HINTERGRUND KULTUR UND POLITIK Reihe : Zeitfragen/Literatur Ko T Titel der Sendung : Im Herzen der Finsternis? qq Literatur und Kolonialismus Autor/in : Michael Reitz Redakteurin : Dorothea Westphal Sendetermin : 27.05.2016 Besetzung : Sprecherin (Kommentar), Zitator Regie : Stefanie Lazai Produktion : O-Töne, Musik Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503- Anmoderation: 1916 ist der Traum des Deutschen Kaiserreichs, eine See- und Kolonialmacht zu bleiben, ausgeträumt. Die Besitzungen in Afrika sind im Zuge des Ersten Weltkriegs an Großbritannien und Frankreich verlorengegangen. Verlorengegangen ist am 31. Mai 1916 auch die entscheidende Seeschlacht am Skagerrak. Ihr prominentester Gefallener: Der Autor Johann Kinau, alias Gorch Fock. Die Propaganda des Kaiserreichs versucht nach seinem Tod, den norddeutschen Heimatdichter zu einem Sprachrohr des deutschen Kolonialismus zu machen, der er nie war. Vorbild hierfür sind vor allem britische Autoren, die untrennbar mit der Kolonialgeschichte und ihrer literarischen Beschreibung verbunden sind: Daniel Defoe, Rudyard Kipling oder Joseph Conrad. Musik "Heil dir dem Siegerkranz" – "Rule Britannia" Lindner: Im zweiten Teil des Robinson Crusoe da finden wir auch Crusoes immerwährendes Warnen und die Vorsicht vor interkulturellen Konflikten und auch als mahnende Stimme, die sich auf Gott beruft und zum Gewaltverzicht aufruft. Welz: Das war eigentlich auch eine Eliteideologie zu der Zeit. Das waren Leute, die wussten worüber sie sprachen. Haefs: Man muss, glaube ich, ganz grundsätzlich unterscheiden zwischen dem Empire als Idee und dem Empire als damalige Realität. Schenkel: Bei Conrad ist es auch so, dass der Kolonialismus auch eher ein Vorhang ist, den man vielleicht beiseite schieben muss. Timm: Das wurde ernsthaft diskutiert – welche Folgen hat das, wenn man die Nilpferdpeitsche benutzt, bedeutet das, dass das Gesäß beschädigt wird, eitert, und der Mann kann nicht mehr arbeiten. Sprecher: In seinem 2012 erschienenen Roman "Imperium" beschreibt Christian Kracht das Benehmen teutonischer Kolonisten während der Fahrt zum Bismarck-Archipel im Pazifik, das bis 1914 in deutschem Besitz war: Zitator: Es war ganz und gar nicht auszuhalten. Blässliche, borstige, vulgäre, ihrer Erscheinung nach an Erdferkel erinnernde Deutsche lagen dort und erwachten langsam aus ihrem Verdauungsschlaf, Deutsche auf dem Welt-Zenit ihres Einflusses. Sprecher: Aus fast hundertjähriger, stark ironisierender Distanz schreibt Christian Kracht ein Stück kolonialer Literatur. Dieser literaturhistorische Stempel meint jedoch keineswegs nur die unkritische Haltung von Hurra-Patrioten und Agitatoren der Ausbeutung fremder Völker. Denn die besten Erzeugnisse dieses Genres sind Entwicklungsromane, Dokumente einer europäischen Mentalitäts- und Verdrängungsgeschichte. Das beginnt schon 1719, dem Jahr, in dem Daniel Defoes "Robinson Crusoe" erscheint. Oliver Lindner: Defoe schreibt darüber, wie er sich koloniale Beziehungen vorstellt. Sprecher: Der Anglistik-Professor Oliver Lindner. Lindner: In dem Verhältnis von Freitag, dem Diener, und Crusoe selbst als dem Herren, werden ganz programmatisch Dinge festgeschrieben, wie eine koloniale Beziehung funktionieren sollte. Das heißt, mit einem dankbaren aufnahmebereiten und immer zur Stelle seienden Diener und natürlich mit Crusoe als dem britischen Kolonialherren, der aber mit viel Güte waltet und das Einverständnis des Dieners somit auch hervorbringt. Sprecher: "Robinson Crusoe" – Generationen von Lesern kennen das Buch als die abenteuerliche Geschichte eines Schiffbrüchigen, der sich auf einer einsamen Insel mit seinem eingeborenen Gefährten Freitag eine eigene Welt aufbaut. Doch bekannt ist den meisten Lesern nur der erste Teil des Romans, der mit Crusoes Rettung endet. Den zweiten Teil jedoch könnte man, so Oliver Lindner, fast als eine Programmschrift des britischen Kolonialismus bezeichnen: Lindner: Der zweite Teil heißt zu Deutsch "Die späteren oder weiteren Reisen des Robinson Crusoe". Hier kehrt Robinson nach einigen Jahren in Großbritannien zurück auf seine Insel. Danach führt ihn die Reise nach Brasilien, wo er einige Zeit verbringt, von dort aus über Madagaskar nach Südasien. Schließlich kehrt Robinson nach zehn Jahren über Sibirien nach London zurück. Das heißt, wir haben hier eine Weltreise, die Robinson vornimmt – leider von nur wenigen Lesern zur Kenntnis genommen. Musik Zitator: Ich verkaufte bald meine Waren, und das sehr vorteilhaft. Meiner ursprünglichen Absicht entsprechend, erstand ich hier einige sehr schöne Diamanten, die unter allen anderen Dingen in meiner Lage für mich am geeignetsten waren, weil ich auf diese Weise stets mein gesamtes Vermögen bei mir tragen konnte. Lindner: Ein bedeutender Bestandteil von Robinsons späterem Leben ist schlichtweg die Reise an sich und auch das Kennenlernen anderer Völker, wobei Robinson es nie vergisst, die von ihm bereisten Landstriche auch darauf zu untersuchen, wie wirtschaftlich rentabel denn Handelsbeziehungen zu ihnen aufgebaut werden können. Den Handel und das Geschäftemachen verliert er nie aus dem Blick bei all seiner Reiselust. Sprecher: Dem Helden geht es vor allem um das Geschäfte- und Projektemachen. Robinson ist das literarische alter ego des ebenso produktiven wie finanziell erfolglosen Autors Daniel Defoe. Der versuchte nämlich in seinen theoretischen und journalistischen Schriften immer wieder, sich bei offiziellen Stellen als innovativer Manager des britischen Königreichs zu profilieren – mit wenig Erfolg. Lindner: Ein Plan von Defoe war beispielsweise, alle Seeleute zum Wehrdienst zu verpflichten. Es gab auch soziale Ansätze in seinem Werk, z.B. den Plan, dass Heime errichtet werden für Behinderte und dass das Geld für diese Heime von den Intellektuellen kommt – nämlich über eine Büchersteuer. Also Defoe sah hier die Intellektuellen in der Pflicht: Wer Bücher kauft, wer liest, sollte mit einer Steuer diejenigen unterstützen, denen es nicht möglich war, ihren Intellekt so zu prägen. Und das klingt auch erstaunlich modern. Sprecher: Als "Robinson Crusoe" 1719 erscheint – Daniel Defoe steht in seinem 59. Lebensjahr, ist zweimal bankrott und einmal wegen religionskritischer Äußerungen im Gefängnis gewesen – schlägt das Buch ein wie eine Bombe. Kaufleute, Händler und Banker – allesamt die ersten Profiteure der beginnenden britischen kolonialen Expansion – fühlen sich durch den geschäftstüchtigen Vagabunden Crusoe gespiegelt. Lindner: Möglicherweise hat Defoe auch erkannt, dass er mit einem literarischen Text ganz andere Leserschichten erreicht als mit seinen journalistischen Schriften. Und deswegen lassen sich diese auch so gut vergleichen. Die darin geschilderten Zustände sind sich unter Umständen sehr ähnlich, aber einmal ist es ein literarisches Werk, und ein andermal wird es in einer politischen Schrift verkündet. In beiden finden wir aber Defoes tiefe Überzeugung, dass koloniale Expansion zum Wohle Englands der richtige Weg sei. Sprecher: Obwohl "Robinson Crusoe" in England ein Riesenerfolg wird – bald ist es nach der Bibel das meistverkaufte Buch – geht sein Autor nahezu leer aus. Daniel Defoe hatte sich von einem windigen Verleger übers Ohr hauen lassen. Liest man "Robinson Crusoe" als ideengeschichtliches Werk, dann sind die religiöse Färbung und die Aufforderung zu Toleranz nicht zu übersehen, so der Defoe-Forscher Daniel Lindner. Lindner: Er war immer der Ansicht, dass Gott eine unvollkommene Welt geschaffen hat, und diese unvollkommene Welt hat den Zweck, dass Menschen sich austauschen müssen, um vollkommener zu leben. Im zweiten Teil des Robinson Crusoe da finden wir auch Crusoes immerwährendes Warnen und die Vorsicht vor interkulturellen Konflikten und auch als mahnende Stimme, die sich auf Gott beruft und zum Gewaltverzicht aufruft. Musik: Rule Britannia, Britannia rule the waves Sprecher: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist Großbritannien zu einem Weltreich geworden. Es beherrscht die Meere und knapp ein Viertel der Erde, darunter auch Indien. In Bombay, dem heutigen Mumbai, kommt dort 1865 Rudyard Kipling zur Welt. Der Sohn eines britischen Lehrers wird später zum Inbegriff des britischen imperialen Sendungsbewusstseins. Früh ist Rudyard Kipling in zwei Welten zuhause: in der distinguierten Lebensart der Briten, die an einem Kontakt zur einheimischen Bevölkerung wenig interessiert sind. Und in der bunten Vielfalt Indiens, die sich für ihn vor allem in der Fabulierkunst seiner Kinderfrau zeigt. In seiner posthum veröffentlichten Autobiographie "Etwas über mich selbst" erinnert sich Kipling: Musik Zitator: Vor dem Mittagsschlaf erzählte sie (…) uns (…) Geschichten oder sang indische Kinderlieder, die alle noch unvergessen sind; danach wurden wir (…) in das Speisezimmer geschickt mit der Ermahnung: "Sprecht jetzt englisch mit Papa und Mama!" Sprecher: Als die Familie 1882 in das nordindische Lahore zieht, wird Rudyard Kipling trotz seiner Jugend Redakteur einer anglo-indischen Tageszeitung. Er ist das Geschöpf zweier Welten: Zum einen ist er ein Kind des Britischen Empires, das sich als geistig überlegen empfindet. Zum anderen liebt er das bunte Treiben des indischen Subkontinents, seinen Reichtum an Erzählungen, Völkern und Religionen. Die Briten verstehen sich als Botschafter der Zivilisation. Über dieses Selbstverständnis sagt der Kipling-Biograph Stefan Welz: Welz: Das war eigentlich auch eine Eliteideologie, zu der Zeit. Das waren Leute, die wussten, worüber sie sprachen. Die waren vor Ort. Die haben natürlich auch geschaut: Wie können wir hier etwas bezwecken. Das heißt also, wir wollen die Leute jetzt nicht völlig kontrollieren, wir wollen die Leute jetzt nicht ausbeuten bis zum geht nicht mehr solange die sich nicht zu sehr daneben benommen haben. Sprecher: Der enorm begabte und fleißige Autor Rudyard Kipling veröffentlicht eine Fülle von Kurzgeschichten und längeren Erzählungen, in denen es häufig um die einfachen Menschen Indiens geht. Trotz seiner Distanz zur Lebensart der Briten steht Rudyard Kipling zum Kolonialgedanken. Doch in seinen literarischen Texten stellt er immer wieder die Frage, ob die richtigen Männer auch auf dem richtigen Posten eingesetzt werden. Seine Kritik richtet sich dabei meistens auf Selbstherrlichkeit und Bürokratismus in der kolonialen Verwaltung. Dem britischen Königreich liegt zur damaligen Zeit sehr daran, sich von anderen Kolonialmächten zu unterscheiden, so der Bonner Schriftsteller und Kipling-Übersetzer Gisbert Haefs: Haefs: Man muss, glaube ich, ganz grundsätzlich unterscheiden zwischen dem Empire als Idee und dem Empire als damalige Realität. Selbstverständlich war das englische Empire eine große Ausbeutungsmaschine. Das hat auch Kipling nie bestritten. Der wusste genau, wie die Handelsströme verlaufen und wo das Geld sitzt. Andererseits ist das Empire natürlich auch eine zivilisatorische Idee. Die von uns heute eher belächelt wird. Sprecher: Imperialismus, so die Doktrin des britischen Empires, unterscheidet sich vom brachial ausbeutenden Kolonialismus durch seine pädagogische Ausrichtung: die Kolonialmacht als väterlicher Freund und Entwicklungshelfer. Der Schriftsteller Rudyard Kipling ist ein Produkt dieses Wertesystems, wobei eigene Leistung höher einzuschätzen ist als ererbte Lorbeeren und Pionierarbeit wichtiger ist als stupide Verwaltung und Prinzipienreiterei. Ausdruck seiner Idealvorstellung, die Kipling für manche Zeitgenossen zum imperialen Poeten macht, ist ein Gedicht, das 1899 erscheint. Schon der Titel – "The White Man’s Burden" – "Die Bürde des Weißen Mannes" – brachte und bringt jeden Kolonialismusgegner auf die Palme. Musik Zitator: Ergreift die Bürde des Weißen Mannes – schickt die Besten aus, die ihr erzieht – bannt eure Söhne ins Exil, den Bedürfnissen eurer Gefangenen zu dienen. Die Häfen, in die ihr nicht einlaufen dürft, die Straßen, die ihr nicht betreten werdet, geht, macht sie mit euren Lebenden und markiert sie mit euren Toten! Ergreift die Bürde des Weißen Mannes – und erntet seinen alten Lohn: den Tadel derer, die ihr bessert, den Hass derer, die ihr hütet. Sprecher: Doch bei genauerer Betrachtung ist es eines der literarischen Produkte, die konsequent missverstanden werden – so sieht es jedenfalls der Kipling-Übersetzer Gisbert Haefs: Haefs: Das heißt, das ist keine Aufforderung zur kolonialen Ausbeute, sondern es ist eine Aufforderung zu natürlich vormundhafter, aber Entwicklungshilfe. Und an dieser Stelle schrieb Kipling eben dieses Gedicht. Kümmert euch! Und: Ihr werdet dafür nie Dank bekommen. Go, make them with your living. And mark them with your dead. Das ist kein imperialistisches Hurra-Geschrei. Das ist eine bitterernste Aufforderung zu bitterernster Entwicklungsarbeit. Sprecher: Ähnliches gilt für das wohl bekannteste Werk Rudyard Kiplings, die "Dschungelbücher". In der englischen Originalausgabe sind es zwei Bände, die 1894 und 95 erscheinen. Auch sie verfolgen durchaus Zwecke im Sinne des Empires. Erzählt wird die Geschichte des Findelkindes Mogli, das im Dschungel von dem Panther Bagheera und dem Bären Baloo aufgezogen wird. Dort werden ihm zum Beispiel die Fundamente dessen erklärt, worum es auch im Leben eines Empire-Mitglieds gehen sollte: Musik Zitator: Das Gesetz des Dschungels (…) enthält Vorkehrungen für nahezu alles, was dem Dschungel-Volk zustoßen mag, sodass sein Regelwerk nun so vollkommen ist, wie Zeit und Gewohnheit es nur machen können. Baloo war es, der ihm sagte (…) dass das Gesetz wie die Riesenliane sei, die jedem über den Rücken fällt und der keiner entkommen kann. Sprecher: Der Kipling-Biograph Stefan Welz beschreibt, warum das "Dschungelbuch" mehr ist als Kinder- und Jugendliteratur: Welz: Wir können die Dschungelbücher auf mehreren Ebenen lesen. Da ist ja das Abenteuerliche da, mit diesem Mogli-Jungen. Aber es gibt natürlich diese ganzen philosophischen Ebenen. Das Gesetz. Das war zum Beispiel ein Teil von Kiplings Empire-Identität. The Law. Für ihn zeichnete sich eine zivilisierte Gesellschaft, die auch das Recht hat, anderen den Fortschritt zu bringen, durch dieses Gesetz aus. Sprecher: Für Rudyard Kipling ist das Empire, das immerhin auf der Unterdrückung fremder Völker basiert, die Krönung des Fortschritts. Am britischen Wesen wird die Welt genesen, so die feste Überzeugung eines Schriftstellers, der den größten Teil seines Lebens in den Kolonien verbracht hat und sich dort auch wohl fühlte. Kipling sieht die imperiale Idee keineswegs unkritisch, aber optimistisch. Einer seiner schreibenden Zeitgenossen macht sich in diesem Zusammenhang keinerlei Illusionen. Musik: Filmmusik "Batman Returns" Zitator: Ich hatte mir meinen Albtraum ausgesucht, und nun würde ich auch dazu stehen. Mir lag viel daran, dass ich allein mit diesem Schatten fertig wurde, und bis heute weiß ich nicht, warum ich so eifersüchtig darauf bedacht war, die ganz besondere Schwärze dieser Erfahrung mit keinem anderen zu teilen. Sprecher: Diese Zeilen stammen aus dem Roman "Herz der Finsternis" des englischen Schriftstellers polnischer Herkunft Joseph Conrad. 1899 veröffentlicht, ist er die literarische Verarbeitung einer Reise, die Joseph Conrad zehn Jahre vor Erscheinen des Buches als Kapitän eines Handelsschiffes auf dem Fluss Kongo unternahm. Musik: Filmmusik "Batman Returns" Zitator: Wir drangen tiefer und tiefer in das Herz der Finsternis vor. Es war sehr still dort. Nachts hörte man bisweilen Trommeln. Ob sie von Krieg oder Frieden kündeten, ob es Gebete waren, das wusste keiner von uns. Wir staunten, waren insgeheim entsetzt, wie Gesunde es bei einem Aufstand in einem Irrenhaus sind. Sprecher: Was der Autor dort zu sehen bekam, ist eine der brutalsten Episoden der Kolonialgeschichte. Das zentralafrikanische Kongogebiet – Privatbesitz des belgischen Königs Leopold II. – war reich an Kautschuk, einem damals heiß begehrten Rohstoff. Die belgische Verwaltung behandelte die schwarze Bevölkerung wie Sklaven. Musik: Filmmusik "Batman Returns" Zitator: Sie wären sogar noch eindrucksvoller gewesen, diese aufgespießten Schädel, wenn sie die Gesichter nicht zum Haus gewandt hätten. Was sie mir zeigten, war nur, dass Mister Kurtz keine Hemmungen kannte, wenn es um die Befriedung seiner vielfältigen Gelüste ging. Sprecher: Arbeitern, die mit zu geringer Kautschuk-Ausbeute aus dem Dschungel zurückkamen, wurden die Hände abgehackt – unabhängig davon, ob es sich um Kinder oder Erwachsene handelte. Heutige Schätzungen gehen davon aus, dass innerhalb von zwanzig Jahren zwischen 500.000 und 1,5 Millionen Menschen ermordet wurden. Doch in dem Roman "Herz der Finsternis" geht es nicht nur um eine Beschreibung dieser Gräuel, so der Leipziger Literaturwissenschaftler Elmar Schenkel, Autor einer Conrad-Biographie: Schenkel: Bei Conrad ist es auch so, dass der Kolonialismus auch eher ein Vorhang ist, den man vielleicht beiseite schieben muss. Und dann sieht man, das sind universale Probleme, über die er schreibt und die er anspricht. Man lässt sich oft ablenken durch dieses historische Bild Kolonialismus. Das sind dann so Aufklebbilder, die auf Tabakschachteln vielleicht sind oder auf Kaffeedosen. Damit hat es eigentlich nicht so viel zu tun. Sprecher: Joseph Conrad, der schon mit den Romanen "Almayers Wahn" und mehreren Erzählungen koloniale Themen aufgegriffen hatte, erzählt in "Herz der Finsternis" die Geschichte einer Reise. Der Ich-Erzähler Marlow soll im Auftrag einer Handelsgesellschaft, die ihr Geld mit Elfenbein verdient, im Innern des Kongo den dortigen Stationsleiter Kurtz ausfindig machen, von dem man monatelang nichts gehört hat. Kurtz wird als ebenso intelligent wie skrupellos beschrieben, ein Mann, der in seinem Herrschaftsgebiet ein mörderisches Regiment führt. Je länger die Fahrt auf dem Kongo dauert, desto mehr fragt sich Marlow, ob er wirklich nur in das Innere eines Kontinents reist, oder auch zu den dunkelsten Seiten der menschlichen Seele. Schenkel: Ist es das Ziel des Romans, die Gräueltaten darzustellen oder ist es eher das Ziel zu zeigen, woher kommen diese Taten und wo sind die in uns – und zwar auch in uns als Lesern drin, die wir uns für gute Menschen halten, meistens, und nichts Böses tun. Und da wird uns ein Spiegel vorgehalten. Nicht vor’s Gesicht, sondern vor die Seele. Und das ist natürlich schwerer zu ertragen, wenn man das ernst nimmt. Sprecher: Die Rücksichtslosigkeit des Kolonialismus wird in "Herz der Finsternis" nur am Rande beschrieben. Was Conrad interessiert, ist der Kontrast zwischen einer europäischen Kultur, die sich als Spitze des Humanismus darstellt, und der tatsächlichen Praxis im Umgang mit Menschen, die sich nicht wehren können. Conrads Erzählung zeigt, zu was der Einzelne fähig ist, wenn die Regeln der Zivilisation nicht mehr gelten. Es ist eine Geschichte der völligen Ernüchterung, so Elmar Schenkel: Schenkel: Kurtz, der auch mit Illusionen aufgebrochen ist, auch eigentlich ein Träumer, ein genialer Mensch, wie er beschrieben wird, ein vielsprachiger, ein Multitalent. Der geht in Afrika dann moralisch vor die Hunde. Und auch das verkörpert eben das Empire oder die Kolonien. Die große Desillusionierung findet statt in dieser Zeit. Es sind also Figuren des Traums und der Desillusionierung, der Enttäuschung. Sprecher: Der Kolonialismus ist für Joseph Conrad kein Segen, sondern Fluch. Immer wieder beschreibt er in seinen Romanen und Erzählungen Menschen, die voller Enthusiasmus in fremde Welten aufbrechen, um dann dort grandios zu scheitern. Hier unterscheidet er sich radikal von seinem wesentlich optimistischeren Schriftstellerkollegen Rudyard Kipling, der im Empire die Vorstufe zur Vervollständigung der menschlichen Spezies sah. Joseph Conrad ist nüchterner. Schenkel: Natürlich hat er sich immer wieder mit dieser Frage beschäftigt, auch auf seinen Seefahrten. Was bringen wir denen eigentlich? Was bringt dieser Kontakt zwischen diesen verschiedenen Kulturen? Ich würde ihn als den ersten Autor der Globalisierung sehen, der sich in den Welten vortastet, in denen wir jetzt sind, wo wir auch eben den Zusammenprall von den verschiedensten Kulturen haben und Vermischung – all diese Phänomene. Sprecher: Als Kurtz am Ende des Romans stirbt, kann der Ich-Erzähler Marlow seine Faszination für diesen Massenmörder nicht verhehlen, der sich von der Zivilisation losgesagt hat: Musik: Filmmusik "Batman Returns" Zitator: Es war, als sei ein Schleier zerrissen. Ich sah auf diesem Elfenbeingesicht den Ausdruck düsteren Stolzes, unbarmherziger Gewalt, feiger Angst – und einer ungeheuren, hoffnungslosen Verzweiflung. Flüsternd schrie er auf, zu einem Bild, einer Vision – zweimal schrie er, ein Schrei, der nicht mehr war als ein Hauch: "Das Grauen! Das Grauen!" Musik: "Heil dir dem Siegerkranz" Sprecher: Was in Joseph Conrads "Herz der Finsternis" auch mitschwingt, sind die hemmungslosen und durch keinerlei Richtlinien limitierten Raubzüge der Geschäftemacher in Afrika. Möglich geworden war dies durch die berüchtigte Afrika-Konferenz, die 1884 in Berlin stattfand. Das junge deutsche Kaiserreich verlangte sein Stück vom kolonialen Kuchen und bekam es auch zugesprochen. Ein Teil der Beute war Südwestafrika, das heutige Namibia, zu dessen besserer Ausplünderung die "Deutsche Kolonialgesellschaft" gegründet wurde. In dem 1978 erschienen Roman "Morenga" von Uwe Timm heißt es dazu: Zitator: Dass man mit dieser Gründung endlich auch auf dem ökonomischen Sektor der patriotischen Pflicht nachgekommen sei, ein unterentwickeltes, rückständiges Land zu zivilisieren. Zu den vornehmsten Aufgaben der Nation der Dichter und Denker gehöre es aber, das Wilde zu kultivieren. Sprecher: Die Deutschen enteigneten kurzerhand die Viehweidegründe der Ureinwohner und nahmen somit den Hereros und Hottentotten – nach heutigem Sprachgebrauch das Volk der Nama – ihre Lebensgrundlage. Ähnlich wie im belgischen Kongo wurden die Schwarzen zur Arbeit gezwungen – in Kupferbergwerken oder als Dienstboten. Wenn sie nicht spurten, wie ihre Herren es wollten, hielt die deutsche Gründlichkeit die entsprechenden Mittel bereit, so der Münchner Autor Uwe Timm: Timm: Das wurde ernsthaft diskutiert – welche Folgen hat das, wenn man die Nilpferdpeitsche benutzt, bedeutet das, dass das Gesäß beschädigt wird, eitert, und der Mann kann nicht mehr arbeiten. Mit dem Tauende ist etwas besser – der ist arbeitsfähiger –, aber es gab immer hin und wieder Schläge, die in Nierengegenden gingen und der arme Mensch dann zu Tode kam. Sprecher: Im Jahr 1904 ist das Maß voll: die Hereros und Namas erheben sich in ihren Siedlungen, den sogenannten Werften. Und sind am Anfang mit ihrer Guerilla-Taktik gegen die sogenannte deutsche Schutztruppe sogar ausgesprochen erfolgreich. In seinem Roman "Morenga" hat der 1940 geborene Schriftsteller Uwe Timm die Geschichte dieses Aufstands erzählt. Timm: Darauf hat die Schutztruppe damals und das Deutsche Reich reagiert. Aber wie sie dann reagiert haben, das ist dann tatsächlich wie eine Blaupause für die Nazizeit gewesen. Es war ein Tötungsprozess, der die Menschlichkeit reduzierte von denen. Die wurden schon damals auch mit Ungeziefer verglichen. Musik: "Heil dir dem Siegerkranz" Zitator: Hebt man eine Hottentottenwerft aus, so knallt man nicht die Männer und Frauen nieder, um dann die Kinder aus sentimentalen Gefühlen in die Steppe zu jagen, sondern umgekehrt, man lässt vor den Augen der Eltern ein Kind erschießen, fragt, wo das Versteck der Rebellen ist, kommt keine Antwort, erschießt man zwei Kinder, dann vier, dann acht bis jemand das Versteck preisgibt. Sprecher: Uwe Timms Roman "Morenga" – so lautete der Name einer der Herero-Anführer – ist eine gekonnte Mischung aus zitierten historischen Dokumenten des deutschen Kolonialismus und fiktionalen Elementen. Timm: Ich bin lange damit rumgelaufen wie auf Erbsen, um eine Form zu finden, weil das ja ein riesiger Stoff ist. Und mir war dann aber klar, rein fiktional zu erzählen, wäre naiv auch. Und das Tüftelige war nur, diese verschiedenen Methoden zusammenzubringen. Sprecher: Erzählt wird die Geschichte des Armee-Veterinärs Gottschalk, der während des Aufstands in Südwestafrika Dienst tut. Und der sich ganz unter dem Eindruck der "Bürde des weißen Mannes" als Erzieher versteht. Timm: Und der dann im Laufe der Geschichte erfährt, was da für eine ungeheuerliche Brutalität stattfindet, und der sich verändert. Das ist ein, wenn man so will, Entwicklungsroman. Dieser Mann macht eine ganz zarte, aber entscheidende Entwicklung. Er geht aus dieser Schutztruppe weg. Er quittiert den Dienst. Und das ist für die damaligen Verhältnisse sehr viel, weil die anderen eigentlich mit der besten Überzeugung getötet und geprügelt haben. Sprecher: Als Uwe Timms Roman 1978 erschien, war der deutsche Kolonialismus weitestgehend aus dem Bewusstsein der Bundesbürger verdrängt. Die Studentenrevolte der 1960er Jahre hatte unter anderem zu einer langsamen Aufarbeitung der Naziverbrechen geführt, Uwe Timms "Morenga" machte die Westdeutschen nun mit einem weiteren schmutzigen Erbe bekannt. Über seine Motivation, sich mit einem Stoff auseinanderzusetzen, der weit vom eigenen Kulturkreis entfernt ist, sagt der Autor: Timm: Ich war damals in der Anti-Apartheidbewegung, und wir haben in Hamburg das Wissmann-Denkmal umgerissen. Wissmann war Gouverneur von Deutsch-Ostafrika. 1966 oder 1967 fing das eigentlich an, dieses kritische Bewusstsein, auch gegenüber dieser kolonialen Vergangenheit, die bis dahin ja in Deutschland völlig vergessen war. Sprecher: Allgemein gilt heute unter Historikern die Erkenntnis: Die Niederschlagung des Herero- und Nama-Aufstands war der erste systematisch begangene Völkermord des 20. Jahrhunderts. Timm: Das ist ja wie eine Versuchsanordnung gewesen für Auschwitz. Also, dass man da die Hereros in die Wüste Omaheke geschickt hat und sie dort hat verdursten lassen, weil man auf Frauen und Kinder nicht gerne geschossen hat. Männer wurden umgelegt oder aufgehängt. Musik Sprecher: Das Vergangene – so der US-amerikanische Schriftsteller William Faulkner – ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen. Autoren wie Daniel Defoe, Rudyard Kipling oder Joseph Conrad geben uns mit ihren Erzählungen und Romanen einen Eindruck davon, wie die Jahrhunderte lange Ausbeutung fremder Länder das westliche Bewusstsein prägte. Und wie der Kolonialismus gleichzeitig das Beste und Widerlichste im Menschen hervorbrachte oder hätte hervorbringen können. Neuere Gegenwartsliteratur wie Uwe Timms "Morenga", Ludwig Fels‘ Roman "Hottentottenwerft" oder Christian Krachts Erzählung "Imperium" zeigen, wie unterschiedlich speziell das deutsche koloniale Erbe verarbeitet werden kann und sollte. Und sie zeigen auch die Ursprünge eines Phänomens des 21. Jahrhunderts: der Globalisierung. 3