Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 16. August 2014 – 11.05 – 12.00 Uhr Frankreichs atomares Credo – Der Streit um das geplante Endlager in Lothringen Mit Reportagen von Suzanne Krause Musikauswahl: Babette Michel Redakteur am Mikrofon: Norbert Weber Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar - Opening: (Stimmen) Musik Opener 1 Irgendwann später dann wird radioaktive Strahlung auftreten, da bin ich mir sicher. Schließlich sollen hier mal die gefährlichsten Atomabfälle entsorgt werden. Hier zu leben bedeutet also auch, sich vorzustellen, dass eines Tages hier keiner mehr leben können wird. Der geplante Bau eines atomaren Endlagers spaltet die Menschen in der lothringischen Provinz. Die einen befürchten den Super-GAU, andere, die durch das Projekt einen Job gefunden haben, sehen es eher pragmatisch. Opener 2 Es ist eine Arbeit wie jede andere. Hauptsache, ich verdiene meinen Lebensunterhalt. Ich habe das Glück, einen Job quasi vor der Haustür zu haben. Gesichter Europas: Frankreichs atomares Credo – Der Streit um das geplante Endlager in Lothringen Eine Sendung mit Reportagen von Suzanne Krause. Am Mikrofon begrüßt Sie Norbert Weber. Musik Schon Mitte der 1980iger Jahre versuchte Frankreich die atomare Entsorgungsfrage zu klären: mit einem Endlager für den hoch strahlenden Müll. Doch sobald ein potentieller Standort publik wurde, gingen dort Umweltschützer auf die Straße, kippten Bauern ihrem Präfekten Gülle vor den Amtssitz. Nachdem die damalige sozialistische Regierung 1989 ein Moratorium erlassen hatte, verabschiedete das französische Parlament zwei Jahre später ein Gesetz zur Endlagerung– eine Premiere in der französischen Atompolitik. 2006 wurde die geologische Entsorgung gesetzlich verankert. Die Tonstein-Schicht im lothringischen Hinterland, 160 Millionen Jahre alt, gilt seither als geeigneter Standort. Vor 15 Jahren hat die staatliche Agentur für Atommüllverwaltung ANDRA hier begonnen, ein unterirdisches Forschungslabor einzurichten. Für Cigéo, so der Name des geplanten industriellen atomaren Endlagers. Einhundert Jahre lang soll der eingelagerte Atommüll rückholbar sein. Danach wird versiegelt – für eine Million Jahre. ATMO Schafe Jean-Pierre Remmele lebt sieben Kilometer entfernt von dem atomaren Projekt, in Bonnet, einem Nachbarort von Bure. 220 Einwohner zählt das Dorf. Der wichtigste Arbeitgeber ist die Bäckerei mit ihren dreizehn Angestellten; sie beliefert mit rollenden Verkaufsständen die Bewohner dieser entlegenen Gegend. Remmele hat sein ganzes Leben in Bonnet verbracht; als junger Mann übernahm er den Hof seiner Eltern und war später als Lokalpolitiker aktiv. Reportage 1 Der letzte Hof am Dorfrand von Bonnet ist das Zuhause von Jean-Pierre Remmele. Ein stattlich wirkendes Anwesen aus dem 18. Jahrhundert: das Haupthaus aus Stein, links eine Scheune, rechts weiträumige Stallungen. Der asphaltierte Vorplatz ist fein säuberlich gekehrt. Remmeles Großeltern haben das Anwesen 1947 gekauft, zwei Jahre später kam er hier zur Welt. Nur während der Militärzeit hat der Landwirt seinen Geburtsort für kurze Zeit verlassen. Wie jeden Abend ist der kräftig gebaute Mann unterwegs zur Schafweide schräg gegenüber, hinterm Karpfenteich. Sein Blick schweift über die hügelige Landschaft, die Stoppelfelder, den wogenden Mais; das feine Lächeln spricht von Remmeles Stolz auf seine Heimat. Ich habe ein glückliches Leben hier. Und das seit 65 Jahren. Aber dennoch: wenn ich noch einmal von vorne anfangen könnte, würde ich nicht alles wieder genauso machen. Schafzüchter war Remmele und nebenher Getreidebauer. Heute sagt er: hätte er es andersherum gemacht, mehr Anbau, weniger Zucht, dann wäre sein Leben leichter gewesen. Doch auch in der Rente kann er sich nicht von den Tieren trennen: die Zucht läge ihm einfach im Blut. Er zuckt kurz mit den Schultern. So geht der 65-Jährige seiner Frau zur Hand, die den Hof weiter betreibt. Jean-Pierre Remmele öffnet routiniert das Gatter zur Schafweide. Die Tiere stieben los, über die Landstraße Richtung Hof. Ihr Besitzer schaut ihnen hinterher, seine blauen Augen blitzen schelmisch. Wenn mein Großvater das jetzt sehen würde, wäre er unglücklich. Ein Schafhirte, der geht seiner Herde voran, mit Hut und Hirtenstab. Der zottelt nicht hinterher. Wir sind ja schließlich keine Schweinehändler. Die Schafe weiden schon das Gras neben dem Stall ab, als Remmele schnaufend ankommt. Zwei Herzoperationen hat er hinter sich. Trotzdem zündet er sich nun eine Zigarette an und schaut mit stiller Freude auf die Herde. Ein allabendliches Ritual. Ein Ruhepol in Remmeles Leben. Neben dem arbeitsreichen Hofalltag hat der umtriebige Mann auch 19 Jahre als Bürgermeister die Dorf-Geschicke gelenkt, hat viel getan, die lokalen Heimatschätze wie die mittelalterliche Pilger-Kirche oder auch die drei Waschhäuser zu erhalten. Und Jean-Pierre Remmele hat ebenso gegen die Ansiedlung des atomaren Endlagers Cigéo auf dem Gemeindegrund gekämpft. Bei der letzten Kommunalwahl machte ein Konkurrent das Rennen. An seinem Widerstand gegen Cigéo ändert das nichts. Jean-Pierre Remmele hat die Schafe in den Stall getrieben und sein Auto, ein schicker Mittelklassewagen, aus der Scheune geholt. Heute Abend findet im Nachbardorf Bure eine Versammlung zum Atomendlager-Projekt statt. Unterwegs auf der Landstraße weist er mit einer Hand durch die Windschutzscheibe: links vorne, auf einem weiträumigen Plateau, hat die staatliche Agentur für Atommüllverwaltung ANDRA ihren Stützpunkt für die Endlagersuche eingerichtet. Aus der Ferne zu sehen sind mächtige rechteckige Bauten. Darunter, in 500 Metern Tiefe, wurde vor zehn Jahren ein Forschungslabor in Betrieb genommen. Rundum zieht sich ein mehrere Meter hoher fester Drahtzaun. Sperrgebiet. Inmitten wogender, weiträumiger Felder. Rechts neben der Landstraße ragen zwei Dutzend Windräder in den blauen Himmel. Finanziert vom üppig bestückten Strukturförderungsprogramm, das die Regierung gleichzeitig mit dem atomaren Endlager-Projekt auflegte. Jean-Pierre Remmele verzieht seinen Mund zu einem spöttischen Grinsen. Die Windräder stehen schon – vielleicht, damit sie demnächst radioaktive Gase verwirbeln. Den Galgenhumor hat sich Remmele in den vergangenen zwanzig Jahren angeeignet. Seit die ANDRA begann in der Region für das Atomendlager zu werben. Er erinnert sich noch daran, wie er damals als blutjunger Anfänger den Alltag als Bürgermeister gestaltete: Kontakte aufbauen, Subventionen nachjagen. Da machte man ihm von der ANDRA viele Hilfsversprechen. Leere Versprechen, sagt Remmele heute, sein Gesicht versteinert sich, der Blick wird grimmig. Ich erzähle Ihnen mal ein Beispiel: beim Amtsantritt habe ich beschlossen, am Dorfrand einen Spielplatz zu errichten. Als mal wieder ein Vertreter der ANDRA im Rathaus vorbei kam, erzählte ich davon und er sagte, ich solle ihm doch einen Subventionsantrag stellen. Meine Sekretärin war dagegen sich mit der ANDRA zusammenzutun. Aber ich meinte: probieren wir es doch einfach mal. Langer Rede kurzer Sinn: eineinhalb Jahre später habe ich die Bauarbeiten anders finanzieren können, mein Subventionsantrag war einfach versandet. Bei einem Fest im Nachbarort lief mir der Sohn eines dortigen Gemeinderatsmitglieds über den Weg. Ich lud ihn zur Spielplatz- Einweihung einige Tage später ein. Und da rutschte ihm heraus: ach, das Projekt, das die ANDRA finanziert hat! Sehen Sie, damals merkten die Leute, dass ich angesichts des Verhaltens der ANDRA nach und nach zum Gegner des Endlager-Projekts wurde. Und da setzte jemand das Gerücht in Umlauf, wir hätten dennoch insgeheim unseren Neubau mit Geldern von der ANDRA finanziert. Jean-Pierre Remmele hat angehalten und ist einen Hügel hochgeklettert. Mit ausgestrecktem Arm weist er im Halbkreis um sich: die geplante unterirdische Endlagerstätte solle sich mal von hier bis dort ausdehnen. Der Mittsechziger ereifert sich, wenn er die Aktionen auflistet, die er mit anderen Cigéo-Gegnern organisierte. Sie veranstalteten Diskussionsabende mit einem Forscher, der wissenschaftliche Studien im havarierten japanischen Atomkraftwerk Fukushima durchführte. Mit ehemaligen Soldaten, die bei den französischen Atomtests verstrahlt wurden. Und sie zeigten atomkritische Dokumentarfilme. Remmeles Hände wedeln durch die Luft, sein blasses Gesicht wird rot vor unterdrücktem Zorn. Zu den Veranstaltungen kamen jeweils 50 bis hundert Besucher. Vier Fünftel von ihnen waren überzeugte Gegner. Viele hier wollen sich einfach nicht äußern. Und, wissen Sie: die ANDRA, die steht ja für den Staat! Da handelt es sich ja immerhin um Leute in Anzug und Krawatte, mit Aktenkoffer unterm Arm. Remmele kehrt der ANDRA-Anlage den Rücken zu und zündet sich erneut eine Zigarette an. Vor Beginn der heutigen Versammlung genießt er noch in vollen Zügen den Panorama-Blick über seine Heimat. Musik Die Marne ist zwar nicht der längste Fluss Frankreichs, aber mit gut 500 Kilometern, ein stattlicher Nebenfluss der Seine. Immerhin drei Départements, die sie durchfließt, tragen ihren Namen: Seine et Marne, Marne und Haute-Marne am Oberlauf. In dieser Region ist das atomare Endlager geplant. Der Journalist und Buchautor Jean-Paul Kauffmann war vor zwei Jahren in dieser Region auf Entdeckungsreise. Sieben Wochen lang ging er zu Fuß „Die Marne aufwärts“, wie auch sein preisgekrönter Reisebericht betitelt ist. Dabei hat er das Alltagsleben beobachtet und beschrieben. Eines Abends in einem Hotel in Joinville, 15 Kilometer von Bure entfernt, kommt Jean-Paul Kauffmann mit einem jungen Mann ins Gespräch. Musik Lit 1 Ich glaubte zu verstehen, er sei „Experte“. Heutzutage ist jedermann Experte oder Berater. Steuer-Experte, Immobilienberater? Jedenfalls: er war erschüttert von dem, was er hier sah. „Ich reise viel landauf, landab. Ich kann Ihnen sagen, dass es sich bei dem hiesigen Département um das am wenigsten beachtete in ganz Frankreich handelt.“ Ich bat ihn, präziser zu sein. „Ja, es ist heil, unbeschädigt. Ach, das haben die Bewohner nicht absichtlich gemacht. Man hat sie wirklich einfach fallenlassen. Es gibt Ecken wie das Lozère oder das Cantal, die niemals im Überfluss schwammen. Hier hingegen spürt man, dass es früher lebendig war, geldig. Unglaublich, was hier alles ausgelöscht wurde. Welcher Friede! Die Leute, die ein Wochenendhaus suchen, sind dumm. In der Haute-Marne müssten sie auf die Suche gehen. Super Häuser. Alles wird verscherbelt.“ Musik Die nationale Agentur für die Atommüllverwaltung ANDRA wurde 1973 beim staatlichen Kommissariat für Atomenergie gegründet. Seit 1991 ist die Einrichtung unabhängig und untersteht den Ministerien für Forschung, für Industrie und für die Umwelt. Ihr deutsches Pendant ist die DBE, die deutsche Gesellschaft für den Bau und Betrieb von Endlagern für Abfallstoffe. Die ANDRA betreibt in Frankreich bereits schon mehrere Atomendlager – für Abfälle, die weder hoch strahlend sind, noch lange Halbwertszeiten haben. Zu ihrem Auftrag gehört nicht nur die atomare Entsorgung sondern gleichfalls auch, die Öffentlichkeit über ihre Aktivitäten zu informieren. In Sichtweite der unterirdischen Forschungsanlage bei Bure hat die ANDRA vor einigen Jahren ein schickes weiträumiges Besucherzentrum eröffnet, wo sie dem breiten Publikum detailliert die Endlagertechnik präsentiert. ATMO Martin Dort im ersten Stock hat auch Marc-Antoine Martin sein Büro. Er ist einer von vierhundert ANDRA-Mitarbeitern in Bure. Martin steht regelmäßig an vorderster Front, denn er ist Pressesprecher des Unternehmens. Reportage 2 Am Getränkestand in einer Foyer-Nische hat sich Marc-Antoine Martin eine Tasse Kaffee eingeschenkt und ist damit vor die Tür getreten, wo im Grünen schicke Holztische stehen. Kerzengerade sitzt er nun vor seinem Kaffee. Der große schmale 40-Jährige im karierten Sommerhemd wirkt unauffällig, doch sein Blick hinter der Hornbrille ist hellwach. Seit 2001 ist der Lothringer im hiesigen ANDRA-Stützpunkt in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit tätig, verfasst Hochglanzbroschüren zum atomaren Endlagerprojekt, betreut Journalisten. Sein Mund wird spitz, wie immer, wenn er nachdenkt. Ich habe an der Universität von Nancy Geologie studiert. An einem Wochenende zuhause bei meinen Eltern las ich in der Zeitung vom Projekt einer atomaren Müllkippe, die in unserem Département Meuse geplant sei. Das war 1994. Natürlich habe ich mir da einige Fragen gestellt und gleich bei meinen Professoren nachgehakt. Damals war die Erinnerung noch sehr wach an einen Skandal: bei uns waren deutsche Krankenhaus-Abfälle einfach wild entsorgt worden. Und nun kündigte die ANDRA ihr Atomendlager an. Uns schien, als wolle man unseren ländlichen Raum in eine gigantische Müllkippe verwandeln, sei es für französische oder für deutsche Abfälle. Über meine Professoren habe ich dann einen Platz in einem Workshop der ANDRA ergattern können; ich wollte mir einen besseren Einblick in deren Projekt verschaffen. Im Sommer 1996 habe ich dann an einer Broschüre gearbeitet, die der Bevölkerung die geologischen Eigenheiten unserer Region erklären sollte. Marc-Antoine Martin trinkt einen Schluck Kaffee. Nach dem Studium hat er als Ingenieur in einer Uranmine in Afrika gearbeitet. Wieder daheim, sattelte er um auf Wissenschaftsjournalist. Auf Rat eines Bekannten bewarb er sich erfolgreich bei der ANDRA. Was Martin am Endlagerprojekt fasziniert, ist nicht nur die wissenschaftliche Seite, sondern auch die Aufgabe, die Bevölkerung von der Sicherheit der Anlage zu überzeugen. Der Pressesprecher reibt sich kurz das Kinn. Zum Alltag für mich und meine Kollegen gehört es, Besuchergruppen zu empfangen. Am Wochenende bieten wir kostenlose Besichtigungen für das breite Publikum an.[Das ist uns sehr wichtig und die Besucher sollen alle Fragen stellen können, die ihnen einfallen. Damit sie fundierte Antworten erhalten, arbeiten in der Pressestelle nur Leute mit wissenschaftlicher Ausbildung. Das Thema ist ziemlich kompliziert: es geht um tiefe Erdschichten, um Radioaktivität, es geht um sehr lange Zeiträume. Und all unsere Erklärungen müssen allgemeinverständlich aufbereitet sein. Hinter der Glasfassade im Foyer steht ein Modellbau der geplanten unterirdischen Entsorgungsanlage, in Wandnischen laufen stumm Videos zu Stollen-Bau und Einlagertechnik. Eine Gruppe Japaner in dunklen Anzügen ist gerade auf Besuch: Politiker, darunter einige Minister, auf Informationsreise durch die europäischen Endlagerprojekte. Solch offiziellen Besuch, aus aller Herren Länder, empfängt die ANDRA regelmäßig, sagt Marc-Antoine Martin. Er trägt die leere Kaffeetasse zurück zum Stand und folgt den Japanern in den Veranstaltungssaal, wo sie in die französische Endlagertechnik eingeführt werden. Alles läuft problemlos, Martin kann unbesorgt zum Mittagessen gehen. Die Kantine liegt im Erdgeschoss des Hotels, das die benachbarte Gemeinde Bure im vergangenen Jahr erbauen ließ – mit Geldern aus dem regionalen Strukturförderungsprogramm. Mittags sitzen hier die Angestellten der ANDRA neben Essensgästen aus dem Umkreis. Martin reiht sich in die lange Schlange an der Essensausgabe ein, grüßt Kopf nickend einige Bekannte, checkt routiniert sein Handy auf Nachrichten und scherzt mit der Bedienung, die ihm Tintenfischringe mit Gnocchi auf den Teller hievt. Dann setzt er sich an einen Tisch am Fenster. Der Ausblick hat etwas Monotones: endlose Felder, am Horizont dunkle Wälder, dazwischen Windräder. Martin schaut gar nicht mehr richtig hin, so vertraut ist ihm die Gegend. Mal wieder spitzt er seine Lippen. Als ich bei der ANDRA anfing, haben meine schwangere Frau und ich uns in einem kleinen Dorf fünf Kilometer entfernt von hier niedergelassen. Wir sind herzlich aufgenommen worden und haben dort gute Freunde gefunden. Vier Jahre haben wir da gelebt, aber meine Frau fand keine Arbeit und als das zweite Kind da war, wurde der Alltag zu kompliziert - Arzt und Apotheke waren weit weg, für die Kinder gab es keine Freizeitangebote. So sind wir dann umgezogen, in eine Kleinstadt, 43 Kilometer entfernt von hier. Dort gibt es eine Musikschule, Sportkurse, alle Schulen. Ich kenne die Stadt gut, denn ich bin da aufgewachsen. Meine Eltern wohnen in der Nähe und passen immer wieder auf unsere nunmehr drei Kinder auf. Etwas lustlos stochert der Vierzigjährige im zu trockenen Tintenfisch herum. Dann aber fuchtelt er mit der Gabel durch die Luft und erzählt mit viel Elan, dass er früher im Dorf im Gemeinderat saß, im dortigen Theaterverein mitspielte. In der Kleinstadt, wo er nun lebt, war er gar stellvertretender Bürgermeister. Martins Augen blitzen. Eine ganze Reihe von Kollegen lebt in den Dörfern im Umkreis und viele engagieren sich als Gemeinderäte. Soweit ich weiß, ist niemand im Ort von den Leuten geschnitten worden, weil er bei der ANDRA arbeitet. Aber immer wieder höre ich vonseiten meiner Kollegen dieselbe Klage. Sie würden am Wochenende gerne mal über etwas anderes sprechen als über ihren Job und das Endlagerprojekt. Doch regelmäßig werden ihnen flachsige Fragen gestellt wie: ach, du bist sicher verstrahlt, nicht wahr? Schimmerst du nachts grünlich? Oder auch: hat dich der Krebs schon erwischt? Solche Provokationen hören wir häufig. Und dann wird jedes Mal wild diskutiert. Anderen, Lehrern beispielsweise, geht es wahrscheinlich auch so, dass sie immer wieder auf ihren Beruf angesprochen werden. Dennoch: wir Angestellten der ANDRA gelten hier überall als Vertreter unseres Unternehmens. Kollegen, die in größeren Städte wohnen, haben dieses Problem nicht: sie gehen in der dortigen Anonymität unter. Mit einem kleinen Seufzer legt Marc-Antoine Martin die Gabel hin und zieht fast unmerklich den Kopf zwischen die Schultern. Zu seinem Alltag gehöre auch, sich keinen Fehler zu erlauben. Die Augen der ganzen Welt seien auf das Endlagerprojekt in der lothringischen Pampa gerichtet, ist sich der Pressesprecher sicher. Dann lacht er kurz auf und meint: schlimmstenfalls setze er irgendwann Segel und erfülle sich seinen Jugendtraum von einer Weltreise. Musik Für ANDRA, die nationale Agentur für die Entsorgung radioaktiver Abfälle, ist das Cigéo-Projekt in Bure mit Abstand das wichtigste und umfangreichste. Um es nicht zu gefährden hat die Regierung in Paris ein umfangreiches Strukturförderungsprogramm für die Region aufgelegt. Heute fließen jährlich rund 30 Millionen Euro in jedes der beiden Départements Meuse und Haute-Marne. Und es gibt Versprechungen, dass für die mehrjährige Bauphase der Endlager-Anlage bis zu 2.000 Arbeitsplätze geschaffen werden sollen. Cigéo-Gegner sprechen hingegen von Gewissenskauf. ATMO Foucault Arnault Foucault ist seit 15 Jahren für die unterirdische Forschungsanlage tätig, als Bauarbeiter bei Subunternehmen der ANDRA. Dort arbeitet er Seite an Seite mit Wissenschaftlern und Spezialisten aus dem In – und Ausland, die mit Spitzentechnologie zur Endlagertechnik forschen, während er den Stollen-Ausbau vorantreibt. Zu Foucaults Arbeitsteam zählen 6 Männer, zwei von ihnen stammen aus der Gegend, darunter er: Foucault lebt am Ortsrand von Montreuil, fünf Autominuten entfernt. Im Schichtdienst fährt er fünf Tage in der Woche ein, in den Bauch der Erde. Reportage 3 Beim Lagerverwalter vor dem Schacht haben die Bauarbeiter ihre Sicherheitsausrüstung abgeholt: eine Stahlschatulle, zwei Kilo schwer, an einem breiten Ledergürtel. Sie enthält Atemschutzmaske und Schutzbrille, für den Brandfall. Nacheinander durchqueren die Männer nun das Drehkreuz vor dem Aufzug. Vorbei an einer bunten Statue von Sankt Barbara, der Schutzheiligen der Bergleute, fahren die Arbeiter in den Schacht ein. Rund zehn Minuten werden sie unterwegs sein, um an ihren Arbeitsplatz in 490 Meter Tiefe zu kommen. Der stählerne Käfig ruckelt und lärmt, die Luft wird wärmer und stickiger. Für Arnauld Foucault und seine Kollegen ist das reine Routine. Breitbeinig steht der kleine drahtige 42-Jährige im Aufzug. 1999 ist er erstmals eingefahren, hat seither mehrmals die Firma gewechselt, aber nicht die Baustelle. Für das geplante Endlager interessiert er sich auch über seinen Job hinaus. Arnauld Foucault verschränkt die Arme vor der Brust. Ich saß früher im Gemeinderat und auch im CLIS, dem lokalen Informationskomitee des Atomendlagers. Mit dem CLIS war ich schon in Schweden, um das dortige Endlagerprojekt zu inspizieren. Eine schöne Anlage. Zudem haben wir vom Informationskomitee schon alle Atommüllstätten in Frankreich abgeklappert. Somit kenne ich mich hier aus. Viele in der Gegend denken, hier würde schon Atommüll gelagert. Dabei ist das nur ein Forschungslabor. Der Aufzug ist angekommen in 490 Meter Tiefe, inmitten einer dicken Tonstein-Schicht. Die Tür öffnet sich. Neonlampen beleuchten einen röhrenförmigen hohen Gang und die Felswände, die mit Spritzbeton überzogen sind. Unter der Decke laufen dicke Kabelstränge entlang. Eineinhalb Kilometer Stollen wurden bislang in den Fels getrieben; vom Hauptgang zweigen mehrere Galerien ab; dort erforschen die Wissenschaftler die Felsschicht. Die Belüftungsanlage rauscht ohrenbetäubend, es riecht nach Staub. Es wirkt beklemmend. Arnauld Foucault wird heute Geröll abfahren. Sein Berufsleben begann er in der Chemie-Industrie. Als dort die Jobs wegbrachen, fand er Arbeit hier beim Bau des unterirdischen Forschungslabors. Weltweit gilt die Anlage als Vorzeigeprojekt. Arnault kramt sichtlich unbeeindruckt die Ohrstöpsel aus seinem Blaumann. Warum sollte ich stolz auf meinen Job sein? Es ist eine Arbeit wie jede andere. Hauptsache, ich verdiene meinen Lebensunterhalt. Ich habe das Glück, einen Job quasi vor der Haustür zu haben. Sollte die Baustelle morgen dichtmachen, müsste ich halt woanders unterkommen. Da würde mein Leben allerdings schwieriger werden, denn ich habe den Hof von meiner Mutter übernommen und noch zehn Jahre Schulden abzustottern. Ich hoffe, aufzusteigen und einen leichteren Job zu ergattern. Der Bauarbeiter klemmt sich hinter das Lenkrad eines Mini-Baggers und gibt Gas. Runde um Runde wird er in den kommenden acht Stunden drehen, den Blick stur nach vorne gerichtet, Schweißperlen auf der Stirn. Atmo Bauernhof Arnault Foucault ist von der Arbeit zurück auf seinem Bauernhof. Nun steht er im Kuhstall und schippt schwungvoll Mais in die Futtertröge, für das Dutzend Holsteiner, dass er seit Frühjahr mästet. Der Hof mit seinen 90 Hektar Land ist seit mehreren Generationen im Familienbesitz. Vor langer langer Zeit wurde hier parzellenweise Erz abgebaut, davon zeugen heute noch zahllose tiefe Löcher im Erdreich. Das Hofanwesen wirkt eher heruntergekommen, ein bescheidenes Wohnhaus, gegenüber aneinandergereiht Stallungen und Scheune. Arnault Foucault stemmt die hohe Schiebetür zur Scheune auf. Seit vier Monaten hat es nicht mehr geregnet, sagt er und zeigt auf die Landschaft rings um seinen Hof. Der Ausblick ist atemberaubend: das Gehöft liegt auf einem vierhundert Meter hohen Berg, zu dessen Füßen breiten sich bis zum Horizont dichte Wälder aus. Die Gegend hier rund um Bure, das ist alles tiefes Land. Die Dörfer haben siebzig, hundert Einwohner. Deshalb wollte der Staat wohl das atomare Endlager hier ansiedeln, der Ort ist weit weg von den Städten, abseits von allem. Die Bevölkerung hier ist überwiegend skeptisch. Schließlich geht es um sehr hoch radioaktive Abfälle. Sie haben uns versichert, dass alles ganz sicher ist und so... Die EU-Bestimmungen geben zwar vor, Atommüll unterirdisch zu entsorgen. Und falls ein Fass undicht werden sollte, soll es zurückgeholt und neu versiegelt werden. So heißt es jedenfalls offiziell. Ich glaube eher, das bleibt dann im Stollen - auf ewig. Der Landwirt starrt in die Ferne, die Lippen fest zusammengekniffen. Die Menschen in den Dörfern seien verunsichert, sie wüssten nicht so recht, was sie von dem Atomendlager-Projekt halten sollen. Was soll man schon machen gegen eine staatliche Entscheidung, sagt er und kaut kurz an seiner Unterlippe. Dass die ANDRA hier seit zwanzig Jahren die atomare Endlagerung erforscht, das hat unser Alltagsleben nicht verändert. Wenn der Entsorgungsbetrieb aufmacht, muss sie halt das Ganze richtig verwalten. Hoffen wir mal, dass dann nicht die Grundstückspreise fallen. Wer weiß, ob Leute von auswärts dann noch hierher kommen, ob sie sich neben einem Atommülllager niederlassen wollen. Wer weiß, ob die jetzige Bevölkerung bleiben wird. Aber die, die an ihrem Boden hier hängen, die werden bleiben. Vor einigen Jahren wollte die ANDRA Arnault Foucault seinen Besitz abkaufen. Doch Foucault hat letztendlich abgelehnt: seine Heimat, das ist der Hof seiner Ahnen. In luftiger Höhe, abgeschieden, inmitten wilder Natur. Musik Lit 2 Mein Begleiter wirkte überaus zufrieden. Mich erstaunte, dass er zu Fuß unterwegs war. Besaß er kein Auto, um seinen schweren Küchen- Krimskrams aus dem Billigladen heim zu kutschen? „Ein Auto, wozu soll das gut sein?“ Wir kamen durch Vesaignes, wo ein Lieferwagen neben der Kirche parkte, von einigen Frauen umringt. „Die Alten haben auch kein Auto, um in den Supermarkt zu fahren. Glücklicherweise gibt es den fliegenden Tante-Emma-Laden“. Er beschrieb mir, wie die Dörfer sterben: „Erst macht der Fleischer zu oder genauer gesagt, der Wurstladen. Die Wurstverkäufer sind immer traurige Naturen, sie wissen, es trifft sie zuerst. Danach kommt die Bäckerei dran. Der Friseurladen hält durch. Das letzte, was dichtmacht, ist das Bistro.“ Die Haute-Marne, Zukunftsperspektive für Frankreich! Gemeinden, ihrer Substanz entleert, in denen einige Rentner überleben? Ich habe hier auch eine segensreiche Stärke gespürt, Widerspenstige, Unbeugsame getroffen, die ihr Leben im Abseits auszukosten verstehen. Wie mein Begleiter, der im Wald lebt. Musik Im vergangenen Jahr hatten die Franzosen die Gelegenheit ihre Meinung zu Cigéo, der geplanten industriellen Endlagerstätte, kund- zutun. 14 öffentliche Diskussionsveranstaltungen waren ursprünglich anberaumt. Doch nach Störaktionen militanter Gegner wurde die Debatte ins Internet verlegt. Obgleich manches Dörfchen rund um Bure gar nicht über einen Internetzugang verfügt. Nicht zum ersten Mal fühlte sich die regionale Bevölkerung veräppelt: eine Petition gegen Cigéo, die 1995 über 50.000 Unterschriften sammelte, blieb damals ebenfalls ohne Resonanz und Folgen. Atmo Laura Nicht aufgeben wollen hingegen die Mitstreiter im ‚Maison de résistance a la poubelle nucléaire` dem so genannten ‚Haus des Widerstands gegen die atomare Mülltonne`. In dem ehemaligen alten Bauerhaus versammelt sich die französische Anti-AKW-Bewegung. Auch zehn Jahre nach Erwerb des Grundstücks ist das Anwesen noch immer eine Baustelle. Ein Stammgast im Nest der Widerständler ist Laura Hameaux. Reportage 4 Vorabendstimmung im 'Haus des Widerstands gegen die atomare Mülltonne'. Wer durch die Eingangstür tritt, landet gleich in der Küche. Inmitten des Charmes vergangener Hippie-Wohngemeinschaften: In der Raummitte ein langer Holztisch, abgewetzte Holzbänke, am Fenster, ein altertümliches Spülbecken, ein betagter Gasherd, rundum stapeln sich Krimskrams und Infobroschüren. Die Wände zieren Anti-AKW-Plakate. Mitten drin sitzt Laura Hameaux vor zwei Bergen geschälter Kartoffeln. Laura trägt eine bunte Tunika mit Waden-langer Hose, die Haare sind zum Dutt getürmt, der schräge Pony unterstreicht den kecken Pfiff der 28- Jährigen. Konzentriert schneidet sie die Kartoffeln in Scheiben und blickt erfreut auf, als Aymeric Bonetti sich zu ihr gesellt. Der hochaufgeschossene 32-Jährige krempelt die Ärmel seines Sweatshirts hoch und greift sich ein Messer. Beide gehören zum Trägerverein des Hauses, der hier seit zehn Jahren die Anlaufstelle für die Anti-AKW-Bewegung betreibt. Laura war 2010 erstmals in Bure. Ich komme ziemlich regelmäßig hierher. Sei es zu den Treffen des Trägervereins, sei es zu den Veranstaltungen, die im Haus immer wieder stattfinden, um neue Widerstandsprojekte auszutüfteln. Zurzeit tagt eine Gruppe im Hinterraum. So oft wie möglich bin ich für eine gute Woche hier, um von der Stimmung, den Leuten hier im Haus zu profitieren. Zu unserer täglichen Arbeit gehört auch, gemeinsam Kartoffeln zu schälen, wie jetzt gerade. (Lachen) Egal, was anliegt – hier packt jeder mit an. Und dabei wird geredet, diskutiert. Der permanente Austausch, der macht das Leben hier im Haus so reich. Ein junger Mann flitzt durch die Küche - er sucht seine Autoschlüssel. Ach, wir hätten fast vergessen, dass wir Besuch abholen müssen, am Bahnhof, eine halbe Stunde Fahrt von hier. In 20 Minuten kommt der Zug an, au weia. Wir bekommen immer wieder Besuch von Leuten aus aller Herren Länder. Sogar Aborigines aus Australien waren schon hier. Es ist schon des Öfteren passiert, dass hier plötzlich ein Tramper vor der Tür stand, der in den Medien, von Freunden oder im Internet von uns gehört hat und nun einfach mal vorbeischauen will. Für alle, die der Atomkraft kritisch gegenüberstehen, ist unser Haus ein symbolträchtiger Ort. Die erste Schüssel mit Kartoffelscheiben ist voll. Behutsam kippt Laura den Inhalt in einen hohen Topf auf dem Herd. Dann nimmt sie das Küchenmesser wieder auf – und hält mitten in der Bewegung inne. Die junge Frau runzelt die Stirn, den Blick nach innen gekehrt. Da fällt mir gerade auf, was für ein ….Widerspruch? Ja, es ist ein Widerspruch, der im hiesigen Alltagsleben steckt. Du weißt es ja selbst: es ist jedes Mal super, herzukommen. Und deshalb sind wir alle auch bereit, uns voll für unsere Ziele einzusetzen. Wenn ich hier bin, fühle ich mich einfach glücklich. Und gleichzeitig ist die Situation paradox. Denn wir sind schließlich hier, um gegen ein Projekt zu kämpfen, das ganz einfach schrecklich ist. Der Topf quillt über. Laura eilt zum Herd, um Wasser abzugießen. Dann streicht die junge Frau mit dem Handrücken den Pony aus der Stirn, als wolle sie dunkle Schatten vertreiben. Wir sind hier in einer Gegend, die heute noch bewohnbar ist. Aber man muss sich eines klarmachen: sollte das atomare Endlager eines Tages gebaut werden, mit all den Bauten an der Oberfläche, die dazu gehören, dann bedeutet das quasi unmittelbar das Aus für die vier Dörfer im Umfeld. Irgendwann später dann wird radioaktive Strahlung auftreten, da bin ich mir sicher. Schließlich sollen hier mal die gefährlichsten Atomabfälle entsorgt werden. Hier zu leben bedeutet also auch, sich vorzustellen, dass eines Tages hier keiner mehr leben können wird. Gegen trübe Gedanken hilft Bewegung. Barfuß macht Laura einen Streifzug durch das Haus. Sie tänzelt die drei Stufen von der Küche zur Scheune herunter, vorbei an einem Mitstreiter, der ausländischen Besuchern gerade das selbst gebaute Windrad hinten im Gemüsegarten erklärt. Rechts hinten in der Scheune stapelt sich Brennholz bis zur Decke, der linke Bereich ist seit Jahren Baustelle: hier entstehen Öko- Sanitäranlagen für die Besucher. Daran grenzt ein neu gekachelter Raum, der Veranstaltungssaal: hier tüten gerade drei Männer das Vereins- Infoblatt für den Versand ein. Laura macht einen Abstecher zum Schlafsaal im Obergeschoss, ein Matratzenlager. Auf dem Rückweg verharrt sie im Zwischengeschoss, am Fenster. Aus hiesigem Findelstein ist es gemacht, von einem Steinmetz bei einer ehrenamtlichen Renovierungs-Aktion, sagt sie stolz. Ein Schmuckstück, aber bislang noch Scheibenlos. – Von der Dorfstraße weht eine kühle Brise herein, Regenwolken ziehen auf. Es riecht nach Stall, ein bisschen modrig. Gedankenverloren schaut Laura auf das stille Dorf, als Aymeric heran schlendert. Anfangs haben die Leute im Dorf es keineswegs begrüßt, dass wir uns hier ansiedeln. Ökofreaks, Linke, die von auswärts kommen. Sie stellten sich viele Fragen, was hier im Haus wohl so vor sich geht. Aber nach und nach haben wir gute Beziehungen zu den Leuten aufbauen können. Auf dem Hof da gegenüber holen wir nun regelmäßig unsere Milch. Mittlerweile sind wir auch mit dem Nachbarn nebenan warmgeworden. Letztes Jahr ist er sogar erstmals bei unserem Widerstandsfestival aufgetaucht. Aber nicht mit allen Teilen der Bevölkerung in dieser Gegend haben wir Kontakt. Ayermic wirft einen misstrauischen Blick hinaus. Aber nein, heute ist kein Polizeifahrzeug zu sehen. Bei größeren Veranstaltungen im 'Haus des Widerstands' sei das Dorf häufig von Sicherheitskräften umringt, sagt er. Laura zuckt beiläufig mit den Schultern: in Frankreich sei die Atomkraft Staatsangelegenheit. Und wer gegen Atomkraft demonstriere, greife damit halt den Staat an. Ayermic grinst. Wir haben schon Polizeibeamte morgens um 4 Uhr dabei ertappt, wie sie im Schein einer Taschenlampe die Kennzeichen unserer Autos notiert haben. Es war zum Totlachen. Wir sind dann zu ihnen gegangen. Dann haben sie schnell ihre Autofenster hochgekurbelt und sich aus dem Staub gemacht. Ertappt wie Kinder beim Marmelade-Naschen. (Lachen) Von der Küche steigt der Duft der Kartoffeln herauf und erinnert die beiden daran, dass das Kartoffelgratin noch zubereitet werden muss. In einer halben Stunde wird am Küchentisch kein freier Platz mehr sein, werden alle wieder die halbe Nacht über über neue Widerstandsaktionen diskutieren. Musik Lit 3 Dieser Teil der Haute-Marne, der Oberlauf des Flusses, ist für mich einer der schönsten Landstriche Frankreichs. Hier ist die Marne träumerisch, ein verlassenes großes Land, ein unverletztes Königreich von unerhörter Reinheit. Die Tatsache, dass sie in unserem gesamten Land unentdeckt bleibt, wo doch jede andere Region, jedes andere Département darum ringt, sich als Schönstes, Interessantestes, Überraschendstes, Liebenswürdigstes darzustellen, bleibt mir ein Rätsel. Der Charme dieser südlichen Champagne wurzelt in der Diskretion, einer Qualität des Schweigens, das aus sich selbst heraus jeden Kommentar ausschließt. Zu oft als Verbannte des Landesinneren beschrieben, ziehen die Anwohner daraus ihren Nutzen. Da man sie vergessen hat, kosten sie unter sich den Frieden ihrer Wälder und Seen aus. Musik Noch hat der industrielle atomare Entsorgungsbetrieb in Lothringen weder Bau- noch Betriebsgenehmigung. Es sind noch einige administrative Hürden zu nehmen. Reine Formalien für die Befürworter. Doch die einheimische Atomlobby hat in den letzten Jahren einige Schlappen einstecken müssen. Der GAU im japanischen Kernkraftwerk Fukushima erschütterte auch Frankreich. Damals gab die Atomaufsichtsbehörde ASN in Paris erstmals zu, dass ein schwerer Unfall auch hierzulande nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. Bei seinem Amtsantritt im Mai 2012 versprach der sozialistische Staatspräsident François Hollande, den Anteil des Atoms an der Stromproduktion von derzeit knapp 80 Prozent auf 50 zu senken. Seither mehren sich kritische Studien zu den wahren Kosten des Atomstroms. Doch all das ändert nichts an der Notwendigkeit, den hoch strahlenden Atommüll entsorgen zu müssen. ATMO Galotte Die Lösung des Endlager-Problems könne der Atomlobby als Argument dienen, die Atomstromproduktion wie gehabt weiterzufahren, fürchten manche Gegner. Das sagen auch Claire und Dominique Galotte. Das Rentner-Ehepaar lebt unweit der geplanten Anlage, in Bonnet. Reportage 5 Von außen erscheint das Haus von Claire und Dominique Galotte grau und wenig anheimelnd. Die Küche hingegen, pikobello aufgeräumt, eine moderne Einbauzeile aus hellem Holz, eine Sitzecke in der Mitte, wirkt überaus gemütlich. Claire Galotte ist gerade beim Kuchenbacken. Energisch greift die kleine rundliche Frau in eine Plastiktüte mit Gefrierobst und schlichtet Stück für Stück auf den Kuchenboden. Ihr Mann assistiert ein bisschen ungelenk. Das Gold Lothringens, Mirabellen, sagt Dominique Galotte und lächelt genießerisch. Das Gold der Heimat. Die Familie Galotte hat lange Jahre in Nancy gelebt, 72 Kilometer entfernt: Claire leitete eine Grundschule, Dominique bildete Lastwagenfahrer aus. Bonnet kennt Claire von Kindesbeinen an: alle Ferien verbrachte sie im Dorf, bei den Großeltern. Sie wirft ihrem Mann einen amüsierten Blick zu. Frau Als ich meinen Mann kennenlernte und ihn nach Bonnet mitnahm, entdeckte er hier seine Leidenschaft für die Jagd. Und so fühlte er sich im Dorf sehr wohl. MANN Vor meiner Ehe hatte ich keine Laster. Das hat sich seither geändert. FRAU Siehst Du mal! Als unsere Kinder noch klein waren, verbrachten wir unsere Ferien bei meinen Großeltern. Und irgendwann wollten wir eigene vier Wände haben. Wir fanden dann das Haus hier, damals war es eine Ruine. Das war vor 27 Jahren. Der damalige Bürgermeister stand beim Hauskauf Pate – er hatte seine Schwester, die Hausbesitzerin, zum Verkauf überredet, um das Anwesen vor dem Verfall zu retten, um neues Leben ins Dorf zu bringen. Anfangs nutzte die Familie das Haus nur an Wochenenden und in den Ferien. Als das letzte der vier Kinder flügge war, zogen die Eltern dann hierher. Claire Galotte wischt sich Teig von den Fingern, ihr Gesicht leuchtet auf. FRAU Die vielen Kontakte im Dorf – die haben wir unseren Renovierungsarbeiten damals zu verdanken. Weißt Du noch, wie Jacques mit seinem Traktor das Heu aus der Scheune abgefahren hat? MANN Damals half hier jeder jedem. Und die Stimmung im Dorf war super. Das ist heute nicht mehr der Fall. Nun ist das Dorf in zwei Lager gespalten. In das der Befürworter des atomaren Endlagerprojekts und in das der Gegner, wie wir. FRAU Ach, ich denke, wenn wir heute erneut um Hilfe bei irgendwelchen Arbeiten bitten würden, dann würde man uns auch helfen. MANN Ja, sicher. Aber dies ist nicht mehr so selbstverständlich wie früher. FRAU Wahrscheinlich liegt es nicht nur am Endlagerprojekt, dass es mit der Nachbarschaftshilfe nicht mehr so klappt wie früher. Die Zeit ist eine andere heute. Die jungen Leute sind weniger solidarisch als die Älteren. Flink hat Claire Galotte die Arbeitsfläche abgewischt und den Backofen angestellt. Zeit, zu den Tieren zu schauen. Durch das großräumige und geschmackvoll eingerichtete Wohnzimmer, die frühere Scheune, geht es in den Garten. Rechts hinten, gegenüber dem Gemüsebeet, ist ein Stück Land von einem 20 Zentimeter Meter hohen Holzrahmen eingegrenzt. Darin wachsen Senfpflanzen, Stiefmütterchen und Sonnenblumen. Die Schnecken-Farm. Hunderte von Tierchen leben hier, aber erst nachts kriechen sie unter den Blättern hervor, zum Fressen. Neben den Pflanzen im Gehege bekommen sie eine Mischung aus Maismehl und Kalk serviert. Eine Sprenkler-Anlage sorgt für die nötige Feuchte. Nach einem halben Jahr Wachstum, beim ersten Frost, sind die Tiere schlachtreif. Dominique Galotte fischt eine Schnecke zwischen den Blättern heraus und betrachtet sie genüsslich. MANN - Das ist eine so genannte große Graue. Die Tiere sind so groß wie die Burgunder-Schnecken, aber ihr Fleisch ist viel zarter. FRAU Das wird Ihnen nicht allzu viel sagen, ob das Fleisch nun zarter oder kerniger ist. MANN Wenn Sie keine Schnecken essen, können Sie das ja nicht wissen. (Lachen) SPR 1/FRAU Wir haben sehr viele Schnecken-Rezepte. MANN Das bekannteste ist natürlich das mit Knoblauch-Butter und Petersilie. FRAU Wir bereiten sie auch mit Tomaten zu, mit Morcheln, mit Sahne oder mit Gänsefett. MANN Schnecken – das ist eine Luxus-Speise. Genau wie Austern oder Gänseleberpastete. Unser Hauptgeschäft läuft zum Jahresende, zu Weihnachten und Neujahr, wenn man sich das Essen etwas kosten lässt. Behutsam setzt Dominique Galotte die Schnecke wieder in das Gehege und dreht die Sprenkler-Anlage auf. Nachdenklich schaut das Rentnerpaar auf seine Schnecken-Farm. Vor zehn Jahren waren die beiden die einzigen Züchter in der Region, mittlerweile sind auch andere in das Geschäft eingestiegen. Sie selbst allerdings werden die Zucht demnächst an einen jungen Bekannten abgeben, um endlich wirklich ihre Rente zu genießen, zu reisen, ins Jura, nach Südfrankreich, zu den Kindern. Eigentlich würden die Galottes am liebsten wegziehen, gesteht Claire und reibt sich den Nasenflügel. FRAU Vor zehn Jahren stand kein einziges Haus in Bonnet zum Verkauf. Heute ist die Auswahl groß. Wir werden unser Haus nie mehr losbekommen. Leider ist das unser einziger Besitz. Eine Tochter lebt im Süden, da würden wir uns gerne niederlassen, aber wir können es nicht. Nun, an der allgemeinen Lage ist nicht nur das Endlagerprojekt schuld. MANN Es gibt kaum noch Arbeit in der Gegend. Die Industrie ist weg, es fehlt an Jobs. FRAU Schuld ist auch die Politik: Denn seit die entschieden hat, dass hier die ANDRA ihr Endlager bauen wird, braucht die Gegend wirtschaftlich nichts anderes, denken Die. Das stimmt aber nicht. AUT Claires Blick schweift in die Ferne. Sollte das atomare Endlager gebaut werden, sinniert die dynamische Mit-Sechzigerin, seien sie in Bonnet die ersten Opfer. Alleine schon wegen dem Zuliefererverkehr, der vor ihrer Haustür vorbeirauschen wird. Dominique Galotte nickt zustimmend mit dem Kopf MANN Sollen sie den Atommüll doch in der Correze verbuddeln, der Heimat von Staatspräsident Hollande! FRAU Auch wenn wir so denken – Extremisten sind wir keine. Wir werden wegen unseren Überzeugungen keinen Unfrieden stiften. Wir wollen uns weiterhin mit allen gut verstehen. MANN Jedenfalls versuchen wir das. Claire Galotte eilt in die Küche zurück – der Mirabellen-Kuchen! Den will sie heute Abend zu einem Fest in der Nachbarschaft mitbringen. Eines der wenigen, das in Bonnet noch stattfindet. Musik Sie hörten Gesichter Europas: Frankreichs atomares Credo – Der Streit um das geplante Endlager in Lothringen Eine Sendung mit Reportagen von Suzanne Krause. Musik und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Michael Morawietz und Jutta Stein. Die Literaturauszüge aus Jean-Paul Kauffmanns Reisebericht: Remonter la Marne, erschienen in der Librairie Arthème Fayard/ Paris/ 2013, las Hendrik Stickan. Redakteur am Mikrofon war Norbert Weber. Musik 2 2