich hab Geschichte mit dem Selbstmord nie geglaubt, weil, das war so unwahrscheinlich. Hätte er sich dazu entschlossen, die Revolte zu führen, dann ist das Unsinn. Hätte er sich dazu entschlossen in die Gaskammern zu gehen, hätte er seine Kinder nie alleine gehen lassen. Hätte er die Möglichkeit gehabt zurückzugehen, das hätte er auch nie akzeptiert. Er hätte mit seinen Kindern geblieben. Das ist meine Überzeugung. Sprecher Doch nach wie vor gibt uns Fredy Hirschs Tod Rätsel auf. Als er am Abend des 8. März ins Krematorium gebracht wird, weisen seine Handgelenke Schnittwunden auf, die sich niemand erklären kann. Ebenso wenig weiß man, ob Fredy Hirsch nur bewusstlos oder bereits tot ist, als man ihn schließlich verbrennt. Am Abend und in der Nacht des 8. März werden insgesamt 3792 Menschen aus dem Theresienstädter Familienlager vergast, es sind fast ausschließlich tschechische Juden. 63 Personen des ursprünglich 5007 Häftlinge umfassenden Septembertransports überleben diese Nacht, darunter knapp zwei Dutzend Sanitäter, Ärzte, Schwestern und Apotheker, die für Mengeles Krankenblock von Bedeutung waren. Außerdem Kranke, die sich noch auf der Krankenstation befanden oder Personen, die Mengele aus anderen Gründen begünstigte, wie zum Beispiel die Zeichnerin Dinah Gottliebova. Sie musste für Mengele die Opfer seiner Menschenversuche porträtieren. Von den 63 verbleibenden Häftlingen erleben nur 42 das Kriegsende. 87 OT Bondy Am nächsten Tag, es gab ja Häftlinge, die die Bewilligung hatten, sich zwischen den Lagern zu bewegen – Dachdecker, Schlosser, Installateure, und die haben uns dann erzählt, was eigentlich vorgegangen ist. 88 OT Ruzicková Nun ja, also die Kinder waren tottraurig. Die Kleinen haben gefragt: Wann kommt Fredy? Und die Größeren, denen hat man das erklärt, dass Fredy nicht mehr zurückkommt, dass er gestorben ist. Wie gesagt, geweint und geklagt und, und dann musste es eben weitergehen. 89 OT Merova Es war solche Unsicherheit. Mit Fredy fühlten wir uns eigentlich sicher, und ohne ihn nicht mehr. Sprecher Große Verunsicherung greift um sich – bei allen Häftlingen des Familienlagers. Sie wissen jetzt, dass auch den Dezembertransporten nach sechs Monaten die Sonderbehandlung droht; jeder kann sich ausrechnen, wann sein Transport ins Gas gehen wird. Im Mai 1944 kommen weitere Transporte aus Theresienstadt mit 7503 Häftlingen nach Birkenau, und spätestens am 20 Juni sollte die Frist für die Dezembertransporte ablaufen. Doch entgegen der ursprünglichen Planungen der SS kommt es im Juli 1944 zu Selektionen. 3000 arbeitsfähige Männer und Frauen im Alter zwischen 16 und 45 Jahren werden für Arbeitsdienste in andere Konzentrationslager deportiert. Sie sollen schwere Aufräumarbeiten in den zerbombten deutschen Städten leisten oder an gefährlichen Frontabschnitten eingesetzt werden. Zuzana Ruzicková wird ins Hamburger Frauenaußenlager des KZ Neuengamme verlegt, wo sie nach den Hamburger Bombennächten schwerste Aufräumarbeiten leisten muss. Evelina Merova kommt zunächst nach Stutthof und wird von dort zu unmenschlichen Arbeitseinsätzen geschickt, um Panzergräben auszuheben. Auch Dita Kraus, Ruth Bondy, Jehuda Bacon, Hans Gärtner und Toman Brod werden selektiert und überleben Auschwitz. Die übrigen Häftlinge der Dezember- und Maitransporte werden am 11. und 12. Juli 1944 in den Gaskammern von Birkenau umgebracht. Mehr als 7000 Menschen finden dabei den Tod. Sprecher So rätselhaft die Todesumstände von Fredy Hirsch für uns bleiben, so rätselhaft bleiben auch die Motive, die die SS zur Einrichtung des Theresienstädter Familienlagers in Auschwitz-Birkenau bewogen haben. Von deutscher Seite gibt es dazu keine amtlichen Dokumente. Eine gewisse Plausibilität besitzt die Annahme, das Familienlager sei eingerichtet worden, um gegebenenfalls das Internationale Rote Kreuz erneut zu täuschen und aufgeschönt zu werden, wie bereits im Juni 1944 in Theresienstadt geschehen. Nämlich für den Fall, dass sich die Internationale Delegation nach dem Besuch Theresienstadts weiterhin skeptisch gezeigt und die Begehung eines weiteren Konzentrationslagers im Osten gefordert hätte. Doch dazu kommt es nicht. 90 OT Bondy Nun, Himmler hat nach langem Bitten einen Brief geschrieben, mit Bewilligung, dass die Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes Theresienstadt besuchen dürfen und ein Arbeitslager. Das heißt, es gab ja keine Arbeitslager, weil die Leute, die nach Osten geschafft wurden, sind alle umgekommen. Es kann sein, man hat das Familienlager gehalten für die Möglichkeit, dass die – es war eine Drei-Mann-Delegation – dass sie ein Lager besuchen wollten. Aber die Delegation, der Vorsitzende war ein Schweizer Arzt, Rossel, die haben sich mit dem Besuch im Ghetto begnügt. Und haben nie gefragt, wo die Tausende sind, die eigentlich dort sein sollten und haben in dem Bericht Theresienstadt als Endplatz bezeichnet. 91 OT Kämper Unter Historikern ist es bis heute unklar, wofür eigentlich das so genannte Theresienstädter Familienlager in Ausschwitz Birkenau eingerichtet wurde. Otto Dov Kulka einer der Zeitzeugen, ein wichtiger, ganz, ganz wichtiger Zeitzeuge, Historiker in Jerusalem an der dortigen Universität, hat dazu eine Theorie, die ich sehr plausibel finde. Die hat damit zu tun, über eine der Funktionen Theresienstadt, sozusagen als Kulisse für die Internationale Öffentlichkeit über das Rote Kreuz, denen dann sozusagen ein Theater vorgespielt wurde, hier ist alles in Ordnung, hier passiert doch nichts, könnt ihr euch angucken, kommt, und genau das passiert auch, es ist wohl so, dass selbst die SS an dieses Theater nicht glaubte, und Otto Dov Kulka sagt, als Backup sozusagen, als zweite Möglichkeit, wenn das nicht funktioniert, hätten die allen Ernstes versucht, das Familienlager in Ausschwitz, nämlich das Theresienstädter Familienlager sozusagen als zweite Instanz vorzuführen, den zweiten Versuch zu unternehmen, dem Roten Kreuz dort vorzuführen, das doch alles so weit in Ordnung ist. Das klingt teilweise recht absurd, ich meine das war, wenn man sich die Lage anguckt, das Familienlager in Sichtweite der Krematorien aber auf der anderen Seite, in Theresienstadt hat es funktioniert und ich kann mir vorstellen unter gewissen Umständen, wenn das schon funktioniert, wenn die sich davon so haben blenden lassen, je nachdem wie man das in Birkenau dann sozusagen aufgepeppt und geschönt hätte, hätte es vielleicht sogar auch im Familienlager in Birkenau funktioniert. Man muss dazu sagen, eben diese eine der Besonderheiten der Häftlinge im Familienlager war, die hatten keine Häftlingskleidung, denen wurden nicht die Haare geschoren, das heißt, es wurde auch da versucht, ein Anschein von Normalität zu wahren, und auch das spricht dafür, und die Auflösung und Vernichtung endgültige, dieses Vernichtungslager, des Familienlagers, korreliert ja zeitlich auch ungefähr mit dem Moment, wo das Rote Kreuz so zu sagen Theresienstadt absegnet. Damit war das Familienlager obsolet geworden, also ich glaube, da ist was dran, an dieser Theorie von Otto Dov Kulka. Musik 93 OT Merova Für uns war es etwas wie Gott. Er konnte alle unsere Probleme lösen. 94 OT Bacon Er hat mir viel gegeben, was ein Mensch tun kann für den anderen, diese Hoffnung, und dieses Positive. Und wie man kann helfen. Das war sehr wichtig für mich. Das hat mir für das ganze Leben etwas gegeben. Ich bin, und nicht nur ich, alle sind wir ihm dankbar, dass wir es überlebten – das geht wirklich auf Konto von ihm. 95 OT Ruzicková Ich hab mir vorgenommen, dass ich nie nein sagen werde, wenn mich jemand sprechen will wegen Holocaust und Lagern. Und, dass ich alles tun würde, um meine Schulden gut zu machen. Und die Schuld, die ich gegenüber Fredy habe, ist mein Leben. Sprecher: Auch über 70 Jahre nach Fredy Hirschs Ermordung in Auschwitz ist über sein Leben und Wirken weithin wenig bekannt. Er, der charismatische, vorbildliche Homosexuelle, der begnadete Redner und einflussreiche Organisator mit dem preußisch-militärischen Drill und seiner unbeugsamen Philosophie für Anstand und Gerechtigkeit, diese schillernde, ebenso vorbildliche wie widersprüchliche Persönlichkeit, die in Theresienstadt und vor allem in Auschwitz mit Empathie, hoher Moralität und aufopfernder Fürsorglichkeit bei Hunderten Kindern für ihr körperliches und seelisches Wohl einstand, er passt nicht in gängige Bewertungschemata und bleibt über Jahrzehnte ein in Vergessenheit geratener stiller Held der Geschichte. Doch Fredy Hirsch wird nicht nur lange Zeit ignoriert, er wird auch immer wieder verunglimpft, wie Dirk Kämper und die heute in Prag lebende Zuzana Ruzicková darlegen. 96 OT Ruzicková Die Kommunisten nach dem Umsturz in 48 haben ja Fredy gehasst. Da durfte der Name gar nicht genannt werden. Und in der ersten kommunistischen Zeitschrift, die nach 48 gedruckt wurde, haben die gesagt, Fredy sei ein Verräter gewesen. Er sei ein Deutscher gewesen, der mit den Nazis kollaboriert hätte, und er hätte den tschechischen Kindern deutsche Lieder gelernt. 97 OT Kämper Erster Grund, was ja natürlich viele Holocaustopfer betrifft, er hat nicht überlebt. Geschichte wird von denen geprägt und geschrieben, die überlebt haben ist völlig klar und logisch, die beschreiben, was geschehen ist. Und der zweite Grund: Fredy Hirsch ist in Deutschland geboren, aber sein Hauptwirken und genau diese Sachen für die man sich an ihn erinnern sollte und müsste, geschehen in Prag, haben sehr viel mit jüdischen tschechischen Kindern zu tun, Jugendlichen damals, Kindern und Jugendlichen, die, wenn sie überlebt haben, zurück nach Prag gehen, in dann ein sehr schnell kommunistisches Prag. Und da geraten wir in diese politische Auseinandersetzung, wer hatte die richtige Einstellung gegenüber den Nationalsozialisten, der deutschen Besatzung, und es waren die Kommunisten natürlich. Das war mit Sicherheit nicht, ganz klar, ein deutscher Schwuler, Homosexueller, wie man immer das auch nennen mag, ein homosexueller jüdischer Zionist, das widersprach sozusagen in allem dem Weltbild des Kommunismus, die für sich propagierten, wenn Widerstand, dann waren wir der Widerstand, und dem entsprach Fredy Hirsch in keiner Form, ein Deutscher noch zudem, und dann kamen sozusagen diese Diffamierungen, so würde ich es nennen, wurden auch explizit geäußert, der hat mit dieser deutschen Besatzung kooperiert, wenn nicht sogar kollaboriert, er war Deutscher, er war kein Tscheche und deutsche Helden, im kommunistischen Nachkriegs Prag, undenkbar. Geändert hat sich das im Grunde dann wirklich erst als das alles vorbei war, mit dem Ende des Kommunismus, wobei die Vorbehalte gegenüber einem jetzt wiederum homosexuellen Helden, die haben noch viel länger angedauert und ich glaube, die Berührungsängste mit so einer Person und seinem Charakter gegenüber halten teilweise bis heute an, also man merkt das auch immer wieder in Gesprächen, da tun sich Leute immer noch sehr, sehr schwer, so jemanden als Heldenfigur zu akzeptieren. Sprecher Auch heute findet man in Tschechien und Deutschland in der Öffentlichkeit nur vereinzelt Hinweise auf Fredy Hirsch. In Theresienstadt erinnert eine Gedenkmedaille an ihn, in Aachen ein Stolperstein vor seinem ehemaligen Wohnhaus. Für seine Kinder, die den Holocaust überleben, wie Evelina Merova, ist das nur schwer verständlich. 98 OT Merova Ich weiß, dass hier in Tschechien keine Schule, kein Sportplatz seinen Namen trägt. Und davon habe ich schon sehr viel gesprochen. Sehr viel geschrieben. Aber alles ist schon irgendwie benannt. Erst in Aachen jetzt bekam die Schule, die Mensa, den Namen Fredy Hirsch. Anlässlich des 100. Geburtstages von Fredy Hirsch im Februar 2016 entschließen sich städtische und konfessionelle Institutionen in Aachen, gemeinsam Gedenkfeiern durchzuführen. Sie wollen ein öffentliches Zeichen setzen für diesen großen, aber noch viel zu unbekannten Sohn ihrer Stadt. Dazu lädt das Aachener Gedenkbuchprojekt Zeitzeugen aus Tschechien und Israel ein. Am Couven Gymnasium, der früheren Hindenburgschule, die Fredy Hirsch seinerzeit besucht hatte, diskutieren sie mit Schülern und Eltern über dessen Leben und Wirken und würdigen seine Verdienste. Die Schule hat die Verpflichtung angenommen, Erinnerungskultur aktiv zu gestalten und in den Schulalltag und Unterricht einzubeziehen. Auch in Zukunft wird sich eine Schüler-AG mit Fredy Hirsch auseinandersetzen. Gerade in Zeiten, die geprägt sind von wachsender Fremdenfeindlichkeit und wiedererstarkender neonazistischer Gesinnung, erhalten Fredy Hirschs außergewöhnliches Engagement und beispielhafte Zivilcourage besondere Bedeutung und Vorbildfunktion zur Einübung in eine Kultur von Toleranz und Demokratie. Soll Demokratie eine Zukunft haben, braucht sie eine Gedächtnis: Sie muss sich erinnern. Auch an Fredy Hirsch. Musik Musikliste 1. Stunde Titel: Canzonetta für Klarinette und Orchester Länge: 01:44 Solist: David Krakauer (Klarinette) Orchester: Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin Dirigent: Gerard Schwarz Komponist: Jacob Weinberg Label: DeutschlandRadio Berlin Titel: Freilekhs Dance für Violine und Klavier, op. 20 Nr. 2 (Freilechs far Fid'l un Piano) Länge: 00:55 Solist: Ingolf Turban (V) Solist: Jascha Nemtsov (Kl) Komponist: Joel Engel Label: faszination musik Best.-Nr: 93.028 Titel: Jüdische Rhapsodie. Variationen über ein Chassidisches Thema für Klarinette, 2 Violinen, Viola und Violoncello (Jewish Rhapsody) Länge: 02:00 Solist: Dieter Klöcker (Klarinette) Ensemble: Vlach-Quartett Komponist: Fabian Gorodetzki Label: cpo Best.-Nr: 999630-2 Titel: Sinfonie Nr. 3, op. 53, 4. Satz: Finale. Andante mosso - Allegro energico Länge: 01:00 Orchester: Sinfonieorchester des Tschechischen Rundfunks Prag Dirigent: Helmut Steinbach Komponist: Wilhelm Rettich Label: BOHEMIA MUSIC Best.-Nr: BM 0023-2032 Titel: Palästina-Suite. Fassung für Klarinette, 2 Violinen/Viola/Violoncello/Klavier, op. 25, 3. Satz: Horah. Allegro molto Länge: 02:41 Ensemble: Tim, Vogler, (V) Komponist: Julius Chajes Label: SWR MUSIC Best.-Nr: CD 93.209 Titel: Ukolébavka / Wiegenlied Länge: 02:54 Interpret: Yaron Herman Komponist: Gideon Klein Label: ACT Best.-Nr: 9530-2 Plattentitel: Alter ego Titel: aus: Sinfonie Nr. 5 cis-Moll 1. Satz: Trauermarsch, bearbeitet für Jazz-Ensemble Länge: 05:50 Ensemble: Josh, Roseman, (Posaune) Komponist: Gustav Mahler, Uri Caine Label: WINTER & WINTER Best.-Nr: 910004-2 2. Stunde Titel: Papir is doch waiß. Jüdisches Volkslied. Fassung für Violine und Klavier Länge: 01:54 Solist: Christine Busch (V) Solist: Juliane Ruf (Kl) Komponist: unbekannt Label: Carus Best.-Nr: 2.401/97 Titel: aus: Trio für Violine, Viola und Violoncello, aus: Terezin/Theresienstadt 2. Satz: Variationen auf ein moravisches Volkslied Länge: 01:25 Ensemble: Jacques Thibaud Trio Berlin Komponist: Gideon Klein Label: Sophia Classics Best.-Nr: SC 17081 Titel: aus: Sonate für Violine solo (Sonata pour violon seul) Länge: 1:30 Komponist: Erwin Schulhoff Solist: Daniel Hope Label: Deutsche Grammophon Best.-Nr: 4776546 Titel: aus: Brundibár Kinderoper in 2 Akten (Die Hummel; Die Oper der Kinder von Theresienstadt 1. Akt (18'54)), Nr. 8: Finale Länge: 00:56 Solisten: Maximilian Neun (Singstimme)(Pepicek), Sigrun Bornträger (Singstimme)(Aninka) Julian Kalella (Singstimme)(Brundibár), Martin Lohmann (Singstimme)(Bäcker), Manuel Stepp (Singstimme)(Milchmann), Alena Fischer (Singstimme)(Eisverkäuferin) Dirigent: Friedemann Keck Komponist: Hans Krása Titel: aus: Between two worlds: Judgement day, (05) Fear - entrance of the examiner Länge: 00:53 Solist: Alexander Frey (Klavier) Orchester: Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin Dirigent: John Mauceri Komponist: Erich Wolfgang Korngold Label: Decca Best.-Nr: 444170-2 Titel: aus: Concerto funebre für Violine und Streichorchester, 1. Satz: Introduktion. Largo Länge: 01:08 Solist: Gil Shaham (Violine) Ensemble: Sejong Dirigent: Gil Shaham Komponist: Karl Amadeus Hartmann Label: Canary Classics Best.-Nr: CC 12 Titel: aus: 2 chassidische Tänze für Viola und Violoncello, op. 15, Nr. 2: Allegretto Länge: 02:41 Ensemble: Julia Rebekka, Adler, (Viola) Komponist: Zikmund Schul Label: NEOS Best.-Nr: 10805 3. Stunde Titel: aus: ... songs are sung... Quartett für 2 Violinen, Viola und Violoncello Nr. 3, op. 67 (Piesni Spiewaja), 1. Satz: Adagio - Molto andante - Cantabile Länge: 01:54 Ensemble: Jeffrey, Zeigler, (Vc) Komponist: Henryk Górecki Label: NONESUCH Best.-Nr: 7559-79993-3 Titel: Youkali Tango (Tango Habanera) bearbeitet für 4 Saxophone Länge: 00:55 Interpret: Pindakaas Saxophon Quartett Komponist: Kurt Weill Label: CLASSIC CLIPS Best.-Nr: ClCl 904 Plattentitel: Ballads of Good Life Titel: Trisagion. Für Streichorchester Länge: 01:16 Orchester: Lithuanian Chamber Orchestra Dirigent: Saulius Sondeckis Komponist: Arvo Pärt Label: ECM-Records Best.-Nr: 2454/55 Titel: The Beatitudes. Stück für 2 Violinen, Viola und Violoncello (Die Seligpreisungen) Länge: 01:26 Ensemble: Kronos Quartet Komponist: Vladimir Martynov Label: UNIVERSAL Best.-Nr: 1462312 Titel: aus: Lamentate. Für Klavier und Orchester, Nr. 1: Fragile Länge: 01:05 Solist: Alexei Lubimov (Klavier) Orchester: Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR Dirigent: Andrey Boreyko Komponist: Arvo Pärt Label: ECM-Records Best.-Nr: 2454/55 Titel: aus: Palästina-Suite. Fassung für Klarinette/2 Violinen/Viola/Violoncello/Klavier, op. 25 1. Satz: Introduction. Poco adagio Länge: 04:34 Ensemble: Vogler Quartett Komponist: Julius Chajes Label: SWR MUSIC Best.-Nr: CD 93.209