„Eine gute Geschichte ist nie ganz erklärbar“ Die Lange Nacht mit dem Filmemacher Edgar Reitz Autorin: Beate Becker Regie: die Autorin Redaktion: Dr. Monika Künzel SprecherIn Ruth Reinecke (Sprecherin) Christian Schmidt (Sprecher) Cornelia Schönwald (Bilderzählerin) Thomas Fränzel (Zitator) Sendetermine: 2. November 2019 Deutschlandfunk Kultur 2./3. November 2019 Deutschlandfunk ___________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde MUSIK: Hussong: Whose Song. John Cage, Souvenir Sprecherin: Edgar Reitz ist einer der großen zeitgenössischen deutschen Filmemacher. Er wurde 1932 geboren und wuchs im Hunsrücker Dorf Morbach auf. Nach dem Abitur, ging er nach München, wo er heute noch lebt. International bekannt wurde Edgar Reitz ab den 80er Jahren durch die Trilogie mit dem Titel „Heimat“, die mehr als 50 Stunden umfasst und an der er über 30 Jahre arbeitete. In der ersten Stunde der Langen Nacht spricht Edgar Reitz über seine Herkunft und dem „Sich-in-die Fremde träumen“. Er beschreibt seine Anfänge als experimenteller Kurzfilmer in München in den 50er Jahre und erste Begegnungen mit der Neuen Musik, spricht über das „Oberhausener Manifest“ und den großen Erfolg mit seinem ersten Spielfilm „Mahlzeiten“ 1967 auf der Biennale in Venedig. Zwischen 1968-78 hat er „Cardillac“, „Reise nach Wien“, „Schneider von Ulm“ und die „Stunde Null“ gedreht. Wichtige Filme, die weniger erfolgreich waren als die „Heimat-Chroniken“, die im Zentrum der zweiten Stunde stehen sollen. Die 11-teilige Chronik „HEIMAT – eine deutsche Chronik“(1984) erzählt die Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts im Kleinen, in der Provinz, im fiktiven Dorf „Schabbach“. In die „ZWEITE HEIMAT“ (1992) steht eine Gruppe junger Menschen im Mittelpunkt, die der künstlerischen Avantgarde in München der 60er Jahre angehören. In 13 eigenen Filmen ist diese „Chronik einer Jugend“ mit 25h Spielzeit der längste Teil der Heimat-Trilogie. „HEIMAT 3 – Chronik einer Zeitenwende“ (2004) spielt nach der Wende. „Die andere Heimat“, die zurückgeht in die Geschichte der Auswanderungswelle aus dem Hunsrück nach Südamerika im 19. Jhdt. hat Edgar Reitz 2012 als 79-Jähriger gedreht. Die dritte Stunde widmet sich der Erzählform des epischen Erzählens und dem Erzählen nach dem „Großvaterprinzip“, wie Edgar Reitz das nennt. Sein Großvater war Streckengeher bei der Eisenbahn und ein großer Geschichtenerzähler. Seine Art Geschichten zu erzählen, die zunächst ganz real begannen und nach und nach ins Surreale kippten, hat Edgar Reitz inspiriert. Die Klammer für alle drei Stunden bildet das autobiografische Hauptwerk „Die ZWEITE HEIMAT“. Am Ende der dritten Stunde erläutert Edgar Reitz sein Verhältnis zum Fernsehen, seine Vision des Kinos von heute und wie es dazu kam, dass er in Zeiten des Kinosterbens und dem Rückgang der Besucherzahlen in seinem Heimatort im Hunsrück ein kleines Kino eröffnete. 1. Filmausschnitt Die ZWEITE HEIMAT Teil 1, Hermanns Schwur O-Ton Edgar Reitz: Ich bin in einer Zeit, die von der heutigen sehr verschieden ist, in einem Dorf von 2000 Einwohnern geboren und aufgewachsen. Das war eine Welt, in der man sich nicht entfalten konnte, in dem Sinne, wie ich das verstand. Ich habe ja meine Vorstellungen von der Welt nicht durch die Eltern oder durch die Umgebung der Familie oder des Ortes gewonnen, sondern durch meine ganz persönlichen eigenen Interessen. Ich habe sehr früh in sehr jungen Jahren wahnsinnig viel gelesen, ich habe mich mit Kunstgeschichte, mit Literatur beschäftigt, ich fing an Gedichte zu schreiben, Erzählungen, habe mich immer wieder in der Gemeinschaft sozusagen mit einer literarischen Welt verbunden gefühlt, ohne je ihr begegnet zu sein oder zu ihr zu gehören. Dieser Zustand ist nicht lange wirklich gut erträglich, man steigert sich in immer größere Vereinsamung hinein, ich fühlte mich vollkommen isoliert, auch von den Altersgenossen und es gab wenige Freunde, mit denen ich meine Interessen teilen konnte. Ich besuchte das Gymnasium dann in Simmern. Die Eltern haben immerhin das eine Gute für mich tun können, dass sie mich auf das Gymnasium schickten, aber das war mit unglaublichen Anstrengungen verbunden. Ich werde nie vergessen, meinen täglichen Weg zum Bahnhof. Das war vom Elternhaus etwa 1km zu Fuß. Es war nie hell, es war immer Nacht, wenn ich da ging. Der Zug fuhr um Viertel nach 5, d.h. ich bin in diesen 7 oder 8 Jahren, die ich da das Gymnasium besuchte, jeden Morgen etwa um 4 Uhr aufgestanden und wenn ich die Bahnhofstraße hinaufging, sah ich immer das Sternbild des Orion über mir und habe mir unendlich oft innerlich vorgenommen, eines Tages wegzugehen, weit weit weg von hier. Und einen Beruf zu suchen, bei dem ich selbst bestimmen kann, was ich tue. Musik: Originalsoundtrack Heimat 2, T. 2 Hermanns Gebet O-Ton Edgar Reitz Diese Atmosphäre hat sich immer weiter verdichtet, denn als man dann in die Pubertät kam und seine ersten Liebesgeschichten und Verliebtheiten kamen, spürte man auf der Seite der Erwachsenen und Eltern und Erziehung auch diese unglaubliche sexuelle Unterdrückung , die aus einer Tradition des Katholizismus und der Ängstlichkeit der Landbevölkerung herauskam. Dann kam hinzu, dass in einem solchen Ort, von dieser Größe, jeder jeden kannte, jeder jeden beobachtete, jeder über jeden Schritt eines jeden Bescheid wusste, sodass keine Beziehungen, keine Freundschaft und schon recht keine Liebesgeschichten, geheim gehalten werden konnten, sodass für mich auch immer der Gedanke kam, es gibt nichts Schöneres als eine Liebe, die man nicht verschweigen muss. Aus dieser Haltung heraus kann man sich vorstellen, welche Sehnsucht, ein Junge in meiner Situation in dem Alter hatte, raus zukommen aus dieser ländlichen Umklammerung. Die Eltern hatte ein durchaus gutgehendes Geschäft für Uhren und Schmuckwaren. Der Vater legte auch großen Wert darauf, dass ich neben dem Gymnasium noch eine Uhrmacherlehre machte und noch vor dem Abitur musste ich die Gesellenprüfung ablegen, die Uhrmachergehilfenprüfung. Es fiel mir leicht, interessanterweise, obwohl ich so einer war, der sich in die Fremde träumte, mit den Händen war ich immer zuhause. Mit den Händen beherrschte ich alles. Ich war handwerklich sehr begabt. Musik: Originalsoundtrack: HEIMAT 1, 16 Hermann_Variation_2 Bilderzählerin: Ein Feldweg. Man sieht einen Mann von hinten. Kurz dreht er sich um, bevor er in wogenden Feldern, die aussehen wie Wasser, endgültig verschwindet. Ein Weg, der das Bild in zwei Teile schneidet. Eine hügelige Landschaft. Schönes Licht. Manchmal Nebel. Zwischen den Hügeln ist gerade noch die Spitze eines Kirchturmes zu sehen. Ein Mensch der weggeht oder zurückkommt. Sprecher Diese Bilder haben sich durch die HEIMAT-Zyklen tief in das kollektive Gedächtnis eingegraben. O-Ton Edgar Reitz Das sind für mich innere Bilder. Das ist etwas, wo ich nicht sagen könnte, wo ich das gesehen habe, also es gibt nicht eine bestimmte Dorfansicht mit dem Kirchturm, der irgendwo zwischen den Hügeln so rausguckt, sondern das sind innere Bilder. Da haben sich, ich weiß nicht wie viele, vielleicht dutzende von Eindrücken miteinander vermischt, verschmolzen zu einem Gesamtbild. Das hügelige Land ist ja in zwei Richtungen interessant und so habe ich es auch immer betrachtet. Die eine Richtung heißt, was ist hinter dem nächsten Hügel? Wie sieht dort die Welt aus und wie geht es da weiter? Aber es gibt eine andere Richtung, die in der Hügellandschaft entsteht, das ist der Blick zurück. Man steht auf irgendeinem Hügel, in der einen Richtung sieht man den nächsten Hügel usw. und wenn man sich umdreht sieht man die Kirchturmspitze seines Heimatdorfes, die guckt gerade noch über die Horizontlinie hinaus. Und man spürt, wenn ich jetzt nur einen Schritt weitergehe sehe ich ihn nicht mehr und dann bin ich da, wo man eigentlich nicht sein kann, im Nirgendwo. Und es entsteht dann auch immer sofort der Impuls umzukehren. Heim zu gehen. Wieder. Diese beiden widerstrebenden Gefühle, nix wie weg und dann aber das Heimweh, das schon nach dem 1. Hügel entsteht, das kenne ich sehr genau. Das ist so eine Ambivalenz, ein Widerspruch. Ich glaube ja, dass es für uns alle, uns menschlichen Wesen unglaublich viel Mühe braucht, die Wurzeln auszureißen. Also man wird in einer bestimmten Umgebung geboren, ob das Land oder Stadt ist, das spielt dabei erst mal keine Rolle. Man wird in einer Verbindung von Menschen, Nahestehenden oder auch nicht Nahestehenden oder anderen in einer überschaubaren, mehr oder weniger im Detail bekannten Landschaft geboren und wächst da auf und wenn so etwas kommt, dass einen die Sehnsucht wegtreibt, spürt man, dass die Heimat einen umklammert. Ja, also weg aus dem Hunsrück, egal wohin so weit wie möglich, das war mein einziges Streben bis zum Alter von etwa 18, 19 Jahren. Nach dem Abitur in Simmern bin ich dann losgezogen und landete in München. MUSIK: Originalsoundtrack Die ZWEITE HEIMAT: T. 5 Münchenthema O-Ton Edgar Reitz Und als ich in diese Stadt kam, war alles vollkommen anders, als ich mir das vorgestellt hatte, diese Stadt lag noch in Trümmern. Es war 1952 noch Kriegsruine, das waren ja mal gerade 7 Jahre nach Kriegsende und auch die Universität war eine riesige Ruine. Notdürftig teilweise wieder aufgebaut und überall waren Bauarbeiten zugange. Es war wahnsinnig schwer ein Zimmer zu finden für einen Studenten, weil in dieser zerstörten Stadt natürlich eine große Wohnungsnot herrschte und statt mich nun mit Künsten und meinen Träumen zu beschäftigen oder überhaupt auf dem Wege zu sein, mir die Träume zu verwirklichen, sah ich mich einer unglaublichen Fülle von Problemen gegenüber, die man kaum lösen konnte. So waren die ersten zwei Jahre eigentlich zwischen Jobben und dem Versuch mich irgendwie zu orientieren in dieser fremden Stadt. Da zeigte sich also wirklich, dass ich als Landkind, die Sinneswahrnehmung für die Stadt nicht hatte. Ich fragte mich immer, wer wohnt hinter diesen beleuchteten Fenstern? Ich konnte ganz schlecht mit dem Gedanken leben, dass ich in einer Bude schlief, wo ich Geräusche durch die Wand hörte, von Menschen, die ich nicht kannte. Also das waren meine Hauptprobleme, diesen Organismus Großstadt mit meinen Sinnen zu erfassen. Filmausschnitt: 2. Heimat Hermann und Renate Sprecher Hermann, der junge Mann aus dem Hunsrück, der in München Komposition studiert, steht im Zentrum der ZWEITEN HEIMAT. Er hat einen beinahe religiösen Schwur auf dem Dachboden seines Heimatdorfes „Schabbach“ geleistet. Erstens will er nach dem Abitur die Heimat verlassen, zweitens schwört er „nie mehr die Liebe“, nachdem er mit Klärchen, seiner ersten Liebe, nicht zusammen sein konnte und drittens soll die Musik nun seine Heimat werden. In München kommt er kurzfristig bei Renate unter, die zur Untermiete wohnt. Sprecherin Edgar Reitz war nach München gegangen um Theaterwissenschaften, Publizistik, Germanistik und Kunstgeschichte zu studieren und nicht um Film zu lernen. Er interessierte sich für Film und war im Hunsrück ins Kino gegangen, aber dort spielte man nur die üblichen 50er Jahre-Schnulzen. In Mainz, in Koblenz sah er Filme von René Clair oder Jean Renoir, und Clouzot, den großen Filmemachern der Vor- und Nachkriegszeit. Zum leidenschaftlichen Kinogänger wurde er erst in München. O-Ton Edgar Reitz (W)as damit zu tun hatte, dass das Kino immer offen war und in meiner Einsamkeit und Verlorenheit in dieser Stadt immer die letzte Wahl. Dann kam der Abend, ich kannte niemanden, rein ins Kino. Und das waren Zeiten wo ich mindestens 5x die Woche oder 7x im Kino war und es gab auch Tage an denen war ich 2x. Da bin ich gleich in die Nachtvorstellung noch einmal gegangen. Es gab in dieser Zeit auch das erste Filmkunsttheater, ein Kino das sich speziell mit italienischen und französischen Filmen beschäftigte. Ich lernte in dieser Zeit die großen neorealistischen Filmemacher aus Italien kennen. Ich habe dann so Filme von Rosselini und von Visconti, die frühen Fellini usw gesehen, de Sica liebte ich über alles und so wurde ich in diesen ersten Einsamkeitsjahren ein leidenschaftlicher Kinogänger und meine literarischen Arbeiten gingen immer mehr in Richtung ,Film‘. Ich schrieb dann ohne dass irgendjemand danach verlangt hätte, gleich in Drehbuchform, weil ich mir das dann so gerne als Film vorstellte, was mir so durch den Kopf ging. Musik: René Clair: L‘Entracte (Erik Satie) Sprecherin: In den Jahren 1952-58 sah er zusammen mit anderen Studenten im Filmclub die Klassiker des Expressionismus der 20er Jahre. Die Studenten erhielten die Erlaubnis am Filmschneidetisch die Filme, die sie vorher auf der Leinwand gesehen hatten, vorwärts und rückwärts im Schnellgang und im „Langsamgang“ zu betrachten und auf diese Weise lernten sie Filme sozusagen auswendig. Sie studierten die Schauspieler-Führung, das Licht, die Kameraposition und wie überhaupt Erzählen funktioniert. Als das Universalgenie, der Schriftsteller und Surrealist Jean Cocteau von Journalisten durch München geführt wurde, schien ihre Chance gekommen, selbst einen Film zu machen. O-Ton Edgar Reitz Es war wohl durch eine Meldung in der Münchner Abendzeitung, dass Jean Cocteau erwartet wird in der Stadt und da eine Führung mit ihm stattfinden sollte. Ausgehend da von dem Verlagsgebäude in der Sendlinger Straße und da bin ich mit zwei Freunden hingegangen und da kamen die tatsächlich zur Tür heraus, Cocteau mit einem Schwarm von Journalisten und wir haben uns einfach angeschlossen. Trotteten mit denen durch die Stadt, es war so eine Führung, man ging über den Marienplatz, man sah die Kriegstrümmer und so gelangte man dann auch an die Staatsoper, das Nationaltheater, das vollkommen ausgebrannt war, eine riesen Ruine, standen eigentlich nur die Giebelwände, eine bizarr große Ruine, auch das benachbarte Gelände der Münchner Residenz war total ausgebrannt. Man konnte durch einen Seiteneingang hinter einem Bretterverschlag in das Innere des Opern-Gebäudes hineingehen und dort sah man an der Stelle wo früher der Orchestergraben war, hat sich ein See gebildet, das Dach gab es nicht mehr, der Himmel war offen darüber. Da sagte Cocteau wohl zu seinen Begleitern hier müsse man einen Film drehen. Das sei doch eine interessante Kulisse und als wir dann nach Hause kamen, haben wir gesagt, den Film machen wir. Sprecherin: Doch der Vorsatz war nicht einfach umzusetzen, eine professionelle Kamera, war damals monströs, schwer und sehr teuer. Heute hätte man die Möglichkeit mit einer kleinen Videokamera oder einem Smartphone einen Film mit Ton zu drehen. Auch die Geschichte, wie es ihm gelang an eine Kamera zu kommen, hat Edgar Reitz schon so oft erzählt, dass sie ihm fast wie eine Fiktion vorkommt. Aber die Geschichte ist viel zu unwahrscheinlich, als dass sie nicht wahr sein konnte. O-Ton Edgar Reitz Der Erfinder und Besitzer der Firma ARRI Arnold & Richter, Herr Arnold war so ein Unikum. Der lief in dem Fabrikhof umher mit dem weißen Kittel niemand hätte ihn als Chef der Firma angesehen, der sammelte weggeworfene Beilagscheiben und Schrauben usw. und ich habe mich mit meinem Fahrrad durch den Fabrikeingang da irgendwie gedrängt, dort gab es einen Pförtner, der sprach mich an und ich sagte, ich möchte den Herrn Arri sprechen. Weil ich auch nicht wusste wie der heißt. Dann deutete der Pförtner auf den Mann im weißem Kittel und ich ging da auch hin und trug ihm mein Anliegen vor, ich wollte eine Kamera haben, weil ich bin ein Student der Theaterwissenschaft bei Professor Kutscher und mit meinen Freunden, wir wollen einen Film über die Münchner Oper drehen. Und dann hat er mich sehr merkwürdig angeguckt und gesagt na dann komm einmal mit, ging es zwei Stockwerke hoch in dem Quergebäude und wir kamen in einen Raum, in dem an vielen Werktischen die Mechaniker saßen und die Arriflex zusammenschraubten. Und er zeigte mir das und sagte, wenn du die Kamera Schraube für Schraube zerlegen kannst und am nächsten Tag wieder zusammenschraubst, dann kannst du sie haben. Das war der Uhrmachersohn mit seiner Gesellenprüfung in Trier lacht, dem das Werkzeug vertraut war, mit dem man dort arbeitete und ich habe die Kamera auseinander geschraubt und am nächsten Tag bin ich wieder hin, da standen die Werksmeister hinter mir und schauten mir über die Schulter beim Zusammenmontieren. Und dann kam der alte ARRI auch noch an. Als das Ding fertig war und wieder lief, waren sie alle ganz erstaunt. Der Student kann das. lacht. Und dann ging er mit mir in den Fabrikhof, wo ich mein Fahrrad stehen hatte und half mir die Kamera in einem Alukoffer auf den Gepäckträger zu binden und dann fragte er, hast du denn auch ein Stativ?Hatte ich aber nicht, dann nahm er mich mit in die Verleih-Abteilung dort und gab mir ein saumäßig schweres sogenanntes Kurbelstativ, das wog vielleicht 50kg. Oder 60 kg. Das wurde auch auf dem Fahrrad befestigt und so schob ich das Fahrrad mit der Arriflex und dem Stativ zu meiner Bude, wo ich damals wohnte. Musik Sprecherin: Es entstanden zwei Filme „Auf offener Bühne“ und „Gesicht einer Residenz“. Sprecher: Im Film Die ZWEITE HEIMAT, Teil 3 „Eifersucht und Stolz“ schaut die Künstlergruppe um Hermann und der Cellistin Clarissa Lichtblau im ,Fuchsbau‘, der Villa der Frau von Cerphal, gespielt von Hannelore Hoger, eine Fassung dieses Films von 1958 mit dem Titel „Schicksal einer Oper“. Filmausschnitt ZWEITE HEIMAT, Teil 3 „So wir fangen an..Jugend ist immer ernst“ Sprecher: „Uns erzog die Schönheit von Ruinen“, sagt Stefan, der Jurastudent aus reicher Familie, der später ein erfolgreicher Regisseur werden wird, nach der Vorführung des Films. O-Ton Edgar Reitz Die Nazizeit und die Zeit davor, die zu der Katastrophe des 2. Weltkrieges geführt hatte, war aus der Sicht meiner Generation eine einzige Katastrophe. Und dass diese Zerstörung in Gestalt dieser ruinierten Städte eine Symbolik hatte, das war uns sehr wichtig. So hat man diesen Ruinen eine Schönheit zugestanden, die eine neue Qualität zum Ausdruck bringt, vorher als die Gebäude noch unzerstört waren, waren sie vielleicht Ausdruck der Herrschaft und des Stolzes einer Nation, die keine Grenzen kannte und nicht wusste, wo sie mit ihrem Nationalismus hinkommt. In dieser Form hier war auf einmal klar, wohin das führt und dadurch, dass sich so ein romantisches Gefühl darin ausbreitete bekam man auch das Gefühl, so ist es recht, dass es hätte sein können. Wenn ich sage „uns zerstört die Schönheit von Ruinen“, dann ist in dieser Schönheit auch eine Wahrheit enthalten. Sprecherin: Mit 23 hatte Edgar Reitz eine frühere Mitschülerin geheiratet und war Vater geworden. Er musste den Lebensunterhalt für sich und die kleine Familie verdienen. O-Ton Edgar Reitz Da wurde mir klar, dass ich mit meinen technischen Kenntnissen, der Kamera usw. mir doch vielleicht Jobs beschaffen könnte. Es gelang mir auch, ich bekam Jobs als Kameraassistent, hab dabei auch viel gelernt, die Kameraarbeit kennengelernt. Ich bekam dann auch Jobs als Schnittassistent, im Schneideraum, ich jobbte bei einer Firma, die Industrie und Auftragsfilme produzierte, zum Teil abendfüllende Dokumentationen, die im Auftrag von Institutionen und Firmen gemacht wurden Musik Josef Anton Riedl Sprecherin Innerhalb weniger Jahre wurde Edgar Reitz ein berühmter Industriefilmer und verdiente sehr gut. Im Auftrag von Bayer-Leverkusen drehte er den Film „Baumwolle“. Einen Werbefilm für Herbizide, für ihn einen Blick in das Paradies und in die Hölle zugleich. In der Zeit des Wirtschaftswunders und des ungebrochenen Fortschrittsglaubens gab es noch keine öffentliche Kritik an den Geschäftsmethoden und den Schäden, die die Industrie an der Umwelt verursachte. O-Ton Edgar Reitz Ich bekam also den Auftrag einen Dokumentarfilm über den Baumwollanbau auf der ganzen Welt zu drehen und das war natürlich eine riesige Sache, wenn man sich vorstellt in dem Alter, ich war vielleicht 26, 27 mit dem First-Class-Ticket rund um die Welt. Ich konnte hinfliegen, wo ich wollte und kam also in die Gebiete, sowohl im Nahen Osten, ich war lange in Ägypten und dann in Südamerika, das war auch für mich die erste große Welterfahrung, denn bis dahin hatte ich als Hunsrücker Junge, der da weggelaufen war, im wesentlichen München kennengelernt , ein paar europäische Städte, war bis dahin noch nie in ein Flugzeug gestiegen und dann aber gleich so exzessiv kreuz und quer um den Globus wie noch nie vorher und danach. Also das war schon ein Höhepunkt in diesem Leben, in dieser Horizonterweiterung, die für mich immer sehr wesentlich war. Sprecherin Sein Kameraassistent war Thomas Mauch, der später der Kameramann von Werner Herzog werden sollte und bei Herzogs schönem Film „Auch Zwerge haben klein angefangen“ die Kamera genial geführt hat. O-Ton Edgar Reitz Bei BAUMWOLLE waren wir beide zusammen auf dieser großen Südamerika-Tour und als wir in Mexiko waren, lernte ich einen Industriellen kennen, deutschstämmigen Industriellen, der in der Stadt Mexiko eine große Firma hatte, ein millionenreicher Mann, der besaß ein eigenes Flugzeug, und er schwärmte immer wieder von den Ruinenstätten, den verborgenen in den Urwäldern Yukatans. Und eines Tages haben wir uns entschlossen, mit ihm zusammen einfach nach Yukatan zu fliegen, also auf die Halbinsel und dort die Maya-Ruinen zu besuchen und einen Film zu drehen. Da waren wir zwei Wochen in diesen Gebieten unterwegs, sehr abenteuerlich, sehr strapaziös, bei einer Luftfeuchtigkeit wo einem das Wasser am Körper herunterlief bei 40 Grad im Schatten. Bei einer unvorstellbaren Mückenplage haben wir diese untergegangenen Maya Städte besucht. Und dort gefilmt. (Heute gibt es einen Massentourismus zu diesen Orten, aber damals waren wir als Europäer die ersten, wenn es nicht die Archäologen waren. ) 4. Filmausschnitt Yucatan Sprecherin: 1961 drehte Reitz den ersten völlig frei produzieren experimentellen Kurzfilm „Kommunikation“. Der damalige Postminister Stücklen sagte, solange er Minister sei, dürfe dieser Film nicht gezeigt werden. Der Film fand wenig Anklang. Man fand ihn beunruhigend. Das Wort „Kommunikation“ war noch unbekannt und klang so ähnlich wie „Kommunismus“. Obwohl der Film „Kommunikation“ heißt, wird kein Wort gesprochen. Es sind die Techniken der Verständigung zu sehen und Momente der Einsamkeit. Musik Josef Anton Riedl: Kommunikation Bilderzählerin Ein Leuchtturm. Ausgestreckte Hände, schüttelnde Hände, Ohren, Gesichter. Große Hallen mit technischen Einrichtungen, leere Räume. Menschen vor Apparaten mit Kabeln und Leuchtzeichen. Briefe, Briefsortiermaschinen, Lochkarten, Päckchen, Geld wird gezählt. Türen, Schuhe, Füße, Codes. Blinkende Lichter. Kanal B und „Bitte sofort kommen“ ist zu lesen. Menschen im Regen unter Schirmen, telefonierende Menschen. Oberleitungen, Drähte und Apparaturen. Da geht ein Mensch über einen einsamen Platz. Verkehr auf einem Stadtplatz von oben gesehen, die Symmetrieachse, Autos und Fußgänger gehen nach rechts und links. In der Bildmitte erscheint ein Gesicht. Sprecherin: Obwohl der Film „Kommunikation“ heißt, wird kein Wort gesprochen. Es sind die Techniken der Verständigung zu sehen und Momente der Einsamkeit. Die Bilder treten miteinander in Kommunikation. Musikalisch spricht das unsichtbare Innenleben der Übertragungssysteme. Der damalige Postminister Stücklen sagte, solange er Minister sei, dürfe dieser Film nicht gezeigt werden. Man fand ihn beunruhigend. Das Wort „Kommunikation“ war noch unbekannt und klang so ähnlich wie „Kommunismus“. Die Musik machte Josef Anton Riedl, Komponist für Neue Musik und von 1959-1966 Leiter des „Siemens Studios für elektronische Musik“ in München. Dort konnte Edgar Reitz den Komponisten der Neuen Musik wie Mauricio Kagel und Karl-Heinz Stockhausen über die Schulter sehen. Vor „Baumwolle“ hatte Edgar Reitz eine Reihe von Verkehrserziehungsfilmen gedreht und konnte sich nicht vorstellen bei diesen Filmen mit klassischer Musik zu arbeiten. O-Ton Edgar Reitz Ich suchte nach Klängen, die ich nie gehört hatte, die dieser modernen Welt des Verkehrs und der Technik irgendwie angehörten. Und auf dieser Suche stieß ich auf Josef Anton Riedl, der hatte hier in München ein Studio gegründet, das muss man sich sehr primitiv vorstellen. Das erste Mal, wo ich ihn traf, saß er mit einem Ingenieur auf dem Fußboden eines Büros umgeben von Tonbandrollen, und Aufnahmegeräten und Mikrofonen, und versuchte irgendwelche Klänge herzustellen, was er in dieser Zeit vor allem machte, war inspiriert von der Musikbewegung „musique concréte“ , also Leute wie Pierre Schaeffer hatten das begründet, das bestand darin, dass man aus Geräuschaufnahmen auf Tonband winzig kleine Tonbandschnitzel machte und die neu zusammenklebte. Und auf die Weise versuchte, einen Rhythmus und Geräuschmusik daraus zu machen. Da gab es wirklich sehr witzige Ergebnisse, und auf dem Gebiet arbeitete er, aber er hatte da schon elektronische Geräte zur Verfügung, Geräte, die dann diese Geräuschimpulse umsetzte in Klänge. Ich fand das alles absolut faszinierend, was er da machte und für einen meiner Verkehrserziehungsfilme, über das Thema „Übermüdung am Steuer“ ging, machte er eine Musik für mich. Und das hat mir so gut gefallen, dass wir praktisch von da an jahrelang immer weiter miteinander gearbeitet haben, in allen diesen Filmen machte er die Musik. Sprecherin: Und dann kam Oberhausen. Am 28. Februar 1962 erklärten 26 Kurzfilmregisseure im Oberhausener Manifest, den alten Film für tot. Kurzfilme galten als „Schule und Experimentierfeld“ für den Neuen Film. Es trat eine neue Generation an, die den Film als Kunst verstand und eine neue Sprache sprach. O-Ton Edgar Reitz Die eigentliche Filmbranche machte sich überhaupt nichts aus Filmkunst. Also der Gedanke, dass Film auch eine künstlerische Ausdrucksform sein kann, den gab es in Deutschland so nicht zu dieser Zeit. Das, was da produziert wurde an deutschen Filmen, das war eigentlich der Geist der UFA, nur ohne Goebbels und ohne die Nazi-Ideologie. Aber in den ästhetischen Vorstellungen total verwurzelt. Also wenn jemand aus meiner Generation in die Filmbranche einsteigen wollte, dann hatte er es mit diesen Leuten und diesem Geist zu tun. Und da kam so etwas, wie eine freien neue Kunstgattung Filme oder Kino überhaupt nicht vor. Das gab es woanders, in Frankreich gab es das, in Italien, in den großen wunderbaren Filmen des italienischen, neorealistischen Aufbruchs mit so genialen Leuten, aber in Deutschland musste man im Grunde außerhalb der Branche sein Glück versuchen. Und das war in dieser Zeit häufig der industriefinanzierte Dokumentarfilm. Dieser wirtschaftliche Aufstieg nach dem Krieg führte dazu, dass diese Wirtschaft unglaublich viel Geld hatte und unglaublich ratlos war, was sie mit diesem Geld alles machen könne und was sie nicht machen können. Also ich habe z.B. als ich diese BAUMWOLLE und andere Filme für Bayer Leverkusen drehte absolut freie Hand gehabt. Niemand hat mir irgendwo reingeredet, im Gegenteil, sie sagten, das Experiment kann nicht wild genug sein, denn wir alle sind auf der Suche nach einer neuen Form und man suchte sie überall, man suchte sie in den technischen Bereichen, in der Wissenschaft , in der Werbung und überall. Dieses Oberhausener Manifest hat die Filmbranche von einem Tag auf den anderen neu zusammengemischt. Heftigst polarisiert. In heftigster Gegnerschaft, aber auch in neu entstehende Freundschaft. Leute, die „nur“ in Anführungszeichen Kurzfilme und Experimentalfilme gemacht haben, schreiben in ihr Manifest, wir erheben den Anspruch, den neuen deutschen Spielfilm zu schaffen, das stand da. Ich brauchte von ‘62 bis ‘65 immerhin drei Jahre, bis ich mein erstes Spielfilmdrehbuch so weit hatte, dass ich sagte, das ist es was ich jetzt machen will. Sprecherin: Das war der Beginn des Neuen Deutschen Films und des deutschen Autorenfilms. O-Ton Edgar Reitz Dieser Begriff kam aus Frankreich. Also unsere Generation, die Leute, die in den 30er Jahren geboren waren und zu jung, um noch im 2. Weltkrieg beim Militär gewesen zu sein, aber alt genug um sich an einiges zu erinnern, was in dieser Zeit geschehen war, diese selbe Generation waren die Leute der sogenannten Nouvelle Vague in Frankreich. Die fingen früher an als wir. Also einer der auf den Tag genauso alt war wie ich Louis Malle, machte z.b 1959 oder ‘58 schon seinen ersten Film, da waren die gerade mal 23. Da konnten wir noch nicht an so etwas denken. In Deutschland war man gute 10 Jahre später dran. Als die französischen Kollegen. Die hatten den Schlachtruf, zwei Dinge, die wir nachahmten, der erste war „Le cinema de papa est mort“, was übersetzt hieß Papas Kino ist tot, weil es die Generation der Nazieltern war und der zweite Schlachtruf war „le cinema dé auteur“. Das heißt, die Nouvelle Vague-Leute definierten die Tätigkeit des Filmemachens als Autorentätigkeit. Wir sind die Autoren, Regisseure und Autoren sind auf einmal das gleiche, selbst dann, wenn ein anderer das Drehbuch verfasst hat, weil der Umgang mit dem Drehbuch oder die eigentliche künstlerische Entscheidung hat der auteur, der Realisateur-Auteur. Das war unser Vorbild und deshalb Autorenfilm. Musik: Josef Anton Riedl: Geschwindigkeit Sprecherin Nach der Verkündigung des Oberhausener Manifests begann Edgar Reitz zunächst an „Geschwindigkeit“ zu arbeiten, einem weiteren experimentiellen Kurzfilm. Selbstbestimmt und wieder mit Musik von Josef Anton Riedl. Hauptdarsteller ist die Kamera. Bilderzählerin Die Kamera gleitet vorbei an Bäumen, Ästen, Erdhügeln, die Sonne glitzert. Kurzer Stop an einem Grashalm oder einer Pfütze. Die Geschwindigkeit wird erhöht, aus Bildern werden Pixel, Punkte, Striche, Streifen. Die Kamera nimmt Fahrt auf. Stadtbilder: Die Kamera fährt unter Brücken entlang, an Kraftwerken und Industrieanlagen vorbei, wird langsam an einem riesigen Radioteleskop. Wirbel um die eigene Achse. Kurzer Stillstand. Panzer, schreitende Menschen in Uniform, ein Flughafenlandeplatz und eine rauchende Frau. Und wieder wird beschleunigt. Der Betrachter fühlt sich wie kurz vor dem Abheben. Es sind nur noch schwarz-weiße abstrakte Schlieren und Schatten zu sehen. Telefon- und Stromleitungen spinnen ein Netz. O-Ton Edgar Reitz In „Geschwindigkeit“ ist es keine elektronische Musik, sondern eine Schlagwerkmusik, da ist eigentlich das rhythmische Geräusch irgendwie mehr dominierend als der Ton. Aber ich war über ein Jahr unterwegs und kam in die interessantesten Situationen, wo ich das Thema der Geschwindigkeit oder der Vorstellung einer permanenten Beschleunigung aller gesellschaftlichen und menschlichen Prozesse ins Bild umzusetzen, das wurde dann das Thema und immer wieder habe ich mit Riedl zusammen dann eine musikalische Komposition gemacht, das ging auch Hand in Hand, weil die Montage-Ideen, die wir am Schneidetisch mit dem Bild entwickelt hatten, konnte er gleichzeitig genauso umsetzen, in die musikalische Welt. In der elektronischen Musik waren auf ein Mal die Mittel sehr ähnlich. Also Film und Musik hatten von der Methodik her wahnsinnig viel Verwandtschaft. Es blieb auch für mein ganzes Leben eine Entdeckung: Für mich ist Film eine andere Form, Musik zu machen. Das musikalische Empfinden und das musikalische Denken ist tief in meine filmische Vorstellungswelt eingedrungen in diesen Jahren. Sprecherin: 1967 dreht Edgar Reitz seinen ersten Spielfilm. „Mahlzeiten“. Der Film wurde ein großer Erfolg. Musik: Maurice Ravel Klavierkonzert, G-Dur Sprecher: Der Film erzählt die Geschichte von Elisabeth. Elisabeth heiratet Rolf, sie bekommen 5 Kinder, Rolf fühlt sich überfordert, während seine Frau vor Lebensenergie beinahe zu platzen scheint. „Mann und Frau ein Leib“, flüstert sie ihm zu. „Aber doch nicht jeden Tag“, sagt er ängstlich. Seine berufliche Karriere droht zu scheitern, er bringt sich um. In seinem VW-Käfer. Die Vorbereitung des Selbstmordes dauern endlos. Elisabeth fängt als Mormonin in Amerika mit einem neuen Mann ein neues Leben an. O-Ton Edgar Reitz Wenn ich z.b das Porträt einer Frau mache, wie Elisabeth in „Mahlzeiten“ , dann habe ich da eine Person vor mir, die nach großen Konzepten sucht: die Liebe und die Familie als ein beinahe heilig zu sprechender Zusammenhang, die große alles versöhnende, alles verschlingende Liebe, die Familie als Hort der heilen Welt bei näherer Betrachtung ist es aber alles eine Machtergreifung der Ideologie über die menschlichen Triebe, also dass so einer wie Rolf daran zerbricht, aber auch die Kinder aus dieser Ehe, ich möchte keines von ihnen sein. Diese Frau zu porträtieren hieß für mich nicht den großen Gestus zu beschreiben, sondern sie regelrecht einer Anatomie zu unterzeichnen. Ich habe sie in alle ihre Bestandteile zerlegt. Ich habe während sie ein Märchen erzählt ihre Füße, ihren großen Zeh, ihren Mund, ihre Augen genauestens betrachtet. Bei all den Vorgängen, die so heiliges Familienleben sind aus dieser Sicht, einer geradezu anatomischen Nähe löst sich das alles in etwas anderes auf. Sprecherin: Auf der Biennale in Venedig wurde „Mahlzeiten“ als bestes Erstlingswerk ausgezeichnet. Bei der Preisverleihung saß er neben Luis Buñuel. Der 1900 geborene, surrealistische Regisseur sorgte mit Werken wie „ Der Andalusische Hund“, „Das goldene Zeitalter“, Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ oder „Belle de Jour“ für Aufsehen. Und hat in seine Filme immer wieder traumähnliche, alptraumhafte oder rätselhafte Situationen eingebaut. O-Ton Edgar Reitz Später auf der Party, da sprach er mich wirklich im Vorübergehen noch einmal an. Er hatte „Belle de Jour“ gezeigt, für den er da den großen Preise bekommen hat und da gibt es in diesem Bordell die Szene mit dem Kästchen, von einem Bordellkunden, so einem asiatischen Bullentypen, kommt da und hat ein kleines Kästchen und wenn er das öffnet, schreien die Mädchen wie am Spieß, irgendetwas scheint in dem Kästchen zu sein, was alle in Angst und in Entsetzen versetzt und jetzt war schon nach der Aufführung des Films die große Diskussion entstanden, was ist in dem Kästchen , man sieht es nicht, er verrät es uns nicht in dem Film , es muss was ganz Schreckliches sein, aber was denn? Da auf der Party sagte er mir, ich solle bitte auch nicht verraten, was in dem Kästchen ist. Und ich habe lange darüber nachgedacht, warum er mich so anspricht als wüsste ich es, natürlich hat er das auch so gemeint, dass ich als Filmemacher weiß, dass er es auch nicht weiß. Musik: Ravel Sprecherin: 1968 dreht Edgar Reitz seinen zweiten Spielfilm CARDILLAC. Nach Motiven von E.T.A. Hoffmanns „Fräulein von Scuderi“ . Cardillac ist ein Goldschmied, der sich von seinem selbstgefertigten Schmuck nicht trennen kann. Er dringt in die Häuser der neuen Besitzer ein, bringt sie um und holt die kostbaren Stücke zurück. O-Ton Edgar Reitz Es ist für ihn fast ein religiöser Akt, dieses Schaffen von Kunst. Es gibt ja die Szenen wo er mit seiner Tochter Madlon, sich diese Schmuckstücke selber vorführt. Also für niemanden auf der Welt bestimmt, als für Gott oder ich weiß nicht für irgendeine außerirdische Instanz. Da geht es um Leistungen und Lösungen, die kein Mensch auf der Welt wirklich beurteilen kann. Was ist wirkliche Größe, was ist nur Mittelmaß oder wo scheitert der Künstler, wo scheitert er nicht. Wo haben die Werke Bestand, das ist natürlich so eine Frage, die einen schon manchmal umtreiben kann, vor allem wenn man gerade erfolglos ist und nicht so recht weiß, warum man alles macht. Ich war zu dieser Zeit ziemlich erfolglos, also. Nach „Mahlzeiten“, das war zwar der zweite Film, aber es waren ein paar Jahre vergangen, in denen alles andere als Rückenwind war, man hatte Gegenwind auf der ganzen Linie. Da habe ich natürlich mit der Cardiallac-Figur die Selbstprüfung machen wollen Sprecherin: Im Jahr 1968 ging es bei den Dreharbeiten zu CARDILLAC drunter und drüber. Ulrike Meinhof entführte das Kamera-Equipment , um „Bambule“ zu drehen. Eine amerikanische Filmproduktionsgesellschaft zog den Hauptdarsteller Hans-Christian Blech ab, um endlich „Die Brücke von Remagen“ fertig zu drehen. Aufgrund des Prager Frühlings waren diese Dreharbeiten unterbrochen worden. Die Amerikaner kauften sich frei und sicherten das Budget zum Weiterdrehen. Dann revoltierte das Drehteam und forderte eine Demokratisierung der Kunst. Sprecher In der ZWEITEN HEIMAT im 12. Teil „Zeit der vielen Worte“ hat Edgar Reitz diese Passage seines Lebens fiktiv festgehalten. Filmausschnitt, Teil 12 Sprecher: Für die Dreharbeiten zu „Reise nach Wien“ kehrte Edgar Reitz nach über 30 Jahren in den Hunsrück zurück. Bei seinem nächsten Film die „Stunde Null“ arbeitete er das erste Mal mit dem noch unbekannten Drehbuchautoren Peter Steinbach zusammen, der der Co-Autor bei HEIMAT 1 werden würde. „Stunde Null“ erzählt von einem Zwischenzustand, einem Machtvakuum an der Zonenrandgrenze. Nach dem 8. Mai 1945. Die Naziherrschaft ist vorbei und die sowjetische Herrschaft hat noch nicht begonnen. Redakteur war Joachim von Mengershausen, ein wichtiger Förderer des Neuen Deutschen Films und später Redakteur von HEIMAT 1. Im Rückblick sieht so aus, als hätte es „innere Schritte“ auf das gigantomanische Heimat-Projekt gegeben, feine Linien, die auf den Hunsrück zuführen. Für den damals 46-Jährigen, der nach „Mahlzeiten“ keine nennenswerten Erfolge zu verzeichnen hatte, sah die Situation ganz anders aus. MUSIK: Henry Purcell: Ouverture in C; Freiburger Barockorchester 2. STUNDE Musik: Originalsoundtrack Heimat 1, 16_Hermann_Variation Sprecher: In der 1. Stunde haben wir gehört, dass Edgar Reitz aus dem Hunsrück nach München gegangen ist, dort erfolgreicher Industriefilmer wurde, experimentelle Kurzfilme gedreht hat und wie er ,Autorenfilmer‘ wurde. Wir haben von seinem preisgekrönten Spielfilm „Mahlzeiten“ gesprochen und weniger erfolgreiche Filmen, die danach entstanden, genannt. Die zweite Stunde dieser Langen Nacht über den Filmemacher Edgar Reitz beschreibt einen Wendepunkt und widmet sich der „Heimat-Trilogie“ und dem Film „Die andere Heimat“, die ihm einen überragenden Welterfolg beschert hat. O-Ton Edgar Reitz Ich habe die „Stunde Null“ gedreht und dann den „Schneider von Ulm“. Beide haben mir kein Glück gebracht. Aber gerade der „Schneider von Ulm“ war so ein Tiefschlag, der mich dann traf, dass ich eigentlich entschlossen war, mit dem Filmen aufzuhören. Ich hatte die ganze Zeit das ganz dringende Gefühl, noch einmal eine neue Weichenstellungen in meinem Leben zu finden, weil dieses Weglaufen aus dem Hunsrück und schnurstraks in der Filmbranche, in diesen ganzen Dschungel der Entwicklungen durch Oberhausen hindurch, alles war wie eine Lawine, die sich permanent formte und Ende der 70er Jahre, stand ich dann an einem Punkt, wo ich das Gefühl hatte. Es geht überhaupt nicht weiter. Und führte eigentlich nur in die persönliche Katastrophe. Musik: s.o. O-Ton Edgar Reitz In meinem Leben gibt es immer so Wendepunkte, die kein Mensch voraussehen kann. Das Jahresende näherte sich, ich war pleite, nicht nur wegen „Schneider von Ulm“, da war auch noch eine Steuerprüfung, eine Ehescheidung alles hintereinander in einem Jahr. Und Freunde, die eine Ferienwohnung auf Sylt hatten, gaben mir den Schlüssel, weil Weihnachten kam. Und ich bin dann dorthin gefahren, um über Weihnachten dort zu bleiben. Und ich glaube es waren dann die ersten Neujahrstage als dieser riesige Schneesturm kam, man konnte die Insel nicht mehr verlassen. Und so eingesperrt in dieser Ferienwohnung fing ich an aufzuschreiben . Ich wollte eigentlich durch Beschreibung einer Familiengeschichte herauszufinden, was das für Irrtümer waren, die mich dazu gebracht haben, ein Filmemacher zu werden. Zitator Die Selbstentdeckung als Erzähler passierte in einer regelrechten Existenzkrise und war nicht das Ergebnis einer Suche, sondern eine Verzweiflungstat. (in: Zeitkino, S. 23) Sprecherin Eingeschneit auf Sylt schrieb Edgar Reitz ein Manuskript von 100 Seiten, das er im Februar 1979 auf der Berlinale dem Redakteur von Mengershausen mit den Worten übergab, „ich muss dir was zeigen, ich habe in meinem Garten eine Ölquelle entdeckt.“ O-Ton Edgar Reitz In meinem Garten eine Ölquelle! Erstens mal hatte ich gar keinen Garten und zweitens „Ölquelle“ ist auch nur ein Symbol für eine Quelle aus der Reichtum und sonst was kommt. Er las das in seinem Hotel und sagte mir am nächsten Tag, also wenn du das verfilmen willst, brauchst du 2 Jahre. Das können wir vom WDR alleine nicht, das müssen mehrere Sender stemmen. Und so nahm das alles seinen Anfang mit HEIMAT. Und so kamen die Jahre, wo ich wieder in den Hunsrück zog. Um das Drehbuch zu schreiben. Ich hab dann 79 im Herbst im Hunsrück diesen kleinen Dokumentarfilm „Geschichten aus den Hunsrückdörfern“ gedreht. Da war Herbst das sieht man in dem Film. Da sehen Sie einen Baum, an dem hängt nur noch ein Apfel. Ende Oktober, es war kein Blatt mehr an dem Baum. Nur noch ein rotbackiger Apfel. Und diesen Baum werde ich nie vergessen. Weil ich hatte das Gefühl, bevor er herunterfällt, esse ich ihn und das Glück kommt zurück. Musik: Originalsoundtrack 01 Prolog. HEIMAT 1 Sprecherin: Der 16-stündige Film HEIMAT, der den Zeitraum 1919-1982 umfasst, ist eine Saga, eine fiktive Chronik, die deutsche Geschichte im Mikrokosmos Provinz spiegelt. O-Ton Edgar Reitz Das, was jetzt kommt, ist ein vollkommen neues Kapitel meines Lebens. Es dauert 4 Jahre, bis der Film fertig war also HEIMAT 1 und diese Jahre der Vorbereitung und des Drehens und der Wiederbegegnung mit dem Hunsrück, die da stattfand, ist sehr prägend und auch wichtig. Weil ich natürlich vor der Frage stand, ist das jetzt eine Heimkehr oder was ist das? Und ich habe vor dem Wegfahren einen großen Zettel genommen und darauf geschrieben, täusche dich nicht, du hast deine Wurzeln längst ausgerissen. Eine Rückkehr wird niemals sein. Aber es war mir auf der anderen Seite klar, dass ich hier von etwas spreche, das ich ganz genau kenne. Wo ich eine Kontrollmöglichkeit habe über den Stoff und die Bilder. Wo ich ganz genau wissen konnte, dieses passt hierher und dieses nicht. Da geht es nicht um die Wahrheit, es geht um die Zugehörigkeit. Ich wusste wie ein Traumwandler immer ganz genau, was stimmt und was nicht stimmt. Das hat den großen Vorteil der selbst gemachten Erfahrungen. Es lässt sich durch nichts ersetzen. Man kann durch kein Studium und durch noch so viel Lektüre und Information, das kann man nicht ersetzen. Da gibt es ein untrügerisches Erkennen. Musik Originalsoundtrack Heimat 1, 04-Paul-Variation_1 Bilderzählerin Ein Mann läuft über die Felder. Ein schöner Frühlingstag. Es ist Paul, der 1919 aus dem Krieg zurückkehrt. Er kommt zurück ins Dorf, nach „Schabbach“. Ein Schwein das kleine Ziegen verscheucht, kreuzt seinen Weg. Er lächelt. Sein Vater, der Schmied arbeitet vor dem Haus. Ohne Worte greift Paul zum Werkzeug und packt mit an. Seine Mutter kommt aus dem Haus. Sie freut sich. Filmausschnitt: „Gottseidank….Der Paul ist wieder da.“ Sprecher: Im Zentrum von „HEIMAT- eine deutsche Chronik“ stehen zwei Familien, die Familien Wiegand und Simon. Maria, gespielt von Marita Breuer, heiratet Paul. Am Ende des ersten Teils wird Paul seine Heimat verlassen, nach Amerika gehen und erst 25 Jahre später zurückkehren. Katharinas Schirmer, Marias Schwiegermutter verheiratet mit dem Schmied Matthias, ist die unbeugsame und aufrechte Beobachterin und Kommentatorin des Weltgeschehens. Filmausschnitt: Heimat 1, 1 Sprecher: Das Zentrum dieser Welt ist die Küche. Der verschlossene Paul liebt eigentlich die Außenseiterin Apollonia, die ihr Kind im Dorfteich ertränkt haben soll und das Dorf verlässt. Die Ehe mit Maria ist also von Anfang ein Kompromiss. Eduard, Marias Bruder leidet unter einen Lungenkrankheit, nachdem er im nahegelegenen Bach zu lange nach Gold gesucht hat und wird an der Berliner Charitè behandelt. In einem Berliner Bordell lernt er die lebenslustige und anpassungsfähige Luzie kennen. „Det Land, det Land“ jubelt sie im Puff, heiratet Eduard und zieht in die Provinz. Auch mit den Nationalsozialismus kann sie sich arrangieren und steckt ihren Eduard in eine SA-Uniform. Als die Amerikaner im Dorf einmarschieren, sagt sie: „Bringen wir doch mit den Amerikanern was zum Loofen.“ Der Einzelgänger Glasisch fungiert wie ein Chronist am Anfang jeder Folge, fasst zusammen, zeigt Fotos und klärt die Beziehungen. In der vierten Folge geht Maria mit ihrer Schwägerin Pauline, die mit dem Uhrmacher Robert ein Geschäft in Simmern betreibt, ins Kino. Sie sehen Zarah Leander in „La Habanera“ von Detlef Sierck. Zuhause vor dem Spiegel machen sie die Löckchenfrisur nach, die sie im Film gesehen haben und singen Lieder aus dem Film. Maria hat zwei Söhne Anton, ihren Liebling und Ernst. Im Krieg kämpft Anton in der Propaganda- Kompanie, von Schabbach aus organisiert Wilfried Wiegand eine Ferntrauung mit der Hamburgerin Magda. Ernst lässt dazu rote Nelken vom Flugzeug herabregnen. Anton wird in den 60er Jahre ein erfolgreicher Unternehmer und gründet die „Optischen Werk Simon“, das Leben von Ernst dessen Leidenschaft die Fliegerei ist, bleibt unstet. Maria verliebt sich in den Ingenieur Otto Wohlleben, aus dieser Verbindung entsteht Hermann, doch das neue Glück währt nur kurz. Otto verliert sein Leben bei der Entschärfung einer Bombe aus dem 2. Weltkrieg. Hermann verliebt sich in das schöne Klärchen, gespielt von Gudrun Landgrebe und erlebt die erste Liebe mit ihr. Sie erwartet ein Kind von ihm, Anton verhindert einen weiteren Kontakt der beiden. Auf der Orgel in der Dorfkirche gibt Hermann seinen Gefühlen mit dissonanten Tönen Ausdruck. Hermann wird später Komponist. 1969 absolviert er ein Rundfunkkonzert in Baden-Baden mit technischer Hilfe seines Stiefvaters. Ganz Schabbach hört die Konzertübertragung im Radio und schüttelt den Kopf, nur der Chronist Glasisch ist begeistert, die Musik erinnere ihn an den Gesang der Nachtigallen. Musik, Soundtrack Heimat 1, T. 22 Geheischnis O-Ton Edgar Reitz Ich werde ja oft nach dem Begriff „Heimat“ gefragt, weil meine Filme diesen Begriff im Titel tragen und da kommen seit 20 Jahren immer wieder Leute zu mir und wollen Äußerungen haben, sei es bei irgendwelchen Symposien oder Interviews zu dem Thema „Heimat“. Das ist ja im Moment so ein verbreitetes Thema, dass man es gar nicht mehr hören kann. Und auch politisch immer wieder missbraucht und gerade deswegen habe ich das nicht mit der Kneifzange anfassen wollen damals und es dennoch getan. Aber je mehr ich über das Wort oder den Begriff „Heimat“ nachgedacht habe, umso widersprüchlicher wurden die Gefühle in mir. Für mich ist das heute ein absolut ambivalentes Gefühl. „Heimat“ ist immer etwas eben so Geliebtes wie Gehasstes. Etwas ebenso zu Verlassendes als Wiederzufindendes. Und natürlich in der Biografie der meisten Menschen kommt es dahin, dass wir die Heimat verlassen, dass wir unser erwachsenes Leben da einrichten, wo wir glauben, dass wir unser Leben selbst bestimmen können, das ist das, was wir die „zweite Heimat“ nennen , also den Ort oder den Zusammenhang, den ich in Freiheit selbst gestalte, wo nichts einfach von Geburt aus ohne mein Dazutun ist. Also in der Hunsrück-Heimat, von der ich gesprochen habe, ist nichts von mir. Ich konnte mir meine Eltern nicht aussuchen, ich konnte mir den Zeitpunkt nicht aussuchen, in dem ich dort geboren wurde, ich habe Jahre erlebt, die ich keinem wünsche erlebt zu haben und ich habe eine Landschaft und eine menschliche Umgebung kennengelernt ohne dass ich daran irgendetwas ändern konnte, das war alles nicht mein eigenes Bestreben oder nicht mein eigener Wunsch. „Heimat“ ist etwas, was wir nicht selbst wählen können. Musik: s.o. Sprecherin: Als Filmtitel hatte Edgar Reitz zunächst „Geheischnis“ vorgesehen, ein Hunsrücker Wort, das so etwas wie Nestwärme und Geborgenheit meint. Der Produktionstitel war dann „made in Germany“. Am Beginn jeder Folge steht dieser Titel auf einem großen Granit-Stein. Bernd Eichinger war es, der sich sehr dafür einsetzte, dass das Werk einen anderen Titel bekommt, nämlich „HEIMAT“. Es war eine mutige Entscheidung. Der Heimatbegriff hatte in den 70ern und 80er Jahren einen negativen Beigeschmack hatte, durch den Missbrauch der Nazis, aber auch vor der Kulisse der Heimatfilme der 50er Jahre. Musik: s.o. O-Ton Edgar Reitz Nun haben mich ja immer wieder die Leute gefragt, wie kommt es, dass sie jetzt nachdem Sie diesen weiten Weg gegangen sind und sich so weit von ihrer Heimat entfernt haben, dann einen Film mit dem Titel „Heimat“ machen? Ich habe nie aufgehört zu betonen, dass das keine Rückkehr ist, das musste ich vor allem den Hunsrückern gegenüber klarmachen, wenn ich hier herkomme mit einem Filmteam und wir arbeiten jahrelang im Hunsrück und drehen Geschichten, die weit gesättigt sind mit Kindheitserinnerungen usw. So ist das auf gar keinen Fall zu verstehen als Rückkehr. Ich bin nicht jetzt einer von euch wieder geworden, das wollte ich nicht. Und dadurch dass ich diesen Film mache, kann ich es nicht wieder werden. Aber diese Distanz, die ich da gefunden habe, dieser weite Weg, den ich gegangen bin, der setzt mich in die Lage den Film zu machen. Durch den habe ich den freien und fremden Blick auf euch. Und auf alles und auf mein eigenes Leben. Ich kann also diese Geschichten deswegen erzählen, weil ich weit weggegangen bin und die Sicht von außen kennengelernt habe. Ich glaube, wenn man eine Geschichte erzählen will, die so tief eindringt, wie wir das immerhin in „Heimat“ versucht haben, braucht man eine Distanz. MUSIK, Originalsoundtrack HEIMAT 1, T. 2 Katharina O-Ton Edgar Reitz Ich konnte die Welt, die ich da beschreibe auch fiktionalisieren. Also in eine erfundene Geschichte umwandeln. Das wäre mir nicht gelungen, wenn ich dageblieben wäre. Sprecherin Nach einjähriger Drehbucharbeit starteten die Dreharbeiten am 4. April 1981. Sie dauerten zwei Jahre. Das organisatorische Zentrum war die Gaststätte von Rudi Molz. Ausgerechnet am Tag der Ankunft der Schauspieler und dem Start der Dreharbeiten starb Opa Molz und Edgar Reitz wurde ans Sterbebett gerufen. Molz war derjenige, der den Stoff für eine der besten Szenen geliefert hatte: Bei der Beerdigung Marias, im letzten Teil der HEIMAT setzt ein Platzregen ein, der Sarg wird mitten auf der Straße abgestellt und steht dort einsam als Hermann verspätet zur Beerdigung seiner Mutter anreist. Edgar Reitz notierte in sein Produktionstagebuch: Zitator (Edgar Reitz: Die große Werkschau, S. 194) Ich muss unbedingt lernen, dieses niemals planbare, fremde Nebeneinander von Ereignissen zu verstehen und erzählerisch nachzuvollziehen. Die Ankunft von Schauspielern, der Tod des alten Mannes, ein unter Zeitdruck absolviertes Gebet. Wenn man heterogenes oder einander fremdes Material konstruieren will, kommt man nie auf solche Fremdheiten, wie sie durch Beobachtung des Lebens ins Bewusstsein gelangen. Eine der wesentlichen künstlerischen Aufgaben scheint mir die Beschreibung von Fremdheit zu sein. Material, Ereignisse, Geschichten, die einander fremd sind, zueinander zu führen, die Fremdheit zu empfinden, die Fremdheit darzustellen, die Fremdheit als Stimulanz für die Nerven, als Indiz für das Leben. Sprecherin In diesem bis dahin beispiellosen Megaprojekt der bundesdeutschen Filmgeschichte wurde an 282 Drehtagen, an 50 Orten, mit 32-Haupt- und 159 Nebendarstellern und 4000 Komparsen gedreht. Gedreht wurde in den Hunsrückdörfern Gehlweiler und Woppenroth, hauptsächlich „draußen“, d.h außerhalb eines Filmstudios. Musik: Originalsoundtrack HEIMAT 1, T. 10 Lucie Sprecherin Edgar Reitz liebt seine Figuren und sie wirken so echt, dass man fast auf die Idee käme, sie wären reale Personen. O-Ton Edgar Reitz Ich porträtiere jemanden, wenn ich ihn mag. Wenn er mir trotz vieler innerer Widersprüche doch ans Herz gewachsen ist. Wenn ich an so eine Figur wie die Luzie denke, das ist die ambivalenteste Figur in der „Heimat“. Diese Berlinerin, die aus jeder Situation ihres Lebens so etwas Schräges zu machen versucht. Ist halt eine ehemalige Bordellwirtin, die das ganze Leben so betreibt, wie man einen Puff in Berlin betreibt. Das ist immer halb unecht und gleichzeitig mag ich sie. Ich habe eine glühende Liebe zu dieser Figur, trotz aller ihrer Schrägheit, weil ich spüre, in der ist etwas, worauf ich mich verlassen kann, die ist treu. Meine Figuren sind eigentlich keine Prototypen. Sie haben immer das Unverwechselbare und das unverwechselbar Persönliche ist stärker als das, was auf andere hindeutet. Ich würde, wenn so etwas käme, wenn jemand käme und würde sagen, ihr habt mich porträtiert und nicht gefragt, dann wäre ich sehr erstaunt, weil ich glaube, sagen zu können es war nicht die bestimmte Person, sondern das bestimmte Gefühl, das ich versucht habe zu beschreiben. Sprecherin Edgar Reitz arbeitete in HEIMAT 1 auch mit Laien, mit eindrucksvollen Charakteren, die er in den umliegenden Dörfern gecastet hat. Das Personal wirkt absolut authentisch. Die Schauspieler sprechen Dialekt, „Hunsrücker Platt“. O-Ton Edgar Reitz Ich liebe Dialekte. In den Dialekten ist die Sprache zu erkennen, die einen als Kind geprägt haben. Nicht umsonst nennt man das die Muttersprache. Alle diese irrationalen Formen der Zärtlichkeit, der Zuwendung, des Trostes, der Tonfall, in dem man ein Kind tröstet, wenn es sich weh getan hat oder der Singsang mit dem man es in den Schlaf begleitet, alles das gibt es nur in den Dialekten. Die Dialekte verraten alle etwas über die Kindheit der Personen und das ist schön. Dadurch werden Menschen erkennbar, man hat plötzlich ein Gefühl für sie, man kann sie sich als Kind vorstellen. Filmausschnitt Die ZWEITE HEIMAT, Teil 1 : Hermann macht Sprechübungen O-Ton Edgar Reitz Als ich nach München gegangen kam, zum Zwecke des Studiums habe ich schon im ersten Semester mich eingeschrieben in einen Sprechkurs in einer Schauspielschule, d.h ich wollte nicht mehr erkannt werden an meinem Dialekt. Ich dichte spricht der Dichter und verbricht fürchterliche Gedichte. Solche Text musste ich üben, das habe ich dann in der „ZWEITEN HEIMAT“ meinen Hermann auch machen lassen, um mir den Hunsrück auszutreiben. Das haben übrigens die Hunsrücker mir übrigens wahnsinnig übel genommen als die ZWEITE HEIMAT im Fernsehen lief, gab es Leute, die haben sofort abgeschaltet als diese Szene kam . Also geht er da, der Hunsrücker, nach München und lässt sich seinen Dialekt abgewöhnen, wo wir doch so stolz sind darauf. Also erkennbar zu sein als einer, der aus einer bestimmten Provinz kommt, am Dialekt, das ist etwas, was einen begleitet wie ein, ich weiß nicht, wie ein Zeichen auf der Stirn. Musik: Originalsoundtrack, Heimat 1, T.5 Pauline Sprecherin Es ist aber nicht nur das „Hunrücker Platt“ in HEIMAT 1 zu hören, sondern auch Berlinerisch und Sächsisch. Auch die Auswahl der Requisiten ist eine Geschichte für sich. Sein Ausstatter Franz Baur fand zum Beispiel auf sehr ungewöhnliche Weise das Bett für das Schlafzimmer der Uhrmacher-Familie in Simmern. O-Ton Edgar Reitz Die haben einen kleinen Jungen und der wird nachts wach und der kommt an das Bett der Eltern, wenn die da sitzen, nachdem sie ihr Geld gezählt haben und Äpfel essen. Wie sieht das Schlafzimmer aus und dann schilderte ich dem Franz das Schlafzimmer meiner Eltern, wie das ausgesehen hat und ich habe ihm eine Handskizze gemacht und dann ging er los und fand tatsächlich in einem Haus im Nachbarort eine Familie, die ein solches Schlafzimmer besaßen, nur in dem Schlafzimmer, im Bett lag eine 90-Jährige tot kranke Frau und der Franzi ging zu dieser Frau und sagte, wir brauchen das Bett, in dem du liegst, für den Film. Ich nehme dich jetzt und trage dich in ein anderes Bett und wenn wir den Film fertig gedreht haben und du lebst noch, dann lege ich dich in dein Bett zurück. Die Frau war einverstanden, er legte sie behutsam in ein anderes Bett und von diesem Moment an nahm sich diese Frau vor zu leben, bis der Film fertig ist, das hat sie geschafft und dann brachte der Franz das Bett zurück, legte die Frau. hinein und sie konnte in Frieden sterben. Lacht Musik: Originalsoundtrack Heimat 1, 05 Pauline O-Ton Edgar Reitz Ich habe bei allen meinen Filmen vor allem der HEIMAT-TRILOGIE auf eine für mich sehr prägende Weise erlebt, dass die Teamarbeit eigentlich die Energiequelle wurde. Das hat übrigens auch noch zur Folge, dass automatisch eine Öffnung nach außen entsteht, also ein Kollektiv von zusammenarbeitenden Menschen ist ja nie nach außen verschlossen, das bildet automatisch viele Kontakte, der eine ist fähiger für Kontakte und öffnet sich mehr, er andere ist verschlossen. Ein Organismus wie ein gut funktionierendes Team bewegt sich auch durch die Welt auf eine ganz eigenes Art, öffnet sich auf eine Weise, wie das ein einzelner nie kann. Für die Gedanken und Möglichkeiten, Empfingungen und Strömungen der Welt überhaupt. Es hat sich übrigens dann ergeben, dass bestimmte Formen der Zusammenarbeit über 30 Jahre Bestand hatten. Ich habe z.b mit dem Kameramann Gernot Roll über 30 Jahre gearbeitet und es sind in meinen Teams Kinder gezeugt und geboren worden, die dann später als Assistenten in unseren Teams waren. Die sozusagen in der HEIMAT -Family geboren wurden, aufgewachsen sind und bei den späten Teilen schon wieder mitgearbeitet haben. Da wird diese Grenze zwischen Arbeit und Leben so durchlässig, wie man das sonst nicht kennt. Sprecherin Die Uraufführung fand im Juni 1984 an zwei Tagen im Münchner ARRI-Kino vor 600 Zuschauern statt. Die Ausstrahlung im Fernsehen wurde zum Ereignis, 25 Millionen Zuschauer sahen von September bis Oktober 1984 mindestens eine der Folgen. Die Einschaltquote lag bei 26%. Wobei der Anteil der über 50 Jährigen deutlich höher lag. „Heimat 1“ war auch ein internationaler Erfolg. Der Film wurde in 30 Länder verkauft. 1986 strahlte BBC 2 „Heimat“ aus, vor 3 Millionen Zuschauern. Sprecher Stanley Kubrick war so begeistert von Heimat 1, dass er Edgar Reitz bat, die deutsche Synchronfassung seines Film „Eyes wide shut“ zu übernehmen, was Reitz - kongenial - nach Kubricks Tod auch übernahm. Er ließ die Schauspieler nicht nur „klassisch“ die Synchronfassung sprechen, sondern ließ sie spielen und frei sich im Raum frei bewegen. MUSIK HEIMAT 2, T.01 Titelmelodie Sprecherin Nach dem überragenden Erfolg von „HEIMAT 1“ standen alle Türen offen. Edgar Reitz beschrieb sie als die freieste Zeit, die er je erlebt hatte. Mit dem letzten Teil von „Heimat 1“, der Figur des Hermann, waren die Weichen gestellt. In der „Zweiten Heimat“, dem autobiografischen Hauptwerk von Edgar Reitz, ist Hermann im Zentrum. Er ist ein „Weggeher“, im Unterschied zu den „Dableibern“. Wie Edgar Reitz, der nach dem Abitur aus dem Hunsrück nach München gegangen ist. O-Ton Edgar Reitz Das war von Anfang an natürlich eine wichtige Frage für mich, ob ich in der Figur des Hermann sozusagen ein Selbstporträt mache . Das ist ja ein probates Mittel in der Literatur gibt es das immer wieder, der Roman hat den Vorteil, dass es dafür auch eine grammatische Form gibt, die Ich-Erzählung , die gibt es im Film nicht, der Film hat nicht die Möglichkeit der Ich-Erzählung, weil die Perspektive , die man da einnimmt ja immer die der Kamera letztendlich ist und das kann man auch nicht verleugnen. Hermann studiert Musik und ich bewege mich mit ihm in einem anderen Milieu . Ich gebe zu, dass gerade die Musik mir besonders nahe ist und ich mich auch gerne identifiziert hätte mit einem jungen Mann, der da Musik studiert. Ich musste die Figuren beschreiben, die mir im Leben begegnet sind, gleichzeitig stoße ich in der Geschichte zum Beispiel auf junge Filmemacher wie Reinhard und Rob und die Clique, da sah ich natürlich ganz viele Details aus meiner frühen Zeit und ich fragte mich, ob ich das übersetzen kann in Hermanns Welt und das ging gar nicht. Sprecherin Edgar Reitz schrieb zwischen 1986-1987 2700 Drehbuchseiten. O-Ton Edgar Reitz Es ist alles miteinander ein großes Epos, ich würde auch das mit einem Roman vergleichen, aber dann schon gleich ein mehrbändiger. Oder ein sehr dicker Roman und dann wären die einzelnen Filme abgeschlossenen Kapiteln sozusagen vergleichbar. Aber diese 25,5 Stunden Länge, das sind 13 zweistündige Filme. Und jeder von diesen Filmen hat eine eigene Thematik widmet sich auch einer eigenen Figur , dieses Ensemble von dem wir hier sprechen , da hat jeder davon eine eigene große Episode, aber man erfährt in jeder der Episoden immer, was aus all den anderen wird, die Figuren bleiben in allen Geschichten präsent. Es wechselt immer nur die Perspektive. Musik: 2. Heimat, T. 7 Hermann & Clarissa Sprecher Hermann lernt die hochbegabte Cellistin Clarissa kennen. Im Treppenhaus der Musikhochschule sind sich ihre Blicke bereits begegnet. Eigentlich ist es Liebe auf den ersten Blick, aber die beiden kommen nie wirklich zusammen. Hermann heiratet Schnüsschen, die praktisch veranlagte, süße Reiseleiterin aus dem Hunsrück, die später Psychologin wird. Jean-Marie, der Komponist und Volker, der Pianist sind Teil der Clique, wer von den beiden Clarissa geschwängert hat, weiß man nicht. Clarissa und Volker werden später ein Paar. Helga aus Dülmen, die Radikale, die später bei der RAF landet, führt mit dem Filmemacher Stefan eine sadomasochistische Beziehung. Rob, der Stille, ist Kameramann. Juan kommt aus Südamerika und spricht 10 Sprachen. Treffpunkt der Freunde ist die Villa „Fuchsbau“, die der Verlagserbin und „ewigen Tochter“ Frau Cerphal gehört. Alex, der belesene Philosoph, verfällt dem Alkohol und Olga, die Schauspielerin, ist tablettenabhängig. Die Schwäbin Renate, die Rechtsanwaltsgehilfin, hat nicht das Zeug eine gute Schauspielerin zu werden und tritt in einer Kneipe auf. Reinhard der Weitgereiste schreibt über Esther und die Geschäfte, die ihre Familie mit den Nazis gemacht hat. Er trifft die Fotografin in Venedig. Mit seinem Drehbuch ertrinkt er im Ammersee. Ansgar verliert durch die Liebe zu Evelyn, einer Frau mit einer unglaublich tiefen Stimme, seinen Zynismus und stirbt jung. Eine Straßenbahn erfasst ihn. Es sind starke Figuren und sehr starke Frauenfiguren, die Edgar Reitz erschafft. Es ist die Generation der 68er. Sprecherin Die Dreharbeiten begannen im Januar 1988 und endeten nach fast vier Jahren im November 1991. Die „ZWEITE HEIMAT - Chronik einer Jugend“ ist keine Fortsetzung von „HEIMAT 1“, sondern ihr Gegenbild. Es ist die selbst gesuchte Heimat einer Avantgarde von Künstlern und Musikern im München der 60er Jahre. Die Darstellung dieser Generation findet sich weder im Film noch in der Literatur Vergleichbares. O-Ton Edgar Reitz Es ist ein Porträt der Träumer. Einer Traumgeneration. Eines Traumalters. Es heißt ja, „Chronik einer Jugend“. Die Jugend also solche ist ein Traum. Der übrigens in verschiedenen Epochen auch sehr unterschiedlich bewertet wird. Das was hier so als die aufregendste Zeit des Menschenlebens dargestellt wird, das ist so am Ende des Teenagerlebens sagen wir mal vom 18. Lebensjahr bis 30. Sprecherin Es sind sehnsüchtige Sinnsucher an deren Leben, Liebe, künstlerischer Entfaltung, Konzertauftritten, Partys, Hochzeiten und Todesfällen uns Edgar Reitz teilnehmen lässt. O-Ton Edgar Reitz Das ist eine Eigenschaft, die sie alle betrifft, obwohl sie dann doch so unterschiedlich sind in ihrer Wesensart, in ihrem Temperament, aber ich glaube das ist so ein Lebensthema von mir. Die sehnsüchtige Suche nach was denn? Dem Stein der Weisen oder der Insel des Glücks der großen Liebe oder was auch immer. Sprecherin In die ZWEITE HEIMAT finden sich viele Lebenssituationen von Edgar Reitz wieder, die er fiktionalisiert hat. Detailliert werden die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse der 60er Jahre beschrieben. Die Ermordung Kennedys, die RAF, die Haschrebellen, Hausbesetzungen und Studentenproteste. Wie diese Ereignisse und gesellschaftlichen Veränderungen wirken, wird anhand des Kosmos‘ dieser Künstlergruppe erzählt. O-Ton Edgar Reitz Die ZWEITE HEIMAT ist das Porträt einer Generation und ihrer Elterngeneration sofern das eine Rolle spielt, in deren Leben. Aber eigentlich geht es in der tieferen Schicht, um die Frage der Selbstverwirklichung, diese Glücksvorstellung, die man als junger Mensch in sich hat, insbesondere, wenn man sich künstlerisch beschäftigt. Ist diese Glücksvorstellung realisierbar, umsetzbar, wie ist das Verhältnis zwischen Traum und Wirklichkeit und das ist das Thema, das immer wieder vorkommt und wo ich auch sehr große Freude daran gefunden habe, Dinge zu beschreiben, die sich jenseits der Worte abspielen oder jenseits der Begriffe. O-Ton Edgar Reitz Nehmen wir mal ein Beispiel. Eine meiner Lieblingssequenzen ist: Clarissa im Krankenhaus. Sie hat eine illegale Abtreibung hinter sich, die sie beinahe mit dem Leben bezahlen musste, weil der Abtreibungsarzt hier einen Infekt bei ihr verursacht hat, an dem sie beinahe stirbt. Und sie liegt im Krankenhaus und es ist Heilig Abend. Bilderzählerin Clarissa liegt im Krankenbett und liest Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“. Der Zuschauer kann mitlesen. Ihr Haare hängen ihr vor den Augen und verdecken immer wieder das Buch. Im Nachbarbett liegt eine Wöchnerin, die gerade ihr Baby bekommen hat. Ihr Mann und ihre beiden größere Töchter kommen zu Besuch. Weihnachtsgeschenke werden verteilt, es wird angestoßen mit einem Glas Sekt. Ein Aufziehspielzeuge aus Blech saust auf dem Boden um den Fuß ihres Bettes. Sie verlässt das Bett und geht auf den Flur. Ein Christbaum mit Kerzen brennt in einer Nische. Aus einem der Krankenzimmer kommt die Nachtschwester mit umgeschnallten Engelsflügeln und verschwindet im gegenüberliegenden Zimmer. Clarissa holt ihre Tasche, geht in eines der Bäder und schneidet sich die Haare. Als sie in ihr Zimmer zurückkehrt, steht da plötzlich ihre Mutter. O-Ton Edgar Reitz So etwas hintereinander erzählt, habe ich noch nie in einem Film gesehen vorher und das war für mich ein wahnsinniges Abenteuer. Weil nichts geht aus dem anderen logisch hervor, alles ist surreal, aber es ist in der Situation gefangen und die Situation ist völlig realistisch. Die Mutter sieht, dass sie die Haare abgeschnitten hat und fängt an ihr Vorhaltungen zu machen und da rennt sie davon. Filmausschnitt ZWEITE HEIMAT, Teil 7 „Weihnachtswölfe“. O-Ton Edgar Reitz Verlässt das Krankenhaus und dann sucht sie in der Stadt die Freunde und landet schließlich bei Hermann. Er verheizt den Gartenzaun, beim Holz machen verletzt er sich auch noch an einem rostigen Nagel ,dass er blutet und dann tropft das Blut auf das Schachspiel und die Zeitung, das sind die merkwürdigsten Dinge, die sich da abspielen, wie gesagt, diese Sequenz überhaupt, ist eine meiner Lieblingssequenzen, weil ich finde, so zu erzählen, ist filmisch. Da hat man überhaupt kein Bedürfnis so etwas in Sprache oder in Worte zu fassen, es gibt auch keine Worte dafür, weil sobald man Begriffe für die einzelnen Dinge verwendet, merkt man, das passt gar nicht aneinander. Von der Bildatmosphäre her geht es vollkommen glaubwürdig und realistisch ineinander über, und wenn man es in Worten erzählt ist es eine surreale Collage, die es überhaupt nicht ist. Musik Originalsoundtrack ZWEITE HEIMAT, T. 19 Wölfelied O-Ton Edgar Reitz Also die ZWEITE HEIMAT ist mein Ideal, so habe ich immer Filme machen wollen. So wie sich hier die Bildfantasie und die Situationsfantasie bewegt und freimacht, so habe ich mir vorgestellt, müsste das sein mit dem Film. Sprecherin Sechs Jahre arbeitete er an diesem Film. Es waren 552 Drehtage, 71 Darsteller, 310 Kleindarsteller, 2300 Mitwirkende und 540 000 Meter Film. Die HEIMAT 2 dürfte das bislang größte zusammenhängende Filmprojekt der Geschichte sein, das ein einzelner Regisseur und Drehbuchautor bewältigt hat. O-Ton Edgar Reitz Das einzige Land, wo ich wirklich verstanden worden bin mit der ZWEITEN HEIMAT war Italien, nach der Aufführung in Venedig, wo es eine Sensation war auf dem Festival, ging der Film durch Italien, mehrere Jahre lang, es ist unbeschreiblich was das für ein Erfolg war. Das war der absolute Höhepunkt meines Filmemacherlebens, was ich mit der 2. Heimat in Italien erlebte. Sprecherin: In Deutschland war der Erfolg nicht so überragend wie in Italien. Die Quoten waren nicht gut. Musik Originalsoundtrack, 2. Heimat: Die Krähen schreien Sprecher „HEIMAT 3-Chronik einer Zeitenwende“ beginnt am 9. November 1989. Clarissa und Hermann, beide erfolgreiche Musiker, begegnen sich in einem Westberliner Hotel nach 17 Jahren wieder und entdecken ihre Liebe füreinander. Sie finden ein Haus in der Nähe von Schabbach und für den Umbau haben sie 4 Handwerker aus Ostdeutschland engagiert, Gunnar, Udo, Tillmann und Tobi. Anton, der Familienpatriarch ist ebenso mit von der Partie wie Ernst, der Flieger und Kunstsammler. Gunnar, gespielt von Uwe Steimle, verliert seine Frau und seine Töchter an einen Wessi. Die Geschichten, die um das Liebespaar Clarissa und Hermann kreisen, sind bunt und ineinander verwoben. Das Zentrum ist ein altes Fachwerkhaus mit Blick über das Rheintal, das Günderodehaus. In Heimat 1 war die Küche das Zentrum, in DIE Zweite HEIMAT die Villa, „der Fuchsbau“. O-Ton Edgar Reitz Bei „Heimat 3“ war ich das einzige Mal wirklich total unglücklich bei der Produktion. Weil die Senderdramaturgen sich auf eine Weise, die ich zutiefst schäbig finde, eingemischt haben in jedes Detail. Es ging über Jahre bis wir das grüne Licht hatten zum Drehen, bis die Finanzierung stand und immer wieder, mussten die Drehbücher neu und neu und neu geschrieben werden und es sind immer wieder Figuren gestrichen worden, es wurden immer wieder Situationen vorgegeben, die da unbedingt verlangt wurden und man wollte eine Dramatisierung wo ich keine Dramatisierung möglich sah. Also die Fernsehdramaturgen haben die „Heimat 3“ zutiefst beschädigt. Ich habe ganz schlimme Jahre verbracht bis ich die HEIMAT 3 drehen konnte und auch noch während der Dreharbeiten, es war ja bis zuletzt so, die Filme mussten ja gekürzt werden auf eine bestimmte Sendelänge und dann waren sie hinterher nicht mal erstaunt, dass sie die Quote nicht erreicht haben. Musik Heimat 3, T. 18 Parcour. Bilderzählerin Der Himmel ist wolkenverhangen. Die Beerdigungsgesellschaft wartet ungeduldig auf dem Friedhof. Die Urne kommt nicht. Es wird telefoniert. Schnüsschen kommt mit ihrem neuen Lebensabschnittsgefährten auf Hermann zu. Dann wird ein Urnenversenkungsmechanismus vorgeführt. Es ist still, keine Musik. Endlich kommen die Wagen mit der Urne. Hartmut, Antons Sohn, setzt die Urne ins Grab und Ernst hält eine wütende Rede. Filmszene: Antons Beerdigung/Rede Ernst O-Ton Edgar Reitz Die Geschichte von Antons Tod, die Urnenbestattung von Anton, die ist einfach gut gelungen. Der Mensch braucht Rituale, ohne Rituale sind wir ganz hilflos gegenüber den großen Dingen, wenn es keine Rituale mehr gibt, können wir z.B mit dem Tod nicht umgehen und jetzt kommen diese blöden Verwandten und finden neue Privatrituale. Musik s.o. Sprecher 2012 dreht Edgar Reitz als beinahe 80-Jähriger „Die andere Heimat“. Es ist ein Film über die Auswanderungswelle nach Südamerika 1843 im von Armut und Hunger geprägten Hunsrück. Im Mittelpunkt steht der Bauernjunge Jakob, gespielt von dem Laiendarsteller Jan Dieter Schneider. Er ist der sehnsüchtige Leser und Träumer, untauglich zur Feldarbeit, der nach Brasilien auswandern möchte. Sein Bruder Gustav kehrt aus dem preußischen Militärdienst nach Hause zurück und kommt mit der Tochter des Edelschleifers Jettchen zusammen, macht ihr ein Kind, das dann stirbt. Nicht Jakob, sondern sein Bruder Gustav wandert mit Jette aus. Jakob heiratet Florinchen, die beste Freundin von Jette. Vielleicht ein Happy End gibt es bei der letzten Begegnung von Jettchen und Jakob in der Nacht auf dem Friedhof im Hunsrück. Ob sie so leichter mit Gustav weggehen kann oder doch Jakob liebt, bleibt ihr Geheimnis. Filmausschnitt ANDERE HEIMAT Sprecherin Für „Die Andere Heimat“ hat Edgar Reitz Werner Herzog in einer Gastrolle als Alexander von Humboldt in den Hunsrück geholt. Bilderzählerin Oben auf dem Berg. Blick auf eine hügelige Landschaft. Der Hunsrück. Alexander von Humboldt nähert sich mit Kutschen und seinen Gehilfen. Er fragt einen Bauer, der leise ein Esen schlägt, wie das Dorf da heißt. Das ist „Schabbach“, sagt der Alte. Humboldt hat ihn durch das Fernglas ins Visier genommen. nach dem Weg. Es ist der Regisseur Edgar Reitz selbst. MUSIK Soundtrack „Die andere Heimat“, T 12 Jakoulema 3. Stunde Musik Soundtrack „Die andere Heimat“, T. 5 Zeitloser Duft O-Ton Edgar-Reitz liest aus „Zeitkino“ vor „ Nach über 10 Lehrjahren als Theaterwissenschaftler, als Theaterregisseur, Produktionsassistent, Cutter, Kameraassistent, Aufnahmeleiter, Industriefilmregisseur, Werbefilmer, Kameramann und vielen anderen Filmberufen fühlte ich mich genügend befähigt den Traum vom eigenen Spielfilm zu erfüllen. Tausende von Filmen, die ich in der magischen Dunkelheit des Kinos gesehen hatte, reihten sich in meiner Vorstellung zu einem wunderbaren Reigen, den man Filmgeschichte nannte. Oder nennt. Ich wollte seit jeher in diesen Reigen einbezogen werden. Ich träumte davon, ein Teil dieser Geschichte zu werden und sie fortzusetzen. Ich wollte dort sein, wo die Welt mit der Kamera neu erfunden wird. Ich fühlte mich als ein lebendes Auge, das die Welt als Leinwand begreift. Ich fühlte mich als Zauberlehrling, verbrachte die Tage in den Kinos, reiste hinter den Lieblingsfilmen her und benutzte die Industriefilmaufträge als Übungsfeld und lauerte auf die Chance als Filmemacher. Diese Chance wäre bis heute nie gekommen, und ich hätte in meinem ganzen Leben keinen Spielfilm inszenieren können, wenn ich nicht eines Tages begonnen hätte, ein Drehbuch zu schreiben. Das Buch zu „Mahlzeiten“ war eine endlose Materialsammlung, es erfüllte kaum eines das für Drehbücher verbindlichen Kriterien. Und hätte ohne weiteres für einen Film von 10h Länge gereicht. Dennoch machte dieses Monster von Buch mich 1967 zum Regisseur und gab mir die Chance, auf die ich lange gehofft hatte. So wurde ich mit 35 Jahren ein Autorenfilmer. Der Begriff war in den 60er Jahren neu. Er kam aus Frankreich, wo eine neue Art von Filmen entstand, die aus den Studios und der mentalen Enge der Branche ausbrachen. Von den Filmen der Nouvelle Vague schwärmte eine ganze Generation. Das Wort „cinema des auteur“ bezeichnete eine kompromisslose, authentische Art des Filmemachens, die sogar Förderungskremien, Fernsehredakteure und Kritiker faszinierte. Einen Film zu machen, wie der Maler ein Bild malt, wie der Schriftsteller seinen Roman schreibt, ganz autonom und nur der eigenen Erfahrung des Machens verpflichtet, das leuchtete ein und galt als einzige Methode der Filmkunst. Ein Film wird geschrieben, gedreht und montiert, jede dieser Entstehungsphase ist gleich wichtig und muss deswegen in einer einzigen künstlerischen Verantwortung bleiben. So lautete die professionelle Regel, die aus Frankreich zu uns gekommen war und der ich mich anschloss. Sie hatte zunächst auch Erfolg. Ich hielt für „Mahlzeiten“ den großen Preis für Erstlingsfilme in Venedig und blickte in eine Welt, die fast 20 Jahre lang dem Autorenkino gehören sollten. Die Einheit von Drehbuch, Regie, Schnitt und Produktion war Programm und die Meisterwerke der Kinogeschichte, die ich verehrte schienen seine Richtigkeit zu bestätigen. Eine internationale Autorenfilmfamilie war entstanden. In Wirklichkeit lag in diesem Programm eine Überforderung und es verführte dazu, seine bloße Erfüllung als Wertmaßstab zu setzen. Natürlich gab es ebenso viele schlechte Autorenfilme, wie es talentlose Abenteurer auf der freien Wildbahn des Filmgeschäftes gab. Bald tummelten sich die Pseudogenies im Autorenfilmgewerbe ebenso wie im Showbusiness. Immer erkannte man den deutschen Autorenfilm an seinem chronischen Geldmangel und bestimmten professionellen Schwächen, da nützte es gar nichts, dass man sich Fellini, Kubrick oder Bergmann zum Vorbild genommen hatte Denn gerade diese Meister beherrschten sehr wohl das Handwerk des großen Apparates und arbeiteten mit Budgets, die kein deutscher Film aufweisen konnte. Daher war es unvermeidlich, dass der deutsche Autorenfilm in Verruf geriet. Sein Scheitern hat das Rad der Filmgeschichte bei uns um Jahrzehnte zurückgedreht.“ Sprecher: Das schrieb Edgar Reitz in dem Text „Über das Drehbuchschreiben“. (In: „Zeitkino“, hrsg. Christian Schulte, Ffm 2015 Isbn 978-3-940384-66-9, S. 248) Musik Originalsoundtrack, T. 17 Clarissas Traum Sprecherin In den ersten beiden Stunden haben wir Biografisches erfahren und über viele Filme aus dem 70-stündigen Filmwerk von Edgar Reitz gesprochen. In der dritten Stunde, soll die epische Erzählweise genauer betrachtet werden und das Medium Fernsehen und Kino, die die Filme gezeigt haben. Außerdem soll Edgar Reitz Vision für ein Kino der Zukunft vorgestellt werden. Während sich die avantgardistische Filmkunst durch ein hohes Tempo auszeichnete, setzt mit „HEIMAT“ das „Interesse an panoramatischen Lebensbildern“ und eine Verlangsamung des Tempos. Edgar Reitz hat sich stets gewehrt eine permanente Dramatisierung des Stoffes nach dem „Hollywood-Schema“ vorzunehmen, so Thomas Koebner, der Edgar Reitz-Biograf und ehemalige Direktor der „Deutschen Film-und Fernsehakademie“ (dffb) in Berlin, in seinem Buch „Edgar Reitz erzählt“. Nicht der Gute gewinnt und der Böse verliert, sondern die menschlichen Unzulänglichkeiten, Widersprüche und Geheimnisse haben hier Platz. Musik Originalsoundtrack, T. 17 Clarissas Traum Filmausschnitt ZWEITE HEIMAT, Teil 7 Sprecher: Im 7. Teil der ZWEITEN HEIMAT mit dem Titel „Weihnachtswölfe“ sucht Clarissa Trost in der Nähe der Kunst. Hier begegnen ihr zwei Nonnen, sie dreht sich um und blickt in ihr eigenes Gesicht. Sie scheint eine der Nonnen zu sein. O-Ton Edgar Reitz Sie haben da eine Szene erwähnt, die auch eine meiner Lieblingsszenen ist, in der ZWEITEN HEIMAT und dass eine der beiden Nonnen, sie selbst ist, kam mir beim Drehen und ich kann Ihnen bis heute nicht sagen, warum. Auf einmal war das Bild vorhanden. Ich hatte so etwas beobachtet, bei der Motivsuche als wir ein paar Tage vorher in der Alten Pinakothek waren und ich hatte die „Gambenspielerin“ von van Deyck ausgewählt, dieses Gemälde zeigt ja eine Musikerin, wo sich die Clarissa irgendwie auch darin wiederfinden kann. Aber auf dieser Motivsuche sah ich zwei Nonnen durch die Säle gehen und ich habe mich gefragt, was geht wohl in den beiden vor, denn es war nebenan der Saal mit den Bildern von Rubens und die Nonnen sahen ununterbrochen nacktes Fleisch, jede große Menge (lacht) von nacktem Fleisch an den Wänden und als wir die Szene drehten kam mir plötzlich dieser Gedanke, dass eine der beiden Nonnen Clarissa selbst ist oder ihr wie ein Zwilling gleicht. Und dann haben wir ganz schnell das Kostüm gewechselt und sie im Gegenschuss dann noch einmal vorbeigehen lassen und einen Blickwechsel inszeniert. Ich kann natürlich bis heute nicht sagen, was da eigentlich passiert. Sprecherin: Bei Hermanns Konzert zu dem alle seine Freunde gekommen sind und nur Clarissa fehlt, kann man die Nonnen im Publikum entdecken. Musik: Originalsoundtrack T. 17 Clarissas Traum O-Ton Edgar Reitz Das Erzähltempo im epischen Erzählen richtet sich sozusagen nach dem inneren Puls der Dinge, von denen man spricht. Ich habe mal gesagt, ich kann eine Person nur beschreiben, oder eine Figur, wenn ich sie liebe, das ist so ein ähnliches Gefühl, Liebe ist auch noch nicht der richtige Begriff, es ist eine Verschmelzung, man verwandelt sich in die Figur, bleibt aber dennoch in einer gewissen Distanz und man kann an sich selbst beobachten, was der andere fühlt. Sprecher: Im 8. Teil „Die Hochzeit“ steht Hermann kurz vor der Heirat mit Schnüsschen, Clarissa erscheint ihm in seinen Träumen. O-Ton Edgar Reitz Hermann und Schnüsschen machen Babysitting bei der Freundin Elisabeth. Und schlafen in diesem Japanbett, nebeneinander ein und er träumt neben Clarissa zu liegen, und in diesem Traum gibt es die seltsamsten Dinge. Er begegnet er ihr an der selben Stelle, wo sie sich das erste Mal gesehen hatte, auf der Treppe in der Musikhochschule und in diesem Treppenhaus schneit es. Ich könnte nicht sagen, wie diese Idee entstanden ist, ich vermute, dass ich so etwas Ähnliches geträumt habe, aber was das zu bedeuten hat, ist mir völlig unbekannt. Das ist ein Bild, das bis heute auch für mich rätselhaft ist, aber es stimmt. Ich glaube es ist so, dass Hermann etwas sagt, aber man hört nicht, was er sagt. Bilderzählerin Hermann wirft sich im Bett hin und her. Er träumt. Jetzt sieht er Clarissa durch einen Spiegel gehen. Sie dreht sich zu ihm um und legt den Zeigefinger an die Lippen, um ihm anzudeuten: nicht weitersagen. Musik weg Sprecherin: Interessant ist ebenfalls, welche Geschichten in kürzester Zeit gleichzeitig passieren. In Film Nr. 4 mit dem Titel „Ansgars Tod“ taucht Reinhold mit einer Flinte im „Fuchsbau“ auf und spricht mit Olga über sein Lieblingsgenre, den Western, und sie reden über die Unmöglichkeit der Liebe. Olga liebt Ansgar und Reinhold ist Single und glaubt nicht an romantische Liebeskonzepte. Ansgar und Evelyn liegen im ,Fuchsbau‘ auf dem Boden der Bibliothek und umarmen sich. Evelyn war zuvor im Englischen Garten spazieren und hat sich mit einer älteren Frau über die Tiere im Wasser unterhalten. Plötzlich ertönt von draußen ein Schuss. Dann stürmen Helga und Stefan in den „Fuchsbau.“ Filmausschnitt: T. 4 Ansgars Tod A.: „Die Leute, die nie aus dem Dorf rauskommen..“ Musik Originalsoundtrack Zweite HEIMAT, T. 10 Adagio der Liebe Zitator Zeitkino, S. 145 Erzählenswert ist für mich eine Geschichte oder eine Szene erst, wenn sie eine Liebeserklärung an das Leben selbst ist. (…) ich meine, dass es kein Rezept geben kann für das Geschichten erzählen. (…) Das einzige, das ich weiß ist, dass ein Erzähler auf das Milieu angewiesen ist, das er wirklich kennt. Nur im Umfeld der eigenen Existenz kann er Szenen finden, die er übertreiben und steigern kann, ohne sie im Innersten zu schädigen. O-Ton Edgar Reitz Ich war nie, auch bei Heimat 1, ich bin nie aufgetreten als jemand, der sagt, Leute, ich erzähle euch eure Geschichte, sondern ich erzähle meine Geschichte, also wenn sie euch an eure erinnert, ist mir das recht. Es muss erlebt sein, dadurch kommt auch das geheimnisvolle Undeutbare herein. Ich finde eine gute Geschichte ist nie ganz erklärbar. Wenn es erklärbar ist im künstlerischen Sinne, fehlt irgendetwas. Das Geschichten erzählen ist nicht dazu da, um etwas zu erklären oder zu denunzieren oder daraus eine Konfliktkonstellation herzuleiten oder so etwas, sondern ich verpflanze die Geschichte in eine Welt, in der sie unsterblich ist. Das ist mein tiefstes Motiv, alles vergeht, das habe ich sozusagen als Uhrmacherkind in mir, die Zeit, das Haus der Eltern war immer erfüllt mit dem Ticken vieler vieler Uhren und schon in sehr frühen Jahren ist mir immer wieder durch den Sinn gegangen, die Frage, dass die Zeit vergeht und dass etwas, das vergangen ist für alle Zeiten und für immer vergangen ist, also die Gegenwart, das Greifbare, reale Geschehen um uns herum ist ununterbrochen flüchtig wird ununterbrochen von der vergehenden Zeit aufgefressen. Sprecherin Über die Kunst kann man einen flüchtigen Augenblick unvergänglich zu machen, sagt Edgar Reitz. Gefühle werden im Bild, im Film, im Gemälde, in dieser Parallelwelt aufbewahrt und in gewisser Weise ist es sogar möglich, den Tod zu besiegen. In einem Film kann man Tote auftreten lassen. So hat Paul in der ersten Szene in HEIMAT 1 in der Küche eine Geistererscheinung. Filmausschnitt Heimat 1, Teil 1 Bilderzählerin Paul lehnt in der Küche an einen Stützbalken, hat die Augen geschlossen und ein Freund, der im Krieg gestorben ist, taucht auf. Die Küche ist voller Menschen, Katharina denkt er schläft und Pauline schwirrt mit Dorf-Neuigkeiten um ihn herum. Er ist in seiner Welt. Filmausschnitt HEIMAT 1, Teil 1 ...draußen, drinnen, lo… Musik Originalsoundtrack „Die andere Heimat“, T. 13 Rastlos schwebend O-Ton Edgar Reitz Das habe ich auch von meinem Großvater, von dem ich oft erzählt habe, ich meine den Vater meiner Mutter, der übrigens Becker hieß, genannt der Becker Mats, der ging jeden Morgen um 5 zu seiner Bahnstrecke, lief an dem Gleis entlang 15 oder 20 km, dann hat er seine Brotzeit ausgepackt, und dann drehte er sich um und ging wieder zurück an der Strecke entlang und zwar immer über die Bahnschwellen, er hatte sich deswegen auch so einen merkwürdigen Tippelschritt angewöhnt, weil der Abstand der Bahnschwellen etwas kürzer ist, als der Schritt eines erwachsenen Mannes. Aber er musste immer auf die Schwellen treten und deshalb ging er in so Tippelschritten. Und im Gehen hat er sich immer Geschichten ausgedacht, wenn er nach Hause kam, hatte er immer eine neue Geschichte im Kopf. Er wohnte in einem kleinen Haus am Ortseingang, ein kleines Häuschen mit einem spitzen Dach, hatte eine Frau und 5 Kinder und ein kleines Rosengärtchen vor dem Hauseingang mit einer Bank vor dem Fenster. Auf dieser Bank saß er und ich auf seinem Schoß am Feierabend und erzählte Geschichten. Es kamen auch Nachbarn vorbei, die blieben am Gartenzaun stehen und hörten seinen Geschichten zu oder wenn er in die Wirtschaft kam, dann verstummten alle, alle wollten hören, was der Becker Mats zu erzählen hat. Seine Geschichten waren größtenteils Geistergeschichten, würde ich mal so nennen,aber ihm sind auf seinen Strecken immer die Toten begegnet. Und immer wieder sprach er von Leuten, die nicht mehr leben, die ihm begegnen auf seiner Strecke im Wald und die Geschichten führen dann immer in die Lebzeiten der Verstorbenen hinein und sie sind natürlich alle von ihm erfunden. Aber die Tatsache, dass einer der Protagonisten nicht mehr lebt, gab der Geschichte eine Brisanz. Wenn er zum Beispiel so anfing zu sagen, ihr kennt doch alle den Hennes, den dicken Hennes, der letztes Jahr so elendiglich gestorben ist und da waren wir doch alle noch bei der Beerdigung und da hat doch die Frau sowieso so ein Schreianfall am Grab bekommen, ja genau der, den meine ich und ich gehe heute Nachmittag so ungefähr um 10 vor 3 auf der Strecke zwischen dem und dem Ort, da gibt es eine große alte Buche, rechts neben dem Gleis und da steht doch unter dem Baum der dicke Hennes. Lacht. Sprecherin Das „Großvaterprinzip“ nennt Edgar Reitz diesen Erzählstil. O-Ton Edgar Reitz Das ist mein eigentlicher Erzählstil. Der beginnt immer mit den allgemein bekannten Dingen und arbeitet sich ins Unbekannte vor. Also der Beginn des Erzählens ist immer auf der Basis von Dingen, die jeder kennt. Wo jeder sagt, ah ja, ich weiß genau, was du meinst. Ich weiß genau wo, ich weiß genau wann. Und dann gehen wir auf die Reise, zunächst einmal ist alles noch bekannt, bis es dann immer neuer wird und irgendwann kommen wir bei einer Wahrheit an, die ist auf eine andere Weise wahr. Als das Leben. Da ist vielleicht das Talent zum Erzählen, dem Talent zum Lügen irgendwie verwandt, aber es ist eben nicht mit der Absicht der Lüge, sondern mit der Absicht, sich von der Realität zu entfernen. Noch tiefer zu gehen und an einen Punkt anzukommen, an dem man noch nie war. Wenn ich sage, es langweilt mich, wenn man eine Geschichte erklären kann, dann liegt das daran, wenn eine Geschichte von der Absicht geleitet wird. Wenn ich mit so einer Absicht anfangen würde, eine Dorfgeschichte zu erzählen, dann würde diese Absicht, die ganze Geschichte verderben, weil ich immer in Versuchung geraten würde, die Dinge, die ich erlebe, erlebt habe und gesehen habe der Absicht zu unterwerfen. In den Dienst der Absicht zu stellen und so ist das Leben eben nicht. Liegt wahrscheinlich daran, dass es Zufälle gibt, unglaublicher Art, dass die Welt der Zufälle so reich und so unerschöpflich ist. Ich glaube ja sowieso, dass das ganze Leben überhaupt Zufall ist. Musik s.o. Sprecherin: Diese Form nennt Edgar Reitz „Episches Erzählen“, die hat er für seine Filme gefunden. Es ist ein Erzählen, das auf kein Ende hinsteuert, es geht immer weiter. Die lange Form, die er in der 50-stündigen HEIMAT-Trilogie realisiert hat, bezeichnet er als „ fiktive Chronik“. O-Ton Edgar Reitz „Chronik“ heißt nichts anderes als dass der Ablauf der Zeit das eigentliche Thema ist. “Fiktiv“ in sofern als hier ein Zeitbild entlang einer realen Geschichte erzählt wird. Also für die Glaubwürdigkeit einer Figur, eines Charakters in einer Geschichte sind zwei Dinge wichtig, das eine ist der Ort, das andere die Zeit. Sind beides Dinge, die wir nicht wählen können. Wir werden an einen bestimmten Ort geboren und müssen dort mit den Gegebenheiten heranwachsen und auch in einem bestimmten Augenblick und auch das spielt auch für das gesamte Leben eine Rolle. Deswegen war es für mich auch in der fiktiven Chronik immer wichtig, dass jede Figur klar definiert ist was Zeit & Ort angeht: Ich weiß von jeder Figur, selbst dann, wenn sie eine Randfigur ist, wann sie geboren ist und wo sie ihr Leben verbracht hat , in welcher Zeit , denn nur dadurch kann ich ein paar Fixpunkte in diesem Leben bestimmen. Also „fiktive Chronik“ heißt für mich, dass Zeit und Ort feste Größen sind, die man nicht als fiktiv bezeichnen kann. Aber alles andere wohl. Sprecher: Die Serie feiert ein Comeback in allen Medien und man überlegt, was ist das Geheimnis einer gut gemachten Serie. O-Ton Edgar Reitz Ich sehe mich nicht als Serienmacher und habe mit HEIMAT auch eigentlich nicht eine Serie machen wollen, sondern mein Vorbild war der Roman und die große epische Erzählform. Es gibt heute auch Serien, die das auch anstreben, das ist wirklich nicht in diesem Sinne kommerzialisierbar. Musik Originalsoundtrack „Die andere Heimat“, T. 15 Unruhig Sprecherin Edgar Reitz findet für die Form des „filmischen Romans“ Vorbilder in der Literatur. O-Ton Edgar Reitz Der klassische Roman in der Literatur ist die erzählerische Großform und die hat ihr Vorbild in der Epik, hat ihr Vorbild in den großen Sagen und Märchenkomplexen und nimmt auch von dort ihre eigentliche Form, wenn wir jetzt mal parallel dazu den Film betrachten, dann hat der Film eigentlich nur eine einzige Form wirklich zur Kultur entwickelt, das ist der Spielfilm von etwas 1,5 bis 2h Länge und in dieser Zeit herrscht eigentlich das Drama. Das Vorbild für den internationalen Spielfilm, insbesondere amerikanischer Provenienz, ist das klassische Theaterdrama und es werden die dramatischen Spielregeln der Konfliktentwicklung, der Konfliktverschärfung, Konfliktlösung und der tragischen Verkettung, die immer mit dem Tod endet, das wird als Regel immer wieder variiert und angewendet. Musik: s.o. Sprecher In der Filmgeschichte gibt es nur ganz wenige Beispiele, wo man das dramatische Prinzip verlassen und ein Erzählprinzip verwendet hat, das dem Roman oder dem Epos nahe kommt . O-Ton Edgar Reitz Das sind in früher Zeit so Filme wie „Birth of a nation“ von Griffith, da wird der amerikanische Bürgerkrieg beschrieben und die Geburt der Nation aus dem Krieg heraus, das ist ein richtiges Stummfilm-Epos vor dem ersten Weltkrieg gedreht, meines Wissens, dann gibt es auch so Filme aus der Stummfilmzeit wie „Greed“ von Erich von Stroheim. Das ist ein Epos über die Gier der Menschen. Ein sehr modernes Thema und so zieht sich das durch, also wenn man z.b von Ingmar Bergman so etwas wie „Szenen einer Ehe“ betrachtet oder ein Film wie „Novecento“ von Bertolucci oder von den Taviani-Brüdern, so was wie „Chaos“, das war ein sizilianisches Epos, alles dieses sind Vorläufer von HEIMAT. Um es mal auf den Punkt zu bringen, ich habe vom vorneherein das Epos im Sinne gehabt. Und jetzt ist die Frage, was ist eigentlich das „epische Prinzip“ , worin besteht es? Das ist einerseits, diese Sicht der Chronik, dass das Leben als Ganzes in einer Zeit spielt und in einer auch begrenzten Zeit und das in dieser Zeit das Leben jedes einzelnen Individuum überschneidet, mit dem Leben anderer. Und das, was das alles erzählenswert macht von Alters her, ist das Wirken der Götter, die Anwesenheit von etwas, das wir Schicksal nennen, etwas Unerklärlichem, einem übergeordnete Macht über dem Leben aller. Und dieses Gefühl zwischen diesem Hineingeworfen sein in einen Ozean von Geschichte und dort wie ein Schiffbrüchiger den Schicksalsmächten ausgeliefert zu sein, das ist die Erzähl-Stimmung des Epos. Sprecherin: Die alten Gewissheiten sind weggefallen. Es herrscht eine gewisse Ratlosigkeit. Die ewige Suche nach dem Sinn. O-Ton Edgar Reitz Wenn Sie sich die Figuren aus HEIMAT anschauen, dann ist keine von ihnen begreiflich ohne die Sinnfrage. Nicht eigentlich die Abhängigkeit von Gott, sondern das ist das göttliche Prinzip im Menschen, das sich selbst Schicksal nennt. Ich bin mein eigenes Schicksal. Und diese Haltung ist mein Erzählstoff, der hat den wunderbaren Vorteil, dass er unsterblich ist, man kann endlos erzählen, es gibt nicht mehr Haupt- und Nebensache, ich kann mit jedem Nebenstrang, mit jeder Nebenlinie endlos weitererzählen und irgendwann auf eine andere Linie zurückholen und irgendwann gibt es auch keine Hauptlinie mehr. Also ich glaube ja überhaupt, dass das Geschichten-Erzählen eine Überlebensstrategie des Menschen ist. Also wir haben kaum eine andere Möglichkeit, Erlebtes im sozialen Bereich zu kommunizieren. Musik Heimat 3, Auf dem Felsen T. 8 Sprecherin Edgar Reitz entwirft das Bild eines Steinzeitmenschen, der mit Seinesgleichen in einer Höhle lebt. Wenn einer der Gruppe zurückkommt von der Jagd, von tagelangen Ausflügen in die Wildnis hat er Unglaubliches erlebt und erzählt das seiner Gruppe. O-Ton Edgar Reitz Und nun sitzt man abends am Lagerfeuer und jetzt fängt der an zu erzählen. Und erzählt, was er erlebt hat. Wenn ich anfange einen Film zu entwickeln, komme ich mir immer vor wie in der Nacht an einem Lagerfeuer. Das ist für mich die Ursituation und natürlich erzähle ich die Geschichte nicht mir, sondern den Menschen, die mir nahe stehen. Das Erzählen ist immer ein Bericht aus einer Welt, die vor mir noch keiner betreten hat. Zitator Ich vermute, dass viele Erinnerungsbilder aus der Dunkelheit kommen, die das Leben der Menschen noch vor wenigen Generationen vollkommen umfasst hat. Jahrtausende waren vom Dunkel der Nächte, vom Dämmerlicht der Behausungen und Höhlen bestimmt. Die Welt draußen war - wie das platonische Höhlengleichnis es beschreibt – eine Art Projektionsfläche. Die Höhle war ein Urkino. Ich meine, dass wir aus den Lichtverhältnissen stammen, in denen schon der Widerschein eines Bildes genügte, um sich zu orientieren. Farben haben dabei nur selten eine Rolle gespielt. (in: Zeitkino, S. 225) Musik s.o. Zitator Seit ich Filme mache, ist mir aufgefallen, dass Schwarzweißfilme eine auffallende Wirkung in den emotionalen Tiefen-Bereichen aufweisen. Etwas so: Schwarzweiß-Bilder mobilisieren mehr unbewusste Inhalte, vermitteln größere Nähe zu den Personen, werden mehr dem Bereich der „Erinnerung“ zugeordnet. Farbbilder wiederum wirken „gegenwärtiger“, geben Anstoß zum bewussteren Hinsehen, wecken auf, regen das ästhetische Staunen an. (in: Zeitkino, S. 224) Sprecherin Edgar Reitz dreht in Schwarz-Weiß. Und punktuell in Farbe. Einzelne Szenen, Dinge, Momente, scheinbar willkürlich koloriert und dadurch besonders hervorgehoben, wie z.B. die zufällige Begegnung Pauls mit Apollonia in Koblenz, ein glühendes Hufeisen, die roten Nelken, die Jahreszeiten oder die Goldsuche im ersten Teil der HEIMAT 1. Zitator Farbsehen findet physiologisch im Zentrum des Blickes statt, ist deswegen bewusster, zentrierter, handlungsbezogener als das archaische Schwarzweiß-Sehen, das der Grundorientierung in der Welt dient – in Tag-Nacht-Situationen, in sozialen, mitmenschlichen Bereichen und im Wiedererkennen von Orten, Menschen, Tieren, Landschaft. Das Bewusstsein hingegen ist ein Kind des Tages, der Farbwahrnehmung, des vergleichenden Sehens, des vorausplanenden Handelns. (in: Zeitkino, S.227) Musik Soundtrack Heimat 3, T. 18 Parcour Sprecherin Schon früh stellt sich die Frage der Aufführungspraxis dieser epischen Filme oder die Frage nach einem adäquaten Medium, in dem die Filme laufen könnten. Die langen Filme, die Edgar Reitz gedreht hat, wurden im Kino gezeigt und liefen im Fernsehen. O-Ton Edgar Reitz Das Fernsehen ist streng genommen ein Auslaufmodell. Und wird als solches von der jungen Generation auch gesehen und technisch gesehen ist es sowieso ein Auslaufmodell entspricht einer vorübergehende technischen Lösung, ein Programm, über Empfangsgeräte in die Wohnzimmer zu schleusen , das kann heute jedes Handy, das ist, so ein Konzern wie google hat das verstanden, die haben verstanden, dass man in diesem riesigen Dschungel eine Orientierung braucht und dass man in der Lage sein muss mit Hilfe einer Suchmaschine, das zu finden, was man sucht. Aber ich muss dazusagen, ich habe auch die goldenen Zeiten des deutschen Fernsehens erlebt. Die gab es. Es gab Jahre in denen war das deutsche Fernsehen das Beste der Welt und es war eine Talentschmiede ohne gleichen. Das waren die späten 60er bis die Mitte der 80er Jahre. Das waren die Zeiten, in denen der WDR unter Leuten wie Günter Rohrbach oder das ZDF unter Leuten wie Heinz Ungureit, das waren Leute, die in einer Leidenschaft fürs Kino erfasst, die Filmkultur in und auswendig kannten, die in ihrem Leben auf jedem großen Festival gewesen sind und wirklich wussten, was Filmkunst ist. Und die haben für eine gewisse Zeit im deutschen Fernsehen regiert. Und dass so Leute, wie Wenders, Herzog, Kluge oder ich überhaupt entstanden sind lag daran, dass das deutsche Fernsehen uns gepflegt hat. Und uns auf den Weg gebracht hat. Das darf man auch nicht vergessen, bei all dem. Sprecherin Schon bei der Produktion von HEIMAT 1 in den 80ern hat Edgar Reitz erkannt, dass er ein Werk erschafft, für das es noch keine Aufführungsform gibt, da es weder Fernsehfilme noch Kinofilme sind. Im Internet, in den Streamingportalen, die mehr und mehr das Fernsehen ersetzen, finden die neuen Erzählformen einen Markt. Das Erzählen in lebensgeschichtlichen Dimensionen entspricht elementar dem heutigen Lebensgefühl, sagt Edgar Reitz. Auch über eine Weiterentwicklung des Kinos hat er nachgedacht. O-Ton Edgar Reitz Ich habe seit Jahren immer wieder über das Kino nachgedacht. So wie wir das Kino kennen über Jahrzehnte ist es ja eigentlich eine Nachahmung des Sprechtheaters, also in den Pionierzeiten des Films, vor etwa hundert Jahren, da hat man sich natürlich die Frage gestellt, was ist so der Ort, der gesellschaftliche Ort für den Film. Wir erleben jetzt allerdings einen Wandel im Digitalzeitalter. Dieser Wandel betrifft vor allem, diesen Distributionsbereich, jetzt ist es plötzlich möglich, Bilder in hoher Qualität also in derselben Qualität wie man sie in den professionellen Kinos auf die Leinwand bringt in jedes Haus, in jede Wohnung zu bringen. Und das ist plötzlich etwas so Verfügbares und Mobiles geworden, dass ich mich gefragt habe, lässt sich nicht auf dieser Basis einen neue Konzeption entwickeln. Meine erste Antwort darauf war, das sogenannte Stationenkino, das ist, ich hab ja mal Theaterwissenschaft studiert und das Stationentheater ist eine Einrichtung des Mittelalters gewesen, vor allem bei den religiös motivierten Mysterienspielen hat man die Stücke auf mehrere Bühnen verteilt in der Stadt und das Publikum konnte von einem Schauplatz zum anderen flanieren oder in Prozessionsformen bewegte man sich z.B. an dem Leidensweg Christi entlang und an den verschiedenen Stationen des Kreuzweges z.B. hat man theatralisch dann die einzelnen Situationen gespielt sozusagen in Fortsetzung. Dann habe ich mir gedacht, jetzt ist doch das serielle Erzählen so sehr angesagt, überall in der Welt fängt man an darüber nachzudenken, wie man seriell erzählt. Dem seriellen Erzählen entspricht das Kino schon gar nicht mehr, das feste, statische Kino mit 400-500 Plätzen mit festen Anfangszeiten, da kann man Serien nicht zeigen. Da muss man nun einen Weg finden, wie der Zuschauer den Zeitpunkt und den Ort selbst wählen kann. Sprecherin Edgar Reitz entwarf die Idee eines Stationenkinos für den Hunsrück. O-Ton Edgar Reitz Und dann habe ich mir gesagt, gut dann baue ich mal 13 kleine Kinos und zeige die ZWEITE HEIMAT und zwar in Permanenz. In No. 7 läuft der Film 7, in No. 6 läuft der Film 6 und zwar immer wieder von vorne. Mit dem Entwurf des Stationenkinos mit 13 kleinen Kinos lief ich dann durch den Hunsrück, sprach überall die Menschen an. Die Lokalpolitiker, die Sponsoren. Es ist mir in 3-jähriger Arbeit nicht gelungen, das zu realisieren. Was davon übrig blieb, war eine von diesen Stationen in Morbach auf dem eigenen Grundstück. Das sollte ursprünglich eine Station von 13 sein, über die Dörfer verteilt. Ich habe diese Geschichte auf Eis gelegt, weil ich einfach die Hoffnung verloren habe, dass mir das gelingt. Und dann habe ich mir gesagt, dann mache ich doch lieber wieder einen Film und wenn es die Leute nicht überzeugt, dann soll es halt nicht sein, oder wenn es überzeugt, dann kommt vielleicht jemand, der es doch aufgreift. Sprecher Im Januar 2019 eröffnete Edgar Reitz ein Kino in Morbach mit 30 Plätzen. Schon als Kind hat er hier den Nachbarskindern in der ehemaligen Garage mit einem kleinen Projektor Filme vorgeführt. Die Idee des Stationenkinos konnte bisher nicht realisiert werden. Die Idee eines Kabinettkinos, d.h eine noch kleiner Einheit mit zwei Sitzplätzen, wird in Venedig und auf den Kurzfilmtagen in Hof realisiert werden. O-Ton Edgar Reitz Aber ich glaube nach wie vor sehr daran, dass diese Multiplikation von Leinwänden zu einer interessanten Lösung führt. Auch dazu, dass sich die Filmgattungen wieder neu mischen. Es hat sich die Filmkunst doch sehr festgefahren auf das Schema des 90-minütigen oder 120minütigen Spielfilms. Die vielen kleineren und größeren Formen, also die kleineren, das sind die Kurzfilme bis zu 30min in allen möglichen Varianten, hat überhaupt keinen Markt. Das könnte man auf die Weise schaffen oder der ganz lange epische Film, der Film, der 10h oder 20h oder 24h ist, wie die ZWEITE HEIMAT, könnte ebenfalls durch diese Stationenkinoform einen neuen Markt bekommen. Eine neue Aufführungspraxis. Und die würde sich nun wirklich von den festen Anfangszeiten und den Gewohnheiten des Theaters vollkommen ablösen. Das ist ein Teil meiner Zukunftsvision des Kinos. Musik Soundtrack „Die andere Heimat“, T. 5 Zeitloser Duft Sprecherin Edgar Reitz hat Filmgeschichte geschrieben. Er hat seine Arbeiten auch immer theoretisch reflektiert. Er hat Essays, Erzählungen, Lyrik, Artikel über Filmtheorie und Filmästhetik, und literarische Fassungen seiner Filme geschrieben. Er hat sein Wissen und seine Erfahrungen an Studenten weitergeben.: Am „Institut für Filmgestaltung“ in Ulm, das er in den 60ern mit Alexander Kluge geleitet hat und als Professor an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, die 1992 gegründet wurde. Edgar Reitz wurde am 1. November 2019 87 Jahre alt. Angesprochen auf seine Konstitution, verweist er auf eine gewisse Kampfbereitschaft, Sportlichkeit und auf seine Herkunft aus dem Hunsrück. Er spricht über die Unermüdlichkeit seines Großvaters, die Abgeschlossenheit der kargen Landschaft und die Menschen, die dort über Generationen hinweg sehr hart arbeiten mussten, um zu überleben und über eine gewisse Beharrlichkeit, die nötig war, da es gute und schlechte Erntejahre gab. Edgar Reitz hat mit HEIMAT und seinen anderen Filmen Filmbilder geschaffen, die sich tief eingegraben haben in das Gedächtnis und die man nie mehr vergessen wird, aber sie sind fiktiv und nicht „echte Signale der Zeitgeschichte“. In einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung appellierte er vor kurzem unter der Überschrift „Augen auf“ an die Neugier des Sehens mit eigenen Augen, die die Fertigbilder, die das Smartphone liefert, nicht ersetzen können. Anlässlich eines Vortrags nahm das Publikum den Unterschied zwischen einer Rose und dem Foto eine Rose nicht mehr wahr, lediglich eine gezeichnete Rose konnten sie einem anderen Medium zuordnen. Musik: Hussong: Whose Song, Cage: Souvenir Absage: „Eine gute Geschichte ist nie ganz erklärbar“. Die Lange Nacht mit dem Filmemacher Edgar Reitz von Beate Becker. Es sprachen: Ruth Reinecke, Christian Schmidt, Cornelia Schönwald und Thomas Fränzel. Ton: Alexander Brennecke und Martin Eichberg, Regie: Beate Becker, Redaktion: Monika Künzel Musik Musikliste 1. Stunde Titel: Souvenir Länge: 03:17 Interpret: Stefan Hussong Komponist: John Cage Label: THOROFON Plattentitel: Whose Song. Stefan Hussong. Akkoredonmusik des 20. Jhdts. Titel: Hermanns Gebet Länge: 01:26 Interpret und Komponist: Nikos Mamangakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: Die Zweite Heimat. CD 2 Originalsoundtrack Titel: Hermann, Variation 2 Länge: 01:10 Interpret und Komponist: Nikos Mamangakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: CD: Edgar Reitz: Die Heimat Trilogie. Die Original Soundtracks; Heimat 1 Titel: Münchenthema Länge: 01:56 Interpret und Komponist: Nikos Mamangakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: CD Edgar Reitz: Die Heimat Trilogie. Die Original Soundtracks Titel: Entr'acte Länge: 03:22 Interpret: Henri Sauguet Komponist: Erik Satie Label: Criterion Collection Plattentitel: René Clair - A nous la liberté Titel: Allegro ma non troppo Länge: 01:25 Interpret: Martha Algerich Komponist: Maurice Ravel Label: Deutsche Grammophon Best.-Nr: 447438-2 Plattentitel: Konzert für Klavier und Orchester G-Dur Titel: Ouverture in C-Air in C/from Dido und Aeneas Länge: 04:36 Interpret: Freiburger Barockorchester Komponist: Henry Purcell Label: Harmonia Mundi 2. Stunde Titel: Hermann, Variation 2 Länge: 01:30 Interpret und Komponist: Nikos Mamangakis Label: Bella Musica Plattentitel: Edgar Reitz. Die Heimat Trilogie. Die Original Soundtracks. Heimat 1 Titel: Prolog Länge: 00:35 Interpret und Komponist: Nikos Mamangakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: Edgar Reitz: Die Heimat-Trilogie. Die Original Soundtrack. Heimat 1 Titel: Paul, Variation 1 Länge: 00:46 Interpret und Komponist: Nikos Mamangakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: Edgar Reitz. Die Heimat-Trilogie. Die Original Soundtrack, Heimat 1 Titel: Geheischnis Länge: 01:16 Interpret und Komponist: Nikos Mamangakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: Edgar Reitz: Die Heimat Trilogie. Die Original Soundtracks Titel: Katharina Länge: 00:33 Interpret und Komponist: Nikos Mamangakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: Edgar Reitz: Die Heimat Trilogie. Die Originalsoundtracks. Heimat 1 Titel: Lucie Länge: 01:45 Interpret und Komponist: Nikos Mamangakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: Edgar Reitz: Die Heimat Trilogie. Die Originalsoundtracks. Heimat 1 Titel: Pauline Länge: 00:35 Interpret und Komponist: Nikos Mamangakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: Edgar Reitz: Die Heimat Trilogie. Die Originalsoundtracks. Heimat 1 Titel: Titelmusik Länge: 00:47 Interpret und Komponist: Nikos Mamangakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: Edgar Reitz: Die Heimat Trilogie. Die Originalsoundtracks. Heimat 2 Titel: Hermann und Clarissa Länge: 01:43 Interpret und Komponist: Nikos Mamangakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: Edgar Reitz: Die Heimat Trilogie. Die Originalsoundtracks. Heimat 2 Titel: Adagio der Liebe Länge: 01:07 Interpret und Komponist: Nikos Mamangakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: Edgar Reitz: Die Heimat Trilogie. Die Originalsoundtracks. Heimat 2 Titel: Woelfelied Länge: 00:29 Interpret: Salome Kammer (Gesang) Komponist: Nikos Mamangakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: Edgar Reitz: Die Heimat Trilogie. Die Originalsoundtracks. Heimat 2 Titel: Die Krähen schrein Länge: 03:40 Interpret: Savina Giannatoy (Gesang) Komponist: Nikos Mamagakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: Edgar Reitz: Die Heimat Trilogie. Die Originalsoundtracks. Heimat 2 Titel: Parcour Länge: 00:53 Interpret: Chrisostomas Karantonioy (Gitarre) Komponist: Nikos Mamangakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: Edgar Reitz: Die Heimat Trilogie. Die Originalsoundtracks. Heimat 3, CD 3 Titel: Jakoulema Länge: 02:20 Interpret: Jean-Louis Matinier (acc) Komponist: Michael Riessler Label: Cinik International Recording Best.-Nr: CNK032 Plattentitel: Michael Riessler-Die andere Heimat-Chronik einer Sehnsucht (Original Soundtrack) 3. Stunde Titel: Zeitloser Duft Länge: 06:48 Interpret: Jean-Louis Matinier (acc) Komponist: Michael Riessler Label: Cinik International Recording Best.-Nr: CNK032 Plattentitel: Michael Riessler-Die andere Heimat-Chronik einer Sehnsucht (original soundtrack) Titel: Clarissas Traum Länge: 03:36 Interpret und Komponist: Nikos Mamangakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: Edgar Reitz: Die Heimat Trilogie. Originalsoundtrack. Die Zweite Heimat Titel: Adagio der Liebe Länge: 02:51 Interpret und Komponist: Nikos Mamangakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: CD Edgar Reitz: Die Heimat-Trilogie. Originalsoundtrack. Die Zweite Heimat Titel: Rastlos Schwebend Länge: 06:29 Interpret: Jean-Lous Matinier (acc) Komponist: Michael Riessler Label: Cinik International Recording Best.-Nr: CNK032 Plattentitel: Michael Riessler-Die andere Heimat-Chronik einer Sehnsucht (original soundtrack) Titel: Unruhig Länge: 02:29 Interpret: Jean-Louis Matinier (acc) Komponist: Michael Riessler Label: Cinik Internatioal Recording Best.-Nr: CNK032 Plattentitel: Michael Riessler-Die andere Heimat-Chronik einer Sehnsucht (original soundtrack) Titel: Auf dem Felsen Länge: 02:42 Interpret: Chrisostomas Karantonioy (Gitarre) Komponist: Nikos Mamangakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: Edgar Reitz. Die Heimat-Trilogie. Originalsoundtrack. Heimat 3 Titel: Nacht Tag Länge: 01:27 Interpret: Staatsphilharmonie Rheinland Pfalz Komponist: Michael Riessler Label: BELLA MUSICA Plattentitel: Edgar Reitz. Heimat Trilogie. Original Soundtrack. Heimat 3 Titel: Parcour Länge: 01:07 Interpret: Chrisostomas Karantonioy (Gitarre) Komponist: Nikos Mamagakis Label: BELLA MUSICA Plattentitel: Edgar Reitz. Heimat-Trilogie. Originalsoundtrack. Heimat 3 Titel: Souvenir Länge: 02:02 Interpret: Stefan Hussong Komponist: John Cage Label: THOROFON Plattentitel: Whose Song. Stefan Hussong. Akkordeonmusik des 20. Jhdts Literatur Edgar Reitz: Zeitkino, hrsg.: von Christian Schulte Vorwerk, Berlin 2015 ISBN 978-3-940384-66-9 Edgar Reitz: Die große Werkschau. Ein Handbuch, Schüren Verlag Marburg 2018, ISBN 978-3-7410-0323-3