HINTERGRUND KULTUR UND POLITIK Reihe                             Zeitfragen     Titel                                Streit um "Stella" Takis Würgers Roman und die Schwierigkeiten beim Schreiben über die Shoah   Autor/in                          Ralph Gerstenberg Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig © Deutschlandradio     Streit um „Stella“ Takis Würgers Roman und die Schwierigkeiten beim Schreiben über die Shoah Von Ralph Gerstenberg     O-Ton 1 Takis Würger: „Hallo, ich bin Takis Würger, ich habe einen neuen Roman geschrieben.“   Musik (Trailer Stella-Musical): Stella, Stella ...   Sprecherin: Am 14. Januar 2019 erschien der zweite Roman des 33jährigen Spiegel-Reporters und Schriftstellers Takis Würger, dessen Debütroman „Der Club“ sich 90 000 Mal verkaufte. Sein neuer Roman heißt schlicht „Stella“.   O-Ton 2 Takis Würger: „Und „Stella“ erzählt die Geschichte einer historischen Figur, die Geschichte von Stella Goldschlag.“   Sprecherin: Stella Goldschlag war eine junge jüdische Frau, die Anfang der vierziger Jahre wie viele andere Juden als so genanntes U-Boot in Berlin lebte – unerkannt, mit falscher Identität und in ständiger Angst, von den Nazis gefasst und nach Auschwitz deportiert zu werden.   O-Ton 3 Takis Würger: „Die Geschichte von Stella Goldschlag ist überliefert, weil sie irgendwann verhaftet wurde, zusammen mit ihren Eltern von der Gestapo, und die Gestapo sie vor eine Wahl gestellt hat. Die Nazis haben zu Stella gesagt: Du hast zwei Möglichkeiten. Entweder wir schicken deine Eltern nach Auschwitz, oder du arbeitest ab jetzt für uns, wir verschonen deine Eltern und du, Stella, jagst jüdische Berliner.“       Sprecherin: Die Geschichte der Greiferin Stella Goldschlag, die mehrere hundert in der Illegalität lebende Juden aufspürte und der Gestapo auslieferte, wurde bereits in einem Dokumentarfilm, in einem Sachbuch, in einem Spielfilm sowie in einer Musicalinszenierung der Neuköllner Oper erzählt.   Musik (Trailer Stella-Musical): Stella, Stella ...   O-Ton 4 Takis Würger: Ich saß in Berlin mit einem Freund auf dem Bordstein und hab mir von ihm die Geschichte erzählen lassen und hab ihn dann noch am gleichen Abend gefragt: Gibt's über diese Frau einen Roman? Und dann hat sich herausgestellt, es gibt keinen. Und dann habe ich diese historische Vorlage genommen, um dann ne fiktive Geschichte zu erzählen.   Sprecherin: Als der Roman „Stella“ von Takis Würger erschien, war er vom Hanser Verlag bereits mit Anzeigen, Vorabinterviews und Videos in diversen Medien, sozialen Netzwerken und branchenüblichen Kanälen als literarisches Großereignis gepriesen worden. Nicht mehr und nicht weniger als das Unerzählbare werde in diesem Buch erzählt, erklärte der Schriftsteller Daniel Kehlmann in seinem Klappentext.   O-Ton 5 Peter Graf: Man will natürlich ein Buch auch so gut platzieren und verkaufen, wie es eben möglich ist.   Sprecherin: Der Herausgeber und Mitbegründer des Verlages Das kulturelle Gedächtnis Peter Graf war dennoch erstaunt über die Kampagne seiner Kollegen im Vorfeld der Veröffentlichung.   O-Ton 6 Peter Graf: Man probiert ja, Argumente zu finden, um das Buch möglichst positiv ins Gespräch zu bringen. Das ist legitim, das macht man mit jedem Produkt so. Aber man braucht dann eben doch irgendwie den Maßstab, der dann angemessen ist.   Sprecherin: Dass die Latte für den jungen Bestsellerautor viel zu hoch gehängt wurde, offenbarte sich bereits am Erscheinungstag mit den ersten Rezensionen in den Feuilletons.   Musik : Unter Sprecher / Sprecherin   Sprecher: Hanser blamiert sich mit einem kitschigen Roman über die jüdische Nazi-Kollaborateurin Stella Goldschlag. Der Verlag hat dafür sehr viel Geld ausgegeben, doch wer braucht diesen Schund, der nicht mal als Parodie durchginge?   Sprecherin: Jan Wiele, FAZ.   Sprecher: „Würgers "Stella" ist ein Ärgernis, eine Beleidigung oder ein richtiges Vergehen - und das Symbol einer Branche, die jeden ethischen oder ästhetischen Maßstab verloren zu haben scheint, wenn sie ein solches Buch auch noch als wertvollen Beitrag zur Erinnerung an die Schoah verkaufen will. Selbst Stella Goldschlag hat diesen Roman nicht verdient.“   Sprecherin: Fabian Wolff, Süddeutsche Zeitung Der SWR-Literaturredakteur, -kritiker und Autor Carsten Otte bezeichnet den Roman in seiner taz-Rezension als „literarische Hochstapelei“.   Sprecher: „Das Buch wird als „Roman“ verkauft, es ist jedoch schwierig zu bestimmen, worum es sich wirklich handelt, um eine semifiktionale Collage vielleicht, ein schlampig gemachtes Stück Histotainment gewiss.   O-Ton 7 Carsten Otte: „In der Gesamtschau hat es etwas von Romanfake. Das hört sich vielleicht härter an als es ist. Nur bei diesem moralisch so aufgeladenen Thema wird es dann tatsächlich zu einem Problem.“   Musik: Unter Sprecherin   Sprecherin: Takis Würger erzählt seinen Roman aus der Sicht eines jungen, wohlhabenden Schweizers namens Friedrich, der sich Anfang 1942 in einem an das Adlon erinnernden Berliner Luxushotel einmietet und sich in die blonde, lebenshungrige Stella verliebt. Warum er ohne Not ausgerechnet in die Hauptstadt jenes Landes fährt, das gerade den furchtbarsten Krieg der Menschheitsgeschichte angezettelt hat, erklärt Würger mit Friedrichs Wahrheitssuche und Farbblindheit, unter der er seit einem Schädel-Hirn-Trauma leidet. Er sieht nur noch Grautöne, und er hat gehört, dass nachts in Berlin Juden abgeholt und gen Osten deportiert werden.   Sprecher: „„Ich geh dahin, Papa, ich muss das sehen. Ich ... dieser Graubereich.“ Vater nickte und strich sich über das Kinn. Jemand musste die Gerüchte von der Wirklichkeit trennen.“   O-Ton 8 Carsten Otte: Der Autor meint ganz sicherlich, dass er die Gerüchte von der Wahrheit, der gesellschaftlichen, trennen müsse, denn Gerüchte haben auch eine Wirklichkeit. Und hier merkt man, dass hier ein Autor unterwegs ist, der es oftmals nicht ganz so genau nimmt. Und das ist aber die Herausforderung von einem Roman, der zumal eine so imposante, schreckliche, berührende und wichtige Geschichte wie die der Stella Goldschlag erzählt.   Musik: Jazz kurz, dann unter Sprecherin   Sprecherin: Die fiktive Stella in Würgers Roman singt inkognito in einem illegalen Jazzclub und bewegt sich als strahlende Schönheit inmitten eines verbrecherischen Systems. Man spürt die Faszination Würgers für subkulturelle Enklaven und Fluchtpunkte, von denen er gelesen hat und die er nun mit Fantasie anreichert und ausmalt. Die Lebensrealität der Mehrheit der damaligen Bevölkerung und die weltpolitische Lage geraten hingegen zu einem Hintergrundrauschen, das Takis Würger in Textcollagen am Anfang jedes Kapitels abspult.   Sprecher: „FEBRUAR 1942 Der US-amerikanische Regierungssender „Voice of America“ strahlt sein erstes Programm in deutscher Sprache aus. (...) Den Juden im Dritten Reich wird die Haltung von Haustieren verboten. Glenn Miller erhält die erste Goldene Schallplatte der Musikgeschichte für das Lied Chatanooga Choo Choo. Zweites Gebot der zehn Gebote für jeden Nationalsozialisten des Dr. Joseoph Goebbels: „Deutschlands Feinde sind Deine Feinde; hasse sie von ganzem Herzen.“   Sprecherin: Von der Enttarnung Stellas, ihrer brutalen Folterung im Gestapokeller und ihrer Mitarbeit bei der Verhaftung untergetauchter Juden, erfährt der naive Ich-Erzähler erst in der zweiten Hälfte des Romans. Der Leser weiß bereits aus Gerichtsakten eines sowjetischen Militärtribunals von 1946, die Takis Würger in seinen Text montiert, von den fatalen Folgen ihres Verrats.   Sprecher: Georg Schiller suchte die Kartenstelle im Grunewald auf. Vor der Tür der Kartenstelle stand die Angeschuldigte, welche ihm erklärte: „Es ist alles in Ordnung. Sie müssen nur in einem Nebenzimmer auf die Karten warten, sie werden erst beschafft.“ Schiller wurde auf Veranlassung der Angeschuldigten jedoch mit anderen Juden festgenommen, in das Lager Große Hamburger Straße eingeliefert und später in Auschwitz umgebracht.   Musik (Trailer Stella Musical): „Sie waren im Dienst der Gestapo und in ihrem Auftrag haben Sie mehr als mehr als dreihundert Juden persönlich verhaftet. Wie konnten sie so etwas tun – selbst eine Jüdin? – Einspruch! Ich bin keine Jüdin. Ich bin Deutsche!“   O-Ton 9 Peter Wyden: Was soll das, sagte sie sich schon als Kind. Ich seh’ doch arisch aus. Was wollen die denn von mir? Warum muss ich denn leiden?   Sprecherin: Der deutsch-amerikanische Journalist Peter Wyden hat 46 Jahre an seinem Buch über die reale Stella Goldschlag geschrieben. Wyden war ein Schulkamerad Stellas an einer jüdischen Privatschule in Berlin, bevor er in den dreißiger Jahren mit seiner Familie in die USA emigrierte. Als sein Buch 1993 auch auf Deutsch erschien, äußerte sich der 1998 verstorbene Autor im RIAS-Berlin zu den Reaktionen darauf.   O-Ton 10 Peter Wyden: Psch, go away! Geh weg, lass uns in Ruh'! Das ist eine Reaktion, die ich sehr oft jetzt gefunden habe.   Sprecherin: Nach dem Krieg erfuhr Peter Wyden als amerikanischer Soldat in Berlin, dass es sich bei dem „blonden Gift vom Kurfürstendamm“, dem gerade im Ostsektor ein Prozess als Nazikollaborateurin gemacht wurde, um die charismatische Schönheit handelte, die er vor seiner Flucht als Teenager angehimmelt hatte. Wyden sprach mit Opfern und Tätern, auch mit Stella Goldschlag selbst, und geht konsequent der Frage nach, die Takis Würger in seinem Roman gar nicht stellt: Warum hat Stella Goldschlag so gnadenlos und effektiv für die Gestapo weitergearbeitet, obwohl sie wusste, dass ihre Eltern längst deportiert worden waren? Und wie kann man mit einer solchen Schuld Jahrzehnte lang weiterleben? Wyden sucht nach Erklärungen, nicht nach Entschuldigungen, wenn er zum Beispiel mit dem Psychiater und Autor des Buches „Ärzte im Dritten Reich“ Dr. Robert Jay Liften über den Fall Stella Goldschlag spricht.   Sprecher: Dr. Lifton meinte, die Antwort liege in ihrer Wut über die Ereignisse. „Wut ist ein Teil des Trauerns“, erklärte er. „Bei Beerdigungen sind solche Menschen oft ärgerlich. Es ist ein Mangel an Gefühl. Sie kommen an ihren eignen Schmerz nicht heran.“ Eine Spaltung werde dabei wirksam, die von derselben Art sei wie die „Genozid Mentalität“ und das, was Dr. Lifton als „seelische Erstarrung“ bezeichnete. Unter Druck und Schmerz werden Recht uns Unrecht außer Kraft gesetzt.“   Sprecherin: Die Reaktionen auf Wydens Buch vor allem von Seiten jüdischer Opfer und deren Angehörigen waren damals heftig. Die Wut auf die Verräterin war groß. Dem Autor warf man Verharmlosung vor. Dabei relativiert Peter Wyden die Schuld Stellas keineswegs, sondern bemüht sich um einen differenzierten Blick – um zu verstehen, wie aus dem Opfer eine Täterin wurde.   O-Ton 11 Peter Wyden: Wie hier reagiert wird, das ist alles etwas merkwürdig. Zum Beispiel vielfach wird das Buch als Roman beschrieben. Das ist doch kein Roman, da sind doch 50 Seiten hinten drin mit Dokumentationen, mit Orten, Daten, Namen. Ja, vielleicht wünscht man sich hier, dass es ein Roman ist.   Musik: Kurz, dann unter Sprecherin   Sprecherin: Dass man Peter Wydens Buch für einen Roman gehalten hat, liegt möglicherweise auch an der Anschaulichkeit seiner Sprache und an der Empathie, mit der er Schicksale und Personen beschreibt. Was leistet Takis Würgers Roman hingegen, der sich auf Wydens Buch als Quelle beruft? Was gelingt der Fiktion in diesem Fall, wie packend ist die erfundene Geschichte, wie eindringlich bringt sie uns Figuren in ihren Konflikten näher? Gar nicht, meint Carsten Otte in seiner Kritik in der taz. Im Gegenteil:   Sprecher: In „Stella“ bleibt vom Wahrheitsanspruch schließlich nur ein entmoralisierter und sinnentleerter Klippschuldefätismus: „Das Leben formt uns zu Lügnern“, lautet Friedrichs dürftiges Resümee. Was auch immer er mit dem „Leben“ meint, was auch immer das Verb „formen“ hier ausdrücken soll, aber wenn sich in diesem Satz eine Lüge offenbart, steckt sie im gewissenlosen Geraune des Autors.   O-Ton 12 Carsten Otte: Dieser Roman ist ja durchsetzt mit zahlreichen Phrasen. Beispiel: "Ich weiß nicht, ob es falsch ist, einen Menschen zu verraten, um einen andern zu retten." Das kommt so an einer ganz gewichtigen Stelle und versucht im Grunde genommen Stella bzw. auch diesen Friedrich moralisch einzuordnen. Doch das ist überhaupt nicht die Frage, weder für den Roman und die Geschichte, noch für die NS-Zeit grundsätzlich. Natürlich ist es falsch, einen Menschen zu verraten, um was auch immer dann zu tun. Das ist eine Banalität, die als Phrase, als großes Pathos daherkommt. Und das nenne ich Kitsch.   Sprecherin: Holo-Kitsch! Der Begriff, der auch in der Stella-Debatte fiel, stammt von dem amerikanischen Cartoonisten Art Spiegelman, der in seinem „Maus“-Comic die Geschichte seines Vaters, eines Auschwitz-Überlebenden, auf einzigartige Weise erzählt hat.   Sprecher: „Jedes Jahr kommt ein neuer Hollywood Streifen heraus, der von der armen SS Frau handelt, die in ihrer Zelle in Nürnberg Lesen lernt, oder vom mutigen Schindler oder was auch immer (...) Es gibt eine starke sentimentale Ader, die sich durch all das zieht. Sie macht mich schaudern.“   O-Ton 13 Sascha Feuchert: Wenn ich mich richtig erinnere, hat Spiegelman das im Zusammenhang mit "Das Leben ist schön" von Roberto Benigni geprägt.   Sprecherin: Der Literaturwissenschaftler Sascha Feuchert ist Leiter der Arbeitsstelle für Holocaustliteratur an der Universität Gießen.   O-Ton 14 Sascha Feuchert: Ich glaube, was Spiegelman meint, ist, dass der Holocaust für etwas in Dienst genommen wird, also als eine Art überdramatische Kulisse für den eigentlichen Erzählgegenstand dient. Und das kann ich sehr gut nachvollziehen.   Sprecherin: Im Zusammenhang mit Takis Würgers Roman „Stella“ findet Sascha Feuchert den Vorwurf, es handele sich um Holo-Kitsch, jedoch für ebenso unberechtigt wie den, dass der Roman deutsche Schuld relativiere.   O-Ton 15 Sascha Feuchert: Dieser Roman erzählt von einer der vielen Handlungsfallen, die die Nationalsozialisten für die Opfer aufgestellt haben. Denn das ist die Alternative, vor der Stella steht: Kooperiere mit uns oder du bzw. deine Familie wird sterben. Insofern kann ich auch den Vorwurf, hier wird deutsche Schuld minimiert, weil man eine jüdische Figur sieht, die in dieser Handlungsfalle steckt, überhaupt nicht nachvollziehen.   Musik: Serie Holocaust (kurz, dann unter Sprecherin)   Sprecherin: Gegen melodramatische Elemente im Erzählen hat der Gießener Germanistikprofessor wenig einzuwenden, wenn sie dazu beitragen, aufklärende Debatten auszulösen, wie es beispielsweise bei der Erstausstrahlung der US-amerikanischen Serie „Holocaust“ geschehen ist.   O-Ton 16 Sascha Feuchert: Die hat nicht nur das Wort nach Deutschland gebracht 1979, sie hat einen gesellschaftlichen Diskurs in Gang gesetzt, den vorher Wissenschaft und Hochkultur nicht in diesem Umfang in Gang setzen konnten. Und gleichzeitig ist das eine, wenn Sie das mal mit dem Auge des Historikers betrachten, eine katastrophale Serie. Da sind so viele Fehler drin und auch so viele kitschige Momente. Und trotzdem hat sie etwas erreicht.   Sprecher: „Heute sind so viele Bücher und Filme vorhanden, dass die Welt der Lager ein Teil der gemeinsamen vorgestellten Welt ist, die die gemeinsame wirkliche vervollständigt.“   Sprecherin: Heißt es in Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“.   Sprecher: Die Phantasie kennt sich in ihr aus, und seit der Fernsehserie „Holocaust“ und Spielfilmen wie „Sophies Wahl“ und besonders „Schindlers Liste“ bewegt sie sich auch in ihr, nimmt nicht nur wahr, sondern ergänzt und schmückt aus.   Sprecherin: Auch „Der Vorleser“ hat als Buch und in der Verfilmung mit Kate Winslet ein Millionenpublikum erreicht und ist für dieses zu einem Teil der „gemeinsam vorgestellten Welt“ geworden.   O-Ton 17 Sigrid Löffler: Der Kitsch ist eigentlich immer stärker als die qualitätvolle Literatur. Und ich nehme an, dass die Kitschbilder in Filmen wie "Schindlers Liste" natürlich auch stärker sind und sich durchsetzen.   Sprecherin: Die Literaturkritikerin Sigrid Löffler kann Befürchtungen nachvollziehen, dass verklärte Bilder die Historie überlagern und künftige Generationen fiktive Mythen für die eigentliche Geschichte halten.   O-Ton 18 Sigrid Löffler: Es ist klar, dass der Holocaust auch emotionalisiert wird und mythologisiert wird und kommerzialisiert wird und verkitscht wird. Es gibt sauren Kitsch, und es gibt sentimentalen Rührkitsch, und es gibt Besinnungskitsch. Ich würde ja sagen, dass Bernhard Schlink Besinnungskitsch schreibt. Denn er meint es ja an sich moralisch ernst. Er kann's nur nicht.   Sprecher: Ich wollte Hannas Verbrechen zugleich verstehen und verurteilen. Aber es war dafür zu furchtbar (...) Beidem wollte ich mich stellen: dem Verstehen und dem Verurteilen. Aber beides ging nicht.   Musik: Das Literarische Quartett (unter Sprecherin)   Sprecherin: Als Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ 1995 erschien, bezeichnete Sigrid Löffler ihn in der ZDF-Sendung „Das Literarische Quartett“ als problematisch, ja „dubios“ wegen seiner Relativierungs- und Verharmlosungstendenzen.   O-Ton 19 Sigrid Löffler (Literarisches Quartett, 14.12. 1995): Jetzt würde ich doch meinen, dass dieser Fall, der hier referiert wird, das Abstruseste, Abartigste, Konstruierteste ist, das man sich überhaupt vorstellen kann. Analphabetismus ist schon mal ein Thema, das hier auch als eine Art Entschuldigung eingeführt wird, denn die Frau – es geht gar nicht so sehr um die Verbrechen, die sie als KZ-Aufseherin begangen hat, sie kann gar nicht mehr so schuld sein, weil ihr ein solches Unrecht in diesem Prozess passiert, also eigentlich ist die ganze Strategie des Romans eine der Relativierung von Schuld durch diesen Analphabetismus.   Atmo 1: Café Manzini (unter Sprecherin)   Sprecherin: Sigrid Löffler beobachtet in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren eine Art Paradigmenwechsel in der Literatur über den Holocaust. Nachdem Holocaust-Überlebende wie Primo Levi oder Jorge Semprún nicht mehr aus eigener Erfahrung von der beispiellosen Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten berichten könnten, entstehe nun eine Erinnerungsliteratur aus zweiter Hand.   O-Ton 20 Sigrid Löffler: Secondhand-Shoah-Literatur! Diese Nachgeborenen verfügen natürlich über die Freiheit, mit dem Holocaust als frei verhandelbarem und frei verfügbarem Stoff umzugehen. Und das tun sie natürlich auch, sie schreiben jetzt nicht mehr dokumentarische Literatur, sondern Doku-Fiction. Oder überhaupt Fiktion. Jetzt geht's halt um das Nachfühlen, um das Nachfühlen dessen, was die Opfer erlebt haben. Und die Literatur, die dabei entsteht, ist ganz unterschiedlich. Es kann hohe Literatur sein, es kann Kolportage sein, es kann Kommerzliteratur sein.   Sprecherin: Um Kommerz, Kitsch und Kolportage, zu denen Sigrid Löffler auch „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell und „Interessengebiet“ von Martin Amis zählt, macht sie einen großen Bogen. Die Grande Dame der Literaturkritik bevorzugt dagegen zum Beispiel den auf einer wahren Lebensgeschichte basierenden Roman „Daniel Stein“ von Ljudmilla Ulitzkaja oder „Oxenberg & Bernstein“, in dem der rumänische Autor C?t?lin Mihuleac das Pogrom in seiner Heimatstadt Iasi beschreibt. Neben literarischen gebe es auch moralische Anforderungen, denen ein Autor, der sich mit dem Holocaust auseinandersetzt, gewachsen sein müsse.   O-Ton 21 Sigrid Löffler: Also ich würde jederzeit als Literaturkritiker eine solche Anforderung an literarische Texte zum Thema Holocaust stellen. Aber mir ist natürlich gleichzeitig vollkommen klar, dass sehr viele Autoren nach ganz anderen Kriterien vorgehen. Da geht es um das Vermarktungsziel.   Musik (Trailer Stella Musical): („Keiner kann tanzen wie Stella ...“ (kurz dann unter Sprecherin)   Sprecherin: Auf dem Höhepunkt der Stella-Debatte erhob der Anwalt Karl Alich im Auftrag der Erben der publizistischen Persönlichkeitsrechte Stella Goldschlags schwere Vorwürfe gegen den Roman von Takis Würger und zugleich auch gegen das Musical an der Neuköllner Oper, das dort bereits seit über zwei Jahren lief. Wegen „unerträglichen Banalisierungen“ des Lebensschicksals Stella Goldschlags verlangte er vom Hanser Verlag Schwärzungen beanstandeter Passagen und von der Neuköllner Oper die Absetzung der Inszenierung.   Sprecher: „Literaturkritik und Feuilletons urteilen bisweilen weit entfernt von der Meinung der Leserschaft und der BuchhändlerInnen, das ist nichts Neues.“   Sprecherin: Kurz vor der Leipziger Buchmesse mischten sich auch Buchhändler mit einem offenen Brief in die Debatte um Würgers Roman ein.   Sprecher: Der entscheidende Unterschied zu früheren Debatten ist, dass die Kritiker für sich beanspruchen, die Lufthoheit darüber zu haben, wie über die Zeit des Nationalsozialismus geschrieben werden darf.   O-Ton 22 Jörg Braunsdorf: Ich hab das Buch so gelesen, dass es sehr gut nachvollziehbar wird, wenn man es liest, wie aus einem Opfer eine Täterin wird.   Sprecherin: Jörg Braunsdorf ist Inhaber der Tucholsky-Buchhandlung in Berlin Mitte. Er fand die scharfe Kritik an dem Buch deutlich überzogen und hat er den offenen Brief seiner Kollegen unterschrieben, mit dem diese sich „explizit an die Seite des Autors Takis Würger und des Hanser Verlages“ stellen, wie es heißt.   O-Ton 23 Jörg Braunsdorf: Die Reaktionen der Leserinnen und Leser bei uns in der Buchhandlung sind bis jetzt sehr unaufgeregt. Die sagen: Ja, das ist ’n Unterhaltungsroman, aber der hat mir ’ne Geschichte näher gebracht, die ich so noch nicht kannte, die bei uns hier im Kiez auch sehr wichtig ist, weil das alles hier stattgefunden hat. Und hat auch wirklich noch mal etwas hervorgerufen, das für jüngere Generationen auch ’ne wichtige Geschichte sein kann.   Sprecher: Die Brandrodungskritiken zu 'Stella' sind so tiefgreifend und persönlich diskreditierend, dass daraus die Gefahr entsteht, dass sich die Generation der Nachgeborenen kaum mehr schreibend an die Themen Nationalsozialismus und Shoah herantrauen wird.   O-Ton 24 Peter Graf: Es geht weniger darum, einen Autor zu schützen, wenn er sich eines solchen Themas annimmt, nur weil er jung ist. Es ist der Text, der zur Diskussion steht. Und wenn man sich dem Thema nicht gewachsen zeigt, dann ist das halt so.   Sprecherin: Literarische Qualität ist für den Verleger und Herausgeber Peter Graf das entscheidende Kriterium für jeden literarischen Text. Bücher wie das von Takis Würger seien nicht damit zu rechtfertigen, dass sie sich einem wichtigen Thema widmeten. Mit dem Verlag „Das kulturelle Gedächtnis“ und der Wiederentdeckung und Herausgabe von vergessenen Büchern versucht Peter Graf seinerseits eine Brücke in die Vergangenheit schlagen.   O-Ton 25 Peter Graf: Natürlich ist der Völkermord an den Juden, die ganze Geschichte des Nationalsozialismus besonders wichtig für die Erinnerungskultur und auch für bestimmte Entwicklungen, die heute in Deutschland wieder zu verzeichnen sind. Und es ist natürlich der Anspruch bei den Büchern, die ich oder die ich gemeinsam mit meinen Mitverlegern beim „kulturellen Gedächtnis“ zu diesen Themen verlege, dass die halt ’ne gewisse literarische Qualität haben und vielleicht bestimmte Aspekte einem aufzeigen, die so nicht schon unendlich oft behandelt worden sind.   Sprecherin: Im vergangenen Jahr gab Peter Graf den Roman „Der Reisende“ des jüdischen Autors Ulrich Alexander Boschwitz heraus – die erste literarische Auseinandersetzung mit den Novemberpogromen von 1938. Es ist die Geschichte des jüdischen Kaufmanns Otto Silbermann, der sich auf der Flucht vor den Nazis auf eine lange Zugreise quer durch Deutschland begibt.   Atmo 2: Zug   Sprecher: „Wohin soll ich denn überhaupt fahren? ... Nun bin ich frei geblieben, habe einen Teil meines Vermögens behalten, und trotzdem weiß ich mir nicht zu helfen. Ich bin trotz allem gefangen. Für einen Juden ist eben das ganze Reich ein erweitertes Konzentrationslager.“   O-Ton 26 Peter Graf: Natürlich konnte der Roman "Der Reisende" nur so geschrieben werden zu der Zeit, als er geschrieben wurde, nämlich eben nicht mit dem Wissen der Geschichte bis ’45, sondern er ist entstanden unmittelbar nach den Novemberpogromen in wenigen Wochen. (...) Also es hat so was Atemloses, fast Filmisches. Auf der anderen Seite hat man diese beiden Erzählebenen, wo das Zugabteil einmal zur Bühne der inneren Monologe wird des Otto Silbermann, des Verfolgten. Und auf der anderen Seite begegnet man den Archetypen der Zeit im Gespräch - anderen Flüchtlingen, Nazis und eben empathischen Menschen wie dieser Frau in dieser einen Szene.   Musik:   Sprecher: „„Warum lassen sich die Juden eigentlich alles gefallen?“, fragte sie ernst- „Ich meine, warum wehren sie sich nicht? Warum fliehen sie nur?“ „Wenn wir Romantiker wären“, entgegnete er stolz auf seine Vernunft, „dann hätten wir die letzten zweitausend Jahre schwerlich überlebt. (...) Denken Sie einmal, sie wären ein Jude, ein immerhin noch vermögender Jude – auf der Flucht. Was würden Sie tun?“ „Also, ich würde mich offen gestanden herrlich amüsieren“, versicherte sie strahlend. „Ich würde einfach anfangen, so zu leben, als wäre jeder Tag der letzte, und jeder Tag würde für mich mehr sein als allen anderen ein ganzes Jahr. Ich würde – aber Sie lachen mich ja aus. Warum lachen Sie?“   O-Ton 27 Peter Graf: Das ist natürlich eigentlich ’ne große Dummheit, so was zu sagen, ’ne große Naivität, die deutlich macht, dass da ein Mensch noch gar nicht begriffen hat, was da eigentlich gerade um ihn herum passiert. Und deshalb ist auch diese Figur nur Ende ’38 als Figur literarisch schaffbar und nicht 1945, weil eben auch sie das Ende der Geschichte nicht kennt. Sprecherin: Der Roman „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz ist eine von jenen wichtigen Wiederentdeckungen, durch die die beklemmende Lebenswirklichkeit der Menschen in jenen Jahren, ihr Überlebenskampf, ihre Ängste und ihre Hoffnungen nachempfindbar werden. Ein großer Glücksfall, gerade in Zeiten, in denen kaum noch neue authentischen Zeugnisse Holocaust-Überlebender zu erwarten sind, findet auch der Leiter der Arbeitsstelle für Holocaustliteratur Sascha Feuchert.   O-Ton 28 Sascha Feuchert: Ich halte das für ganz großartig. Solche Diskussionen über Literatur können genau diese Folge haben. Dass wir uns noch mal mit dem Thema beschäftigen, dass Wiederentdeckungen möglich sind, dass wir uns noch mal über die Angemessenheit von Darstellungen auseinandersetzen.   Musik (Trailer Stella-Musical): Stella, Stella ...   O-Ton 29 Takis Würger (Blaues Sofa): Man kann sehr gut Schriftsteller sein in Deutschland und sich nicht für den deutschen Kulturbetrieb interessieren. Also nicht für die Kritiker. Es ist unmöglich, Schriftsteller zu sein in diesem Land, wenn man den Buchhandel nicht hat ... (ab hier unter Sprecherin)   Sprecherin: Auf der Leipziger Buchmesse äußerte sich Takis Würger öffentlich zu der Kritik, die ihm in den Wochen zuvor entgegengeschlagen war. Der Moderator war mit ihm per Du, und das Publikum spendete reichlich Applaus, als wollte es – wie zuvor die Buchhändler – seine Solidarität mit dem Autor bekunden.   O-Ton 30 Moderator/ Takis Würger: (Applaus) Moderator: Hast du für dich aus dieser Debatte etwas gelernt, auch für den weiteren literarischen Weg? Würger: Das ist ’ne interessante Frage ... Also es wurde zum Beispiel regelmäßig kritisiert, dass meine Sätze so kurz sind. Ich hab jetzt nicht vor, in Zukunft lange Sätze zu schreiben. (Applaus)   Musik: Kurz, dann unter Sprecherin   Sprecherin: Auch wenn die Debatte um seinen Roman „Stella“ Takis Würger nicht zu der Einsicht verholfen hat, dass verschiedene Stoffe auch unterschiedliche Stilmittel von einem Schriftsteller verlangen, hat sie doch deutlich gemacht, dass es ästhetische und ethische Maßstäbe gibt, die eingefordert werden, wenn es um ein so bedeutsames Thema wie den Holocaust geht. Sprecher: "Vergessen verlängert das Exil; Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung."   Sprecherin: So lautet der Kernsatz jüdischen Denkens in Yad Vashem, der Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem. Wie sich die Nachgeborenen diesen Satz zueigen machen, habe man nicht in der Hand, meint Sigrid Löffler. Immerhin ist durch den Rummel um Takis Würgers Roman das lange vergriffene Buch von Peter Wyden über Stella Goldschlag wieder neu aufgelegt worden.