COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 04. Februar 2008, 19.30 Uhr Im behüteten Raum Begrenzte Bildungschancen für behinderte Kinder Ein Feature von Barbara Leitner Atmo: Vorbereitung auf das Singen Sprecherin: Musikunterricht in der zweiten Klasse der Förderschule für körperbehinderte Kinder in Oberhausen-Sterkrade, Nordrhein-Westfalen. Atmo Sprecherin: In einem Gruppenraum sitzen zwölf Kinder im Kreis - fünf von ihnen im Rollstuhl. Dazu kommen fünf Erwachsene - Lehrer, Zivildienstleistende, eine Therapeutin. Gemeinsam singend begrüßen sie den Tag. Atmo: Musik - zu Sachunterricht Ansage: Im behüteten Raum Begrenzte Bildungschancen für behinderte Kinder Ein Feature von Barbara Leitner Atmo: Katharina - Kommst Du zur Therapie... Sprecherin: Unmittelbar gegenüber den Klassenräumen befinden sich modern eingerichtete Therapieräume. Während oder nach dem Unterricht werden die Schüler hier - je nach ihren Bedürfnissen- von den neun zur Schule gehörenden medizinischen Fachleuten in ihrer Bewegung, Handlungsfähigkeit oder sprachlichen Entwicklung gefördert - auf Rezept, wie sonst in medizinischen Einrichtungen. Atmo: baue ich mit ihr einen Parcours auf mit verschiedenen Bewegungserfahrungen... Sprecherin: In spielerische Übungen verpackt, stellt die Therapeutin Annette Schultze einem Mädchen mit geschientem Bein verschiedene Aufgaben. O-Ton 1 Das merkt man gar nicht, dass das Sport ist. Atmo O-Ton 2 Ich kann mein linkes Bein nicht so gut bewegen wie das rechte, dann tut das weh...Laufen geht. Atmo O-Ton 3 Ich war erst zwei Jahre auf einer anderen Schule, auf einer Regelschule. Das war viel besser. Aber für Mama und Papa nicht. Sprecherin: An der Regelschule gab es keine Therapeuten, die Katharina im Verlaufe des Schultages körperlich förderten. Darum mussten sich die Eltern nach Schulschluss kümmern. O-Ton 4 Katharina/A.Schultze Mir hat es auf der anderen Schule besser gefallen. Da hatte ich viel mehr Freundinnen und eine ganz nette Lehrerin. Das war schöner. Du hast das dann auch nicht mehr geschafft, die anderen waren schneller als du. Sprecherin: Katharina ist eines von 84 körperlich und zum Teil auch geistig eingeschränkten Kindern zwischen sechs und sechzehn Jahren, die an der zu Schuljahresbeginn eröffneten Förderschule in Oberhausen lernen. O-Ton 5 Ich denke, wir haben ganz viel Glück gehabt mit der Schule und dem Schulträger, dem Landschaftsverband Rheinland, der keine Kosten und Mühen gescheut hat. Sprecherin: Schulleiter Sven Ricken. O-Ton 6 Der hat ungefähr 17 Millionen Euro verbaut plus noch mal ein nicht unerhebliches Budget als Unterstützung im medialen Bereich und Material und für Lehr- und Lernmittel. Wir haben bisher noch keine Sache nicht bestellen können aus Geldmangel. Es ist uns alles zur Verfügung gestellt worden. Sprecherin: An der Schule können Rollstuhlfahrer natürlich barrierefrei durch das Gelände rollen. Alle Klassen haben neben den Unterrichtsräumen ihre modern eingerichteten Räume für die verschiedenen Therapien. Außerdem gibt es für jede Klasse eine kleine Küche und extra Sanitäreinrichtungen, dazu eine neue Turnhalle und ein Therapie- Schwimmbecken. Wie an Förderschulen - den ehemaligen Sonder- oder Hilfsschulen- üblich, lernen rund ein Dutzend Kinder in einer Klasse, in der Regel betreut von zwei Lehrern sowie freiwilligen Helfern und Zivildienstleistenden. O-Ton 7 Der Ansturm ist natürlich groß, weil es sich rum spricht. Wir sind eine nagelneue Schule und wir haben alles, was wir brauchen, daher sind wir hoch attraktiv. Atmo: Singen in der Klasse - hört Felix sich freuen O-Ton 8 Wir sind Eltern eines schwerst mehrfach behinderten Kindes und wir sind froh, dass es neben den Regelschulen auch Förderschulen gibt. Sprecher: Thomas Heck. Sein Sohn Felix sitzt im Rollstuhl, bewegt sich kaum und kann nicht sprechen. O-Ton 9 Bei uns liegt der Schwerpunkt nicht unbedingt in der Vermittlung von Lerninhalten, sondern auch auf dem Schwerpunkt Pflege und das ist hier richtig gut sichergestellt, wie es eine normale Schule gar nicht leisten kann. Sprecherin: Von acht bis dreizehn Uhr kümmern sich Zivildienstleistende um den Neunjährigen, wechseln ihm die Windel, vermitteln ihm durch Streicheln oder ein Spielzeug taktile Reize und sorgen dafür, dass er in der Klasse nicht stört. Thomas Heck, der Elternvertreter ist, weiß: von den 84 Schülern der Schule braucht etwa ein Viertel diese intensive pflegerische Betreuung. Andere könnten und wollen, auch wenn sie im Rollstuhl sitzen oder anderweitig eingeschränkt sind, an einer normalen Schule lernen. Doch die weitgehende Wahlfreiheit für Eltern und Kinder, wie sie die meisten Bundesländer vorsehen, existiert nur auf dem Papier. O-Ton 10 Als Felix sechs Jahre alt wurde, kamen die Vertreter der verschiedenen Schulen in den Kindergarten, stellten sich vor und da ist es mir zum ersten Mal bewusst geworden: In Oberhausen gibt es wirklich nur eine handvoll von integrativen Schulplätzen. Wenn die abgedeckt sind, haben sie überhaupt gar keine Chance mehr zu wählen. Wenn die voll sind, an Regelschulen die integrativen Plätze, kann ein Kind nur noch an die Förderschule und das ist eigentlich eine Sache, wo ich sage, wou, da stimmt was nicht in der Politik... O-Ton 11 Ich bin im Endeffekt eigentlich auch so ein bisschen reingedrückt worden. Sprecherin: berichtet Marion Wirth, Mutter des zehnjährigen André, der an Muskelschwäche leidet und jetzt an der Förderschule lernt. Von der Grundschule wurde er verdrängt: O-Ton 12 Dann konnte das aus organisatorischen Gründen - eben weil da Treppenstufen sind, der Körper, es wird immer schlimmer, das die Muskeln abbauen und daraufhin hat die Rektorin gesagt, es geht nicht mehr. Eine andere Grundschule wäre noch möglich gewesen. Die wäre auch ebenerdig. Die wollten ihn auch nicht. Ich hätte noch versuchen können, ihn da reinzuboxen. Aber dann wollten die das auch nicht. Ich fand das auch schade, aber so sind wir mit der Schule jetzt hier - ist eine Superschule. Aber es ist eine Umstellung, dass er meist nur mit behinderten Kindern zusammen ist. Atmo: Schulhof O-Ton 13 Ich habe schon Zweifel, ob es pädagogisch wissenschaftlich begründet ist, dass es so gegliedert ist, das scheint mir mehr geschichtlich begründet zu sein. Sprecherin: meint Michael Mertens, Dezernent für Jugend und Schule beim Landschaftsverband Rheinland, dem Träger der Förderschule. O-Ton 14 Wir waren mit unserem Schulausschuss in Tirol. Da hat man 30- jähriges Bestehen der Integration gefeiert. Wir waren in Klassen in denen Kinder gemeinsam mit 3 behinderten Kindern unterrichtet wurden. Der Sonderpädagoge und der Regelpädagoge waren gleichberechtigt für die Unterrichtsgestaltung verantwortlich. Das hat mir auch sehr gut gefallen, aber ich habe auch verstanden, es braucht halt auch eine gesellschaftliche Akzeptanz. Sprecherin: Anerkennend spricht der gelernte Sozialarbeiter davon, wie Behinderte und Nichtbehinderte im österreichischen Nachbarland miteinander lernen, so wie es auch in den Niederlanden oder England, in Schweden oder Dänemark üblich ist. In Oberhausen aber unterstützte er, dass sein Landschaftsverband die neue Förderschule baute, ohne auch nur eine Kooperation mit der benachbarten Regelschule zu planen. O-Ton 15 An der Stelle muss ich erst einmal klar sagen, es gibt ein Schulgesetz. Wir sind verpflichteter Schulträger. Und wir nehmen unsere Aufgabe sehr ernst. Wir sind ein Verband, der sich auf die Fahnen geschrieben hat, wir kümmern uns um behinderte Menschen vom Kindergarten bis ins hohe Alter und wir können an dieser Entwicklung nur begrenzt mitwirken. Zitator: Schülerinnen und Schüler, die wegen ihrer körperlichen, seelischen oder geistigen Behinderung oder wegen ihres erheblich beeinträchtigten Lernvermögens nicht am Unterricht einer allgemeinen Schule teilnehmen können, werden nach ihrem individuellen Bedarf sonderpädagogisch gefördert. Sprecherin: heißt es im Schulgesetz von Nordrhein-Westfalen. Bereits 1973 forderte der Deutsche Bildungsrat die "Selektions- und Isolationstendenz im Schulwesen" zu überwinden und "die Gemeinsamkeit im Lehren und Lernen für Behinderte und Nichtbehinderte" herzustellen. Doch keines der - durch das europäische Recht erzwungenen - Landesgleichstellungsgesetze verlangt die Gleichstellung der Behinderten in der Bildung. Vielmehr regiert überall der Finanzvorbehalt, auch in Nordrhein-Westfalen. Bundesweit lernen deshalb von den knapp 500.000 Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf nur 13 Prozent an Regelschulen - übrigens von Bundesland zu Bundesland sehr verschieden, die meisten in Bremen, die wenigsten in Sachsen-Anhalt. Die große Mehrheit der Schüler, 87 Prozent, die als lernschwach oder verhaltsgestört gelten, körperlich, geistig oder sinnesbehindert sind, besuchen eine Förderschule mit dem entsprechenden Schwerpunkt. Atmo: Klasse - tippen am Computer Sprecherin: Eifrig sitzen die Mädchen und Jungen der zweiten Klasse in der Förderschule von Oberhausen-Sterkrade über ihren Aufgaben. O-Ton 16 Wir haben den Apfel mit Rosinen gefüllt und Mandeln Wir schreiben, wie wir den gemacht haben... Ich muss mit dem Computer schreiben, weil meine Hand nicht so gut arbeiten kann. Wir haben heute Morgen Englisch gehabt. Wir haben Zahlen gelernt. One, two, three, four, five...Und am besten gefällt mir der Leseunterricht. Das macht Spaß, in der Deutschgruppe zusammen lesen und zusammen zu schreiben und manchmal auch die Wörter zusammen auszutauschen, um auf andere Gedanken zu kommen. Atmo: Unterricht Sprecherin: Die Kinder versuchen ernsthaft zu erfüllen, was die Lehrerin und der Lehrer ihnen abverlangen. Sie haben ihre Träume, ihre Ziele im Leben, wissen, welchen Beruf sie einmal ausüben wollen - auch wenn sie im Rollstuhl sitzen oder Spastiker sind. O-Ton 17 Polizist oder Feuerwehrmann. Reiterin. Springreiterin - weil ich Therapie kriege wegen meiner Behinderung und da werde ich immer besser. Frisör. Das ich allen Leuten die Haare komplett abrasieren kann, komplett. Ich werde hoffentlich wie meine Schwester, die arbeitet in der Altenpflege - hoffentlich werde ich Altenpflegerin. O-Ton 18 Dass da noch ein Bild vorherrscht, was nicht so realistisch ausgeprägt ist, denke ich, ist normal. Bei Kindern dieser Klasse klar, dass Berufe, die man auch sonst kennt, vorkommen. Aber ich denke, dass da noch geguckt werden muss, wo sind meine eigenen Einschränkungen durch die Behinderung und wo meine Fähigkeiten und welche Möglichkeiten habe ich später mal im Beruf, tätig zu werden. Sprecherin: Stephan Ponten, der Lehrer dieser Kinder ist Sonderpädagoge. Das Ethos des Berufes verlangt nicht nur, sich um die Beladenen und Ärmsten zu kümmern. Die Lehrer sollen erziehen und die Schülern fördern, ihnen helfen, eine ihren Möglichkeiten entsprechende Bildung zu erlangen. Sonderpädagogen sind jene Lehrergruppe, die tariflich am höchsten eingeordnet sind und gerade an den Förderschulen gibt es Klassenfrequenzen, um die sie jeder andere Kollege beneidet. Atmo: singen mit den Kindern - hört den Ton der Sonderpädagogen O-Ton 19 Hier ist der Hauptschulabschluss prinzipiell möglich. Sicherlich werden das weniger Schüler sein, die hier so den Abschluss erreichen und auch die später die Perspektive haben, den Beruf zu erlangen. Das ist auch klar. Das ist auch Konzept und Gedanke der Förderschule. Zitator: Die sonderpädagogische Förderung hat das Ziel, die Schülerinnen und Schüler zu den Abschlüssen zu führen, die das Gesetz vorsieht. Sprecherin: d.h. auch Förderschüler sollten einen Hauptschulabschluss oder auch das Abitur erreichen können. Doch knapp 80 Prozent der Förderschüler bundesweit verlassen die Schule ohne einen Abschluss - etwa 38 000 pro Jahr. Und das, obwohl die Lehrer beabsichtigen, die Mädchen und Jungen zu "integrieren", wie sie es nennen. O-Ton 20 Wir haben Kinder aus sehr unterschiedlichen Leistungsbereichen hier an der Schule. Ganz stark ausgeprägte Fähigkeiten im kognitiven Bereichen, abhängig davon, welche Förderschwerpunkte, sehr gemischt zusammengesetzte Klassen. Also wir haben keine Klassen, wo sehr viel schwerst mehrfach behinderte Kinder sind, sondern wir haben darauf geachtet, dass die Kinder stark gemischt sind, auch die Kinder Kontakt zueinander haben können und der integrative Gedanken bei der Klassenbildung im Vordergrund gestanden hat. Atmo: Singen der Kinder O-Ton 21 Am Anfang stand ich jeden zweiten Tag hier und sagte, oh, er ist hier bestimmt ein bisschen unterfordert. Sprecherin: Marion Wirth, die Mutter von André, der seit diesem Schuljahr in der vierten Klasse der Förderschule lernen muss, weil die Regelschule ihn nicht mehr wollte. O-Ton 22 Eigentlich ist er hier von der körperlichen Verfassung ganz gut aufgehoben. Aber vom Lernen her müsste dann schon mal ein bisschen mehr passieren. Dass merkt er natürlich auch. Sprecherin: Deutlich äußert auch der Zehnjährige: An der anderen Schule habe ich mehr gelernt! Atmo: Singen der Kinder Über das Lern- und Leistungsniveau der Förderschulen in Deutschland ist wenig bekannt. Bei der PISA-Studie entschieden die Länder, die Förderschulen auszuschließen. Untersuchungen über die "Förderschule mit Schwerpunkt Lernen" allerdings - und ähnlich ist die Situation für die Körperbehindertenschule - lassen sich mit einem Satz zusammenfassen: Zitator: Je mehr Jahre ein Schüler auf der Förderschule verbringt, desto geringere Intelligenzleistungen sind von ihm auf allen Gebieten zu erwarten. Sprecherin: Hans Wocken, Professor für Sonderpädagogik an der Universität Hamburg, untersuchte 2000 und 2005 in Hamburg und im Land Brandenburg die einstigen Lernbehindertenschulen. Für sein erschütterndes Ergebnis sieht er vor allem einen Grund - die an den Förderschulen übliche "reduzierte Didaktik". O-Ton 23 Weniger lernen, quantitativ weniger lernen, qualitativ weniger lernen, nicht so anspruchsvolle, keine kreativen Aufgaben, keine Problemlösungsprozesse, sondern einfach stupides, repetitives, wiederholendes Lernen, einmal von der Lernqualität her. Dann heißt das auch, dass die Schüler so viel Unterstützung bekommen, dass sie sich nicht mehr anstrengen müssen. Sie werden nicht mehr herausgefordert und deshalb auch nicht mehr gefördert. Und dann heißt das auch, die Schüler sind alle auf einem gleichen Level und befinden sich auch in einem anregungsreduzierten Lernmilieu, wo die Kinder nichts voneinander lernen können, sondern sie sind alle arm und unterstützungsbedürftig. Und schließlich heißt Reduzierung auch Reduzierung der Lernzeit. Es geht viel Zeit mit Unterrichtsstörung, viel Zeit mit Pflegemaßnahmen drauf, also die Lernzeit ist schlicht und einfach gekürzt und das ist reduzierte Didaktik. Atmo: Schule - warten Sprecherin: An solch ein Klima der Unterforderung erinnert sich auch die 37-jährige Gülay. O-Ton 24 Weil ich mich sehr gelangweilt habe im Unterricht und ich habe immer zu Hause mit meiner Schwester oder meinem Bruder meine Hausaufgaben gemacht und die haben immer gesagt, du kapierst das immer so schnell. Warum geben sie dir so Pippi-Aufgaben auf. Sprecherin: Gegen das Urteil der Lehrer, sie sei lernbehindert, kämpfte die spastisch gelähmte Frau im Rollstuhl für ihr Recht auf Bildung. An der Volkshochschule holte sie Englisch und Mathematik nach, um dann an der Köperbehindertenschule ihr Abitur ablegen zu können. Als Nachteil sieht sie heute, dass sie dort wieder nur unter Behinderten lernen musste. O-Ton 25 Wir wurden immer sehr gut behütet, gesondert und getrennt. Aber als ich dann nach dem Abitur studiert habe, dann war das für mich in einer Welt voller Nichtbehinderter und das war für mich vollkommen neu, weil die nehmen keine Rücksicht auf uns. Oder sagen wir mal so, man muss sich sehr durchbeißen als Körperbehinderte. Ich schmunzle gerade etwas. Man musste sogar den Professoren auf die Füße rollen und sagen: Hallo, ich kann aber nicht nur eine Stunde schreiben. Ich brauche länger, weil ich einer Helferin diktieren muss. Und das ist auch für die so neu, dass sie auch selber nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Sprecherin: Die als lernbehindert eingestufte Gülay legte ihr Examen als Diplompsychologin ab. In Oberhausen arbeitet sie - unterstützt durch eine Assistentin - in einem Krankenhaus mit psychisch Kranken und traumatisierten türkischen und kurdischen Patienten - eine berufliche Perspektive, auf die noch immer viele Behinderte in Deutschland verzichten müssen. Gülays Klassenkameraden an der Lernbehindertenschule entstammten oft wie sie Migranten- oder einfachen Arbeiterfamilien - daran hat sich auch heute nichts geändert. Gleichzeitig stieg in den letzten Jahren die Zahl der Kinder, die an Förder- und vor allem an Lernbehindertenschulen abgeschoben werden. O-Ton 26 Die Lehrer haben vorher diese Arbeit den Umgang mit Schwachen und Schwierigen getan mit größter Selbstverständlichkeit. Seitdem sie sehen, dass es dafür gesonderte Ressourcen gibt, denken sie, warum soll ich mich damit abmühen. Für diese Kinder sind andere zuständig. Folglich gebe ich das ein Stück ab. Es ist ein Stückchen Entlastung. Sprecherin: Mit den seit PISA üblichen immer neuen Tests müssen Schüler wie Lehrer nachweisen, dass sie den Bildungsstandards gewachsen sind. Dadurch erhöht sich offensichtlich die Bereitschaft bzw. der Druck all jene auszusortieren, die schwierig sind, Sprachprobleme haben, andere Lernwege bevorzugen oder einfach nur etwas mehr Unterstützung brauchen. O-Ton 27 In den Köpfen der Gesellschaft gibt es ein Bewusstsein: Behinderte Kinder gehören da hin. Zitator: Der Sonderberichterstatter stellte fest, dass die Einbeziehung von behinderten Menschen in die Regelschulen nicht die Norm ist. Sprecherin: heißt es im UN- Bericht für das Recht auf Bildung vom März 2007. Der Diplomat und Erziehungswissenschaftler Vernor Muñoz urteilt nach der Inspektion des deutschen Schulsystems: Zitator: Folglich kann die vom Staat propagierte Integrationspolitik als Politik der Absonderung ausgelegt werden, die letztlich dazu führt, dass die meisten behinderten Kinder eine Sonderschule besuchen. Atmo Kongress Sprecherin: Köln, Ende 2007. Der Kongress "Eine Schule für Alle" bringt Wissenschaftler, Praktiker, Politiker, Schüler und Eltern zusammen. O-Ton 28 Ich sehe, dass die Politik das nicht so möchte. Man möchte Eliteförderung, Leistung ist das große Stichwort. Ich bin auch nicht gegen Leistung. Aber ich finde, Leistung ist etwas sehr Individuelles. Man kann nichts sagen, das ist Leistung und die muss jeder erbringen. Sprecherin: Angela Josef aus Bad Honnef, Mutter von drei Töchtern, die älteste, Lina, mit Down Syndrom. Seit acht Jahren besucht Lina die Regelschule - trotz Behinderung. O-Ton 30 Ich bin in einer Gesamtschule in Bonn-Beul. Ich bin in der 8/1. Mit allen Kindern zusammen - schon drei Jahre. Vorher war ich in der Grundschule. Sprecherin: erzählt die 14jährige Lina. Dabei besteht das "Geheimnis" ihrer Integration und besonderen Förderung darin, dass der Unterricht für alle Mädchen und Jungen individualisiert wird. Die Schüler lernen nicht länger im Gleichschritt. Vielmehr bekommt jeder die Aufgaben, die zu seinem Leistungsvermögen passen, lernt für sein Ziel und wird entsprechend benotet. Deshalb erlebt Lina nicht, dass andere Kinder schneller oder besser lernen, - sie immer das Schlusslicht ist, ein Argument, weshalb Eltern behinderter Kinder oft den gemeinsamen Unterricht fürchten. O-Ton 31 In meiner Klasse passiert das manchmal. Ich bin da auch nicht traurig. Atmo O-Ton 32 Sie fühlt sich da geborgen. Sie war schon im integrativen Kindergarten. Ich denke, wenn sie an eine Sonderschule käme, würde sie sich erst einmal völlig überbehütet fühlen. Und ich habe auch für mich die These, dass die Kinder an der Sonderschule gar nicht so viel gefördert werden können, wie sie durch den normalen Umgang gefördert werden können. Sprecherin: Die körperlich und geistig überlegenen Kinder aber profitieren ebenso sozial wie intellektuell vom Umgang mit den behinderten Kindern, kann Hans Wocken belegen. T O-Ton 33 Wissenschaftlich ist diese Frage erledigt. Es gibt nicht einen einzigen empirischen Nachweis, dass durch die Anwesenheit von behinderten Kindern das Leistungsniveau sinkt. Da kann man sich auch auf PISA berufen. Schulsysteme, die integriert arbeiten, sind keineswegs schlechter als Systeme, die sehr stark separiert funktionieren, wie das deutsche System. Zitator: Die Rechtsvorschriften des Bundes und der Länder sind dahingehend zu ändern, dass die Verpflichtung der Bildungsbehörden, für die Bildung von Menschen mit Behinderungen zu sorgen, verstärkt wird. Sprecherin: empfahl der Menschrechtsbeauftragte der UNO, Venor Munoz den deutschen Kultusministern und benannte auch den Grund für ihre Aussonderungspolitik: Zitator: dass - trotz erfolgreicher ausländischer Beispiele eines Schulsystems für alle Schüler, durch das Kinder die Möglichkeit haben, für einen längeren Zeitraum gemeinsam zu lernen und durch das alle angehalten werden, bessere Ergebnisse zu erzielen - die Diskussion über das mehrgliedrige System große Angst und Widerstand auszulösen scheint, insbesondere Besorgnis über den Verlust von Privilegien für diejenigen, die am meisten vom aktuellen System profitieren. Sprecherin: An den Bildungspolitikern prallte die Kritik des internationalen Botschafters ab, seine Vorschläge blieben bisher unbeachtet. Doch häufen sich in jüngster Zeit Urteile der Bundesverwaltungsgerichte, mit denen die Wahlfreiheit der Eltern gestärkt wird. Zitator: Es falle nicht in die Zuständigkeit der Schulaufsichtsbehörde, Kinder gegen den Willen der Eltern in Sonderschulen unterzubringen; besonders dann nicht, wenn eine - zwar private, aber gutachterlich empfohlene - integrative Unterrichtung gewährleistet sei. Der Elternwille sei für die Wahl der Schulform an die erste Stelle zu setzen. Sprecherin: urteilte beispielsweise das Verwaltungsgericht Köln im August 2007. Eltern eines Mädchens mit Down-Syndrom meldeten ihre Tochter, nachdem sie keinen Platz an einer staatlichen integrativen Schule gefunden hatten, an einer integrativen Waldorfschule an - und schickten sie nicht an die staatliche Sonderschule, wie die Behörden verlangten. Das Gericht gab ihnen Recht - dem bisherigen Finanzvorbehalt zum Trotz. O-Ton 34 Der nächste Schritt, der angesagt wäre, wäre ein schrittweises, jahrgangsweises Auslaufen der Förderschule für Lernbehinderte. Der zweite Schritt wäre eine konsequente finanzielle Umsteuerung. Sprecherin: fordert der Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz von der Politik und den Schulträgern. Der an der Technischen Universität Berlin tätige Professor begleitet und unterstützt mit seinem Wissen tatsächliche Integration von Behinderten. O-Ton 35 Preuss-Lausitz/Mertens Erst einmal ein intelligentes Gesamtfinanzierungskonzept vorlegen, wo die verschiedenen Träger, die an der Schulbildung im Bereich der Förderkinder beteiligt sind, an einem Strang ziehen und zusammensitzen müssen und sich abstimmen und auch intelligente, neue Finanzmodelle entwickeln. Wenn man alles Geld, was in der Schullandschaft, was in die Regelschule und das Förderschulsystem wandert in einen großen Beutel zusammenkippt, dann wäre es möglich. Sprecherin: ist auch Michael Mertens, der Dezernent bei dem Schulträger der neuen Förderschule in Oberhausen, überzeugt. O-Ton 36 Aber so einfach den Schalter umzulegen geht eben nicht. Sprecherin: Obwohl Deutschland in den 70iger Jahren international zu den Pionieren in Sachen Integration von behinderten Kindern gehörte, es zahlreiche Schulen gibt, die erfolgreich Behinderte und Nichtbehinderte im gemeinsamen Unterricht fördern, fällt es offensichtlich schwer, den inzwischen erheblichen Nachholbedarf zu akzeptieren und zu handeln. Doch Ulf Preuss-Lausitz hat erste, ermutigende Erfahrungen. O-Ton 37 Schleswig-Holstein hat beschlossen, dass es nur noch einen Etat sowohl für die Sonderschule als auch die gemeinsame Erziehung gibt und nicht mehr nach Sondergutachten die Gelder in die Schulen fließen, sondern nach der Zahl der schulpflichtigen Kinder insgesamt in einem Landkreis. Wenn also ein Landkreis 10 Prozent der Kinder hat, von Schleswig-Holstein, dann kriegt er auch 10 Prozent der sonderpädagogische Mittel und der Landkreis so und so entscheidet dann selbst , wie er seine Gelder, die sonderpädagogischen Lehrkräfte einsetzt und dann muss lokal entschieden werden, machen wir Integration oder machen wir Förderschule und wenn eine starke Gruppe entscheidet, wie wollen mehrolstein entspricht. Integration, dann gibt es aber auch weniger Mittel für den anderen Teil. Sprecherin: In Schleswig-Holstein steigt seitdem die Zahl der Förderschüler nicht weiter, wie in anderen Bundesländern. Der Erziehungswissenschaftler hatte bereits Mitte der 90er Jahre an Modellrechnungen in Berlin, Brandenburg und Schleswig-Holstein nachgewiesen, dass der gemeinsame Unterricht von Behinderten und nicht Behinderten effektiver als die Förderschule ist! Bis dahin hieß es immer ungeprüft- Integration sei teurer - was auch stimmt, wenn man nur die Lehrerstellen betrachtet. Doch gerade in Flächenländern lassen lange Fahrtwege für Kinder und Therapeuten die Kosten für die Förderschule immens steiger. Deshalb beginnen inzwischen einige Schulträger umzusteuern - auch unter dem Druck der demographischen Entwicklung. Doch die Ausgrenzung an den Schulen in Deutschland zu beenden, sich um die individuelle Förderung eines jeden Kindes zu kümmern, verlangt vor allem, dass alle Schulen ihren eigenen pädagogischen Anspruch formulieren, meint Professor Preuss-Lausitz: O-Ton 38 Nämlich wir nehmen jeden, wir unterstützen jeden, aber wir leugnen auch keine Probleme und wir wissen doch natürlich, dass heute in allen Schulformen Klassen existieren mit einer großen Bandbreite der Voraussetzungen, fächerspezifisch wie auch fachübergreifend und verhaltensbedingt und das da viele Kollegen Probleme haben, ist nachvollziehbar. Aber man muss ihnen auch helfen, sie zu bewältigen. Atmo Sprecher v. D. : Im behüteten Raum Begrenzte Bildungschancen für behinderte Kinder Ein Feature von Barbara Leitner Es sprachen: Marina Behnke und Joachim Schönfeld Ton: Ralf Perz Regie: Rita Höhne Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2008 1