Deutschlandradio Kultur Reihe : LITERATUR Titel der Sendung: Ich bin nur ein teil des großen Ganzen - Unterordnung und Individualität Autor : Detlef Grumbach Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 20.07. 2010 Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig "Ich bin nur ein Teil des großen Ganzen" Unterordnung und das Gegengift der Individualität DeutschlandRadio Kultur - Literatur Autor: Detlef Grumbach / Redaktion: Sigried Wesener Zitat Eignung Der Oberleutnant sprach ohne Umschweife. Seine kantige Präzision erregte mich. Unter seiner Führung werde ein Zug für besondere Aufgaben zusammengestellt, ausgegliedert aus den Dienstplänen der Kompanien. Erzählerin: Lars Hagner wird im Herbst 1988 zur Nationalen Volksarmee der DDR eingezogen. Wo andere ihre persönliche Freiheit über alles stellen und längst nicht mehr einsehen, diesem Staat zu dienen, blüht er auf. Er will nur seine Aufgabe erfüllen. Er wird zu einem Gespräch mit dem Oberleutnant gebeten. O-Ton: Michael Sollorz Hagner ist ein Idealist, der in einer Weltordnung ohne Privatbesitz ein Menschheitsziel erkannt hat. Der für sich beschlossen hat, diesem Ziel zu dienen - unter allen Umständen. Zitat Eignung: Der Oberleutnant ging mir nicht aus dem Kopf. Es war eine klare Nacht. Der Fernsehturm blinkte in der Ferne. Mir war befohlen worden, über das Gespräch zu schweigen. Man hatte etwas mit mir vor. Ich fühlte mich auserwählt und war überzeugt, dass alles, was noch vor mir lag, meine Persönlichkeit festigen würde. O-Ton: Michael Sollorz Dieser Hagner ist natürlich ein Teil von mir und diesen Hagner besser kennen zu lernen hat mich natürlich interessiert. Der radikale Widerspruch, in dem er sich zu seiner Umgebung oder zur Welt befindet - das beunruhigt mich. Erzähler: "Die Eignung" nennt Michael Sollorz seinen Roman, in dessen Zentrum Hagner steht. Sollorz wurde 1962 in Berlin geboren, machte eine Lehre als Dachdecker, arbeitete als Zeltbauer beim Zirkus. Seit 1985 lebt er als freier Schriftsteller, veröffentlicht Romane, Erzählungen, Kolumnen. Sollorz war Mitglied eines Arbeitskreises "Schwule in der Kirche" und berichtete als IM der Stasi über dessen Arbeit. Nach der Wende gehörte er zu denen, die sich einer Diskussion über seine Motive und seine Verantwortung gestellt haben. Er habe die Situation der Schwulen verbessern wollen, erklärte er damals, habe der Stasi vermitteln wollen, worum es vielen Schwulen und auch ihm persönlich ging: um eine bessere DDR. Erzählerin: In "Die Eignung" erzählt Sollorz von einem Mann, der ein klares Weltbild hat. Die DDR kommt ihm zwar kleinbürgerlich vor, am Ziel des Sozialismus hält er jedoch fest. Der aus Hagners Perspektive geschriebene Roman ist ein kühler und distanzierter, doch stolzer in einer beinahe asketischen Sprache abgefasster Rechenschaftsbericht. Hagner schätzt soldatische Tugenden, er sehnt sich nach einem festen Platz in einer Ordnung, danach, ernst genommen zu werden. Hagner wird Oberleutnant Bossert hörig, dient ihm auch nach der Wende als Teil einer konspirativen Partisanenarmee. Er tut alles für ihn. Das geht am Ende bis zum Mord an der eigenen Tochter. Zitat Eignung: Ich haben keine Entscheidung treffen müssen. Noch heute, zwanzig Jahre nach meiner ersten Begegnung mit Bossert, bin ich überzeugt, dass mein Weg in mir angelegt war, vorherbestimmt. Ich bin das Ergebnis. Und falls es so etwas wie eine freie Wahl gegeben hat, dann bestand sie in meinem Einverständnis mit dieser Tatsache. O-Ton: Michael Sollorz Hagner zieht für sich die Konsequenz aus dem, was er glaubt. So wie ein Sprengstoffgürtel, mit dem jemand in einen Bus geht, auch eine Form der Konsequenz ist, hinter der das Ich zurück tritt. Erzähler: Sollorz hat der Stasi gedient und seine Freunde verraten. Aus Überzeugung. In den Zentren der westlichen Zivilisation wenden sich Menschen religiösen und politischen Fundamentalismen zu, gehen zu Sekten wie Scientology, treten zum Islam über. Am Anfang solcher Wege stehen Entscheidungen, die noch nachvollziehbar sind. Am Ende führen sie die Individuen zwar in eine kleine, hermetische Gemeinschaft von Verschworenen, aber auch in die Einsamkeit, in die Isolation. Das macht sie unheimlich. O-Ton: Tina Uebel Ich denke, das ist der Mechanismus, mit dem man Leute auf Schlachtfelder schicken kann und sagen kann, gib dein Leben für Gott, die Revolution oder Vaterland. Der Wunsch nach extremem Empfinden, nach eigener Überhöhung, nach eigener Sinnstiftung, und auf einmal sind die Dinge klar und strukturiert und du weißt deinen Platz darin, dieses Bedürfnis nach Sinn, danach, Teil zu sein von etwas Höherem, Größeren, Wichtigem, Bewegendem, das ist, glaube ich, unglaublich attraktiv. Erzählerin: Die Hamburger Autorin Tina Uebel erzählt in ihrem Roman "Die Wahrheit über Frankie" von Judith, Emma und Christoph, die aus Langeweile, ohne eigene Ziele oder Überzeugungen, der Räuberpistole eines Barmanns aufsitzen. Als ersten zieht Frankie, der Barmann, Christoph ins Vertrauen. Zitat Frankie: Aber ich müsse darüber dichthalten, unter allen Umständen, ob er sich darauf verlassen könne, es sei lebenswichtig, dass ich das täte, er ließ mich schwören. Ich war sicherlich etwas verblüfft, ich hatte noch nie so etwas erlebt, aber ich schwor. Mir hatte noch nie jemand etwas Lebenswichtiges anvertraut. Erzählerin: Frankie behauptet, er sei Agent im Anti-Terrorkampf, müsse Anschläge verhindern, es gäbe aber einen Maulwurf in der eigenen Organisation, er selbst werde jetzt gejagt. Er bittet die drei, ihm zu helfen. Die Geschichte klingt haarsträubend und dennoch glaubwürdig: Gerade war in Hamburg ein KGB-Agent mit Plutonium vergiftet worden. Und sie werden ins Vertrauen gezogen. Sie fühlen sich auserwählt wie Lars Hagner. Zitat Eignung: Du musst lernen, dich anzuvertrauen. Erzählerin: So räumt dieser von Anfang an jedes Zögern, jeden Zweifel aus. Zitat Eignung: Sich Bossert unterzuordnen, schien die natürlichste Sache der Welt. Erzähler: Tina Uebel, Jahrgang 1969, hat mit "Ich bin Duke" einen Roman geschrieben, in dem zwei Jugendliche bereit sind zum Amoklauf. In "Horror Vacui" erzählt sie von vier im Beruf erfolgreichen Erwachsenen, die in einer Expedition an den Südpol an die Grenzen gehen, die ihnen eine absolut lebensfeindliche Natur setzt. "Die Wahrheit über Frankie" ist inspiriert von einem Fall, der sich tatsächlich so ähnlich in England ereignet hat. Erzählerin: Alle bisherigen Kontakte brechen die drei ab. Sie gehen in den Untergrund und dienen diesem Frankie zehn Jahre lang. Dann fliegt der Schwindel auf. Judith und Christoph stehen da als verführte und missbrauchte Idioten. Und Emma? Sie bleibt unbelehrbar: Zitat Frankie: Nur die Sache ist wichtig, die Details sind ganz schnurz. Ich selbst ... bin nicht wichtig. Ich bin nur ein Teil vom großen Ganzen. Aber so wenig ein Motor läuft, wenn auch nur die kleinste Schraube lose oder eine Zündkerze dysfunktional ist, so wenig ist irgendetwas Größeres denkbar ohne Teile wie mich. Erzähler: Nichts wird heute größer geschrieben als Freiheit und Individualität, die eigene, unverwechselbare Identität. Woher kommt es, dass diese Werte dennoch aufgegeben werden? Warum fügen sich Einzelne bedingungslos in ein starres System von Befehl und Gehorsam, sind bereit dazu, jedes Opfer dafür zu bringen? Liegt es an der Attraktivität der Ziele, von denen Hagner beispielsweise überzeugt ist und an die Tina Uebels Figuren naiv und bereitwillig glauben? Zitat Klaus Mann: Wenn man ständig, bewusst oder unbewusst, auf "die Katastrophe" wartet (von der man sich, wie sie aussehen wird, natürlich keineswegs vorstellen kann), wird man irre an Werten, die also, wie es scheint, nicht mehr stark genug sind, das Nahen dieser Katastrophe aufzuhalten. Erzähler: So formuliert Klaus Mann das Lebensgefühl seiner Generation nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals waren es andere Werte, aber die Erfahrungen ähneln sich. Seit der Zeitenwende 1989 wurde nicht das große Freiheitsversprechen eingelöst - im Gegenteil: Unsicherheiten wachsen, Krisen spitzen sich zu, ob am Arbeitsmarkt, in den Finanzsystemen, in der Umwelt oder international. Hagner weiß, was zu tun ist. Da gilt der Einzelne nichts. Andere wissen es nicht, sind anfällig für Verführer jeglicher Couleur. Aber darum geht es nicht alleine. Freiheit und Individualität sind Werte, die an sich wenig bedeuten, die den Einzelnen im Rahmen eines "anything goes" in die Isolation führen können, die in Widerspruch geraten zu dem notwendigen Erlebnis der Gemeinschaft. Autorinnen und Autoren reagieren auf dieses Bedürfnis nach Ordnung und Orientierung im Leben, entwickeln Figuren, die sich danach sehnen, ein Teil von einem großen Ganzen zu sein. O-Ton: Tina Uebel Ich glaube, das ist etwas, was vielen Phänomenen, psychologischen und damit auch gesellschaftlichen Phänomenen zugrunde liegt, eine Leere in vieler Leute Leben, die dann etwas suchen, diese heroische Tat, diese Selbstaufgabe, diese Bereitschaft zum Märtyrertum auch, die da stattfindet bei diesen Protagonisten. O-Ton: Michael Sollorz Die Bereitschaft, sich unterzuordnen und sich völlig in den Dienst einer Pflicht zu begeben, ist ja mehr als eine Bereitschaft. Das ist ja auch ein Bedürfnis, den bedrängenden kleinen Fragen des Ichs enthoben zu sein, getragen zu werden von einer größeren Kraft, von einer größeren Macht. Das ist ein menschliches Bedürfnis. O-Ton: Anke Stelling Manche Dinge funktionieren ja auch nur in hierarchischen Strukturen, oder mit Unterordnung. Und man hat ja auch Lust darauf, dass bestimmte Sachen funktionieren und man hat ja auch Lust darauf, dass jemand einfach sagt, wo es lang geht und die anderen jetzt Klappe halten. Erzähler: Anke Stelling erzählt eine Geschichte, die sich aus einer anderen Richtung derselben Thematik nähert. Katja, die Heldin in ihrem Roman "Horchen", wuchs als Kind emanzipierter, vom antiautoritären Aufbruch 1968 geprägter Eltern auf. Deren Credo: Kinder sollen stark sein, sich nicht unterordnen, sondern immer erst einmal in sich selbst hineinhorchen, was sie selber wollen. Die Eltern wollen eher Freunde, Partner der Kinder sein, ihnen nicht ihre Vorstellungen aufdrängen. Respekt voreinander, Toleranz und Selbstbestimmung - diese Werte wollen sie gemeinsam mit den Kindern leben. Erzählerin: Katja ist jetzt 30, lebt als Freiberuflerin mit ihrem Freund Lars in einer gleichberechtigten Beziehung. Elke und Norbert, ihre Eltern kommen zu Besuch nach Berlin. Es kommt zu Spannungen, zu einem unterschwelligen Konflikt. Nachdem die Eltern abgereist sind, bricht Katja aus ihrem Leben aus, lässt den Freund, die Wohnung, ihre Arbeit hinter sich, flieht aus Berlin und begibt sich in die Hände eines Mannes, der Mitglied einer Sekte ist. Zitat Horchen: Lieber Norbert, liebe Elke, es ist wohl für lange Zeit das letzte Mal, dass ihr etwas von mir hört. (...) Euer Plan ist leider nicht aufgegangen, denn dass, was ihr 'uns Kindern' mitgeben wolltet, macht mich nicht glücklich. Ich habe in mich hineingehorcht und entschieden, alle Freiheiten, das Recht auf Selbstbestimmung und die Chancen der Gleichberechtigung an euch zurückzugeben und mich ganz dem himmlischen Herrn zu unterwerfen. Was ihr versucht habt, war ein Experiment, das in meinem Fall gescheitert ist. Erzählerin: Angefangen hatte alles ganz banal - mit der Frage, wie sie gemeinsam den Tag gestalten: Zitat Horchen: Elke will auf den Markt. Oder will Katja auf den Markt, weil sie denkt, dass Elke auf den Markt will? Erzählerin: Die Eltern, der Freund und Katja: alle sind freundlich zueinander, achten und respektieren die Wünsche der anderen. Doch wirklich zueinander kommen sie nicht. Zitat Horchen: Sobald Elke alles fürs Abendessen besorgt hat, darf Norbert ins Café, und bis dahin bleibt Lars bei ihm stehen und gibt sich männersolidarisch. (...) Norbert will ins Café. Oder will Katja ins Café, weil sie denkt, dass Norbert ins Café will? Will Norbert nicht eigentlich lieber allein ins Café statt mit Elke und Katja und Lars und zehn Plastikbeuteln mit Biorind und Bohnen und Maultaschen darin, und zwei riesigen Hortensien, die der Bedienung den Durchgang verstellen? Erzähler: Die Situation ist typisch. Eine Auseinandersetzung darüber, was sie unternehmen wollen, eine Verständigung über ein Ziel oder auch eine Abgrenzung finden nicht statt. Niemand sagt, wo es lang gehen soll, niemand sagt zu den anderen: Klappe halten. Vier autonome Individuen wissen zwar, was sie wollen, nehmen aber Rücksicht aufeinander. Katja horcht in sich hinein - und macht, was alle anderen auch machen: O-Ton: Anke Stelling Das Problem, das sie am Anfang hat, ist, diese ganze Individualisierung ist ja auch schon wieder uniform geworden. Da wo sie lebt am Prenzlauer Berg, fast alle sind da so wie sie, machen das, was sie gerne möchten. Vorgeblich. Sie haben in sich hinein gehorcht und das gehört, was sie dann auch umsetzen und das können sie auch und das ist auch schön. Und es gefällt ihnen auch. Aber es ist eben doch nicht so individuell, wie es aussehen müsste eigentlich, wenn es jeder aus sich selbst schöpft. Also gibt es ja doch etwas, ein großes Ganzes, was sagt, was schön ist. Und jetzt ist die Frage, klar: Wo kommt das her? Erzählerin: Die Situation schaukelt sich hoch. Die Mutter bewundert Katjas Wohnung. Wie toll sie ist, wie individuell. Und jetzt auch noch die Hortensien auf dem Balkon. Zitat Horchen: "Wenn ich daran denke, wie wir angefangen haben -" "Dann ist ja gut", sagt Katja, "dass wir jetzt euer Leben leben. Erzählerin: Die Mutter bewundert Katjas Selbstbewusstsein, ihr freies Leben. Zitat Horchen: "Kann schon sein. Bloß blöd, dass das auch eure Idee war - dass es gut sein soll, in sich hineinzuhorchen." Erzähler: Die 1971 im Ulm geborene Anke Stelling hat einen leisen, vielleicht etwas konventionellen, aber doch befremdlichen und in seiner Konsequenz durchaus brisanten Roman geschrieben. Die Absolventin des Deutschen Literaturinstituts in Leipzig entwickelt eine Figur, der es erspart geblieben ist, sich an einem strengen Elternhaus abzuarbeiten, für die der Begriff Generationskonflikt buchstäblich ein Fremdwort ist. O-Ton: Anke Stelling Ich glaube ja wirklich, dass das nicht nur Katjas Problem ist, sondern dass sie eine Vertreterin ihrer Generation ist. Vielleicht nur einer kleinen Gruppe darin, aber dass dieses sich an etwas reiben wollen und sich mit etwas auseinandersetzen müssen auch und nicht gegen so eine Gummiwand der Toleranz zu laufen, dass das entsteht, wenn man in und mit zu viel Toleranz aufgewachsen ist. Weil man spürt ja trotzdem in sich das Bedürfnis, Gruppen zu bilden, sich abzugrenzen, etwas auch blöd zu finden, und zwar so richtig blöd, und nicht immer die andere Seite zu sehen, sondern irgendwie wilder, purer, gefährlicher zu leben. Erzählerin: In Katja gärt es. Sogar, wenn sie sich gegen die Eltern auflehnen würde, wäre es genau das, wozu diese sie erzogen haben. Sie teilt die Ideale und Werte ihrer Eltern - und doch fehlt ihr etwas. Das aber kann sie nur dort finden, wo diese Werte nichts gelten. Erzähler: Es klingt paradox: Freiheit und Toleranz bilden ein geschlossenes System, das dem Ich keinen Raum lässt, sich selbst zu entfalten, in Widerspruch zu anderen zu geraten, den festen Kern einer Individualität herauszubilden. Sie bekommen einen faden Beigeschmack. O-Ton: Michael Sollorz Ein Ich zu sein ist ja eine Zumutung - generell zunächst einmal. Es bedeutet, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Erzählerin: Eine Figur wie Hagner dagegen existiert überhaupt nicht als Individuum. Hagner zitiert Thälmann und Hitler gleichermaßen, lässt sich instrumentalisieren - aus eigenem Entschluss. Führer befiel, wir folgen. O-Ton: Michael Sollorz Es bedeutet, mit all den Fragen, Ängsten und Zweifeln, die man als kleines Ich hat, jeden Tag zurecht zu kommen. Als Krieger, als Diener einer Sache ist man von diesen Fragen erst einmal weitgehend erlöst. Die Verlockung eines höheren Sinnzusammenhangs besteht natürlich immer darin, dass das kleine Ich all diesen Nöten und Fragen enthoben wird, dass es getragen wird. Es macht frei von diesen Zumutungen, mit denen das kleine Ich sich jeden Tag abplagen muss. O-Ton: Anke Stelling Der Reiz ist, dass man nicht mehr denkt, sondern dass jemand anderes einem sagt, wo es lang geht und man lässt los. Man lässt sich fallen da rein. Es ist wirklich wie beim Chorsingen. Und das fühlt sich toll an, wenn alle dasselbe machen, wenn alle denselben Ton singen und es wird ganz laut. Und wenn alle gleichzeitig, nur weil jemand so einen ganz kleinen Fingerzeig gibt, alle plötzlich still sind und es wird ganz still. Das ist ein tolles Gefühl, das macht einen größer als man selbst ist, dieses große Ganze. Erzähler: Diese Erfahrung teilt jeder Arbeiter in einem Team, jeder politisch Aktive, jeder Fußballer und jeder Soldat. Doch wie viel Individualität ist als Gegengift nötig, damit der Einzelne nicht untergeht? Und wie viel Chorgesang ist nötig, dass das Ich überhaupt lebens- und handlungsfähig ist? Raul Zelik, Jahrgang 1968, Autor von Romanen wie "Der bewaffnete Freund" oder "Berliner Verhältnisse", sucht Wege, Individualität und Gruppenzugehörigkeit in die Balance zu bekommen. Er sieht die Hauptgefahr in der Vereinzelung: O-Ton: Raul Zelik Das Bedürfnis, Teil eines großen Ganzen zu sein kann ich gut nachvollziehen und würde auch sagen, das hat eine große Berechtigung. Da würde ich mal ganz orthodox argumentieren, der Mensch ist ein gesellschaftliches Wesen. Unter den gegebenen Verhältnissen wird er angetrieben, sich ständig individualistisch zu positionieren, in Konkurrenz zu anderen, und das erzeugt die ganze Zeit eine irre Spannung. Und da muss man auch wieder Modelle finden, die dem einen emanzipatorischen Ausfluss bieten. Erzählerin: Zubieta, der Held seines Romans "Der bewaffnete Freund", kämpft als Baske und führendes Mitglied der ETA für die Unabhängigkeit seines Volkes - so wie Hagner für die sozialistische Idee. Doch muss er sich dabei auch Fragen gefallen lassen, die Hagner nie zulassen könnte: Zitat Freund: Findest du das nicht absurd? Das Ekelhafteste an Europa sind seine Grenzen. Jedes Jahr krepieren Tausende beim Versuch, sie zu überqueren, und das Einzige, was euch einfällt, sind neue Grenzen. Erzählerin: Zubieta weiß aber um die gewerkschaftlichen Kämpfe, die spanische und baskische Arbeiter verbinden. Er weiß um das Elend afrikanischer Flüchtlinge an der Grenze der Festung Europa. Zubieta ist Teil der Organisation, erfüllt seine Aufgabe - und stellt das Credo der ETA in Frage. Zitat Freund: Ich weiß gar nicht, ob wir einen Staat wollen. Wir wollen eine andere Gesellschaft. O-Ton: Raul Zelik Das hat nicht unbedingt etwas damit zu tun, dass man jetzt das Wort erhebt für eine individualistische Haltung - jeder kann so sein wie sein möchte. Das stimmt ja nicht. Wir sind ja durch unsere gesellschaftlichen und sozialen Kontexte maßgeblich geprägt, geformt, aber das ist wohl eine zentrale These in allen meinen Büchern gewesen, dass Identitäten, soziale, kulturelle Identitäten im Wandel sind und sich auch permanent in jedem Augenblick neu herstellen. Das hat auch etwas mit einer Gefestigtheit zu tun. Weil um sich überhaupt dieser Frage zu stellen, muss man ja schon eine gefestigte Haltung haben, dass man sagt, dass gilt, das alles in Frage zu stellen. Erzählerin: Lars Hagner arbeitet weiter für Oberleutnant Bossert. Als Teil einer geheimen Armee kämpft er für den Sozialismus, bereitet er sich auf den Tag X der Revolution vor. Fast zwanzig Jahre lang hält er nach außen die Fassade eines biederen Hausmeisters im Ostberliner Plattenbau aufrecht, trifft sich zwischendurch mit Bossert, empfängt und erledigt Aufträge: Kurierdienste, Personenschutz, Mord. Wenn Bossert den Lebemann gibt, wertet Hagner das als Tarnung, wenn er sich mit Prostituierten trifft, dient das einer notwendigen Kontaktaufnahme. Dann trifft Hagner einen alten Kameraden aus DDR-Zeiten wieder: Jochen Denz. Jochen ist jetzt bei der Polizei. Er ermittelt gegen Bossert als gewöhnlichen Kriminellen, der sich Leute heranzieht, die für ihn die Drecksarbeit erledigen. Einen von denen hat er erwischt. Zitat Eignung: Der Bossert ist eine Art Menschenfischer, glaube ich. Ein Marionettenspieler. Taucht auf. Taucht ab. Bleibt im Hintergrund, und seine Leute wissen nichts von ihm, gar nichts. Er hat ihm eingeredet, sie würden politisch arbeiten, im Untergrund, und sie wären eine ganze Armee. Da sprang der drauf an wie ein Junkie, auf dieses Partisanenmärchen. Bossert kennt seine Pappenheimer bis ins Kleinste, ihre kranken Seelen. Erzählerin: Erkennt Hagner sich in dieser Beschreibung wieder? Wird er misstrauisch? Jochen fragt ihn, ob er noch Kontakt zu Bossert habe, ob er etwas wisse über ihn? Er zeigt ihm sogar Fotos von Opfern, die Bosserts Leute auf dem Gewissen haben soll. Zitat Eignung: "Hier. Vor vier Monaten. McDonalds am Hermannplatz." Ein stiernackiger Mann mit behaarten Unterarmen in einer Toilettenkabine, auf dem Klodeckel zusammengesunken. "Stich ins Herz. Angeschliffener Schraubenzieher, etwas in der Art. Tulpenblätter und Blütenstaub, möglicherweise war die Tatwaffe in einem Blumenstrauß versteckt. Erzählerin: Hagner betrachtet das Foto. Er kennt den Tatort, das Opfer, die Waffe. Er war dort, er ist der Täter - für Bossert. Er muss sich entscheiden. Vertraut er weiterhin dem Oberleutnant? Oder glaubt er Jochen? O-Ton: Michael Sollorz Lars Hagner hat eine Wahl getroffen. Er dient dieser Bewegung, an deren Existenz er glaubt, und tritt zurück als Individuum. Er stellt sein Denken in die Logik dieser Aufgabe und lässt alles, was dort nicht hinein gehört, draußen. Alle Zweifel, auch die Zweifel, die ihn ankommen, als er zu ahnen beginnt, dass Bossert gar nicht der strahlende Held ist, für den er ihn hält. Diese Dinge haben keinen Platz in seinem Leben, weil sie würden alles in Frage stellen, was er ist und was er tut. Erzähler: Sollorz führt sein Experiment konsequent zu Ende, bringt seinen Helden an den Punkt, an dem es keine Umkehr mehr gibt. Keine Diskussion, kein Ausstiegsprogramm aus einer Sekte oder einer kriminellen Vereinigung kann so jemanden erreichen. Er ist so festgelegt, wie man nur sein kann. Das kann man als Stärke werten, oder als Schwäche. Neben sich treten, das eigene Handeln an Maßstäben anderer überprüfen, kann er nicht mehr. Erzählerin: Katja, die Heldin in Anke Stellings Roman "Horchen", ist aus ihrem bisherigen Leben ausgebrochen, hat alles hinter sich gelassen. Doch so, wie sie erzogen wurde, gelingt ihr das nicht bis in die letzte Konsequenz. O-Ton: Anke Stelling Sie hat Moralvorstellungen und sie hat Maßstäbe, aber die sind in sich weich. Das ist das Komische. Das Aufgeklärte, das alles ist in Ordnung, alles ist möglich, die Toleranz usw., das ist ihr Maßstab, und das ist ein guter Maßstab. Also das glaubt Katja auch, dass das gut ist, aber sich daran festzuhalten, ist praktisch unmöglich. Man kann alles denken, aber was soll man dann machen? Wofür soll man sich entscheiden, wenn alles in Ordnung ist? Zitat Horchen: Katjas eigene Geschichte scheint ihr langweilig und klein. Sie will Nazis und Hinterhöfe, Güterzüge und Kohleneimer. Eine Kittelschürze, wie Oma sie trug, Bombenhagel und Kinder mit selbstgestrickten Kniestrümpfen, für die sie samstags das Badewasser heizen muss im Ofen. Warum? Weil sie sich eingebildet hat, dass ein Erwachsenenleben so sei. Mühsam und gefährlich, aber eingebettet in einen historischen Zusammenhang. Erzählerin: Katja sehnt sich danach, herausgefordert zu werden, sich entscheiden zu müssen. Wenigstens im Privaten. Sie begibt sich auf die Suche nach ihrer verschmähten Jugendliebe. Das war ein wesentlich älterer Pfarrer, der gerne junge Mädchen verführt hat und deshalb nach Sachsen versetzt worden ist . Sie mochte ihn, weil er immer genau wusste, was er wollte. Von ihr wollte er als jungem Mädchen nichts, weil sie ihm zu selbstbewusst war. Jetzt ist sie ihm zu alt. In seiner Gemeinde aber trifft sie Gernot, einen Einzelgänger, der auf der Suche war wie sie, der seinen Halt bereits gefunden hat - in einer Sekte. O-Ton: Anke Stelling Der fährt die Stacheln aus und der ist unnahbar und dadurch attraktiv. Und dann ist er eben auch ganz ähnlich, nur extremer. Der ist ja jemand, der auch auf der Suche ist nach etwas, woran er sich halten kann. Er nimmt sie ja auch mit zu diesen Leuten, denen er sich angeschlossen hat und wo er sich unterordnet. Aber gleichzeitig ist er ihr gegenüber sehr dominant. Und das stößt sie komplett vor den Kopf, weil das ist sie nicht gewohnt und gleichzeitig ist das auch anziehend, weil sich so etwas auszuliefern, das ist wirklich Achterbahn fahren und Risiko. Erzählerin: Sie gibt sich ihm hin, er spielt Katz und Maus mit ihr. Mal zeigt er ihr seine Liebe, mal stößt er sie zurück, weil sie ihn in Versuchung führt, die Moral seiner Sekte auf die Probe stellt. Er wird gewalttätig, sie will weg von ihm. Aber Gernot beherrscht sie. Zitat Horchen: Sie ist nicht mehr sie selbst. Sie gehört jetzt Gernot. ... Sie horcht in sich hinein. Nichts. Nichts als Gernot, und die fürchterliche Sucht, von ihm gewollt zu werden. O-Ton: Raul Zelik Heute sind wir uns ja eigentlich alle, egal aus welchen Schichten wir kommen, sehr ähnlich, dass wir glauben, wir müssten unser Leben als Unternehmen betrachten, wir sind Ich-Unternehmer unseres Lebens. Erzähler: Die Bereitschaft, sich unterzuordnen, die Sehnsucht nach Anerkennung und nach einem festen Platz im Leben - für Raul Zelik hängt das damit zusammen, dass individuelle Freiheit in einer neoliberalen Gesellschaft überfrachtet wird, die Leute sich aber allein gelassen fühlen. O-Ton: Raul Zelik Ich glaube, dass das Bedürfnis nach Zuordnung dann eher wieder damit zu tun hat mit dem Gefühl der Einsamkeit. Wir leben ja in einem bizarren Widerspruch. Also einerseits in einer vermassten Gesellschaft leben mit einer Massenidentität, wo wir alle sehr gleich sind und gleichzeitig aber immer weniger erlebte Gemeinschaft haben und immer weniger reale Kollektive, die auch handeln. Weil dieses Ich-Unternehmertum dem natürlich genau gegenüber steht, dass man das Gemeinsame mit anderen sieht. Erzählerin: Anke Stelling lässt ihren Roman nicht in einem Desaster enden. Gernot demütigt Katja, bis sie ihm den Gehorsam verweigert. Sie macht Schluss mit ihm und kehrt zurück nach Berlin. Das ist ein ambivalenter Schluss, alles andere als ein Happy End. O-Ton: Anke Stelling Das hat etwas Resignatives, aber das ist wie ein gescheitertes Auswandern. Man merkt dann doch, wie sie da an ihre Grenzen stößt. Weil sie zum Beispiel den Kopf nicht abstellen kann. Und dann merkt sie auch, es ist vielleicht ganz gut, den Kopf nicht abstellen zu müssen. Zwar findet sie das am Anfang in dieser ersten Welt fruchtbar anstrengend, dass eben alles immer zu hinterfragen ist und auszuhandeln, aber es ist dann eben auch ganz gut. Weil wenn man dann eben wirklich mal erfährt, wie es ist, wenn keine von diesen zivilisatorischen Regeln mehr gelten, dann wird es eben auch schnell ganz unangenehm. Erzähler: Wo Individualität und Selbstbestimmung stark genug sind, kann der Einzelne die Balance zwischen eigenem Ich und größeren Zusammenhängen finden - so wie auch Raul Zelik es beschreibt. Lars Hagner hat diese Möglichkeit aufgegeben. Er geht seinen Weg zu Ende - in den Tod. O-Ton: Michael Sollorz Das ist eine Entscheidung, kein Schicksal. Das kann man als Krankheitsbild beschreiben, man kann es als religiösen Wahn beschreiben, man kann es als Überzeugung, als stolz gelebte Überzeugung beschreiben. Von all dem ist ja etwas in diesem Lars Hagner. Das ist ja ein Mann, der zusammengesetzt ist aus vielen sozusagen Mythen der Männlichkeit, also aus Einsamkeit, aus der Gewalt, aus Stärke, aus der Treue, aus der Treue auch bis in den Tod, aus der Verschwiegenheit. 16