COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Sendung "Die Reportage" vom 16.10.2016 "Lesen als Therapie" ? Shakespeare fürs Hirn Von Annegret Faber   Regie: man hört Schritte den Gang entlang, eine Tür geht auf, dahinter sind viele Menschen und reden durcheinander.   Autor: An diesem Mittwochmorgen sind zwölf Männer und Frauen gekommen. Der jüngste ist um die 30, der älteste 80 Jahre. Es riecht nach Kaffee und Gebäck. Alle unterhalten sich angeregt.      1 O Ton Craig Bentley English ? vor der Lesung, im Hintergrund Stimmengewirr Everyone is excited that we are almost reaching the end of the book.   Autor. In der Geschichte geht es um einen Pfarrer, der kurz vor seinem Tod einen langen Brief an seinen Sohn schreibt, erzählt Craig Bentley, der Leiter der Gruppe. In dem Brief geht es darum, wie man sich auf den Tod vorbereitet und gleichzeitig akzeptieren lernt, dass das Leben weiter geht. Der Sohn, die junge Familie, all seine Erinnerungen. Nur noch 40 Seiten, und die Geschichte ist zu Ende.   2 O Ton Craig vor der Lesung im Raum An american reverend who has been told, that he´s only a short amount of time left to live and he´s writing a letter. The whole book is a letter to his son. He is very young and he is writing a letter with memories of him, when he grows up and the story is all about how we deals with knowing it´s coming the end of his life and at the same time he see his young family carry on living with this and the group where in about forty pages before the end.   Autor: Heute sind alle sehr gespannt, sagt Craig- Denn es geht auf das Ende einer  Geschichte zu, die hier seit einem Jahr gemeinsam gelesen wird. Jeden Mittwochmorgen, drei Seiten in eineinhalb Stunden.    3 O Ton 00_Atmo Lesekreis Liverpool Okay, sorry, I was listening to Terris Story. Good morning let´s start. We carry on at the top of page 247 ?. er beginnt zu lesen.   Autor: Craig hat die volle Aufmerksamkeit. Fast alle lesen den Text mit, den Blick auf die Buchseite geheftet. Nur ein Mann schaut versonnen aus dem Fenster. Neben ihm sitzt eine Frau mit blondem, langem Haar. Sonnenbrille und Batiktuch. Rechts von ihr eine alte Dame mit grauem Haar. Links von ihr ein Mann mit tätowierten Oberarmen. Seine Haare sind lila und blond gefärbt. Er sieht aus wie ein alter Rockmusiker. Neben ihm eine Frau, ca. 50, mit roter Bluse und Pailletten besetztem Ausschnitt. Ihr Gesicht trägt tiefe Falten.   4 O Ton Craig ließt   Autor: Als Craig aufhört zu lesen, ist es eine Weile still. Danach beginnen die Gespräche. Die werden im Laufe der nächsten 90 Minuten immer offener und intensiver. Das ist die Idee hinter dem Treffen. Hinter dem Projekt, das sich schlicht The Reader nennt.   5 O Ton Gespräch Marc und eine andere Leserin ? English / im Original lassen! - It is a strange thing to be writing to his son, to be read eleven years later. As if going to be a revelation. So it´s not being written for that, is it? I got the Feeling that it´s almost ? the justification for his attitude? - He´s dying. - It started out with a letter to his son. - It is not being written for his son anymore. Because it is not relevant. - He is still thinks he is writing it for his son. Nut really he is writing it for him self   Autor: Marc ist ein stattlicher Mann mit kurzem Haar, Brille und blau, grün kariertem, kurzärmeligen Hemd. Er ist 63 Jahre alt und hat vor wenigen Jahren selbst Angehörige verloren.   6 O Ton Marc I am retired now. And I?ve lost a lot of family due to the various things that have happened. And all the people I really cared about have gone. So it was very easy to ? (stockt). For a couple of years I?ve done nothing. And I realized that I needed to be able to get out and start ? basically just making new contacts. And this was the ideal opportunity to start.   Autor: Mark ist Rentner. Er hat offenbar schlimme Jahr hinter sich. Er erzählt, dass er nach dem Tod seiner Angehörigen lange nicht das Haus verlassen hat. Wer aus seiner Familie gestorben ist, sagt er nicht. Niemand hier in der Gruppe weiß es, obwohl Marc schon ein Jahr lang hierher kommt. Er wusste aber, dass es wichtig für ihn ist wieder mit Menschen zu reden, sagt er. Und dafür sei ?The Reader? ideal.   7 O Ton Mark (Nach der Lesung im Raum mit anderen Menschen) And after my first time coming here, I felt .. I came back all the time. And I enjoy it - it?s something ? I?ve always enjoyed reading. It?s something I used to keep myself occupied. And now I?m doing something which I?ve always enjoyed, but I?m doing it in company. So I?m getting the both benefits.   Autor: Nachdem ersten Besuch kam er immer wieder. Heute ist das Lesen für ihn ein fester und wichtiger Termin. Jeden Mittwochmorgen eineinhalb  Stunden über Literatur sprechen. Fürmich genau das richtige, sagt Mark. Er genießt es. Auch wenn er anfangs sehr nervös war und lange gebraucht hat, bis er überhaupt etwas sagte.   8 O Ton Mark (Nach der Lesung im Raum mit anderen Menschen) Nervous! I do remember it. Yah! It had been a few weeks? I wasn?t sure if I?d want to, but then when I felt I wanted to, I had to wait, because I didn?t want to feel as if I was pushing myself. Because obviously, you?re joining a group which already has a lot of people who? It?s getting the feel, you?re becoming part of something which already exists. I didn?t want to feel as if I was imposing too much. And, I have got that habit to? I do like to be involved.  I do enjoy reading. I enjoy the emotion of reading. Because I feel that you can convey, in how you speak, your emotions. You can say and understand the emotion of what?s been written and put them into words when you?re talking. So I do enjoy it. But you can also be over-enthusiastic which I can be on occasion. And there I need.. maybe to learn ?   Autor: Er mag es hier dabei zu sein, er mag es zu lesen, zu diskutieren. Marc überträgt die Geschichten aus den Büchern in die Realität und spricht so über seine eigenen Gefühle. Er lernt hier auf sich zu achten, überhaupt über Gefühle zu sprechen. Ich fühle mich sehr wohl hier, sagt Marc und lächelt.   9 O Ton Marc (im Original lassen) I learn to care for me learning to control and enjoy and mix with other people. ? It?s a nice place to be able to do it. For me, it feels comfortable! And one of the things it?s done for me: it?s just given me the confidence also to be able to move on to other things as well.   Autor: Mark macht während der Lesung einen sehr selbstbewussten Eindruck. Er spricht viel und äußert als erster den Wunsch weiterzulesen.   10 O Ton Mark liest   Autor. Nach der Lesung spricht mich die Dame mit der Sonnenbrille an. Sie kommt aus Deutschland und lebt seit 28 Jahren in Liverpool. The Reader besucht sie seit zwei Monaten.   11 O Ton Andrea (Nach der Lesung im Raum mit anderen Menschen) Es ist ein sozialer  Aspekt, man trifft Leute, die man normalerweise nicht treffen würde und es ist eine Vielfalt von Ansichten, die da heraus kommen. Wenn man das Buch liest, ein paar Seiten werden vorgelesen, man kann selber lesen, wenn man möchte, niemand wird gezwungen und man unterhält sich eben dann darüber, was in den Kapiteln dann passiert und das ist die Ansicht von anderen Leuten und viele fangen an von ihrem persönlichen Leben zu erzählen. Also Ich finde es erweitert den Horizont.   12 O Ton Craig  Englisch (Nach der Lesung im Raum mit nur noch wenigen Menschen)   Autor: Viele hier sind schon in Rente, sagt Craig, nachdem schon beinahe alle gegangen sind. Früher sehr beschäftigt, sind sie jetzt allein zu Hause und suchen Kontakte. Sie können immer kommen. Am Morgen, am Nachmittag oder auch abends. Es gibt zu allen Tageszeiten Lesegruppen. Anmelden muss sich niemand. Das alles ausgedacht hat sich Jane Davis, die Initiatorin des Projekts. Ihr Mann Phil, ein Literaturprofessor, unterstützt sie. Abends, erzählt Craig, sitzen in den Lesegruppen auch viele junge Leute. Auch zwischen ihnen entstehen manchmal Freundschaften.    Regie: Flugzeug als Trenner und dann Blende in Buchmesse oder nur Atmo Leipziger Buchmesse   Autor: Vier Wochen vorher. Jane Davis ist zur Leipziger Buchmesse geflogen/gekommen, um The Reader erstmals in Deutschland vorzustellen. Im Congress Center der Messe hat sie dafür einen Raum bekommen, dritte und letzte Etage des Gebäudes, Seminarraum 6/7.   Atmo Raum, Gespräche   Autor: Beinahe alle Stühle sind besetzt. Jeweils fünf stehen in zehn Reihen hintereinander. Jane Davis tritt jetzt für alle gut sichtbar, nach vorne.     13 O Ton Jane Davis We are very very glad to be of setting the reading revolution here in Leipzig? moment Jane, weiß jemand wie das hier geht ? .. durcheinander ?   Autor: Nachdem sie gerade so schön angesetzt hat, in Leipzig die ?Lese-Revolution? zu verkünden, wird sie unterbrochen. Der Beamer funktioniert nicht.      14 O Ton Jane Davis So first I want to tell you was Shared Reading is not. It  is not a book club. It is not a literature project. It is not therapy. It is not a book promotion project. What we do is put books in to the hands of people how may never held them before.   Autor: Wir legen Bücher in die Hände derer, die vorher vielleicht nie ein Buch in der Hand gehalten haben, sagt Jane und nimmt ein Mikrofon in die Hand, um besser verstanden zu werden. Sie spricht vor allem von den Emotionen, die beim Lesen frei werden und verdeutlicht das anhand der Geschichte einer älteren Dame, die während einer Lesung in der Calderstones Villa hemmungslos zu weinen begann.   15 O Ton Jane Davis ? and a lady in the group began to cry, she is a lady in the seventies, and she couldn?t stop. And at the twenty years in the university I have never seen anybody move to tears by literature and I didn?t  want to do and say let?s stop, let?s stop, and she said, no carry on, carry on and so we carrying on reading and talking and she doesn?t carry on crying...   Autor: Stopp, stopp, hört auf zu lesen, sagte Jane, aber die Dame bestand darauf, dass weiter gelesen wird. Am Ende der zwei Stunden entschuldigte sie sich bei allen und sagte: Meine Tochter ist gestorben und ich bin zum ersten Mal seitdem wieder unter Menschen.    16 O Ton Jane Davis That was the first meeting and that moment then she took my hand and I knew, I have found the thing. Because, that connection felt everybody in the room. It had to do with the poem. The poem was a part of it.   Autor: Als die Frau dann ihre Hand nahm, spürte Jane: das ist es, was ich machen möchte, machen muss. Menschen helfen durch Literatur, durch Poesie. Und das tut sie - vor allem in Liverpool und London - seit fast zehn Jahren sehr erfolgreich. 140 Arbeitsplätze hat sie mit The Reader geschaffen, 300 ehrenamtliche Mitarbeiter unterstützen sie. Die Queen hat ihr für ihr Engagement 2011 persönlich einen Orden angesteckt.   17 O Ton Jane Davis Overvoice Ich bin keine Anhängerin der königlichen Familie, ich fühle mich nicht so, brauch das nicht und ich musste mir überlegen, wirst du ihn annehmen, diesen Orden und dann dachte ich, das ist nicht für mich persönlich, sondern für The Reader. Zu zeigen, das was Großes passiert. Deswegen habe ich ihn angenommen und ich denke in England ist es ein Zeichen der Wertschätzung, und was wir geschafft haben ist Literatur aus der Universität raus zu holen, in die Welt hinaus, und das war nicht nur ich, sondern viele andere Leute und der Orden ist ein Zeichen dafür.   Autor: The Reader lesen mit Menschen in Gefängnissen, Krankenhäusern, Altenheimen, Kindergärten. Und egal wo, sie tun immer dasselbe: Lesen und über die Geschichten sprechen. Über die Menschen darin, mit ihren Problemen, Sorgen, Emotionen.   Und jetzt hat das simple Konzept offenbar andere angesteckt.   Regie: Applaus, Stühle rücken?   Atmo im Hintergrund läuft Musik aus einem Film der Leser zeigt   18 O Ton Carsten Sommerfeld ja willkommen, willkommen   Autor: Zum Beispiel den schlanken, großen Mann, der sich jetzt an den Tisch vor die Stuhlreihen setzt und in eines der beiden Mikrofone spricht. Es ist Carsten Sommerfeldt. Literaturagent, 48 Jahre alt. Er lebt in Berlin. Neben ihm nimmt sein Kollege Thomas Böhm Platz, ebenfalls Literaturagent, 47 Jahre. Beide waren zusammen in Liverpool. Sie wollten selbst sehen, was dort passiert und selbst spüren, was lautes Lesen mit ihnen macht.   19 O Ton Carsten Sommerfeld Und ja, wir lasen ? die allererste Geschichte, die ich gelesen habe war David Konstantin, ?In another Country?  und als ich da saß, war nach ´ner halben Stunde eigentlich klar, dass ich das, und wir das, es ging ihm nämlich genauso, in irgendeiner Form machen wollen.   20 O Ton Thomas Böhm Und nach einer Zeit, als wir weiter gelesen haben, haben dann die anderen Menschen vorgelesen. Eine Frau, die da war, 80 Jahre alt, mit ihrer wunderschönen alten Stimme. Ein Mann mit so schlohweißen Haaren und so Matrosentätowierung auf dem Arm. Ein junger Mann, ich würd mal sagen 16, 17 Jahre alt, alle haben vorgelesen. Und was geschah in dem Moment, als die vorgelesen haben. Man hatte den Eindruck, ihre Stimme wird Teil von der Schönheit dieser Geschichte. Sie selber werden Teil von dieser Kunst der Sprache, sie persönlich geben der Literatur Ausdruck. Ich war da in vollster Begeisterung und für diese Menschen war das der Alltag. Die haben da gar keine Sache draus gemacht. Das ist zum Habitus von denen geworden, da hin zu kommen?und als wir dann nachmittags abgereist sind, da konnte ich mir gar nicht mehr vorstellen, nicht mehr zu solchen Lesegruppen zu gehen und das ist sozusagen die innere Motivation warum wir hier sitzen (er lacht )   Autor: Nachdem die beiden Literaturagenten aus Liverpool zurück kamen war völlig klar, dass sie in Berlin eine eigene Lesegruppe gründen werden.    Starker Atmowechsel Park Atmo, Menschen reden, Kinder, Hunde bellen   21 O Ton  Richard McDonald steht vor der Calderstones Villa It is a big park?.the house itself is gone be the International Center for Reading and well being. People who come here for reading group, for well being, coming in the morning, do a group, a reading group, and lunch time there come out, enjoy the park and then go back in the afternoon.    Autor: Richard McDonald kümmert sich um das Erbe der Calderstones Villa in Liverpool. Sie wurde vor über 100 Jahren gebaut. Ein englischer und ein japanischer Garten grenzen direkt an das Haus. Mitten in der lauten, dreckigen Arbeiterstadt wirkt das Ensemble wie ein Schutzraum. In einem Anbau der Villa ist das Readers Café. Bei Sonnenschein stehen draußen Tische und Stühle.   22 O Ton Umfrage Do you know what´s going on in this House? No. Are you often in this Park? Often,  ja. So you live around here? Ja. Do you now whats going on in this House? We have no idea. Ok, that?s interesting.   Autor: Der Park ist voller Menschen. Die meisten wissen aber gar nicht, was in der Villa passiert. Obwohl sie sehr oft daran vorbei laufen. Und obwohl das Haus eine aufregende Geschichte hat, sagt Richard McDonald. Und viele es kennen, aus einem Musikvideo.     23 O Ton Richard McDonald We will walk around the Side of the Mansion House. I think this house had an influence to one of the greatest people from Liverpool. John Lennon lived just on the other side of this Park. To get to school he would have to walk right through the middle of this park and pass this house. And when you look at this side of the house it is very very similar to a house that John Lennon bought in 1969.    Autor: Wir gehen zum Seitenflügel. Schauen durch ein mehrflügeliges, halbrundes Fenster ins Innere der Villa. John Lennon lief hier jeden Tag auf dem Weg zu seiner Schule vorbei, erzählt McDonald. Und damals sah er durch das Fenster, wie die Gäste hier Tee getrunken haben. Richard glaubt, dass ihn das Haus so sehr inspiriert hat, dass er sich später selbst eine Villa kaufte, die genauso aussah wie diese hier. Und die jeder aus dem Video von ?Imagine? kennt.   24 O Ton Richard McDonald It was the house he had in mind in the song Imagine, the Video of the song   Autor: Dass The Reader ausgerechnet aus Liverpool kommen ist kein Zufall glaubt Richard und dass sie hier im Calderstones Park ihr zu Hause gefunden haben auch nicht. Der Ort habe eine besondere Energie. Schon immer gehabt. Bereits in den 40er Jahren wurde hier Theater gespielt und das ist heute auch wieder so.   Atmo - Park   Hinter dem Haus, auf einer Wiese, ist eine Theatergruppe zu hören. Es sind Schauspielstudenten. Sie spielen den Sommernachtstraum von Shakespeare.   25 O Ton Richard Englisch And today we have students from University, doing midsummer night's dream live? have a look? a lovely day for Shakespeare in the sunshine? Love , Love , Love.   Autor. Am Eingang der Villa treffen wir Ben Davis, den Sohn von Jane. Er kümmert sich um die Öffentlichkeitsarbeit und weiß, dass ich gleich mit Phil, seinem Vater verabredet bin. Der muss jeden Moment kommen. Ben blickt auf seine Uhr. Er muss auch gleich wieder los, zurück zu seiner Lesegruppe. Auch er ist ein Reader.   26 O Ton Ben Davis (Overvoice) im Park im Hintergrund bellen Hunde) Jeder, der für The Reader arbeitet ist ein Reader. Ich leite jeden Freitag eine Gruppe hier in Calderstones und das schon seit zwei Jahren. Wir lesen sehr langsam. Wir lesen Charles Dickens und Tomas Hardy. Sehr, sehr langsam. Aber das Wichtige ist, den richtigen Text auszuwählen. Du brauchst Tiefe und reale menschliche Beziehungen, um über den Text zu sprechen. Texte die eine tieferer Ebene haben, die nicht nur schön geschrieben sind, sondern Texte die Herz haben, mit denen man sich identifizieren kann.   Autor. Lesen und darüber mit anderen sprechen hilft gegen Einsamkeit, Depressionen, schlechte Laune und es steigert das Selbstbewusstsein sagt Phil  Davis. Gemeinsam mit Kollegen aus der Neurologie ist der Literatur-Professor der Frage: Was macht laut(es) Lesen mit dem menschlichen Gehirn? nachgegangen.   27 O Ton Phil Overvoice Für die Tests haben die Probanden Texte von Shakespeare gelesen. Und zwar aus einem bestimmten Grund. Texte von Shakespeare haben Irritationen, Worte, die anders als üblich genutzt werden. Grammatik, Orthographie und Aussprache waren zu seiner Zeit noch nicht so standardisiert. Wenn nötig hat er auch einfach neue Wörter erfunden. Substantive zu Verben gemacht.  Auch Brecht und Goethe taten das, aber für das Experiment machen wir es mit Shakespeare.   28 O Ton Phil (Overvoice) Dann haben wir mit einem EEG gemessen, was passiert mit dem Hirn des Lesers, wenn so eine Irritation im Text ist und wir konnten sehen, dass das Gehirn aus dem Automatismus raus kam und die Hirnaktivität gestiegen ist und dazu geführt hat, dass man auf ein schwieriges Level kommt. Das Wort hat das Hirn aktiviert und es kann danach komplizierter denken, ist beweglicher.   Autor: Phil verlässt den Weg und spaziert quer über die Wiese. Um ihn liegen Familien, Frauen, Kinder auf Decken und überall Hunde in allen Größen. Phil scheint sie gar nicht zu bemerken. Spricht weiter über die Kraft des gelesenen Wortes.     29 O Ton Phil (Overvoice) Poesie macht die Menschen lebendiger, selbstbewusster und auch die Herzrate verändert sich, die Hautspannung, und das sieht man auch wenn man in den Gruppen sitzt. Die Menschen sind einfach lebendiger.   Regie: Atmowechsel, Straßenverkehr, Geräusche im Auto. Im Radio läuft Musik   Autor: Zurück in Deutschland. Ich sitze im Auto, fahre nach Berlin. Ich möchte die Lesegruppe von Carsten Sommerfeld und Thomas Böhm kennenlernen.   Regie: Auto anhalten, Tür auf, zu, die Straße entlang laufen,  Autos, Schritte   Autor: Jeden Montagabend trifft die sich für eineinhalb Stunden in der Friedrichstraße 246. Keine Villa mit Park, sondern erster Stock Neubau. Die gesamte Etage ist eine Art Großraumbüro. Freischaffende können sich hier Arbeitsplätze mieten. Gemeinsam mit anderen arbeiten, neue Kontakte knüpfen.   Regie: Treppe hoch laufen, Hallo, Hallo.   Autor: Kasten Sommerfeld begrüßt mich an einem Tresen. Dann gehen wir in einen Konferenzraum. In der Mitte steht ein langer Tisch mit etwa zehn Stühlen. Durch zwei Fensterfronen fällt angenehm warmes Licht  in den Raum - in einer Stunde geht die Sonnen unter.   31 O ton Carsten Wir sind glaube ich heute zu neunt   Autor: 19.30 Uhr geht es los. Die Teilnehmer der Berliner Gruppe sind  Projektmanager, Verleger, Übersetzer und Literaten. Auf den ersten Blick keine Biografien mit großen Brüchen. Und doch kommen auch sie aus demselben Grund, wie die Menschen in Liverpool. Sie wollen zuhören. Reden. Lesen. Sich verstanden fühlen, andere verstehen und Zeit haben für ein paar Zeilen Literatur. Die jüngste ist 27. Der Älteste 68. Die Gruppe gibt es seit gut einem halben Jahr.   32 O Töne der Leser - Also ich glaube, dass die Tatsache, dass wir kommen, ist ein unausgesprochene Einverständnis  nichts sagen zu müssen und das, je nach Typus, führt dazu, dass der, der mal sprechen möchte, spricht, der der nicht sprechen möchte auch nicht muss und auch nicht komisch angesehen wird. Und ich glaube, ich war ja schon oft hier, dass der Mensch, der nicht vor hatte was zu sagen, durch die Dauer, weil das eben so schön lange auch dauert, in einer Form von Langsamkeit, man dann doch an einen Punkt kommt, wo man doch was sagt, oder weil es einen so überzeugt oder eben nicht überzeugt, also provoziert. Das ist glaube ich die Einmaligkeit daran.   Regie: Atmo Raum ? Blätter werden verteilt ?   Autor: Thomas Böhm leitet heute die Gruppe an. Er hat den Text ausgewählt und verteilt Kopien.   33 O Ton Thomas Böhm Es ist ein Gedicht von Gottfried Benn: Nur zwei Dinge. Durch so viele Formen geschritten, durch ich und wir und du, doch alles bliebt erlitten, durch die ewige Frage wozu. Das ist eine Kinderfrage. Dir wurde erst spät bewusst, es gibt nur eines ertrage, ob Sinn ob Sucht ob  Sage, dein fernbestimmtes du musst. Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere, was alles erblühte erblich, es gibt nur zwei Dinge, die Leere und das gezeichnete ich   Regie: über das Gedicht dann Autorentext   Autor: Augenblicklich kehrt Ruhe ein. Alle schauen auf ihr Blatt mit der Kopie des Gedichtes und lesen in Gedanken jedes Wort mit.   34 O Ton Gespräch - Was ist denn das gezeichnete ich? - Vom Schicksal gezeichnet - Das ist der Weg, die Spuren des Lebens in deinem Gesicht, der Weg, den du gegangen bist - Ja aber was ist dann die Leere? - Durch so viele Formen geschritten, was soll das heißen, das ist ja sehr schön gesagt, was soll das heißen - Na ich bin ich ein Kind, 13 Jahre alt, egoistisch mache vier Seiten meiner Bestandsliste, das ist ich, ich, ich, dann wird aus dem ich wir, man verliebt sich, man heiratet und noch schlimmer fünf Kinder, also ich bin überhaupt nicht mehr, nur noch wir und dann kommt irgendwann du kannst ausziehen und du kannst, du hast alles falsch gemacht  und du bist nichts wert, du bist alleine, lass du mich bitte in Ruh, das ist das kommt irgendwann nur noch du - Ich glaube man kann das auch positiver sehen - Moment, und die ewige Frage, warum erleidet man das, erlitten heißt ja nur, warum machst du es immer wieder mit. - Das bleibt erlitten, durch diese Frage, die Frage lässt einen das erst als Leid empfinden, weil man diesen Formen einen Sinn abtrotzen will   Autor: Zuhören, reden, lesen, achtsam sein. Manchmal auch einfach nur Schweigen.   35 O Töne Carsten Sommerfeld, Thomas Böhm - Aber das gehört auch dazu, da ist es ein bisschen still ist und dann sagt jemand was - Ja dieses innere Nachschaffen, was der gute alte Goethe gesagt hat. Es braucht eben manchmal Zeit, gerade wenn man sich so einen Text zum ersten Mal liest, ja. Und wie gesagt, dieses Aushalten von Stille, das kommt ja zunehmend aus der Mode.